Eine rechtsvergleichende - Deutschland - STUDIE - europa.eu

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Eine rechtsvergleichende - Deutschland - STUDIE - europa.eu
Das Recht
                               auf Gesundheit,
                          eine rechtsvergleichende
                                 Perspektive

                                        Deutschland

                           STUDIE
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments
                Bibliothek für Vergleichendes Recht
                     PE 698.770 – Oktober 2021                 DE
DAS RECHT AUF GESUNDHEIT,
           EINE RECHTSVERGLEICHENDE PERSPEKTIVE

                                   Deutschland

                                         STUDIE
                                      Oktober 2021

Zusammenfassung
Dieses Dokument ist Teil einer Reihe von Studien, mit denen das Recht auf Gesundheit in
verschiedenen Staaten aus rechtsvergleichender Sicht dargestellt werden soll. Nach einer
Erklärung der einschlägigen Rechtsvorschriften und Rechtsprechung werden der Inhalt, die
Grenzen und die mögliche Entwicklung dieses Rechts analysiert.
Die vorliegende Studie hat den Fall Deutschland zum Gegenstand.
Ein „Recht auf Gesundheit“ ist dem deutschen Verfassungsrecht fremd. Das „Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit“ nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz schützt nicht die
Gesundheit als solche. Allerdings ist dieses Grundrecht, das zunächst ein Abwehrrecht gegen
staatliche Eingriffe darstellte, durch das Bundesverfassungsgericht auch in seiner
Schutzpflichtdimension entfaltet worden. Danach gebietet das Grundrecht dem Staat, sich
schützend und fördernd vor das menschliche Leben zu stellen. Unabhängig von den
verfassungsrechtlichen Determinanten hat sich seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung
mit dem Sozialgesetzbuch, ferner durch das Infektionsschutzgesetz und zahlreiche weitere
Kodifikationen ein umfangreiches einfachgesetzliches Gesundheitsrecht gebildet.

  EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments
Studie

AUTOR
Diese Studie wurde von Prof. Dr. Franz REIMER, Justus-Liebig-Universität Gießen verfasst,
im Auftrag des Referats „Bibliothek für Vergleichendes Recht“ in der Generaldirektion des
wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (GD EPRS), Generalsekretariat des
Europäischen Parlaments.

HERAUSGEBER
Prof. Dr. Ignacio DÍEZ PARRA, Referatsleiter der „Bibliothek für Vergleichendes Recht“
Wenn Sie sich an das Referat wenden möchten, schreiben Sie eine E-Mail an:
EPRS-ComparativeLaw@europarl.europa.eu

SPRACHFASSUNGEN
Original: DE

Dieses    Dokument       ist     im     Internet   unter    folgender     Adresse        abrufbar:
http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/home.html

HAFTUNGSAUSSCHLUSS
Dieses Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments
und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt. Die Verantwortung für den Inhalt liegt
ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungen
entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments.
Nachdruck und Übersetzung zu nichtkommerziellen Zwecken mit Quellenangabe sind
gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm an die oben genannte E-Mail-
Adresse ein Exemplar übermittelt wird.
Redaktionsschluss: Oktober 2021.
Brüssel, © Europäische Union, 2021.
Fotonachweise: © polack / Adobe Stock.

PE 698.770
Gedruckt       ISBN 978-92-846-8695-7       DOI:10.2861/357587             QA-09-21-475-DE-C
PDF :          ISBN 978-92-846-8696-4       DOI:10.2861/778290             QA-09-21-475-DE-N

                                              II
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                                                                               Deutschland

Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................... IX
Zusammenfassung .............................................................................................................. XII
I.     Einleitung ...................................................................................................................... 1
       I.1. Hintergrund: Geschichtliche Aspekte zu Gefahren im Gesundheitsbereich in
             Deutschland und der Einfluss von COVID-19 ........................................................................1
       I.2. Historische Entwicklung der Anerkennung eines Rechts auf Gesundheit im
             deutschen Recht ..............................................................................................................................2
             I.2.1. Paulskirchenverfassung 1849........................................................................................2
             I.2.2. Reichsverfassung 1871 ....................................................................................................3
             I.2.3. Weimarer Reichsverfassung 1919................................................................................3
             I.2.4. Nationalsozialismus ..........................................................................................................4
II.    Verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Bestimmungen ................................. 5
       II.1. Grundgesetz ......................................................................................................................................5
             II.1.1. Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ......................................5
             II.1.2. Leistungsrechtliche Dimensionen des Grundrechts auf Leben und
                     körperliche Unversehrtheit ............................................................................................6
                     II.1.2.1 Gesundheitliches Existenzminimum .......................................................6
                     II.1.2.2 Gestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung ...........................6
             II.1.3. “Volksgesundheit” als Verfassungsgut ......................................................................6
             II.1.4. Sozialstaatsprinzip ............................................................................................................8
             II.1.5. Schutz vor Mißhandlung.................................................................................................8
       II.2. Ausgewählte Landesverfassungen............................................................................................8
             II.2.1. Bremen ..................................................................................................................................9
             II.2.2. Hessen ................................................................................................................................ 10
             II.2.3. Saarland ............................................................................................................................. 10
             II.2.4. Thüringen .......................................................................................................................... 11
       II.3. Gesetze und Verordnungen ...................................................................................................... 11
             II.3.1. Strafrechtlicher Gesundheitsschutz ......................................................................... 11
                     II.3.1.1 Körperverletzungsdelikte.......................................................................... 12
                     II.3.1.2 Lebensschutz am Lebensende................................................................ 15
             II.3.2. Zivilrechtlicher Gesundheitsschutz.......................................................................... 16
                     II.3.2.1 Deliktsrecht .................................................................................................... 16
                     II.3.2.2 Allgemeines Vertragsrecht ....................................................................... 17
                     II.3.2.3 Das Recht des Behandlungsvertrags .................................................... 17
                     II.3.2.4 Familienrecht................................................................................................. 18
             II.3.3. Sozialrechtlicher Gesundheitsschutz ...................................................................... 19
                     II.3.3.1 SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung ......................................... 19
                     II.3.3.2 SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung............................................ 21
                     II.3.3.3 SGB II, SGB XII, AsylbLG – Recht der Existenzsicherung ................. 21
             II.3.4. Verwaltungsrechtlicher Gesundheitsschutz ......................................................... 24
                     II.3.4.1 Infektionsschutzgesetz des Bundes ...................................................... 24
                     II.3.4.2 Landesgesetze über den öffentlichen Gesundheitsdienst ........... 28
                     II.3.4.3 Umweltrechtliche Gesetze ....................................................................... 29
III.   Die wichtigsten Urteile in diesem Bereich ................................................................ 31
       III.1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ............................................................ 31
              III.1.1. BVerfGE 7, 377 – Apotheken ....................................................................................... 31

                                                                             III
Studie

             III.1.2. BVerfGE 16, 194 – Liquorentnahme ......................................................................... 31
             III.1.3. BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I ........................................................ 32
             III.1.4. BVerfGE 45, 187 – Lebenslange Freiheitsstrafe.................................................... 34
             III.1.5. BVerfGE 46, 160 – Schleyer .......................................................................................... 34
             III.1.6. BVerfGE 49, 89 – Kalkar I ............................................................................................... 35
             III.1.7. BVerfGE 51, 324 – Verhandlungsfähigkeit Angeklagter ................................... 35
             III.1.8. BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich ............................................................................ 36
             III.1.9. BVerfGE 56, 54 – Fluglärm ........................................................................................... 37
             III.1.10. BVerfGE 77, 170 – Lagerung chemischer Waffen ................................................ 38
             III.1.11. BVerfGE 79, 174 – Straßenverkehrslärm ................................................................. 38
             III.1.12. BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II .................................................. 39
             III.1.13. BVerfGE 90, 145 – Cannabis ........................................................................................ 40
             III.1.14. BVerfGE 91, 1 – Entziehungsanstalt ......................................................................... 41
             III.1.15. BVerfGE 115, 25 – Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung
                       („Nikolausbeschluss”) .................................................................................................... 41
             III.1.16. BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz .............................................................. 43
             III.1.17. BVerfGE 125, 175 – Existenzminimum .................................................................... 45
             III.1.18. BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug I..................... 46
             III.1.19. BVerGE 129, 269 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug II ..................... 47
             III.1.20. BVerfGE 133, 112 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug III .................. 48
             III.1.21. BVerfGE 142, 313 – Zwangsbehandlung einsichtsunfähiger Betreuter...... 48
             III.1.22. BVerfGE 153, 182 – Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung ............ 48
             III.1.23. BVerfG, Beschl. v. 24.2.2021 – Klimaschutzbeschluss ........................................ 49
      III.2. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ......................................................................... 52
             III.2.1. BSGE 73, 271 – Rechtskonkretisierung in der gesetzlichen
                       Krankenversicherung .................................................................................................... 52
             III.2.2. BSGE 96, 153 – D-Ribose .............................................................................................. 53
             III.2.3. BSGE 120, 170 – Iscador................................................................................................ 54
      III.3. Rechtsprechung weiterer Gerichte ........................................................................................ 55
             III.3.1. BVerwGE 123, 352 – Cannabis-Therapie ................................................................ 55
             III.3.2. OLG Oldenburg (1. Strafsenat), Beschl. v. 10.5.2021 – 1 Ws 141/21 ............. 56
IV.   Der Begriff „Recht auf Gesundheit“ und seine (derzeitigen und vermutlichen
      künftigen) Grenzen .................................................................................................... 57
      IV.1. Vorstellung des Verfassers der Studie ................................................................................... 57
      IV.2. Recht auf Gesundheit: individuelles versus kollektives Recht....................................... 57
      IV.3. Kollision von Grundrechten ...................................................................................................... 57
            IV.3.1. Recht auf Gesundheit und Verkehrsfreiheit (Quarantäne, Ausgangssperre
                    usw.) .................................................................................................................................... 58
            IV.3.2. Recht auf Gesundheit und Berufsfreiheit............................................................... 59
            IV.3.3. Recht auf Gesundheit und Recht auf Leben ......................................................... 60
            IV.3.4. Recht auf Gesundheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit
                    (Impfpflicht usw.) ............................................................................................................ 61
            IV.3.5. Recht auf Gesundheit und Recht auf Schutz der Privatsphäre (einschließlich
                    Schutz personenbezogener Daten) ......................................................................... 62
            IV.3.6. Recht auf Gesundheit und weitere Grundrechte ................................................ 64
      IV.4. Welche Ausnahmen und Gründe würden rechtfertigen, dass das Recht auf
            Gesundheit Vorrang vor den Grundrechten hat, mit denen es kollidiert?............... 65
      IV.5. Welche Grauzonen gibt es in Bezug auf das Recht auf Gesundheit? ......................... 66
      IV.6. Wurde das Recht auf Gesundheit missbraucht? ................................................................ 66

                                                                             IV
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                                                                                  Deutschland

V.       Fazit ............................................................................................................................. 68
Liste der angeführten Rechtsvorschriften ........................................................................ 70
Liste der angeführten Urteile ............................................................................................. 73
Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 77
Liste der konsultierten Webseiten ..................................................................................... 81

Kastenverzeichnis
KASTEN 1. .............................................................................................................................. 1
    ALR (1794), Siebenzehnter Titel ............................................................................................................1
KASTEN 2. .............................................................................................................................. 2
    Grüne Charta von der Mainau, 20. April 1961 ..................................................................................2
KASTEN 3. .............................................................................................................................. 4
    Artikel 161 WRV ...........................................................................................................................................4
KASTEN 4. .............................................................................................................................. 5
    Artikel 2 Abs. 2 GG ......................................................................................................................................5
KASTEN 5. .............................................................................................................................. 7
    BVerfGE 113, 167 (219)..............................................................................................................................7
KASTEN 6. .............................................................................................................................. 7
    Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 GG.......................................................................................................................7
KASTEN 7. .............................................................................................................................. 7
    Artikel 11 GG ................................................................................................................................................7
KASTEN 8. .............................................................................................................................. 8
    Artikel 20 Abs. 1 GG ...................................................................................................................................8
KASTEN 9. .............................................................................................................................. 9
    Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 ...........................9
KASTEN 10. ............................................................................................................................ 9
    Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen .........................................................................9
KASTEN 11. .......................................................................................................................... 10
    Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (HV), Artikel 3 ............................... 10
KASTEN 12. .......................................................................................................................... 10
    Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (HV), Artikel 35............................. 10
KASTEN 13. .......................................................................................................................... 11
    Verfassung des Saarlands vom 15. Dezember 1947, Artikel 34a ............................................ 11
KASTEN 14. .......................................................................................................................... 11
    Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993, Artikel 19 ............................. 11
KASTEN 15. .......................................................................................................................... 12
    § 223 StGB Körperverletzung .............................................................................................................. 12
KASTEN 16. .......................................................................................................................... 12
    § 229 StGB Fahrlässige Körperverletzung ...................................................................................... 12
KASTEN 17. .......................................................................................................................... 13
    § 13 StGB Begehen durch Unterlassen ............................................................................................ 13
KASTEN 18. .......................................................................................................................... 13
    § 224 StGB Gefährliche Körperverletzung ...................................................................................... 13
    § 226 StGB Schwere Körperverletzung ............................................................................................ 13
KASTEN 19. .......................................................................................................................... 14
    § 226a StGB Verstümmelung weiblicher Genitalien................................................................... 14

                                                                                V
Studie

KASTEN 20. .......................................................................................................................... 14
    § 228 StGB Einwilligung ........................................................................................................................ 14
KASTEN 21. .......................................................................................................................... 14
    § 340 StGB Körperverletzung im Amt .............................................................................................. 14
KASTEN 22. .......................................................................................................................... 15
    § 323c Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen ............. 15
KASTEN 23. .......................................................................................................................... 15
    § 216 Tötung auf Verlangen ................................................................................................................ 15
KASTEN 24. .......................................................................................................................... 15
    § 217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung ................................................................ 15
KASTEN 25. .......................................................................................................................... 16
    § 823 BGB Schadensersatzpflicht ...................................................................................................... 16
KASTEN 26. .......................................................................................................................... 16
    § 1004 BGB Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch ........................................................... 16
KASTEN 27. .......................................................................................................................... 17
    § 241 BGB Pflichten aus dem Schuldverhältnis ............................................................................ 17
KASTEN 28. .......................................................................................................................... 18
    § 1631d BGB Beschneidung des männlichen Kindes ................................................................. 18
KASTEN 29. .......................................................................................................................... 19
    § 1 SGB V Solidarität und Eigenverantwortung............................................................................ 19
KASTEN 30. .......................................................................................................................... 19
    § 2 SGB V Leistungen ............................................................................................................................. 19
KASTEN 31. .......................................................................................................................... 20
    § 11 SGB V Leistungsarten.................................................................................................................... 20
KASTEN 32. .......................................................................................................................... 20
    § 12 SGB V Wirtschaftlichkeitsgebot ................................................................................................ 20
KASTEN 33. .......................................................................................................................... 20
    § 20i Abs. 1 SGB V .................................................................................................................................... 20
KASTEN 34. .......................................................................................................................... 21
    § 27 SGB V Krankenbehandlung ........................................................................................................ 21
KASTEN 35. .......................................................................................................................... 22
    § 21 Abs. 2 SGB II ...................................................................................................................................... 22
    § 21 Abs. 5 SGB II ...................................................................................................................................... 22
    § 21 Abs. 6 SGB II ...................................................................................................................................... 22
KASTEN 36. .......................................................................................................................... 22
    § 19 Abs. 3 SGB XII Leistungsberechtigte ....................................................................................... 22
    § 47 SGB XII Vorbeugende Gesundheitshilfe ................................................................................ 22
    § 48 SGB XII Hilfe bei Krankheit .......................................................................................................... 22
    § 49 SGB XII Hilfe zur Familienplanung ........................................................................................... 22
    § 50 SGB XII Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft ....................................................... 23
KASTEN 37. .......................................................................................................................... 23
    § 52 SGB XII Leistungserbringung, Vergütung ............................................................................. 23
KASTEN 38. .......................................................................................................................... 23
    § 4 AsylbLG Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt ................................ 23
KASTEN 39. .......................................................................................................................... 24
    § 28 IfSG Schutzmaßnahmen .............................................................................................................. 24
KASTEN 40. .......................................................................................................................... 26
    § 5 IfSG Epidemische Lage von nationaler Tragweite ................................................................ 26

                                                                              VI
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                                                                                 Deutschland

KASTEN 41. .......................................................................................................................... 26
    § 28a IfSG Besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der
    Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) ........................................................................................ 26
KASTEN 42. .......................................................................................................................... 27
    § 28a Abs. 2 IfSG [Subsidiarität bestimmter Maßnahmen]....................................................... 27
KASTEN 43. .......................................................................................................................... 28
    § 32 IfSG Erlass von Rechtsverordnungen ...................................................................................... 28
KASTEN 44. .......................................................................................................................... 29
    Hessisches Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (HGöGD), § 7 Prävention
    und Gesundheitsförderung ................................................................................................................. 29
KASTEN 45. .......................................................................................................................... 29
    Atomgesetz, § 1 Zweckbestimmung des Gesetzes..................................................................... 29
KASTEN 46. .......................................................................................................................... 30
    Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 1 Zweck des Gesetzes...................................................... 30
KASTEN 47. .......................................................................................................................... 31
    BVerfGE 7, 377 (414) ............................................................................................................................... 31
KASTEN 48. .......................................................................................................................... 32
    BVerfGE 39, 1 (36 ff.)................................................................................................................................ 32
KASTEN 49. .......................................................................................................................... 33
    BVerfGE 39, 1 (59) .................................................................................................................................... 33
KASTEN 50. .......................................................................................................................... 34
    BVerfGE 46, 160 (164 f.).......................................................................................................................... 34
KASTEN 51. .......................................................................................................................... 39
    BVerfGE 88, 203 LS 6 ............................................................................................................................... 39
KASTEN 52. .......................................................................................................................... 39
    BVerfGE 88, 203 (314) ............................................................................................................................. 39
KASTEN 53. .......................................................................................................................... 42
    BVerfGE 115, 25 (Leitsatz) ..................................................................................................................... 42
KASTEN 54. .......................................................................................................................... 43
    § 2 Abs. 1a SGB V ..................................................................................................................................... 43
KASTEN 55. .......................................................................................................................... 43
    § 14 LuftSiG................................................................................................................................................ 43
KASTEN 56. .......................................................................................................................... 44
    BVerfGE 115, 118 (139)........................................................................................................................... 44
KASTEN 57. .......................................................................................................................... 44
    BVerfGE 115, 118 (154)........................................................................................................................... 44
KASTEN 58. .......................................................................................................................... 45
    BVerfGE 125, 175 (LS 1) .......................................................................................................................... 45
KASTEN 59. .......................................................................................................................... 46
    BVerfGE 125, 175 (LS 1) .......................................................................................................................... 46
KASTEN 60. .......................................................................................................................... 48
    BVerfGE 142, 313 (LS 1) .......................................................................................................................... 48
    BVerfGE 142, 313 (313 f.) ....................................................................................................................... 48
KASTEN 61. .......................................................................................................................... 49
    BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Rn. 23 ................................................................................................... 49
KASTEN 62. .......................................................................................................................... 50
    BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, LS 1 ....................................................................................................... 50
KASTEN 63. .......................................................................................................................... 50
    BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Rn. 163 f. ............................................................................................. 50

                                                                               VII
Studie

KASTEN 64. .......................................................................................................................... 51
    BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, LS 4 ....................................................................................................... 51
KASTEN 65. .......................................................................................................................... 55
    BVerwGE 123, 352.................................................................................................................................... 55
KASTEN 66. .......................................................................................................................... 61
    § 20 Abs. 1 HessPsychKHG ................................................................................................................... 61
KASTEN 67. .......................................................................................................................... 62
    Soldatengesetz ......................................................................................................................................... 62
KASTEN 68. .......................................................................................................................... 64
    BVerfG, Beschl. v. 20.05.2021, 1 BvR 928/21 Rn. 17 f. .................................................................. 64

                                                                            VIII
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                     Deutschland

Abkürzungsverzeichnis
A.A.      anderer Ansicht
Abs.      Absatz
Alt.      Alternative
Art.      Artikel
AsylbLG   Asylbewerberleistungsgesetz
Aufl.     Auflage
BayVGH    Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Bd.       Band
BeckRS    Beck’sche Rechtsprechungssammlung (Datenbank)
Beschl.   Beschluss
BGB       Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896
BGBl.     Bundesgesetzblatt
BGH       Bundesgerichtshof
BImSchG   Bundes-Immissionsschutzgesetz
BSG       Bundessozialgericht
BSGE      Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundessozialgerichts
bspw.     beispielsweise
BT-Drs.   Bundestags-Drucksache
BtMG      Betäubungsmittelgesetz
BVerfG    Bundesverfassungsgericht
BVerfGE   Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerwG    Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE   Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
BW        Baden-Württemberg
ders.     derselbe
d.h.      das heißt
DM        Deutsche Mark
Drs.      Drucksache
f.        folgende (Seite oder Randnummer)
ff.       fortfolgende (Seiten oder Randnummern)
Fn.       Fußnote
GBA       Gemeinsamer Bundesausschuss (§ 91 SGB V)

                                     IX
Studie

 GG           Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
 GKV          Gesetzliche Krankenversicherung
 GVBl.        Gesetz- und Verordnungsblatt
 HdbStR       Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
              Deutschland
 HS           Halbsatz
 HV           Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946
 i.E.         im Erscheinen
 IfSG         Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim
              Menschen (Infektionsschutzgesetz)
 incl.        inklusive
 insbes.      insbesondere
 i.V.m.       in Verbindung mit
 JURA         Juristische Ausbildung (Zeitschrift)
 JZ           Juristenzeitung
 KSG          Bundes-Klimaschutzgesetz
 LFGB         Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch
 LS           Leitsatz
 LuftSiG      Luftsicherheitsgesetz
 LV           Landesverfassung
 NJW          Neue Juristische Wochenschrift
 NVwZ         Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
 NZS          Neue Zeitschrift für Sozialrecht
 OLG          Oberlandesgericht
 OVG          Oberverwaltungsgericht
 RGBl.        Reichsgesetzblatt
 Rn.          Randnummer
 S.           Seite/n; Satz
 SaarlVerfGH Verfassungsgerichtshof des Saarlands
 SG           Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz)
 SGB          Sozialgesetzbuch (derzeit Bücher I-XII und XIV)
 SGG          Sozialgerichtsgesetz
 s.o.         siehe oben
 StGB         Strafgesetzbuch

                                            X
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                       Deutschland

StVollzG   Strafvollzugsgesetz
s.u.       siehe unten
u.a.       unter anderem
Urt.       Urteil
v.         von/vom
VG         Verwaltungsgericht
VGH        Verwaltunsgsgerichtshof
VVDStRL    Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WHG        Wasserhaushaltsgesetz
WRV        Weimarer Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August
           1919)
z.B.       zum Beispiel

                                      XI
Studie

Zusammenfassung
Ein „Recht auf Gesundheit“ ist weder im Bundesverfassungsrecht (d.h. im Grundgesetz) noch
im Landesverfassungsrecht explizit verankert und trotz vereinzelter Bekräftigung in der
Wissenschaft durch Rechtsprechung und Literatur insgesamt nicht anerkannt. 1 Weil
Gesundheit ein extrem multifaktorielles Gut ist, kann es wohl auch keinen Anspruch auf
Gesundheit im engen Sinne geben. Das im Grundgesetz nach den Erfahrungen der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft prominent verankerte „Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) schützt nach herrschender Meinung nicht
die Gesundheit als solche; es ist zum Teil enger, zum Teil weiter als ein echtes „Recht auf
Gesundheit“.
Allerdings ist dieses Grundrecht, das zunächst ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe
darstellte, durch das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Schutzpflichtdimension
entfaltet worden. Danach gebietet das Grundrecht dem Staat, sich schützend und fördernd
vor das menschliche Leben zu stellen. Weil die individuelle Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
wie auch die „Volksgesundheit“ (bzw. die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens“)
anerkannte verfassungsrechtliche Belange sind, können zu ihrem Schutz andere Grundrechte
eingeschränkt werden, und zwar auch dann, wenn dies in den geschriebenen
Grundrechtsschranken nicht eigens erwähnt wird.
Unabhängig von den verfassungsrechtlichen Determinanten hat sich seit der Bismarckschen
Sozialgesetzgebung ein umfangreiches einfachgesetzliches Gesundheitsrecht gebildet,
insbesondere durch die bundesrechtliche Kodifikation der gesetzlichen Krankenversicherung
(SGB V) und der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) sowie die Landesgesetze über den
öffentlichen Gesundheitsdienst. In der gesetzlichen Krankenversicherung haben alle
Versicherten ein einfachgesetzliches Recht auf ausreichende und zweckmäßige
Gesundheitsleistungen.
In    der    Pandemie       sind      die    einschneidenden      Maßnahmen     (Lockdowns,
Quarantäneanordnungen etc.) vor allem durch Rechtsverordnungen der Landesregierungen
auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes des Bundes getroffen worden, im Frühjahr 2021
auch unmittelbar durch Gesetz (§ 28b IfSG, sog. „Notbremse“). Diese auf präzedenzlose Weise
in Grundrechte eingreifende Ge- und Verbote sollten die individuelle Gesundheit der in
Deutschland lebenden Menschen und die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“
schützen. Sie waren und sind im Einzelnen – besonders mit Blick auf ihre Verhältnismäßigkeit
– umstritten, von den Gerichten im einstweiligen Rechtsschutz aber überwiegend nicht
beanstandet worden. Denn bei der Abwägung von Grundrechten – und damit der
Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einerseits und der durch die Maßnahmen betroffenen
Freiheitsrechte andererseits – kommt nicht nur dem Gesetzgeber, sondern auch der
Verwaltung ein Einschätzungsspielraum zu. Die für November 2021 erwartete Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zur „Notbremse“ wird hier für weitere Klarheit sorgen.

1
    Zum ”Recht auf Gesundheit” hat das Referat „Bibliothek für Vergleichendes Recht“ in der Generaldirektion des
    wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (GD EPRS) bereits die folgenden Studien
    veröffentlicht:
    –   Europarat: ZILLER, J.: Le droit à la santé, une perspective de droit comparé: Conseil de l'Europe, Unité
        Bibliothèque de droit comparé, Service de recherche du Parlement européen (EPRS), septembre 2021, VIII
        et 67 pp., référence PE 698.030, sowie
    –   Frankreich: PONTHOREAU, M.-C.: Le droit à la santé, une perspective de droit comparé - France, Unité
        Bibliothèque de droit comparé, Service de recherche du Parlement Européen (EPRS), octobre 2021,
        référence PE 698.755.

                                                      XII
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                              Deutschland

Ebenfalls offen ist die Verfassungsmäßigkeit einer indirekten Impfpflicht hinsichtlich Covid
sowie der 2020 eingeführten direkten (wenn auch partiellen) Impfpflicht hinsichtlich Masern
nach § 20 Abs. 8 ff. IfSG.

                                            XIII
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                                            Deutschland

I.       Einleitung

I.1.      Hintergrund: Geschichtliche Aspekte zu Gefahren im
          Gesundheitsbereich in Deutschland und der Einfluss von
          COVID-19
Im absolutistischen Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts fühlte sich der Staat zwar für das
Wohlergehen der Untertanen zuständig; es war aber nicht deren Gesundheit, die im Zentrum
der Sorge stand. So normierte das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) in
seinem zweiten Teil:

                                                       KASTEN 1.

                                          ALR (1794), Siebenzehnter Titel
         Von den Rechten und Pflichten des Staats zum besondern Schatze seiner Unterthanen
                                       Allgemeine Grundsätze
§ 1. Der Staat ist für die Sicherheit seiner Unterthanen, in Ansehung ihrer Personen, ihrer Ehre, ihrer Rechte,
und ihres Vermögens, zu sorgen verpflichtet.

§ 2. Dem Staate kommt es also zu, zur Handhabung der Gerechtigkeit, zur Vorsorge für diejenigen, welche
sich selbst nicht vorstehn können, und zur Verhütung sowohl, als Bestrafung der Verbrechen, die nöthigen
Anstalten zu treffen.

Die Gesundheit der und des Einzelnen 2 war als solche nicht Schutzgut und Ziel staatlichen
Handelns, auch wenn einzelne konkrete Normen die Gesundheit schützten. Ausgangspunkt
für die Entstehung eines Gesundheitsrechts unterhalb der Ebene der Verfassungen war die
Industrialisierung: „Krankheit wurde zum Massenphänomen der Industriegesellschaft. Neben
die alten Krankheitsursachen trat die Fabrik mit ihren Belastungen, ihren Giften und
Arbeitsunfällen. Schlechte Ernährung und die berüchtigten Wohnverhältnisse in den
Arbeitervierteln produzierten Krankheit.“ 3
Zu einer verfassungsrechtlichen Verankerung eines Rechts auf körperliche Unversehrtheit
oder gar auf Gesundheit kam es auch nach Ende der Monarchie nicht; Gesundheit wurde als
Problem des Einzelnen, der Arbeitsbeziehungen und zunehmend des einfachen Rechts
angesehen, nicht aber als verfassungsrechtliche Frage (zu Art. 161 Weimarer Reichsverfassung
s.u. I.2.3.).
In der nationalsozialistischen Ideologie war „Gesundheit“ ein zentrales Konzept, freilich nicht
auf die einzelne Person, sondern auf das deutsche Volk bezogen und durch die Rassetheorie
pervertiert. Ziel war letztlich das „gesunde Wachstum des Volkskörpers“, Mittel die „Erhaltung
und Stärkung wertvollen, artgleichen Blutes“. 4 – Diese Ideologie resultierte in Shoa,
Euthanasie, Zwangssterilisationen, Menschenversuche und zahlreiche andere Formen
unmenschlicher Behandlung.

2
     Im Folgenden sind auch bei Benutzung des generischen Maskulinums jeweils Personen aller Geschlechter
     gemeint, soweit sich nicht aus dem Kontext etwas Anderes ergibt.
3
     STOLLEIS, Geschichte des Sozialrechts, S. 77.
4
     Zitate: KOELLREUTTER, Deutsches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 1938, S. 72.

                                                             1
Studie

Nach dem Ende von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Zweitem Weltkrieg stand bei
den Verfassungsdiskussionen auf Länder- und Bundesebene die Erfahrung der
systematischen Entwürdigung und der Verneinung des Lebensrechts von Millionen von
Menschen durch die Nationalsozialisten im Vordergrund, weniger spezifische
Gesundheitsfragen; dies schlug sich in den Verfassungstexten auf Landesebene (II.2.) wie auf
Bundesbene (II.1.) nieder.
Allerdings zeigte sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit dem Wiederaufbau und mit
wachsendem Wohlstand eine rasante Inanspruchnahme von Flächen und sonstigen
Ressourcen und eine rapide Verschlechterung des Umweltzustands, die
gesundheitsbedrohende Folgen hatte. Dies wurde 1961 von einigen Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens in der sog. „Grünen Charta von der Mainau“ unter Hinweis auf
Vorschriften des Grundgesetzes (Menschenwürde und Menschenrechte, Art. 1 Abs. 1 und
Abs. 2 GG; Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs.1 GG; Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Art. 14 Abs. 2 GG) so
formuliert:

                                              KASTEN 2.

                           Grüne Charta von der Mainau, 20. April 1961
„Die Grundlagen unseres Lebens sind in Gefahr geraten, weil lebenswichtige Elemente der Natur
verschmutzt, vergiftet und vernichtet werden und weil der Lärm uns unerträglich bedrängt. Die Würde des
Menschen ist dort bedroht, wo seine natürliche Umwelt beeinträchtigt wird. Zu den unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten gehört auch das Recht auf ein gesundes und menschenwürdiges Leben
in Stadt und Land.“

In diesem Aufruf kann man einen der maßgeblichen Impulse für die Entwicklung des
Umweltrechts der Bundesrepublik sehen; zur Anerkennung eines Rechts auf Gesundheit
durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder zur Einführung eines solchen
Rechts durch den verfassungsändernden Gesetzgeber hat er nicht geführt.
Die Pandemie hat nun eine intensive gesellschaftliche Debatte um den Stellenwert des
Gesundheitsschutzes in seinem Verhältnis zu anderen Belangen (etwa den
Wirtschaftsgrundrechten oder dem in den meisten Landesverfassungen gewährten Recht von
Kindern und Jugendlichen auf Bildung) ausgelöst. Verfassungsrechtlich ist damit eine
Diskussion um die Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflichten (insbesondere der
Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz, vgl. unten II.1.1.) verknüpft.

I.2.     Historische Entwicklung der Anerkennung eines Rechts auf
         Gesundheit im deutschen Recht
Das Gesundheitsrecht ist in Deutschland wesentlich älter als die Anerkennung eines Rechts
auf Gesundheit: Auch ohne verfassungsrechtliche Anerkennung hat sich seit dem Ende des
19. Jahrhunderts ein immer weiter wachsendes Korpus an gesundheitsrechtlichen Normen
(avant la lettre) gebildet.

I.2.1.    Paulskirchenverfassung 1849
Der Grundrechtekatalog der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849
(„Abschnitt VI. Die Grundrechte des deutschen Volkes“) ist lang, enthält aber keine
spezifischen Rechte auf Leben und/oder Gesundheit. Einen gewissen Gesundheitsbezug weist
Art. 139 auf, der neben der Todesstrafe auch „die Strafen des Prangers, der Brandmarkung und
der körperlichen Züchtigung“ abschafft. Hieran wird deutlich, dass der Staat im 19.

                                                  2
Das Recht auf Gesundheit:
                                                                              Deutschland

Jahrhundert allenfalls ganz punktuell als Bedrohung der Gesundheit der Bürgerinnen und
Bürger (Abwehrdimension) und kaum je als zum Schutz der Gesundheit vor Gefahren von
dritter Seite verpflichtet (Schutzdimension) gesehen wurde. Wiewohl die Verfassung nie in
Kraft getreten ist, hat sie großen verfassungsgeschichtlichen Einfluss erlangt, insbesondere
auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 (→ I.2.3).

I.2.2.      Reichsverfassung 1871
Im Gegensatz zur Paulskirchenverfassung kannte die „Bismarcksche Reichsverfassung“
(Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871) keinen Grundrechtekatalog.
Erwähnenswert sind aber die Regelungen zur Kompetenzverteilung zwischen Reich und
Ländern: Nach Art. 4 Nr. 1 war das Reich zuständig für das „Versicherungswesen“, nach Nr. 15
auch für „Maßregeln der Medizinal- und Veterinärpolizei“.
Auf der Basis des ersten Kompetenztitels erließ das Reich als erste Säule der sog.
Bismarckschen Sozialversicherung im Jahre 1883 das „Gesetz, betreffend die
Krankenversicherung der Arbeiter“ (1884 folgte als zweite Säule die Unfallversicherung, 1889
als dritte Säule die Alters- und Invaliditätsversicherung). 5 Grundstruktur war ein
Versicherungszwang, temperiert durch die Idee der Selbstverwaltung. 1911 wurden diese
Gesetze in die Reichsversicherungsordnung überführt, die Vorläuferin des heutigen
Sozialgesetzbuchs. Die zuvor bestehenden Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen der Gilden,
Innungen, Bruderschaften, Zünfte, Gewerkschaften und Knappschaften waren den Problemen
der Industriegesellschaft nicht mehr gewachsen; so waren 1874 nur etwa 5 % der Bevölkerung
in einer Kasse versichert. 6
Zugleich entwickelte sich im Kaiserreich im Gefolge des medizinischen Erkenntnisfortschritts
ein Infektionsschutzrecht; im Jahre 1900 wurde das „Reichsseuchengesetz“ erlassen, das die
Bekämpfung von Cholera, Lepra, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest und Pocken zum Gegenstand
hatte (heute Infektionsschutzgesetz, s.u. II.3.4.1.).

I.2.3.      Weimarer Reichsverfassung 1919
Die Weimarer Reichsverfassung wies in ihrem Art. 7 Nr. 8 dem Reich die
Gesetzgebungskompetenz für „das Gesundheitswesen“ zu. Es handelte sich um eine
konkurrierende Gesetzgebungskompetenz; denn nach Art. 12 behielten die Länder (auch auf
diesem Feld) das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Reich von seiner Kompetenz keinen
Gebrauch machte. Deutlich wird, dass das Reich die Gesundheitspolitik als zentrale Aufgabe
betrachtete.
Nach dem Vorbild der Paulskirchenverfassung (→ I.2.1.) enthielt die WRV ferner in ihrem
zweiten Hauptteil einen langen Katalog der „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“
(Art. 109-165 WRV). Ein Recht auf Leben und Gesundheit fand sich darin zwar nicht. Einen
Gesundheitsbezug wies aber der die Sozialversicherung betreffende Artikel 161 WRV auf, der
im fünften Abschnitt („Das Wirtschaftsleben“) platziert war:

5
    Eingehend STOLLEIS, Geschichte des Sozialrechts, S. 52 ff.
6
    STOLLEIS, Geschichte des Sozialrechts, S. 76 f.

                                                            3
Studie

                                               KASTEN 3.

                                           Artikel 161 WRV
Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die
wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein
umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.

Hierin kommt zum Ausdruck, dass Gesundheitsschutz auch als eine den Arbeitsverhältnissen
akzessorische und durch Versicherung zu schützende Frage betrachtet wurde.

I.2.4.    Nationalsozialismus
Der Nationalsozialismus brachte kein eigenes Verfassungsrecht hervor, sondern ignorierte das
bestehende Verfassungsrecht und überlagerte es willkürlich durch zahlreiche einzelne
Rechtsakte. Die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung wurden vollends wirkungslos,
wie überhaupt der Gedanke individueller personaler Rechte gegen den Staat der
nationalsozialistischen Ideologie fremd war. Höchste Rechtsquelle war der “Führerwille”. Die
Umgestaltung von Rechtssystem und Gesellschaft erfolgte auf vielerlei Wegen, sowohl
gesetzlich wie außergesetzlich; dabei wurde in Übereinstimmung mit der
nationalsozialstischen Rasseideologie der Begriff der “Gesundheit” vielfach genutzt (häufig in
Komposita). Deutlich wird dabei die Missbrauchsanfälligkeit des Begriffs der “Gesundheit”. 7
Zu den Lehren, die die deutsche Rechtsordnung aus dem Nationalsozialismus zieht, gehört
daher die strikte Ausrichtung des Rechts auf die einzelne Person durch Anerkennung
unveräußerlicher Rechte, insbesondere auf das Leben und die körperliche Unverletzlichkeit,
sowie die Zurverfügungstellung rechtsförmiger Durchsetzungsmechanismen, besonders
verwaltungsgerichtlicher        Klagemöglichkeiten         und       verfassungsgerichtlicher
Beschwerdemöglichkeiten (Grundrechtsklagen bzw. Verfassungsbeschwerden). An diesen
Leitlinien richten sich sowohl Grundgesetz (II.1.) wie auch Landesverfassungen (II.2.) aus.
Vielleicht zählt darüber hinaus auch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem im
Nationalsozialismus missbrauchten Begriff der “Gesundheit” und seinen Komposita, aber auch
im Politikfeld der öffentlichen Gesundheit (z. B. bei der Prävention) zu den geschichtlichen
Lektionen der deutschen Rechtsordnung.

7
    Vgl. etwa das ”Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz)” v.
    18.12.1935, RGBl. I S. 1246, das aus ideologischen Gründen zahlreiche Eheverbote aussprache.

                                                   4
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