Ein Model mit Makel . Shaun Ross und die Produktion besonderer Berühmtheit in der Modewelt

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Repositorium für die Medienwissenschaft

    Matthias Krings
    Ein Model mit ‹Makel›. Shaun Ross und die Produktion
    besonderer Berühmtheit in der Modewelt
    2017
    https://doi.org/10.25969/mediarep/2022

    Veröffentlichungsversion / published version
    Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Krings, Matthias: Ein Model mit ‹Makel›. Shaun Ross und die Produktion besonderer Berühmtheit in der
Modewelt. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 16: Celebrity Cultures, Jg. 9 (2017), Nr. 1, S. 37–
48. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/2022.

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MATTHIAS KRINGS

                          EIN MODEL MIT ‹MAKEL›
                          —
                          Shaun Ross und die Produktion besonderer
                          Berühmtheit in der Modewelt

  I. Models mit Makel als Blickfang
«Play up your differences as much as you can!», zitiert die New York Times
2013 den Rat einer Visagistin an Nachwuchsmodels.1 Als Shaun Ross, «das
­bekannteste Albinomodel der Welt»,2 2008 von einem Modefotografen über
ein selbstgedrehtes Video im Internet entdeckt wurde, zeichnete sich der ak-
tuelle Trend zum Nicht-Perfekten in der Modelbranche erst vage am Ho-
rizont ab. Models mit ‹Makel›, die den quirk look verkörpern, entsprechen
einerseits den gängigen Normen der Branche (z. B. in puncto Körpermaße),
brechen sie andererseits aber mindestens in einem jeweils individuell variie-
renden Detail – abstehende Ohren, buschige Augenbrauen, Sommersprossen
oder Hypopigmentierung, wie im Fall der sogenannten Albino-Models. Noch
ist dieser Trend weitgehend auf das High-Fashion-Modeling begrenzt und
kann als Konsequenz einer Präferenz für edgy looks begriffen werden, die sich
in diesem Feld seit den 1990ern abzeichnet. Während die Produkt- und Ka-
talogwerbung für den Massenmarkt nach wie vor eher Models mit soft looks            1 Marisa Meltzer: For Fashion
favorisiert, die einem konventionellen Schönheitsideal entsprechen, soll sich    Models, Quirk Is In, in: The New
                                                                                 York Times, 4.9.2013, www.nytimes.
die Extravaganz des High-Fashion-Designs vorzugsweise in Modelkörpern            com/2013/09/05/fashion/for-fashion-
spiegeln, die ebenfalls als unkonventionell gelten können.3 Das Casting von      models-quirk-is-in.html, gesehen am
                                                                                 21.9.2016.
 Models mit Behinderung, ein Trend in der Produktwerbung, der bereits als           2 Lara Schwitalla: Albino-Top­
freak chic bezeichnet wird,4 schließt an diese Entwicklung ebenso an wie – ei-   model Shaun Ross: «In Deutschland
                                                                                 empfängt man mich weltweit am
ner umgekehrten Bewegung folgend – das Aufkommen der sogenannten No-             herzlichsten!», in: styleranking.
dels (no models), deren Unkonventionalität gerade darin besteht, dass sie sich   de, dort datiert 20.4.2016, bit.
                                                                                 ly/2mY2u2D, gesehen am 21.9.2016.
durch ihr durchschnittliches oder ‹gewöhnliches› Äußeres von herkömmli-             3 Ashley Mears: Pricing Beauty:
chen Models absetzen.                                                            The Making of a Fashion Model, Berke­
                                                                                 ley 2011, 38.
   Auf den ersten Blick scheint diese neuartige Valorisierung von Diffe-            4 Maria Mackinney-Valentin: Face
renz dem Mainstreaming von Vielfalt zu entsprechen, das sich gegenwärtig         value: Subversive beauty ideals in
                                                                                 contemporary fashion marketing, in:
auch jenseits der Modelbranche – z. B. in Ökologie (Biodiversität) und Sport     Fashion, Style & Popular Culture, Vol. 1,
(Paralympics) – beobachten lässt. Dafür sind umweltpolitische bzw. dem           Nr. 1, 2014, 13 – 27, hier 18.

SCHWERPUNKT                                                                37
MATTHIAS KRINGS

                                                                         Menschen- und Behindertenrechtsdiskurs entsprin-
                                                                         gende Ideale wie die der Gleichwertigkeit, Partizi-
                                                                         pation und Inklusion ausschlaggebend. Eine andere
                                                                         Lesart legt jedoch nahe, den Quirk Look sowie ge-
                                                                         nerell das Aufkommen von Models mit besonderen
                                                                         Körpern als einen Effekt der veränderten Aufmerk-
                                                                         samkeitsökonomien des digitalen Zeitalters zu be-
                                                                         trachten. «The New Quirk might be an adjustment
                                                                         of sorts to an Instagram world, where amateur
                                                                         images of beauty fly fast, and editors and adverti-
                                                                         sers are looking for something to make the viewer
                                                                         linger longer than a nanosecond».5 Demnach wären
                                                                         Models mit Makel Blickfänger in einem medialen
                                                                         Umfeld, in dem die schiere Allgegenwart von Bil-
                                                                         dern zu einer Übersättigung der Betrachter_innen
                                                                         führt. Elizabeth Wissinger, die die Geschichte des
                                                                         Modeling mit Medienumbrüchen korreliert hat,
                                                                         veranschlagt einen Wandel der Aufmerksamkeits-
                                                                         ökonomie bereits für die 1980 beginnende Ära des
                                                                         Kabelfernsehens.6 Das visuelle Regime, das sich mit
                                                                         der permanenten Verfügbarkeit und Vielfalt von
Abb. 1 Shaun Ross auf dem Cover            Programmangeboten, Videorekordern und Fernbedienungen durchzusetzen
der Zeitschrift Papercut (2012)
                                           begann und in Folge der Digitalisierung noch um ein Vielfaches intensivierte,
                                           bezeichnet sie als «regime of the blink».7
                                              Klienten der Modelbranche, d. h. Designer, Modehäuser und Werbeagen-
                                           turen, reagierten auf die Multiplikation der Werbemöglichkeiten zunächst mit
                                           wenig Experimentierfreude. Der Aufstieg der sogenannten Supermodels Ende
                                           der 1980er Jahre lässt sich u. a. auch darauf zurückführen, dass Werber bevor-
                                           zugt auf wenige, bereits etablierte Gesichter setzten, die in der Folge umso
                                           öfter gebucht wurden. Auf die Ära der Supermodels folgte eine bis heute an-
                                           haltende Phase, die durch eine zunehmend rasantere Suche nach neuen Looks
                                           geprägt ist. Das Aufkommen des Quirk Look, auf das Wissinger noch nicht
                                           eingeht, kann dementsprechend auch als Signal der allmählich zur Neige ge-
                                           henden Möglichkeiten gedeutet werden, neue Looks im Rahmen der schmalen
   5 Meltzer: For Fashion Models,          Bandbreite branchenüblicher Normen zu entdecken bzw. auf Basis privilegierter
Quirk Is In.
   6 Elizabeth Wissinger: This Year’s
                                           Körperlichkeiten zu kreieren. Denn auch das inzwischen globalisiert betriebe-
Model: Fashion, Media, and the Making      ne Scouting nach neuen Gesichtern darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im
of Glamour, New York 2015, 40.
   7 Ebd., 18.
                                           Zeitalter des regime of the blink nach wie vor ‹weiße› Models favorisiert werden.
   8 Mears: Pricing Beauty, 173; sowie     ‹Rasse› stellt neben Körpermaßen und Proportionen ein zentrales Zugangskri-
Joel Mignott: An open letter on the
fashion industry’s lack of diversity,
                                           terium zur Branche dar, woran auch brancheninterne Kritik bisher nichts än-
in: Hunger TV, dort datiert 14.6.2016,     dern konnte.8 Im Hinblick auf die hellhäutige Norm des Modelkörpers stellt
www.hungertv.com/feature/an-open-
letter-on-the-fashion-industrys-lack-of-
                                           dunkle Hautfarbe als Blickfang eine Art funktionales Äquivalent zur jeweils in-
diversity/, gesehen am 21.9.2016.          dividuellen ‹Macke› der überwiegend weißen Quirk-Models dar. ‹Schwarze›

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EIN MODEL MIT ‹MAKEL›

Models, wie Pat Cleveland, Iman, Grace Jones und
Naomi Campbell können dadurch als Quirk-Models
avant la lettre bezeichnet werden, der albinotische
Afroamerikaner Shaun Ross sogar als hyper-quirk:
neben ‹schwarzen› Gesichtszügen bei hypopigmen-
tierter Haut und Haaren hat er ­einen Wulst an der
Nasenwurzel, der seinem Gesicht eine disproportio-
nale Note verleiht und damit – der L   ­ ogik des Quirk
Look entsprechend – für sich ­genommen schon Irri-
tationsmoment genug wäre, um die Aufmerksamkeit
des flüchtigen Betrachters zu bannen.
   Nina Athanasiou, eine deutsche Designerin, die
Shaun Ross bereits 2008 für eine Modenschau in
New York buchte, fasst die Faszination in Worte, die
das Model bei vielen Betrachter_innen auszulösen
scheint: «Natürlich entspricht er nicht dem gängigen
Schönheitsideal. Aber er hat eine wahnsinnige Prä-
senz.»9 Zweifelsohne gehört ‹Präsenz› – sowohl als
medial vermittelte scheinbare Allgegenwart als auch
als Gabe, trotz medialer Vermittlung unmittelbar
anwesend zu wirken – zu den wichtigsten Vorausset-
zungen von ‹Celebrity›. Seither hat es Ross auf das Cover einer ganzen Reihe von        Abb. 2 Shaun Ross präsentiert
                                                                                        die Kollektion Shaun Ross von
Modemagazinen geschafft. Vogue Italia widmete ihm 2012 ein Editorial-Video.             Nina Athanasiou in der Modezeit-
Auf großen Fashion Shows konnte er zweimal Kollektionen international renom-            schrift FSH N (2016)

mierter Designer_innen präsentieren (Alexander McQueen und Givenchy); auch
von Newcomern wurde und wird er häufiger gebucht. Für Athanasiou modelt er
bis heute. 2015 stellte sie in Berlin eine durch Ross inspirierte Kollektion vor, die
sein Konterfei auf sämtlichen Kleidungsstücken trägt, sodass das Model als Motiv
inzwischen selbst zur Mode geworden ist (siehe Abb. 2).

   II. Models als Marken
In einem seiner zahlreichen Interviewauftritte sagt Ross: «My old booker,
­Djamee, … told me all the time, ‹You know, you are special, you are literally a          9 Anna-Lena Roth: Albino-Model
 brand, you just don’t know it›, and I am like, ‹Okay, ya, ya, whatever, brand this,    Shaun Ross. Makel? Marke!, in:
                                                                                        Spiegel-Online, dort datiert 8.7.2015,
 brand that›; and he is like, ‹You don’t understand, you are a brand!›»10 Die Ana-      www.spiegel.de/panorama/leute/shaun-
 logie von Models und Marken lässt sich, wie vieles in der jüngeren Geschichte          ross-albino-model-laeuft-fuer-nina-
                                                                                        athanasiou-in-berlin-a-1042478.html,
 des Modeling, ebenfalls in die Ära der sogenannten Supermodels zurückverfol-           gesehen am 21.9.2016.
 gen.11 Seitdem dienen Models nicht nur dazu, Marken zu bewerben, sondern                 10 Shaun Ross, Albino Model
                                                                                        Inspires and Soars in Fashion
 funktionieren inzwischen in vielen Fällen selbst wie Marken.                           Industry, in: NBC News, dort datiert
    Ein zentrales Element bei der Markenbildung eines Models ist dessen ‹Look›.         16.2.2012, www.nbcnews.com/video/
                                                                                        the-grio/46412438, gesehen am
 In ihrem Aufsatz «Models as Brands» machen Joanne Entwistle und Don ­Slater            21.9.2016.
 Anleihen an der Akteur-Netzwerk-Theorie und bezeichnen den Look eines                    11 Wissinger: This Year’s Model, 43.

SCHWERPUNKT                                                                       39
MATTHIAS KRINGS

                                         Models als eine temporär stabilisierte Assemblage aus Dingen, Zeichen und
                                         Praktiken.12 Analog zur Marke, die als soziales Objekt ebenfalls nicht einzig
                                          auf das Markenzeichen reduziert werden kann, sondern in einem komplexen
                                          Netzwerk von Beziehungen existiert, dem menschliche und nicht-menschliche
                                          Aktanten angehören, weist auch der Look eines Models über das rein Visuelle
                                          und Äußerliche hinaus. Ein Look hat materielle und immaterielle Bestandteile.
                                          Letztere lassen sich vielleicht am ehesten mit den älteren Konzepten der Aura
                                          oder des Images fassen, die ebenfalls einer visuellen Metaphorik entspringen.
                                          Dieser immaterielle Aspekt des Looks ist für die Karriere eines Models mindes-
                                         tens ebenso wichtig wie dessen physischer Körper. Denn der Modelkörper stellt
                                         ­lediglich einen unter einer heterogenen Menge von Aktanten dar, die den Look
                                          in einem Netzwerk von Beziehungen hervorbringen.13 Dabei wird der Körper
                                         des Models mit bestimmten Qualitäten regelrecht aufgeladen – durch Men-
                                          schen, Dinge und Zeichen, mit denen es in Kontakt kommt, Kontexte, in denen
                                          es sich bewegt, sowie Diskurse, an denen es teilhat.
                                             Das Aufladen des Modelkörpers gleicht einem Verfahren sympathetischer
                                          Magie, durch das Eigenschaften einer Sache auf eine andere übertragen werden
                                          sollen. Dabei ergibt sich folgender, geradezu paradox erscheinender Zirkel: So
                                          wie Models helfen, Dinge zu verkaufen, mit denen ihre Körper auf dem Lauf-
                                          steg oder in der Werbefotografie in Kontakt gebracht werden, helfen auch um-
                                          gekehrt dieselben (und andere) Dinge Models, ihren Marken- und Marktwert
                                          zu steigern. In beide Richtungen kommt es zur Übertragung immaterieller,
                                          affektiver Qualitäten. Im Fall der Models lassen sich diese Attributionsprozes-
                                          se z. B. auf dem Portal models.com nachvollziehen, wo jedes Model in einem
                                          ausführlich bebilderten Portfolio anhand seiner Editorials, Videos und Inter-
                                          views sowie der Designer_innen, für die es gelaufen ist, präsentiert wird. Hier
                                          bekommt der Besucher den Look des jeweiligen Models als eine Art Super-
                                          Assemblage, als Aggregat einer Vielzahl temporär stabilisierter Assemblagen
                                          vor Augen geführt. «So, like the brand, the look is a heterogeneous assemblage
                                          of elements that we can follow outwards from the model through a wide range
                                          of relations and practices, and it labels an object that is dispersed through the
  12 Joanne Entwistle, Don Slater:
                                          processes by which it is ‹qualified›.»14
Models as Brands: Critical Thinking          Der Kern der Marke ‹Shaun Ross› besteht dementsprechend nicht ledig-
about Bodies and Images, in:
Joanne Entwistle, Elizabeth Wissinger
                                          lich aus dem besonderen Äußeren seines Körpers, sondern aus dem überge-
(Hg.): Fashioning Models: Image, Text     ordneten Phänomen ‹Albinismus›, verstanden als Komplex aus Erscheinungs-
and Industry. London 2012, 15 – 36,
hier 25 – 27.
                                          bild, medizinischem Wissen und Stigma. Dafür ist die folgende Beschreibung
  13 Dazu auch Mears: Pricing             des Models in einem Mode-Blog paradigmatisch: «You’ve seen him before.
Beauty, 7 – 9.
  14 Entwistle, Slater: Models as
                                          Known as the first albino male model, Ross was the unforgettable face in Lana
Brands, 25.                               Del Rey’s short film Tropico, Beyonce’s video Pretty Hurts, and Katy Perry’s
  15 Tara Aquino: 10 Models Who
Are Redefining the Fashion World,
                                          E.T. Just one glance [at Ross] and it’s impossible not to be enchanted by his
in: COMPLEX, dort datiert 1.4.2015,       peculiar features, which need no explanation.»15 Ross lehnt es ab, mit seiner
uk.complex.com/style/2015/04/10-
models-who-are-redefining-the-fashion-
                                          körperlichen Besonderheit in eins gesetzt zu werden, ein Anliegen, das er mit
world/, gesehen am 21.9.2016.             vielen Menschen mit besonderen Körpern teilt. Anstelle von «first albino male

                                         40                                                                   Zf M 16, 1/2017
EIN MODEL MIT ‹MAKEL›

model» findet so auch die dem Behindertenrechtsdiskurs entsprechende Prä-
gung «First male model with albinism» Verwendung.16 In beiden Varianten
seines Beinamens bleibt die Medikalisierung seines Äußeren jedoch erhalten.
In ihr zeigt sich ein öffentliches Bedürfnis, Ross’ spektakuläre Differenz zu be-
nennen und innerhalb eines dominanten Deutungsrahmens eben doch zu ‹er-
klären›. Entgegen journalistischer Setzungen wirkt Ross’ Äußeres also gerade
nicht derart «verzaubernd», dass Fragen nach Erklärung unterbleiben, was be-
reits im Beinamen ‹Albinomodel› zum Ausdruck kommt. Obgleich Ross diese
kategoriale Festschreibung eigentlich ablehnt, ist das so entstandene ­Label ein
zentraler Bestandteil seines Markenbildungsprozesses.
   Der Markenkern Albinismus erlaubt es, Ross’ Karriere als Erfolgsgeschichte
im Stil des Märchens vom ‹hässlichen Entlein› zu erzählen, in dem es dem Hel-
den gelingt, sein Stigma zu überwinden. Entsprechend fährt der bereits zitierte
Artikel fort: «In fact, his look, which used to make him the subject of bullying as
a kid, is so intriguing that he’s one of the most recognizable male models wor-
king today, having been featured in everything from GQ to Vogue. Essen­tially,
Ross grew up turning what was once perceived as his greatest weakness into his
biggest strength.»17 Diese Erzählung von der Transformation des Makels in ein
Markenzeichen wird in vielen Interviews und Selbstäußerungen des Models
noch zusätzlich durch Verweise auf Abstammung (African American) und Her-
kunft (The Bronx) unterfüttert. Dadurch verkörpert Ross nicht nur seine eigene
Marke, sondern trägt auch dazu bei, ein positives Bild der Modewelt zu zeich-
nen, die sich scheinbar für Models abseits der gängigen Model-Norm geöffnet
hat und ihr Personal unabhängig von ‹Rassen›- oder auch Klassenzugehörigkeit
rekrutiert. Freilich handelt es sich dabei lediglich um ein Idealbild,18 weshalb
Shaun Ross und ferner auch Diandra Forrest, die als «first African American
female model with albinism» firmiert, eine umso größere Strahlkraft haben. Be-
merkenswert ist dabei, dass sie als ‹weiße Schwarze› der gängigen Norm des
weißen Modelkörpers gleichermaßen entsprechen und sie unterlaufen. Sie ver-
körpern also paradoxerweise sowohl das tolerierte Andere, die sprichwörtliche
Ausnahme, die die Regel bestätigt, als auch die Regel selbst.

  III. Berühmt werden mit sozialen und anderen Medien
                                                                                        16 In dieser Begriffsbildung
Anders als Shaun Ross’ ehemaliger Booker behauptete, ‹ist› ein Model nicht            geht es darum, die Behinde­
                                                                                      rung – hier das genetische Syndrom
einfach eine Marke, selbst dann nicht, wenn es wie Ross über eine Art ange-           ‹Albinismus› – nicht den Menschen
borenes Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert verfügt. Vielmehr                definieren zu lassen, was symbolisch
                                                                                      auch in der Wortstellung zum Aus­
müssen Models hart daran arbeiten, sich am Markt als Marke zu etablieren.             druck gebracht werden soll. In der
Diese Arbeit ist Teil dessen, was Wissinger als «glamour labor» bezeichnet.19         amerikanischen Behindertenrechts­
                                                                                      bewegung spricht man deshalb von
Glamour labor beinhaltet körperliche und virtuelle Aspekte der Selbstdarstel-         der «person first»-Nomenklatur.
lung und dient dazu, den eigenen Look – Aussehen und Image – zu etablieren              17 Tara Aquino: 10 Models.
                                                                                        18 Joel Mignott: An open letter.
bzw. wechselnden Moden anzupassen. Sie findet im Grunde rund um die Uhr                 19 Wissinger: Next Year’s
statt: als Arbeit an und mit dem eigenen Körper und als Auf- und Ausbau eines         Model, 2 – 4.

SCHWERPUNKT                                                                     41
MATTHIAS KRINGS

                                         Netzwerks sozialer Beziehungen. Dazu gehört ebenfalls, über neueste Trends
                                         und Stile informiert zu sein, Kontakt zu bereits berühmten Persönlichkeiten aus
                                         der Modewelt oder benachbarten Feldern zu unterhalten und an ‹­angesagten›
                                         Orten zu verkehren. Glamour labor ist eine wesentliche Voraussetzung, um als
                                         Model berühmt zu werden.
                                            Für die Modewelt ist Instagram zu einer Art Leitmedium geworden. Hier sind
                                         Models vertreten, die auch jenseits dieser Plattform einen Status als Cele­brity be-
                                         anspruchen können, z. B. Alt-Star Heidi Klum (3 Mio. Abonnenten) oder Shoo-
                                         ting-Star Kendall Jenner (66 Mio. Abonnenten), wie auch solche, deren Berühmt-
                                         heit sich im Wesentlichen auf Instagram und Facebook beschränkt. Zu Letzte-
                                         ren gehört das männliche Model Nick Bateman, ein Instagram-Star mit 5,4 Mio.
                                         Abonnenten, der außerhalb sozialer Netzwerke kaum bekannt ist.20 Während
                                         Models ihre Darstellung in herkömmlichen Modemedien kaum beeinflussen
                                         können, steuern sie ihre Auftritte in sozialen Medien als Unternehmer_innen in
                                         eigener Sache selbst oder lassen dies durch eigene PR -Stäbe erledigen. Wie sich
                                         Instagram-Abonnentenzahlen auf Buchungen für Laufsteg-Jobs und Fotoshoo-
                                         tings, mithin das Kerngeschäft eines Models, auswirken, ist eine offene Frage.
                                         Um unter Fashionistas und potenziellen Konsumenten der Dinge, die durch Mo-
                                         dels beworben werden, berühmt zu werden, sind die Selbstdarstellungsmedien
                                         Instagram, Facebook und Twitter jedoch ideal. Da sie außerdem als Plattformen
                                         für virales Marketing fungieren, können Models und andere Celebrities durch
                                         sogenannte product endorsements hier auch zusätzliches Einkommen generieren.
                                            Shaun Ross hat nahezu 350 000 Abonnenten auf Instagram, womit er sich un-
                                         ter Models mit Instagram-Account etwa im unteren Mittelfeld bewegt. Er be-
                                         nutzt seinen Account wie ein öffentliches Tagebuch und versorgt seine Abonnen-
                                         ten mehrfach täglich mit neuen Bildern, Clips und Texten. Die meisten Bilder
                                         zeigen ihn selbst, häufig in Begleitung anderer, mehr oder weniger prominenter
                                         Personen, und sind mitunter als Selfies, meist jedoch von Dritten aufgenommen.
                                         Thematisch dominieren einschlägige Szene-Events, Gala- und Benefizveranstal-
                                         tungen, Fotoshootings, Hinweise auf TV -Auftritte und popkulturelle Projekte,
                                         an denen er teilhat, z. B. Gastauftritte in Musikvideoclips oder Videokunst. Orts-
                                         wechsel (New York, Los Angeles, Berlin etc.) werden stets angekündigt und mit
                                         Bildern aus dem Transitraum illustriert. Daneben lässt er seine Abonnenten an
                                         seinem Privatleben teilhaben, postet Bilder seines Schoßhundes, Skype-Screen­
                                         shots seines kranken Großvaters, dessen Tod er wenig später ebenfalls öffentlich
                                         betrauert, und Clips, die seinen Freund und seine Mutter zeigen.
                                            Lebenspraktische Botschaften («Today’s word is … ») vermittelt er in Form
                                         von Selfie-Videos oder Textblöcken, die an die analoge Form des Abreißkalenders
                                         erinnern. Eine dieser Botschaften lautet: «Surround yourself with people who
  20 Eddie Roche: Who the Hell Is
                                         see how great you truly are» (6.8.2016). Ross’ Account lässt sich als Illustration
Nick Bateman?, in: The Daily Front       und praktische Ausführung ebendieser Maxime deuten: Bilder und Kommentare
Row, dort datiert 17.11.2014, fashion-
weekdaily.com/who-hell-nick-bateman/,
                                         sind voller Bezüge zu Celebrities, deren Ruhm er mehrt, indem er zur Zirkula-
gesehen am 21.9.2016.                    tion ihrer Namen und Konterfeis beiträgt, die umgekehrt aber auch zu seinem

                                         42                                                                     Zf M 16, 1/2017
EIN MODEL MIT ‹MAKEL›

Ruhm beitragen, indem sie sich mit ihm ablichten
lassen oder ihn für Gastauftritte in ihren Projekten
buchen. So gratuliert er beispielsweise Beyoncé am
5.9.2016 mit zwei Postings zum Geburtstag: einem
Still aus dem Musikvideo Pretty Hurts (2013), in dem
er einen Gastauftritt hatte, und einem Selfie, das die
beiden eng aneinandergeschmiegt, vermutlich wäh-
rend der Dreharbeiten, zeigt. Bei Will I Am von den
Black Eyed Peas bedankt er sich dafür, dass dieser
ihn zusammen mit vielen anderen Prominenten zur
Neuaufnahme des Musikvideos Where’s the Love?
eingeladen hatte: «Thank You @iamwill for making
me a part of #wheresthelove movement along with
so many great people like yourself» (2.9.2016). Das
derart kommentierte Bild zeigt Ross neben dem Mu-
siker, der ihm einen Arm um die Schultern legt. Auf
weiteren (Re-)Postings sind Ross’ Gastauftritt im
­Video und sein Name in einer Liste von über 50 Namen von Celebrities aus dem        Abb. 3 Shaun Ross auf
                                                                                     Instagram @shaundross
 Musik- und Showgeschäft zu sehen, die sich ebenfalls an der von den Black Eyed      (Screen­shot, September 2016)
 Peas lancierten Kampagne gegen Gewalt und Diskriminierung beteiligt haben.
 Viele weitere Beispiele ließen sich aufzählen.
    In dieses Netzwerk von Referenzen und Verweisen sind nicht nur im Bild
 sichtbare Personen eingebunden, sondern auch im Hintergrund an der Bild-
 produktion Beteiligte sowie nicht-menschliche Aktanten. Fährt man mit dem
 Mauszeiger über die Bilder, erscheinen verlinkte Hinweise auf Fotograf_innen,
 Make-up-Artists, Designer_innen und Modemarken. Dies schließt zum einen
 an die Cross-Referenzialität analoger Modemagazine an und erinnert ebenfalls
 an die popkulturelle Praxis des ‹Featuring›, bei der das Einbinden von Gast­
 interpret_innen der wechselseitigen Übertragung von Ruhm dienen soll. Zum
 anderen zeigt sich in Ross’ Account die grundlegende Funktionslogik von Ins-
 tagram und anderen sozialen Medien, die darin besteht, das «self-fashioning»
 ihrer Nutzer_innen zu unterstützen,21 indem sie ihnen erlaubt, ihre öffentliche
 Person bzw. sich selbst als Marke, als Knotenpunkt in einem Netzwerk aus
 Menschen, Dingen und Zeichen zu erschaffen. Was weiter oben als wechselsei-
 tiges ‹Aufladen› bezeichnet wurde, lässt sich somit nicht nur an der Oberfläche
 von Bildern und Texten finden, sondern ist überdies bereits der konnektiven
 Logik sozialer Medien eingeschrieben.
    Ross’ Abonnent_innen können ebenfalls zu denjenigen gerechnet werden,
 die er um sich schart, weil sie ‹wissen, wie großartig er wirklich ist›. «You are
 amazing» ist der häufigste Kommentar, nicht zuletzt auch deshalb, da Ross
 ihn seinen Abonnent_innen geradezu in den Mund legt, wenn er Bilder von
                                                                                        21 Stephen Greenblatt:
 sich postet: «This is me. I hope you like it, if not it’s your loss … I’m ama-      Renaissance Self-Fashioning: From More
 zing» (7.9.2016). Teils hält er seine Fans auch explizit zum Feedback an, wenn      to Shakespeare, Chicago 1980.

SCHWERPUNKT                                                                    43
MATTHIAS KRINGS

                                       er schreibt: «Use the word ‹Sometimes› in a sentence below to express your
                                       exact feeling at this moment. Sometimes I wonder … » (19.8.2016), oder dazu
                                       auffordert, ein Bild, das ihn in einer müde bis lasziv wirkenden Pose zeigt, mit
                                       einer Zeile aus einem Lieblingslied zu versehen (26.7.2016). Dabei handelt es
                                       sich um Varianten üblicher Verfahren, mit denen insbesondere Newcomer im
                                       Pop-Geschäft ihren Fans und Followern Nähe suggerieren. Obschon sich in
                                       dieser Praxis des sprechenden und textenden Models ein deutlicher Bruch mit
                                       der überkommenen Passivität zeigt, die von Models bis in die 1990er Jahre hi-
                                       nein erwartet wurde, entzieht sich Ross seinen Abonnent_innen insofern auch
                                       wieder, als er so gut wie nie auf deren zahlreiche Fragen und Aufforderungen
                                       zum Dialog eingeht. Auf diese Weise lebt und inszeniert er mithilfe von Insta-
                                       gram ein idealtypisches Model-cum-Celebrity-Leben, in dem die Grenzen von
                                       Vorder- und Hinterbühne, öffentlicher und privater Person auf eigentümliche
                                       Weise verschwimmen, sodass ein paradoxer Effekt von Nähe und Distanz, von
                                       Alltäglichkeit und Glamour entsteht.
                                           Eine durchschnittliche Modelkarriere dauert selten länger als fünf Jahre.22 Sie
                                       lässt sich verlängern, sofern Models zu Berühmtheiten werden oder – wie Shaun
                                       Ross – über ein außergewöhnliches Markenzeichen verfügen. In jedem Fall
                                       empfiehlt es sich, das in der Modewelt erworbene kulturelle Kapital nach Mög-
                                       lichkeit auch in andere Felder kultureller Produktion zu übertragen. Shaun Ross
                                       konnte seinen Bekanntheitsgrad beispielsweise durch eine Reihe von Gastauf-
                                       tritten in Musikvideos steigern. Während er für Katy Perrys Video E.T. (2010)
                                       noch als Außerirdischer und somit in einer Rolle, die an die Inszenierung von
                                       Menschen mit Albinismus zu Freak-Show-Zeiten erinnert,23 gecastet wurde, trat
                                       er in Beyoncés Pretty Hurts (2013), in dem es um einen Schönheitswettbewerb
                                       geht, als Model-Manager auf. Diese fiktionale Rolle gestattete ihm nicht nur
                                       einen bemerkenswerten Seitenwechsel gegenüber seiner Rolle in der ‹realen›
                                       Welt. Da er als Manager Beyoncé, die im Video eine Beauty Queen verkörpert,
                                       herumkommandieren durfte, sorgte sein Gastauftritt auch für Aufmerksamkeit
                                       in der Mode- und Musikwelt-nahen Klatschberichterstattung.24 In Lana Del
                                       Reys 27-minütigem Kurzfilm Tropico (2013), der drei Lieder in drei unterschied-
  22 Mears: Pricing Beauty, 12.
                                       lichen Szenerien koppelt, ist Ross durchgängig als Del Reys Liebhaber zu ­sehen.
  23 J. Tithonus Pednaud: Willie &     Die erste Szenerie ist nicht allein deshalb bemerkenswert, weil sie Ross und
George Muse: The Men From Mars,
in: The Human Marvels, dort datiert
                                       Del Rey als Adam und Eva im Paradies zeigt, sondern auch, weil ihnen dabei
14.7.2016, www.thehumanmarvels.        aus dem Himmel zu Göttern gewordene Ikonen der amerikanischen Popkultur
com/willie-and-george-muse-the-men-
from-mars/, gesehen am 17.9.2016.
                                       (Marilyn Monroe, John Wayne und Elvis Presley) zuschauen. Von Lana Del Rey
Ausführlicher dazu: Beth Macy:         ‹ge-feature-t›, gelingt es Ross mit dieser Rolle, sich – zumindest im fiktiona-
Truevine, New York 2016.
   24 Vanessa Denis: Shaun Ross
                                       len Raum des Videos – dem popkulturellen Olymp anzunähern. Im Sinne einer
Explains Yelling At Beyoncé In         Hervorbringung von Berühmtheit durch Kontakt lässt sich an diesem Beispiel
Pretty Hurts, Video, online unter
power1051.iheart.com/articles/power-
                                       die Übertragung von Ruhm in zweifacher Hinsicht konstatieren: auf der Ebene
updates-456300/video-shaun-ross-       der zweidimensionalen bewegten Bilder, in denen Ross formal in die Nähe von
explains-yelling-at-11981200/,
dort datiert 15.1.2014, gesehen am
                                       Idolen gerückt wird, und auf der Ebene der Produktion, die seinen Namen mit
21.9.2016.                             dem einer bekannten Größe im Musikgeschäft, Lana Del Rey, verknüpft.

                                       44                                                                    Zf M 16, 1/2017
EIN MODEL MIT ‹MAKEL›

    Sein jüngster Musikvideo-Auftritt, in der Produktion Dust (2016) der in-          Abb. 4 Shaun Ross mit Lana
                                                                                      Del Rey in Tropico (2013)
ternational wenig bekannten australischen Band Braves, sorgte für einen
kalkulierten Skandal und entspricht damit einem klassischen Mittel der Auf-
merksamkeitsgenerierung. In der Endsequenz des Videos ist das mittels «Pe-
nis-Prothese» verlängerte Genital von Ross zu sehen, was zu tagelangen Dis-
kussionen im Internet führte.25 Dass Ross den Skandal bewusst einkalkuliert
hatte, lässt sich der Schilderung eines Bandmitglieds entnehmen: «I sent Shaun
the song and he called and told me he loved it. Then I explained the video
concept over the phone and he stopped, then said ‹Wait … I have to show my
cock?! I’m in.›»26 Auf seiner Instagram-Seite verteidigt Ross seinen Auftritt als
einen Akt der Kreativität: «I’ve received so many emails from multiple media
outlets asking for an exclusive so thought I should do here. I feel like creativity
is lost and I am super happy @bravessound helped wake that up again. If Kim
k. can break the Internet why not be a genius too #DUST #BRAVES #FREE­
THEBACON …» (2.2.2016). Mit dem Verweis auf Kim Kardashian legt er eine
einschlägig bekannte Inspirationsquelle offen: Unter dem Hashtag «Break the
Internet» gelang ihr im Dezember 2014 mithilfe der Zeitschrift Paper, die sie
mit entblößtem Hinterteil aufs Cover hob, ein Aufmerksamkeitserfolg, der das
Internet zwar nicht ‹zusammenbrechen› ließ, ihrem Celebrity-Status und der               25 Model Shaun Ross schockt mit
Auflagenhöhe des Magazins aber einen erheblichen Schub verschaffte.27                 Riesenpenis, in: Stern, dort datiert
                                                                                      3.2.2016, www.stern.de/lifestyle/leute/
                                                                                      shaun-ross-schockt-in-musikvideo-mit-
                                                                                      riesenpenis-6681266.html, gesehen
  IV. Berühmtheit und soziales Engagement                                             am 21.9.2016.
                                                                                         26 Statement der Band Braves
Viele Prominente aus Show- und Filmgeschäft treten öffentlich nicht nur als           auf der Website der Firma Convicts,
                                                                                      online unter convicts.nyc/convicts/
Werbeträger ihrer selbst auf, sondern verbinden ihre Berühmtheit mit sozialem         braves/, dort datiert 31.1.2016, gesehen
Engagement. In Bezug auf die Karriere von Shaun Ross ist vor allem die Praxis         am 21.9.2016.
                                                                                         27 Amanda Fortini: No Filter: An
der prominenten Fürsprache (celebrity advocacy) von Interesse, bei der Promi-         Afternoon with Kim Kardashian, in:
nente in der Regel nicht einen Teil ihres Vermögens, sondern in erster Linie          Paper, dort datiert 12.11.2014, www.
                                                                                      papermag.com/no-filter-an-afternoon-
ihr Image einem ‹guten Zweck› zur Verfügung stellen. Der Prominente wirkt             with-kim-kardashian-1427450475.
hierbei wie ein Brennglas, das die Aufmerksamkeit der Massen bündeln und              html, gesehen am 21.9.2016.

SCHWERPUNKT                                                                     45
MATTHIAS KRINGS

                                                                                        von sich auf das zu unterstützende
                                                                                        Projekt lenken soll.28 Als Werbeträ-
                                                                                        ger für gute Zwecke haben Promi-
                                                                                        nente eine ganz ähnliche Funktion
                                                                                        wie Models. In beiden Fällen sind
                                                                                        Transferprozesse intendiert, die ein
                                                                                        zu bewerbendes Produkt – hier hu-
                                                                                        manitäre Projekte, dort Kleidung
                                                                                        oder andere Konsumgüter – posi-
                                                                                        tiv aufladen und affektiv besetzen
                                                                                        sollen, um ein Publikum zum Han-
                                                                                        deln, zur Spende bzw. zum Kauf zu
                                                                                        bewegen. Und ähnlich wie in der
                                                                                        zirkulär angelegten Verknüpfung
                                                                                        von Models mit Marken wirkt auch
                                                                                        das soziale Engagement von Pro-
                                                                                        minenten auf ihr Image zurück.
Abb. 5 Ross als sozialer Aktivist         Celebrities profitieren von sozialem Engagement insofern, als Berühmtheit, zu-
(Screenshot, Instagram Account
#InMySkinIWin, 13.6.2016)
                                          mal solcher, die auf zweifelhaften Leistungen beruht, der Ruch des Unverdien-
                                          ten und des Selbstverliebten anhaftet; 29 dieser kann durch soziales Engagement
                                          verdrängt oder überlagert werden. Einiges spricht dafür, soziales Engagement
                                          als eine Form des «boundary work» zu begreifen,30 mit der sich bestimmte
                                          Berühmtheiten bewusst oder unbewusst von skandalumwitterten Celebrities
                                          des Typs Kim Kardashian abgrenzen, die als Personifikationen ‹unverdienten
                                          Ruhms› gelten können.
                                             Shaun Ross, der sich selbst als Model und Aktivist bezeichnet, betreibt so-
                                          ziales Engagement unter den Bedingungen des regime of the blink als Hashtag-
                                          Aktivismus. Mit seiner über soziale Medien verbreiteten Kampagne «In my
                                          skin I win» möchte er Aufklärungsarbeit in Sachen Albinismus leisten und ge-
                                          gen die Stigmatisierung von Menschen mit Albinismus mobilisieren.31 Anders
                                          als bei vielen anderen Prominenten ist der Bezug zur ‹guten Sache›, für die
   28 Dan Brockington: Celebrity
                                          er sich einsetzt, bei Ross nicht arbiträr, sondern existenziell: Er verkörpert sie.
­ dvocacy and International Develop-
A                                         Entsprechend fließend ist bei ihm auch die Grenze zwischen Modeling und so-
ment, London, New York 2014.
   29 Daniel J. Boorstin: From Hero
                                          zialem Aktivismus. Eine Autorin des deutschen Mode-Blogs Styleranking fragt
to Celebrity: The Human Pseudo-           ihn dazu Folgendes: «Du giltst als das bekannteste Albinomodel der Welt. Wer
Event [1962], in: P. David Marshall
(Hg.): The Celebrity Culture Reader,
                                          profitiert aus deiner Sicht mehr von deinem ungewöhnlichen Erscheinungs-
New York, London 2006, 72 – 90.           bild: die Marke, für die du wirbst, oder die Aufmerksamkeit gegenüber Albinis-
   30 Michèle Lamont: Money, Morals
and Manners: The Culture of the French
                                          mus?» Ross antwortet:
and the American Upper-Middle Class,
Chicago 1992, 11.                              Es kommt auf die Art und Weise an, wie ich Albinismus durch die Marken, für die
   31 Francesca Dunn: Shaun Ross,              ich arbeite, promote. Ich denke nicht, dass man da haarscharf unterscheiden sollte.
in His Skin He Wins, in: i-D, dort
datiert 1.5.2014, i-d.vice.com/en_gb/
                                               Es geht einfach um die Aufmerksamkeit, die mein Erscheinungsbild erweckt. Da-
article/shaun-ross-in-his-skin-he-wins,        von profitieren beide Seiten. […] ich nutze die Aufmerksamkeit gegenüber meiner
gesehen am 21.9.2016.                          Person, um den Menschen zu zeigen, dass eben deutlich mehr dahintersteckt als

                                          46                                                                           Zf M 16, 1/2017
EIN MODEL MIT ‹MAKEL›

  nur eine Pigmentstörung. Es handelt sich bei Albinismus nicht einfach nur um ein
  Krankheitsbild. Ich bin unglaublich dankbar, dass sich mir die Möglichkeit bietet,
  auf meine Andersartigkeit aufmerksam zu machen.32

Zwar engagiert sich Ross in erster Linie in Sachen Albinismus, u. a. in Ko-
operation mit NGO s, die in Ostafrika arbeiten, wo Menschen mit Albinismus
durch sogenannte Medizinmorde gefährdet sind. Er benutzt seine spezifische
Andersartigkeit darüber hinaus aber auch metonymisch, als Symbol für alle
möglichen Formen sichtbarer Differenz, für deren Akzeptanz er kämpft, sodass
das Mainstreaming von diversity inzwischen zum festen Bestandteil der Marke
Shaun Ross geworden ist. Damit trifft er nicht nur den Zeitgeist, sondern kann
ebenfalls neue Kunden akquirieren: Seit Anfang 2016 ist er bei der Männer-
Pflege-Marke Axe (bzw. Lynx im anglophonen Raum) als ‹Markenbotschafter›
unter Vertrag. Sein Aktivismus für Vielfalt und seine Präsenz in sozialen Medi-
en waren dafür ausschlaggebend. Rik Strubel, Global Vice President von Axe,
wird dazu von einem Marketing-Blog paraphrasiert:

  [Axe is] now hoping the partnership with Ross will keep the momentum going. Ross,
  a keen user of social media, has built a following using the hashtag #InMySkinIWin
  which encourages people to embrace their identity. Strubel said that his followers
  will now be introduced to the Axe brand and, likewise, it will be opened up to a new
  set of people that celebrate individuality.33

Im digitalen Zeitalter verschwimmen die Grenzen zwischen Werbung und so-
zialem Engagement ähnlich wie bei Ross die Übergänge zwischen Modeling
und Hashtag-Aktivismus. Der mit dem Slogan «Find your magic» über glo-
bale Medienkanäle betriebene Relaunch von Axe / Lynx kommt als Kampagne
für die Dekonstruktion überkommener Bilder von Männlichkeit und zur För-
derung von Individualität und Diversität daher – ganz so, als wäre der Verkauf
des Produkts nur ein fernes, untergeordnetes Ziel.34 Ähnlich wie es inzwischen
zum guten Ton von Berühmtheit gehört, sozial aktiv zu sein, setzt die Kam-
pagne zeitgemäß darauf, die Marke mit sozialem Engagement zu verbinden.
Wenn sich hier ein Trend abzeichnet, werden Models und Celebrities in Zu-
kunft als Werbepartner_innen umso attraktiver sein, je mehr sie ihren eigenen
Markenkern um soziales Engagement erweitern. Dabei geht es nicht allein um
                                                                                                 32 Lara Schwitalla: Albino-
ihr Image, sondern ebenfalls um die intermediäre Funktion von Celebrities als                 Top­model Shaun Ross.
Knotenpunkte in Netzwerken von Fans und Followern, die sich in Klicks und                        33 Jennifer Faull: What model
                                                                                              Shaun Ross will bring to Axe’s
Likes und potenzielle Absatzzahlen übersetzen lassen.                                         campaign to stop stereotyping
   Shaun Ross’ Karriere als Model wäre ohne die medialen Bedingungen der                      men, in: The Drum News, dort
                                                                                              datiert 29.6.2016, www.thedrum.
Gegenwart kaum möglich gewesen. ‹Besondere Berühmtheit› im Rahmen der                         com/news/2016/06/29/what-model-
Modewelt ist an den im Kontext des regime of the blink gestiegenen Bedarf nach                shaun-ross-will-bring-axes-campaign-
                                                                                              stop-stereotyping-men, gesehen am
Models gekoppelt, die aufgrund ihres außergewöhnlichen Looks dazu in der                      21.9.2016.
Lage sind, die Aufmerksamkeit der flüchtigen Betrachter_innen zu bannen, da                      34 Axe: Find Your Magic, Werbeclip,
                                                                                              online unter www.youtube.com/
sie aus der Masse herkömmlicher Models hervorstechen. Während soziale Me-                     watch?v=WzTSE6kcLwY, dort datiert
dien für die Selbstdarstellung von Models generell eine wichtige Rolle spielen,               12.1.2016, gesehen am 21.9.2016.

SCHWERPUNKT                                                                              47
MATTHIAS KRINGS

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                                                                     les Marketing attraktiv zu werden, nutzt sie Shaun
                                                                     Ross auch noch als Heilmittel gegen die Nachwe-
                                                                     hen ehemaliger Stigmatisierungserfahrungen. Seine
                                                                     zahlreichen Posts, die darauf angelegt sind, sich Be-
                                                                     stätigung von Fans und Followern zu holen (er fa-
                                                                     vorisiert bezeichnenderweise den Begriff supporter),
                                                                     sind kaum zu übersehen. Ross legt jedoch Wert da-
                                                                     rauf, seine ‹besondere Berühmtheit› nicht allein als
                                                                     Selbstzweck zu verfolgen, sondern ihr auch einen
                                                                     überindividuellen sozialen Mehrwert zu geben. So
                                                                     will er seine Erfahrung des Berühmtwerdens trotz
                                                                     eines vermeintlichen Makels als Ermutigung für all
                                                                     jene verstanden wissen, die ebenfalls über außerge-
                                                                     wöhnliche Körper verfügen. Als Aktivist ist er des-
Abb. 6 Fließende Grenzen               halb bemüht, sich mit den Mitteln, die ihm das Modeling und die mediale Kul-
zwischen Werbung und sozialem
Aktivismus: Lynx-Werbeclip
                                       tur der Gegenwart bieten, für die Akzeptanz und gesellschaftliche Teilhabe von
Shaun Ross on Being You (Montage       Menschen mit besonderen Körpern einzusetzen: «I have a duty and if I stuck to
des Autors aus Screenshots
und Transkript des Sprechtextes)
                                       it I can make a difference».35 Ob diese Strategie auch jenseits der gegenwärtig
                                       zu beobachtenden konjunkturellen Koppelung von Werbung und sozialem Ak-
                                       tivismus aufgehen kann, bleibt jedoch abzuwarten.
                                           Im Vergleich zu gewöhnlichen Models dauert die inzwischen achtjährige Kar-
                                       riere des außergewöhnlichen Models zwar schon sehr lange, verlief dafür aber
                                       weniger steil (Ross selbst spricht von «turtle slow»).36 Bedenkt man, dass Jobs wie
                                       das Präsentieren von High-Fashion auf Modenschauen oder Editorial-Bildstre-
                                       cken in Modemagazinen zwar prestigeträchtig, aber schlecht bezahlt sind,37 lässt
                                       sich feststellen, dass Ross acht Jahre glamour labor, d. h. harte und vermutlich eher
                                       schlecht und teils auch gar nicht bezahlte Arbeit, in den Aufbau der eigenen Mar-
                                       ke investieren musste, bevor diese ein ausreichendes Maß an Berühmtheit erlangt
  35 Shaun Ross: In my skin I win,
Vortrag in der Reihe Radical Beauty,
                                       hatte, um ihm seinen ersten lukrativen Job als ‹Markenbotschafter› zu sichern.
kuratiert von Daniel Vais, TEDx­       Dies ist bezeichnend, und zwar sowohl für den enormen Durchhaltewillen des
Hackney, online unter https://www.
youtube.com/watch?v=kqRlB5ZQeho,
                                       Models Shaun Ross als auch für die – quirk look hin oder freak chic her – mehr-
dort datiert 16.4.2014, gesehen        heitlich nach wie vor vorhandene Zurückhaltung in der Mode- und Werbewelt,
am 21.9.2016.
  36 Ebd.
                                       Models mit außergewöhnlichen Körpern bzw. ‹Models mit Makel› auch jenseits
  37 Mears: Pricing Beauty, 38 – 41.   von wohlkalkulierten Irritations- oder Schockmomenten einzusetzen.
                                       —                            Der Aufsatz ist im Kontext des Projekts Un / Doing Albinismus. Rekodierungen
                                                                    einer verkörperten Differenz in historisch variablen Rahmungen entstanden,
                                                                    das ein Teilprojekt der an der JGU Mainz angesiedelten DFG -Forschergruppe
                                                                    Un / doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung ist. Für kritische
                                                                    Kommentare danke ich Hauke Dorsch, Kathrin Hoff, Christopher Hohl, Svenja
                                                                    Lambert, Peter Rehberg, Tom Simmert, Brigitte Weingart, Bernd Zywietz
                                                                    und den beiden anonymen Reviewer_innen.

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