DUH-Hintergrund Laufzeitverlängerung, Systemkonflikt und Verfassung - EE und Atom 2020_10092010

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DUH-Hintergrund

    Laufzeitverlängerung, Systemkonflikt und Verfassung

            Folgen und Begleitumstände der Entscheidung
                      vom 6. September 2010

Ausgangslage
Im Herbst 2010 kam die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) anlässlich einer ersten Analyse
der in der Koalitionsvereinbarung niedergelegten Energiepolitik der neu gewählten Bundes-
regierung zum dem Schluss: „Die Rechnung geht nicht auf.“ Zehn Monate später hat sich
diese Schlussfolgerung bestätigt und tut es fast jeden Tag aufs Neue. Mit ihrem am 6. Sep-
tember 2010 verabschiedeten Entwurf für ein „Energiekonzept“1 und den wenige Tage spä-
ter ans Licht gekommenen zugehörigen Geheimvereinbarungen mit den Atomkraftwerksbe-
treibern2 hat die Bundesregierung vor allem eines erreicht: Eine nie dagewesene Planungs-
und Investitionsunsicherheit in der Energiewirtschaft.
All jene, die im Vertrauen auf den Fortbestand des Ausstiegsfahrplans aus der Atomenergie
investiert haben oder investieren wollten, sind tief verunsichert, wie man täglich an den
Wortmeldungen aus dem Bereich der Stadtwerke und der neuen Energieanbieter ablesen
kann. Gleichzeitig hat die Erneuerbare Energien Branche jegliches Vertrauen in das in der
Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung niedergelegte Versprechen verloren, am
Einspeisevorrang des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) festhalten zu wollen. Auch
die Protagonisten der Wind- und Solarwirtschaft wissen, dass eine Laufzeitverlängerung –
wie wir in diesem Papier zeigen werden – die AKW-Betreiber und ihre Fürsprecher in der
Politik geradezu dazu zwingen würde, diesen Vorrang mit allen politischen und propagan-
distischen Mitteln, offen oder verdeckt zu bekämpfen. Aber auch die AKW-Betreiber selbst
fahren als Ergebnis ihrer anmaßenden Lobbypolitik nur einen Pyrrhussieg ein, weil sie nicht
sicher sein können, dass die mit der schwarz-gelben Bundesregierung vereinbarte Lauf-
zeitverlängerung die nächsten Bundestagswahlen überdauert oder schon zuvor am Bun-
desverfassungsgericht scheitert. Hinzu kommt der in der Gesellschaft neu entfachte Fun-
damentalkonflikt um die Atomenergie, der nicht nur den Regierungsparteien bei anstehen-
den Wahlen teuer zu stehen kommen kann, sondern auch den Konzernen in ihren Bilan-
zen, wenn sich Kunden massenhaft von ihnen ab- und anderen, zum Beispiel unabhängi-
gen Ökostrom-Anbietern, zuwenden.

1. Es gibt keine Notwendigkeit zur Verlängerung von Reaktorlaufzeiten
Als im Juni 2000 die Vereinbarung über dem Atomausstieg zwischen der rot-grünen Bun-
desregierung und den Atomkraftwerksbetreibern einvernehmlich unterzeichnet wurde,
standen Sicherheitsfragen im Mittelpunkt der Überlegungen – nicht Prognosen, wie die bis
1
  „Energiekonzept – Neun Punkte für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversor-
gung“, Entwurf BMWi/BMU, 6. September 2010,
http://www.umweltministerium.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/entw_energiekonzept_kf.pdf
2
 „Förderfondsvertrag: Term Sheet“, 6. September 2010,
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2010/2010-09-09-
foerderfondsvertrag,property=publicationFile.pdf
Seite - 2 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

etwa 2022 wegfallenden Stromerzeugungskapazitäten aus AKW ersetzt werden sollten.
Allerdings erklärten die Unterzeichner in der Vereinbarung: „Bundesregierung und Versor-
gungsunternehmen verstehen die erzielte Verständigung als einen wichtigen Beitrag zu
einem umfassenden Energiekonsens“. Und an anderer Stelle: „Beide Seiten werden ihren
Teil dazu beitragen, dass der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt wird.“3
Kurz zuvor hatte die rot-grüne Bundesregierung das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG)
verabschiedet, das in der Folge einen Boom bei den Erneuerbaren auslöste, den in dieser
Form niemand erwartet hatte. Im Ergebnis zeigen alle aktuellen Prognosen der Bundesre-
gierung und noch mehr der Branche der Erneuerbaren Energien oder unabhängiger Wis-
senschaftler, dass auch in Zukunft der Zuwachs der Strommengen aus Erneuerbaren
Energien die infolge des Atomausstiegs wegfallenden Strommengen zu jedem Zeitpunkt
übertreffen wird.

          350,00

          300,00

                                       Weggefallene Atomstromproduktion
                                       EE zusätzlich seit 2000 nach BEE 2009
          250,00
                                       EE zusätzlich seit 2000 Leitstudie 2008 Szenario E2
                                       EE zusätzlich seit 2000 Leitszenario 2009
          200,00                       EE zusätzlich seit 2000 Leitszenario 2008
    TWh

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Abb. 1: Ausbauszenarien erneuerbarer Stromerzeugungskapazitäten und wegfallende Atomstromkapazitäten
gemäß Atomkonsens 2002, Quelle: Umweltbundesamt.

Die Situation ist in Abbildung 1 dargestellt. Die farbigen Linien ergeben sich aus den Leit-
szenarien, die das BMU zur Entwicklung der Erneuerbaren Energien in Deutschland regel-
mäßig erstellen lässt.
Selbstverständlich muss nicht nur die Strommenge ausreichen. Der Strom muss vor allem
auch jederzeit und an jedem Ort der Republik verfügbar sein. Doch auch diese Sicherheit
der Stromversorgung kann bis in die 2020er Jahre hinein gewährleistet werden, weil solan-
ge und bereits heute absehbar noch große Kapazitäten fossiler Kraftwerke auf Basis von
Braunkohle, Steinkohle und Erdgas am Netz sein werden (s. Tabelle 1).

Prognose: Leistung fossiler Stromerzeugungskapazitäten im Jahr 2020

3
 “Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni
2000“; http://www.umweltministerium.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/atomkonsens.pdf
Seite - 3 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

Jüngere Braun- und Steinkohlekraftwerke
(Inbetriebnahme oder Ertüchtigung nach 1990)                   15.610 MW
Neue Braun- u. Steinkohlekraftwerke
(Inbetriebnahme nach 2010)                                     11.393 MW
Jüngere Gaskraftwerke
(Inbetriebnahme oder Ertüchtigung nach 1990)                   12.819 MW
Neue Gaskraftwerke
(Inbetriebnahme nach 2010)                                      1.304 MW
Summe                                                          41.126 MW

Tab.: 1: Leistung fossiler Stromerzeugungskapazitäten im Jahr 2020; Berechungen DUH, 09/2010

Die gelegentlich insbesondere von den Atomenergiefreunden in Bayern und Baden-
Württemberg erhobene Forderung, statt aus der Atomkraft aus den fossilen Kraftwerken
auszusteigen, ist eine Scheinalternative und weder ernst gemeint, noch ernst zu nehmen.
Erstens verfügen Kohlekraftwerke – im Gegensatz zu Atomkraftwerken nach der gegenwär-
tigen Gesetzeslage – über eine unbefristete Betriebserlaubnis. Wer das ändern will muss
mit den Betreibern dieser Kraftwerke „Kohleausstiegsverhandlungen“ führen oder entspre-
chende Gesetzesänderungen im Dissens mit den Unternehmen durchsetzen. Darüber hin-
aus würde, wegen der dann allein verbleibenden AKW der Systemkonflikt mit den Erneuer-
baren Energien noch weiter verschärft (s. u.).
Die wirkliche Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte besteht darin, die
Stromnetze entsprechend den neuen Anforderungen um- und auszubauen, zusätzliche
Stromspeicher-Kapazitäten zu schaffen und neue Speichertechnologien zu entwickeln und
am Markt zu etablieren. Diesen Aufgaben muss sich die Bundesregierung umgehend zu-
wenden, statt immer wieder die Schlachten von vorgestern gegen die Mehrheit der Bevöl-
kerung (und weite Teile der Energiewirtschaft) zu führen. Im Energiekonzept der Bundesre-
gierung wird der Entwicklung der Strominfrastruktur erfreulich viel Aufmerksamkeit gewid-
met. Doch auch in diesem Fall gilt: Solange die Atomkraftwerke am Netz sind, bleiben sie
ein Argument gegen den beschleunigten Umbau der Stromnetze.
Mit den Fragen der Netzintegration befasst sich seit bald zwei Jahren intensiv das von der
DUH ins Leben gerufene und moderierte Forum Netzintegration Erneuerbare Energien, in
dem alle am Netzausbau Beteiligten oder von ihm potenziell Betroffenen versuchen, ein-
vernehmlich Lösungen zu finden, um den erforderlichen Netzum- und wo nötig auch -
ausbau zu beschleunigen. Am Ende soll ein Arbeitspapier („Plan N“) umfassende Forde-
rungen und Vorschläge an die Politik richten.4

2. Der Skandal des Beschlusses zur Laufzeitverlängerung
Die Umstände der Beschlussfassung zur Laufzeitverlängerung am 6. September 2010 und
in der folgenden Nacht haben die Zweifel an einer an den energiewirtschaftlichen Fakten
orientierten Entscheidung weiter verstärkt.
Zunächst gründet der Beschluss über die Laufzeitverlängerung (jedenfalls nach Angaben
der Bundesregierung im Vorfeld der Entscheidung) auf Energieszenarien,

4
    Siehe: www.forum-netzintegration-erneuerbare-energien.de
Seite - 4 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

    •   die wissenschaftlich unhaltbar und in hohem Maße fragwürdig sind5,
    •   die auf Vorgaben der Bundesregierung basieren, die geradezu verhindern sollten,
        dass Langfristszenarien mit und ohne Laufzeitverlängerungen vergleichbar werden6,
    •   die trotzdem (oder gerade deshalb) keinerlei Beleg dafür liefern, dass Laufzeitver-
        längerungen irgendeinen volkswirtschaftlichen Vorteil gegenüber einer Fortsetzung
        des Atomausstieg bringen7 und
    •   in wissenschaftlichen Instituten erarbeitet wurden, von denen eines zu erheblichen
        Teilen aus Mitteln der AKW-Betreiber E.on und RWE finanziert wird. Dies wäre,
        wenn es denn tatsächlich ohne Hintergedanken geschehen wäre, mindestens eine
        politische Instinktlosigkeit sondergleichen.
Allerdings ist auch eine andere Lesart denkbar: dass nämlich in Wirklichkeit das Energie-
wirtschaftliche Institut der Universität zu Köln (EWI) gerade wegen seiner vielfach bewiese-
nen Nähe zu RWE und E.on für die Szenarien ausgewählt wurde.
Außerdem ergeben sich aus den Umständen der Beteiligung der Konzerne an den sie di-
rekt betreffenden Verhandlungen Zweifel an der Seriosität der Entscheidung, zumal andere,
ebenfalls betroffene Akteure der Energiewirtschaft, die Ergebnisse lediglich nachträglichen
Veröffentlichungen der Bundesregierung entnehmen konnten.
Die vier Atomkraftwerkbetreiber E.on, RWE, EnBW und Vattenfall Europe saßen am späten
Abend des 5. September und in der Nacht zum 6. September zugeschaltet über eine Art
Standleitung quasi mit am Tisch. Zunächst wollte die Bundesregierung vermeiden, dass die
enge Abstimmung mit den betroffenen vier Unternehmen überhaupt zeitnah bekannt wird,
weil damit von vornherein der Versuch gescheitert wäre, den Eindruck zu vermitteln, es ge-
he hier wirklich um ein umfassendes Energiekonzept. Denn dann hätte die Frage im Raum
gestanden, warum bei der Aushandlung eines umfassenden Energiekonzepts ausgerech-
net und ausschließlich vier Unternehmen direkt beteiligt waren, die (mit ihrem Atomstrom)
lediglich 10 Prozent der Energieversorgung in Deutschland repräsentieren. Außerdem woll-
te die Bundesregierung erkennbar die Einigung vom Sonntag zu Wochenbeginn demonst-
rativ als großen Erfolg feiern und dabei nicht von lästigen Nachfragen nach dem Inhalt von
Parallelabsprachen mit den Konzernen gestört werden. Als am Montagvormittag zunächst
nur die Tatsache der Einbindung der Konzerne am späten Abend zuvor bekannt wurde,
wurde dies ebenso als „Normalität“ deklariert, wie zwei Tage später die versehentliche Of-
fenbarung, dass noch in der Nacht zu Montag im Bundesfinanzministerium eine schriftliche
Vereinbarung bis zur Unterschriftsreife ausgehandelt und unterschrieben worden war.
Danach hatte die Bundesregierung gegenüber einzelnen Medien zunächst den eher un-
problematischen Teil der Vereinbarung offenbart. Die kritischen Passagen, in denen die
Konzerne ein ganzes Bündel von Schutzklauseln gegen einen möglichen Regierungswech-
sel und hohe finanzielle Belastungen durchsetzten, wurden dagegen erst veröffentlicht, als
der Regierung am Abend des 9. September klar wurde, dass das Papier in Gänze bei Me-
dien und Umweltverbänden wie der DUH „angekommen“ war. Es war eine Flucht nach
vorn, die viel zu spät kam.

5
  Siehe z. B.: Öko-Institut: „Erste Auswertungen der ´Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesre-
gierung´“ 2. September 2010. http://www.oeko.de/oekodoc/1064/2010-110-de.pdf
6
  „Von wegen Brückentechnologie“, DUH-Pressemitteilung vom 4. Mai 2010 und Anhang;
http://www.duh.de/pressemitteilung.html?&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=2298&cHash=7c1bc8b37e
7
  „Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung“, EWI, GWS, Prognos; 27. August 2010;
http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/energieszenarien_2010.pdf
Seite - 5 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

Dabei ist die Absicherung der in einen so genannten Förderfonds zu zahlenden Beträge
gegen die bereits angekündigte Rücknahme der Laufzeitverlängerung durch eine mögliche
künftige Regierung aus den heutigen Oppositionsparteien in gewisser Weise nachvollzieh-
bar – wenn sie auch nebenbei offenbart wie ernst es den Konzernen mit dem Aufbau der
Erneuerbaren Energien in Deutschland in Wirklichkeit ist. Wirklich skandalös sind die zwei
Aspekte der Schutzklauseln:
    •   die unverhüllte und direkte Verrechnung des künftigen Sicherheitsniveaus alter
        Atomkraftwerke gegen die vereinbarte Förderung der Erneuerbaren Energien. Einen
        solchen Deal hatte die Bundesregierung bisher immer und mit dem Gestus der Ent-
        rüstung ausgeschlossen. Noch eine Woche zuvor hatte Umweltminister Norbert
        Röttgen ausweislich der Energieszenarien der Bundesregierung Nachrüstungsauf-
        wendungen für alle 17 Reaktoren in Höhe von 20,3 Milliarden Euro im Falle einer
        Laufzeitverlängerung von zwölf Jahren für angemessen gehalten8 (nach Überzeu-
        gung der DUH war auch dies viel zu wenig, weil damit nie und nimmer alte Reakto-
        ren gegen den gezielten Absturz großer Verkehrsflugzeuge wie der A380 hätten ge-
        sichert werden können). Nun akzeptieren die Konzerne maximal 8,5 Milliarden Euro.
        Alles was an Sicherheitsaufwendungen darüber hinausgehen sollte, steht für Erneu-
        erbare Energien, Netze, Stromspeicher etc. weniger zur Verfügung.
    •   Darüber hinaus – und dieser Aspekt wurde in der Öffentlichkeit bisher noch nicht
        wahrgenommen – sichern sich die Atomkonzerne in dem so genannten „Förderfond-
        vertrag“ (bzw. dem Term Sheet genannten Vorvertrag) auch gegen eine offenbar
        einkalkulierte Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht ab. Das offenbart ins-
        besondere die Formulierung unter Punkt 4 der Vereinbarung. Darin heißt es "Der
        Förderbeitrag mindert sich, ... wenn... Bestimmungen zur Laufzeitverlängerung ...
        abweichend von der gem. Anlage B vorgesehenen Fassung geregelt, verkürzt, ver-
        ändert, unwirksam oder aufgehoben werden oder in sonstiger Weise entfallen."9
Im Klartext bedeutet dies, dass zwischen Atomkonzernen und Bundesregierung die ge-
meinsame Einschätzung vorherrscht, dass die angestrebte Laufzeitverlängerung entweder
wegen der Umgehung des Bundesrats oder aus anderen Gründen verfassungswidrig sein
könnte. Eine Bundesregierung, die den Verfassungsbruch bewusst einkalkuliert, um vier
großen Unternehmen zu Diensten zu sein und ein gegebenes Wahlversprechen einhalten
zu können, ist eigentlich nicht mehr tragbar.

3. Die Verfassungswidrigkeit der geplanten Laufzeitverlängerung
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Laufzeitverlängerung stellt sich nicht
nur im Zusammenhang mit der Zustimmungspflichtigkeit im Bundesrat. Hierzu gibt es ein
ganzes Bündel von Rechtsgutachten und Stellungnahmen, von denen einige von der Bun-
desregierung selbst in Auftrag gegeben wurden und die weit überwiegend zu dem Ergebnis
kommen, dass die Länderkammer zwingend beteiligt werden muss.10

8
  a.a.O. „Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung“, EWI, GWS, Prognos; 27. August
2010; Tabelle 1.2-2, Seite 5.
9
  a.a.O. „Förderfondsvertrag: Term Sheet“, 6. September 2010, Seite 3/10
10
   http://www.duh.de/uploads/media/100521_Rechtsgutachten_Prof__Wieland_Zustimmungsbeduerftigkeit.pdf;
http://www.duh.de/uploads/media/Stellungnahme_Laufzeitverlaengerung_HJPapier.pdf ; „Rechtsgutachten zur
Frage der Zustimmungsbedürftigkeit bestimmter Änderungen des Atomgesetzes“, Wolfgang Ewer i. A.
schleswig-holsteinisches Ministerium für Justiz, Gleichstellung und Integration; Kiel, 1. Juni 2010
Seite - 6 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

Nach Überzeugung der DUH führt auch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem
Jahr 200811 dazu, dass die Laufzeitverlängerung praktisch vom ersten Tag an zustim-
mungspflichtig ist. Das Urteil ordnet Terrorangriffe aus der Luft wegen der Erfahrung des
11. September 2001 nicht mehr wie zuvor „zufällige“ Flugzeugabstürze dem unentrinnbaren
Restrisiko zu, sondern dem Gefahrenbereich, gegen den eine – von betroffenen Anwoh-
nern von Atomkraftwerken einklagbare - Schutzpflicht des Staates besteht. In Umsetzung
des höchstrichterlichen Spruchs müsste es zu massiven Nachrüstungen, insbesondere ei-
ner entscheidenden Verstärkung der Sicherheitsbehälter deutscher Atomkraftwerke kom-
men (wie es Bundesumweltminister Röttgen ja auch im Vorfeld der Entscheidung zur Lauf-
zeitverlängerung immerhin für die ältesten AKW angekündigt hatte), sofern deren Laufzei-
ten verlängert werden. Dies hätte unmittelbar eine wesentliche, auch qualitative Verände-
rung der Aufgaben der Länderaufsichtsbehörden zur Folge. Das Gesetz zur Laufzeitverlän-
gerung wäre sicher zustimmungspflichtig.
Ein Laufzeitverlängerungs-Gesetz, das (wie mindestens vorübergehend von der Bundesre-
gierung angestrebt) versuchen würde, das Bundesverwaltungsgerichtsurteil „zurückzuho-
len“, wäre ebenfalls verfassungswidrig, weil die Bundesverwaltungsrichter ihre Entschei-
dung unmittelbar aus dem Grundgesetz herleiten.12 Darüber hinaus müssen die Atomkraft-
werke nach einem erst kürzlich vom OVG Lüneburg ergangenen Urteil13 gegen das größte,
derzeit über Deutschland eingesetzte Passagierflugzeug geschützt werden, also den Airbus
A380.
Die von Bundesumweltminister Röttgen in den vergangenen Tagen als Neuerung ange-
kündigte „Dynamisierung der Sicherheit“ ist keineswegs neu, sondern seit Jahrzehnten gel-
tendes Recht. Danach muss selbstverständlich auf neu erkannte Risiken nach dem Stand
von Wissenschaft und Technik reagiert werden. Hierzu gehört – wie das Bundesverwal-
tungsgericht in dem erwähnten Urteil klarstellt – seit dem 11. September 2001 der gezielt
herbeigeführte Absturz einer Passagiermaschine auf ein AKW.14 Auch die mit der „Alte-
rung“ der Reaktoren einhergehenden Risiken müssen vor einer Laufzeitverlängerung
adressiert werden, zumal nun Laufzeiten für die Altmeiler geplant sind, die über die den
Betriebsgenehmigungen zugrundeliegenden Auslegungsfristen der Reaktoren hinausge-
hen.
Schließlich muss das Risiko bewertet werden, das sich aus der mit der Laufzeitverlänge-
rung verbundenen erheblichen Vergrößerung der anfallenden Atommüllmenge (das Bun-
desamt für Strahlenschutz geht von einem Plus von 25 Prozent bei zwölf Jahren Laufzeit-
verlängerung aus) vor dem Hintergrund der weiter ungelösten Entsorgungsfrage ergibt. Da
der Beschluss über den Atomausstieg 2002 auch Ergebnis einer Abwägung zwischen dem
Bestandschutz der damals unbefristeten Betriebsgenehmigungen der AKW auf der einen
und der ungelösten Endlagerfrage auf der anderen Seite war, ist die Klärung der Endlager-
frage Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Laufzeitverlängerung. Eine Entscheidung
über die Eignung des Standorts Gorleben ist aber selbst dann nicht vor 2025 zu erwarten,
wenn dort weiter erkundet wird. Das wären dann etwa 65 Jahre, nachdem die Verpflichtung

11
   7C39.07; Abdruck in ZUR 2008, 363 ff.
12
   „AKW-Debatte: Die Schlachten von vorgestern beenden“, Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe vom
2.9.2010;
http://www.duh.de/pressemitteilung.html?&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=2375&cHash=e52d7b22ec
13
  , OVG Lüneburg, Urteil vom 23. Juni 2010, 7 KS 215/03
14
   Siehe ausführlich Hintergrund zur DUH-Pressekonferenz am 2.9.2010:
http://www.duh.de/uploads/media/DUH_Hintergrund_PK_2_9_2010.pdf
Seite - 7 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

zur sicheren Lagerung des Atommülls in das Atomgesetz geschrieben wurde. Auch aus
diesem Grund hält die DUH eine Laufzeitverlängerung für verfassungswidrig. 15

3. Laufzeitverlängerung und der weitere dynamische Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien schließen sich schon in wenigen Jahren aus
Die von der Regierung beschlossene Laufzeitverlängerung führt zu einem Systemkonflikt,
vor dem die DUH in den vergangenen zwei Jahren immer wieder gewarnt hat. Jetzt lassen
sich die Folgen des Beschlusses vom 6. September auf Basis der vorliegenden konkreten
Rahmenbedingungen grob quantitativ abschätzen. Der Konflikt im Stromsystem entsteht,
weil bereits im Jahr 2020 absehbar immer wieder stundenweise mehr Strom aus Erneuer-
baren Energien (EE) erzeugt, als insgesamt in Deutschland benötigt wird.

                                                                      ■ Stromverbrauch in 2020
                                                                      ■ Wind- und Solarstromeinspeisung in 2020

Abb. 2: Stromverbrauch und Wind- und Solarstromeinspeisung im Jahr 2020 auf Basis der Ausbaudaten des
Energieszenario B1 in den Szenarien von EWI, GWS, PROGNOS und der Stromverbrauchs-, Wind- und So-
larstromdaten des Jahres 2009.

Dieser Konflikt spitzt sich mit der Entscheidung zur Laufzeitverlängerung weiter zu und
kann wegen des gesetzlichen Vorrangs der EE zunächst nur beseitigt werden, indem die
Atomkraftwerke (und auch die konventionellen Kohle- und Gaskraftwerke, mit Ausnahme
der vorzuhaltenden Regelenergie-Leistung) immer dann nacheinander abgeschaltet wer-
den, wenn eine solche Situation auftritt. In zunehmendem Maß werden selbst dann, wenn
dies geschieht, immer größere Strommengen erzeugt, die nicht direkt verbraucht werden
können. Sie müssen exportiert oder gespeichert werden.
Die Auswirkungen der Laufzeitverlängerung hat die DUH anhand der Energieszenarien der
Bundesregierung und den darin angenommenen Randbedingungen für 2020 in einer ersten

15
   „Ohne Endlager keine Laufzeitverlängerung – Zur Rechts- und Verfassungswidrigkeit einer Laufzeitverlän-
gerung“, Cornelia Ziehm, Rechtsgutachten Januar 2010;
http://www.duh.de/uploads/media/DUH_Hintergrund_PK_2_9_2010.pdf
Seite - 8 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

groben Auswertung ermittelt. Dabei liegt die in den Szenarien der Bundesregierung ange-
nommene Entwicklung am unteren Rand der derzeit auf dem Markt befindlichen Progno-
sen. Die im nationalen Aktionsplan für erneuerbare Energien16 – den die Bundesregierung
erst vor einigen Wochen nach Brüssel übermittelte – verwendeten Zahlen sind beispiels-
weise ambitionierter, ebenso die in der Branchenprognose des Bundesverband Erneuerba-
re Energien (BEE) vor knapp zwei Jahren erwartete Entwicklung.
Folgende Parameter sind den „Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregie-
rung“ (bezogen jeweils auf das so genannte Referenzszenario) entnommen:

Stromverbrauch 2020:          579 TWh                (2009: 597 TWh, nach BDEW)
Stromerzeugung aus:
Windenergie (insgesamt): 94 TWh                      (2009: 38 TWh, nach BDEW)
Solarenergie                    31 TWh               (2009: 6,5 TWh, nach BDEW)

Dabei wurde unterstellt, dass bei zunehmender Stromerzeugung aus erneuerbaren Ener-
giequellen die fossilen Kraftwerke nach und nach vom Netz gehen und Atomkraftwerke als
letzte abgeschaltet werden. Die Atomkraftwerke werden entsprechend den von Betreiber-
seite gemachten Angaben zunächst auf 50 bis 60 Prozent ihrer Maximalleistung abgeregelt
und dann ganz abgeschaltet. Dabei sollen die ältesten Meiler zuerst vom Netz gehen.
Die Abschalthäufigkeit nimmt nach unseren Ergebnissen als unmittelbare Folge der be-
schlossenen Laufzeitverlängerung um ein Vielfaches zu. Müssen 2020 bei Fortdauer des
geltenden Ausstiegsfahrplans die Atomkraftwerke 40mal abgeschaltet werden, so muss
dies unter Berücksichtigung der Laufzeitverlängerung im genannten Jahr bereits 277mal
geschehen.

     300
     250
     200
     150                                                 Abschalthäufigkeit
                                                         Atomkraftwerke
     100                                                 2020
      50
       0
               Ausstieg            Laufzeit+

Abb.3: Abschalthäufigkeit bei Atomkraftwerken in 2020: Quelle: Berechnungen DUH; Datengrundlage Ener-
gieszenario der Bundesregierung vom 04.09.2010

16
  Nationaler Aktionsplan für erneuerbare Energie gemäß der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nut-
zung von Energie aus erneuerbaren Quellen; http://www.erneuerbare-
energien.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/nationaler_aktionsplan_ee.pdf
Seite - 9 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

Die reine Abschaltdauer beträgt im Falle des Atomausstiegs 164 Stunden pro Jahr, unter
Berücksichtigung der Laufzeitverlängerung schon 1.380 h/a. Nicht berücksichtigt sind in
dieser Rechnung die Stunden, die den AKW-Betreibern verloren gehen, weil ein sofortiges
Wiederanfahren nicht möglich ist. Rechnet man mit dem angegebenen mittleren Wert von
50 Stunden bis zum Wiederanfahren, vervielfacht sich die Zahl der verlorenen Stunden
entsprechend.
Wie die deutschen Atomkraftwerke unter den Bedingungen einer Laufzeitverlängerung und
eines weiteren kräftigen Ausbaus der Erneuerbaren Energien im Jahr 2020 betrieben wer-
den müssten, hat kürzlich Prof. Olav Hohmeyer in einem Gutachten für das Hamburger
Ökostrom-Unternehmen LichtBlick AG ermittelt. Der nachfolgenden Grafik liegt ein Zu-
kunftsszenario des Sachverständigenrats für Umweltfragen der deutschen Bundesregierung
(SRU) und die Annahme einer pauschalen Laufzeitverlängerung auf 45 oder mehr
Betriebjahren zugrunde.17

Abb. 4: Verbleibender Betrieb von Atomkraftwerken im Jahr 2020 bei einer Laufzeitverlängerung auf 45 und
mehr Jahre, auf der Basis des Zukunftsszenarios; Quelle: Lichtblick, 2050 Die Zukunft der Energie; 08/2010

Die Ankündigung von Bundesumweltminister Norbert Röttgen zur Ausgestaltung des
„Strommengenmodells“, das der Berechnung der verlängerten Reaktorlaufzeiten zugrunde
liegen soll, idyllisiert den heraufziehenden Systemkonflikt, statt seine Brisanz offen zu be-
nennen.18 Danach liegt den erlaubten jährlichen Produktionsmengen bis 2016 (wie bisher)
eine 95%ige Auslastung zugrunde, ab 2017 eine 90%ige und schließlich ab 2021 eine
85%ige. Damit reagiert die Politik zwar erstmals auf den heraufziehenden Systemkonflikt.

17
   „2050. Die Zukunft der Energie“, Olav Hohmeyer, Flensburg 2010;
http://www.lichtblick.de/uf/Studie_2050_Die_Zukunft_der_Energie.pdf
18
   Anlässlich der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeswirtschaftsminister Brüderle am 6. September
2010 im Haus der Bundespressekonferenz
Seite - 10 - DUH-Hintergrund Atom- und Energiepolitik der Bundesregierung, 10.09.2010

Sie tut es jedoch offenbar unzureichend. Denn bei Beibehaltung des Einspeisevorrangs der
Erneuerbaren Energien müssten die Atomkraftwerke immer häufiger nicht nur mit vermin-
derter Leistung gefahren, sondern ganz vom Netz genommen werden. Den „Ergänzungs-
betrieb“, den die AKW dann laut Umweltminister Röttgen übernehmen müssen, können sie
nicht leisten. Wenn beispielsweise bei guter bundesweiter Windstromeinspeisung und
gleichzeitig sonnigem Wetter mittags die AKW abgeschaltet werden müssen, können sie
nicht abends, wenn die Sonne untergeht und der Wind abflaut, wieder angefahren werden.
Denn dafür benötigen sie nach Angaben der Unternehmen eine frist von 50 Stunden. Not-
wendig wären also schnell regelbare „Schattenkraftwerke“, um die nicht verfügbaren Atom-
kraftwerke zu ersetzen.

Für Rückfragen:
Dr. Gerd Rosenkranz, Leiter Politik und Presse, Hackescher Markt 4, 10178 Berlin;
Mobil: 01715660577, Tel.: 0302400867-0, E-Mail: rosenkranz@duh.de
Dr. Peter Ahmels, Leiter Erneuerbare Energien, Hackescher Markt 4, 10178 Berlin; Mobil:
01708014375; Tel.: 0302400867-0; E-Mail: ahmels@duh.de
RAin Dr. Cornelia Ziehm, Leiterin Klimaschutz und Energiewende, Hackescher Markt 4,
10178 Berlin; Mobil: 016094182496; Tel.: 0302400867-0, E-Mail: ziehm@duh.de
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