Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik - Artikel Gabriele Rippl* - Sciendo
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Artikel Gabriele Rippl* Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik © 2019 Gabriele Rippl, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.
26 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 Abstract: Im Anschluss an Ludwigs Jägers medientheoretische Überlegungen zu Transkriptionspro- zessen untersucht der Beitrag „Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik” historisch unter- schiedlich zu verortende literarische und kunstkritische Ekphrasen bekannter Kunstwerke sowie die von ihnen angestoßenen Rezeptionsketten. Gefragt wird, welche Rolle intermedialen, transhistori- schen und transkulturellen ekphrastischen Transkriptionen heute zukommt: Zerspielen sie als Rekur- sionsschleifen vom Bild zum Wort, vom Wort zum Wort, vom Wort zum Bild den Status des Originals und lassen nur Kopien zurück oder kommt es zu Reauratisierungsvorgängen, die der Sehnsucht nach ,Originalen’ Ausdruck verleihen und bestimmte Kunstwerke zu global icons machen? Die Diskussion dieser Frage dient dazu ‚Ästhetiken des Sekundären’ mit Hilfe nicht-linearer, enthierarchisierter Netz- werkmodelle zu fassen und damit das Verhältnis von ,Original’ und ,Kopie’ anhand einiger Beispiele (und mit historischem Blick) neu zu beschreiben und zu bewerten. Im Sinne eines Funktionsmodells kann die kulturelle Arbeit von Ekphrasis, einer intermedialen Praxis der produktiven Iteration und Bezugnahme, als komplexes Mittel der kontextabhängigen Bedeutungserschließung und Vergegen- wärtigung neu bestimmt werden. Keywords: Ekphrasis, intermediale Transkription, Ästhetik des Sekundären, global icon, Reauratisie- rung, Walter Pater, Teju Cole, Don DeLillo, Leonardo da Vinci, Mona Lisa, Pieter Bruegel der Ältere. *Prof. Dr. Gabriele Rippl, Universität Bern, Department of English, Länggasstr. 49, CH-3012 Bern, email: rippl@ens.unibe.ch 2011 publizierte der amerikanisch-nigerianische amerikanischen Künstlern stammen.1 Auch wenn Gegenwartsautor Teju Cole mit Open City einen Julius selten auf das afrikanische kulturelle Erbe Großstadtroman, der in der Tradition europäi- zu sprechen kommt, so wird die koloniale Vergan- scher Flaneurtexte steht und die schnellen Glo- genheit samt den Verbrechen der Kolonialmächte balisierungsprozesse, Migrationsbewegungen und doch immer wieder thematisiert, etwa im Zusam- Transkulturationsvorgänge unserer heutigen Welt menhang mit Belgisch-Kongo: vor dem Hintergrund von Medienlandschaften und globalen Kommunikations- und Vernetzungsfor- men exploriert. Der Protagonist des Romans ist ein Brussels is old – a peculiar European oldness, which is manifested in stone – and that antiquity is present junger nigerianisch-deutscher Arzt namens Julius, in most of its streets and neighborhoods. The houses, der in der multikulturellen Metropole New York bridges, and cathedrals of Brussels had been spared City seine Ausbildung zum Psychiater abschließt the horrors visited on the low farmland and forests of und einen Großteil seiner Freizeit mit ausgiebi- Belgium. […] But there had been no firebombing of gen Stadtspaziergängen verbringt. Auch während Bruges, or Ghent, or Brussels. Surrender, of course, eines Weihnachtsurlaubs in der belgischen Haupt- played a role in this form of survival, as did negotia- tion with invading powers. Had Brussels’s rulers not stadt Brüssel flaniert er durch die Straßen und opted to declare it an open city and thereby exempt beschreibt dabei in zuweilen langen und detail- it from bombardment during the Second World War, lierten, zuweilen kurzen, stenographisch gehalte- it might have been reduced to rubble. It might have nen ekphrastischen Beschreibungen sehr genau, been another Dresden. As it was, it had remained a was er sieht. Besonders hebt er Plätze, Gebäude, vision of the medieval and baroque periods, a vista interrupted only by the architectural monstrosities Museen und Kunstwerke hervor, die wichtige erected all over town by Leopold II in the late nine- geschichtliche Ereignisse, meist traumatischer teenth century.2 Natur, markieren. Coles kosmopolitischer Protago- nist liefert Architekturekphrasen sowie Ekphrasen 1 Für eine ausführliche Diskussion siehe Neumann / Rippl von Gemälden, Zeichnungen und Fotografien, die 2020. zum großen Teil von bekannten europäischen oder 2 Cole 2011, S. 97.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019 27 Julius’ Beschreibung Brüssels öffnet einen Martyrien und Folter bestens auskannten, die ethisch-politischen Horizont für heutige Leser_ Gepeinigten von den Mitmenschen und der Welt innen, denn der Fokus seiner Ekphrase liegt nicht jedoch ignoriert würden5 – was Auden am Bei- so sehr auf den schönen Gebäuden sondern viel- spiel von Bruegels Ikarus expliziert. Diese Ein- mehr auf Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und sicht lässt sich problemlos auf die verheerende der brutalen und exploitativen Kolonialherrschaft Kolonialherrschaft in Belgisch-Kongo übertragen. des belgischen Königs Leopold II in ‚Congo Free Dieser Beitrag vertritt die These, dass gerade State’, die dem König das nötige Kapital ver- Coles stenographisch-ekphrastische Transkrip- schaffte, kostspielige Gebäude in Brüssel erbauen tion von Bruegels Ikarus-Darstellung, der von der zu lassen. In der Tradition W. G. Sebalds, der Welt unbeachtet in der rechten unteren Ecke des Leopolds Gewaltherrschaft im Kongo in Die Ringe Gemäldes, also an einem obskuren Ort umkommt, des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995) aus- das Gemälde im Kontext gegenwärtiger politi- führlich diskutierte, erinnert Cole hier an Europas scher Entwicklungen neu lesbar macht. Verantwortung für das postkoloniale Afrika, das Coles Protagonist betrachtet im Brüsseler heute unter den zerstörerischen Folgen des Neo- Museum das Originalgemälde von Pieter Brue- kolonialismus und globalisierten Kapitalismus zu gel dem Älteren, das ihm jedoch bereits durch kämpfen hat.3 Das dunkle Kapitel europäischer Audens verbale Transkription in Form einer Kolonialgeschichte wird aufgerufen, wenn Julius Ekphrase vertraut ist. In einem anderen amerika- Brüssel beschreibt als „a city of monuments, nischen Gegenwartsromans, Don DeLillos Under- and greatness was set in stone and metal all world (1997), wehen dagegen einer Figur auf over Brussels, obdurate replies to uncomfortable der Tribüne eines Baseballstadions während des questions. It was time, in any case, to go home, legendären Baseball-Spiels am 3. Oktober 1951 […] to leave, in the museum next door, Auden’s zwischen den New York Giants und den Brook- Bruegel with its fallen Icarus”.4 Die königlichen lyn Dodgers (kurz nachdem die Sowjetunion die Museen der Schönen Künste in Brüssel sind zweite Atombombe detonierte) zwei Teile einer berühmt für ihre ikonischen Ölgemälde, darunter Reproduktion von Bruegels Gemälde Der Triumph auch Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (ca. des Todes (ca. 1562, 117 x 162 cm, Öl auf Holz, 1560er Jahre, 73,5 x 112 cm, Öl auf Leinwand), Prado, Madrid) aus einem Lifestyle-Magazin der das Pieter Bruegel dem Älteren zugeschrieben 1950er Jahre zu.6 Bei der Figur handelt es sich um wird (allerdings könnte es sich auch um eine J. Edgar Hoover, den berüchtigten ersten (und frühe Kopie des Originals handeln). Julius liefert langjährigen) FBI-Direktor, dessen subjektive keine ausführliche Ekphrase dieses im kulturel- Betrachtung des Bildes präsentiert wird: len Bildergedächtnis bestens verankerten und in zahlreichen ekphrastischen Gedichten beschrie- benen berühmten Gemäldes, das seinerseits The dead have come to take the living. The dead in einen antiken Mythos transkribiert, welcher unter winding-sheets, the regimented dead on horseback, anderem in Ovids Metamorphosen überliefert ist. the skeleton that plays a hurdy-gurdy. […] Edgar reads the copy block on the matching page. This Vielmehr nimmt Julius eine Abkürzung, indem er is a sixteenth-century work done by a Flemish master, auf eines der bekanntesten englischsprachigen Pieter Bruegel, and it is called The Triumph of Death. […] ekphrastischen Gedichte verweist, W. H. Audens The painting has an instancy that he finds striking. Yes, „Musée des Beaux Arts”, das der Lyriker in Brüssel the dead fall upon the living. But he begins to see that im Dezember 1938 zu Zeiten der Verbreitung des the living are sinners. […] Nationalsozialismus in Europa und der beunruhi- The meatblood colors and massed bodies, this is a census-taking of awful ways to die. […] genden antisemitischen Vorfälle in Deutschland geschrieben hatte. In der ersten Strophe wird erklärt, dass sich die alten Meister mit Leiden, 5 Auden 1976, S. 146-147. 6 Julia Apitzsch führt aus: „In der Tat druckte das Life Ma- 3 Sebald (1995) diskutiert im Kapitel V. (vgl. insbesonde- gazin in der Ausgabe vom 1. Oktober 1951, drei Tage vor re S. 148-156) das postkoloniale Erbe Afrikas im Zusam- dem legendären Spiel, eine Reportage über die Meisterwer- menhang mit ‚Belgisch-Kongo’. ke des Prado ab, die als Doppeldruck auf den Seiten 66-67 4 Cole 2011, S. 145. Pieter Brueghels Triumph des Todes zeigte‟ (2012, S. 100).
28 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 There is the secret of the bomb and there are the Allegorie auf unsere akuten ökologischen Prob- secrets that the bomb inspires [...]. […] For every atmospheric blast, every glimpse we get of the bared leme, insbesondere Abfallentsorgung, Radioakti- force of nature, that weird peeled eyeball exploding vität, Atombomben und eine Wiederholung des the desert – for every one of these he reckons a Kalten Krieges. hundred plots go underground, to spawn and skein. Im Anschluss an Ludwig Jägers medientheo- And what is the connection between Us and Them, retische Überlegungen zu Transkriptionsprozes- how many bundled links do we find in the neural laby- sen und der jüngsten Debatte zu ‚Ästhetiken des rinth? It’s not enough to hate your enemy. You have to understand how the two of you bring each other to Sekundären’9 werden im Folgenden die ekphras- deep completion. tischen Rezeptionsketten eines weiteren ikoni- The old dead fucking the new. The dead raising schen Renaissance-Gemäldes, Leonardo Da Vin- coffins from the earth. The hillside dead tolling the old cis Mona Lisa, untersucht. Diese Ekphrasen, die rugged bells that clang for the sins of the world.7 aus der Frühen Neuzeit, der viktorianischen Zeit, der Moderne und Gegenwart stammen, werden Der Prolog von DeLillos Roman, aus dem dieses als intermediale und transkulturelle ekphrasti- Zitat stammt, trägt denselben Titel wie Bruegels sche Transkriptionen gelesen. Während die ein- Gemälde, wobei anzumerken ist, dass keiner von gangs vorgestellten Beispiele literarischer Art Bruegels Bildtiteln ‚original’ ist, sondern vielmehr waren und die zahlreichen Bezugnahmen der Ergebnis ekphrastischer Transkriptionsprozesse. angloamerikanischen Gegenwartsliteratur auf DeLillos Roman Underworld spielt in der Zeit des Renaissance-Gemälde schlaglichtartig vorstell- Kalten Krieges, als ein Denken in Wir und Sie, „Us ten,10 erlaubt die Diskussion der Mona Lisa zusätz- and Them”, die Welt an den Rand einer nuklearen lich einen historischen Blick auf das Verhältnis Katastrophe brachte. Der Roman lotet die Rolle von Original und Kopie und bezieht sich in erster der Atomkraft, des nuklearen und technologischen Linie auf kunstkritische und weniger auf fiktionale Abfalls und der globalen Folgen eines nuklearen Texte. Gezeigt wird, dass transkriptive ‚Kopien’ Krieges im Zeitalter der digitalen Informations- literarischer oder künstlerischer Art nicht erst in technologie und Vernetzung durch die interme- der Postmoderne als Verfahren der Aneignung diale Referenz auf Bruegels Ölgemälde aus und und Umdeutung gesehen und geschätzt werden. bietet so eine aktualisierende ekphrastische Tran- Zudem erlaubt die Diskussion der Ekphrasis als skription des Bildes an. Auch dieses zweite Bei- Transkriptionsverfahren die kulturelle Arbeit von spiel für die Verwendung von Ekphrasen berühm- Ekphrasis im Sinne eines Funktionsmodells als ter Renaissance-Gemälde in narrativen Texten intermediale Praxis der produktiven Iteration und illustriert die Produktivität ekphrastischen Schrei- Bezugnahme, als komplexes Mittel der kontext- bens in der Gegenwartsliteratur. Der Triumph des abhängigen Bedeutungserschließung und Verge- Todes entstand in den frühen 1560er Jahren, war genwärtigung, neu zu bestimmen. als Druck weit verbreitet und stellt Massentötun- gen gänzlich neuen Ausmasses, über die kein göttliches Gericht mehr wacht, auf erschreckende Weise dar.8 Während Miao Xiaochun, chinesischer 1 Ekphrasis als intermediale Gegenwartskünstler und Professor an der CAFA Transkription Beijing, Bruegels Der Triumph des Todes 2015 als Acryl-Bild auf Leinwand neu als politisch-media- Lange Zeit wurden Ekphrasen als verbale ‚Kopien’ les Überwachungsszenario erschafft, themati- eines visuellen Kunstwerks / ‚Originals’ verstan- siert DeLillos lange und detaillierte ekphrastische den und Qualität und Wert von Ekphrasen folglich Transkription das Gemälde als fragiles Verhältnis danach bemessen, wie hoch der mimetische Grad, von Leben und Tod und macht das Ölgemälde des flämischen Malers so für Leser_innen des späten 9 Vgl. Fehrmann, Gisela / Linz, Erika / Schumacher, Eck- 20. und frühen 21. Jahrhunderts neu lesbar: als hard / Weingart, Brigitte (2004). 10 Weitere bekannte literarische Bezugnahmen auf Re- 7 DeLillo 1998, S. 49-51. naissance-Gemälde sind z.B. die anglo-amerikanischen 8 Zur Verbreitung und Hochschätzung des Drucks berühm- Gegenwartsromane, Headlong (1999) von Michael Frayn, ter Renaissance-Gemälde siehe den Beitrag von Christine Sakrileg. Der Da Vinci Code (2003) von Dan Brown und Göttler im vorliegenden Heft. The Goldfinch (2013) von Donna Tartt.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019 29 die Detailliertheit und Lebendigkeit der Reprä- gewandelt haben, bedarf es neuer Lektürefor- sentation des ‚Originals’ durch das Medium Text men der Symbolsysteme und ihren intermedialen ausfielen. Dieser Beitrag schlägt eine andere Kon- Koppelungen, die die Transkription liefert.12 Das zeptualisierung von Ekphrasen vor und versteht von Jäger entwickelte kultursemiotische Konzept diese als intermediale (und häufig auch transkul- der Transkription ist eine Form von Lektüre, die turelle) Transkriptionen, die neue Fragen aufwer- zur ‚Lesbarmachung’ von Daten in verschiedenen fen: Was bedeutet es für die Ekphrasis-Forschung, medialen Formen dient, seien es audiovisuelle, Ekphrasis als Transkriptionstechnik zu verstehen linguistische oder Bilddaten. und welchen Beitrag leistet diese Definition von Zwei grundlegende Transkriptionsverfahren Ekphrasis zu der neueren Original-Kopie-Debatte? semantischer Ratifizierung liegen vor: 1. intrame- Zerspielen Ekphrasen als Rekursionsschleifen vom diale Verfahren, anhand derer mit Sprache über Bild zum Wort den Status des Originals und lassen Sprache kommuniziert wird; und 2. intermediale nur intermediale Kopien zurück oder kommt es Verfahren, bei denen mindestens ein zweites zu Reauratisierungsvorgängen, die der Sehnsucht mediales Kommunikationssystem zur Kommen- nach Originalen Ausdruck verleihen und dazu bei- tierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung tragen, dass bestimmte Kunstwerke zu global (der Semantik) eines ersten Systems herangezo- icons werden? Die Diskussion dieser Fragen dient gen wird.13 Beide Transkriptionsverfahren besitzen dazu, Ästhetiken des Sekundären als nicht-lineare, performatives Potential und dienen dem „Lesbar- enthierarchisierte Netzwerke zu begreifen und machen des jeweils thematisierten symbolischen Ekphrasen im Horizont von Original-Kopie-Ver- Systems” und damit der „Bedeutungs-Erschlie- hältnissen als wichtige Stationen einer (im Falle ßung”.14 Transkripte sind die symbolischen Mittel, der Mona Lisa und der beiden Bruegel-Gemälde die das jeweils transkribierende System für eine nicht abreißenden) Rezeptionskette zu betrachten Transkription verwendet; Skripte sind die durch und neu auszuloten. das Verfahren lesbar gemachten, transkribierten Jägers allgemeine Theorie der Transkription Ausschnitte des zugrundeliegenden symbolischen dient als Ausgangspunkt und geht von der These Systems, und der Quellentext oder Prätext ist das aus, dass die Semantik natürlicher Sprachen auf zugrundeliegende System selbst, das fokussiert transkriptiven Verfahren beruht. Er postuliert, und in ein Skript verwandelt wird: „Skript-Status dass die prinzipielle Symbolizität unseres Welt- erhalten Symbolsysteme oder Ausschnitte von bezugs, die „mediale[] Anthropologie des Men- diesen nur dadurch, dass sie transkribiert wer- schen”, keineswegs das Ergebnis moderner oder den, also aus Prätexten in semantisch auf neue gar postmoderner Mediengeschichte ist: seit dem Weise erschlossene Skripte verwandelt werden. homo sapiens „ist es ein Netzwerk divergen- [...] Obgleich der Prätext der Transkription vor- ter symbolischer Formen, in dem [der Mensch] ausgeht, ist er als Skript doch erst das Ergebnis jeweils sowohl sich als Erkenntnissubjekt als der Transkription.”15 Zwar sind Transkriptionen auch seine Bezugnahmen auf die Erkenntniswelt „skript-konstitutiv, sie transformieren Prätexte entworfen hat”.11 Da sich die Struktur, Reichweite in Skripte, versetzen diese jedoch durch Trans- und Komplexität von Symbolsystemen ebenso formationen in einen gegenüber den Transkripten wie ihre Vernetzungsdichte im digitalen Zeitalter autonomen Status: Das Skript hat Interventions- rechte gegen die mögliche Unangemessenheit der Transkription” und ermöglicht so Korrekturen und 11 Jäger 2002, S. 26. Jäger geht in seinen Überlegungen neue Lesarten, welche in Postskripten ihren Aus- zunächst auf die kulturpessimistische Kritik des Media- druck finden.16 len ein, die die Abnahme der Lesbarkeit der Welt beklagt. Gemäß dieser Kritik führen zunehmende Semiotisierung und Visualisierung zur Unleserlichkeit der Welt und damit zum Referenzverlust (vgl. Jäger 2002, S. 19-21). Kritiker 12 Jäger 2002, S. 27. der elektronisch-digitalen Medienkultur mögen die Auf- 13 Jäger 2002, S. 29. lösung von Aura und den Verlust von Referenz beklagen, 14 Jäger 2002, S. 29 und S. 30. übersehen dabei jedoch, dass das interaktive Spiel der 15 Jäger 2002, S. 30. Die Relation von Transkript und Medien nicht zur Verflüchtigung des Realen führt, sondern Skript ist nach dem Zeichen-Muster von Signifikant und gerade „als genuiner Konstitutions-Ort von Semantik fun- Signifikat zu verstehen. giert” (Jäger 2002, S. 27). 16 Jäger 2002, S. 33.
30 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 In unserem Zusammenhang sind insbeson- lenden und veranschaulichenden Transkription dere Jägers Überlegungen zu medienübersetzen- mentaler Begriffe/Ideen”, welche ohne „transkrip- den, intermedialen Transkriptionen wichtig, bei tive Um-Schreibung des Mentalen in eine mediale denen nicht-lesbare in lesbare Strukturen über- Textur” keine Bedeutung generieren würden.21 führt werden.17 Insbesondere für intermediale Bekannterweise sind Hypotypose und evidentia in Transkriptionen – Jäger nennt die Emblematik und der antiken griechisch-römischen Tradition Syno- Hieroglyphik – gilt, dass Transkription ein Skript nyme für ekphrasis. generiert, dieses Skript jedoch keinesfalls „in sei- Der Begriff Ekphrasis stammt aus dem Grie- ner Abhängigkeit von jener Transkription, der es chischen, setzt sich aus ‚ek’ (‚aus’) und ‚phrazein’ seine Existenz verdankt” aufgeht. Da Transkribie- (‚zeigen’, ‚bekannt, deutlich machen’) zusammen ren auf Fragen der Medialität und Intermedialität und bedeutet so viel wie völlig, restlos deutlich ausgerichtet ist, bietet es sich an, das Konzept mit machen beziehungsweise zeigen.22 In der zweiten der neueren Ekphrasisforschung in Verbindung Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Ekphrasis zum zu bringen, die Ekphrasis als eine intermediale Gegenstand zahlreicher literatur- und kulturtheo- Strategie versteht.18 Besonders relevant für die retischer Debatten und ist – trotz anspruchsvoller Fruchtbarmachung des Transkriptionskonzepts interdisziplinärer methodologischer Herausforde- für die Ekphrasis-Debatte ist nun, dass Jäger auf rungen – zu einem wichtigen Forschungsgebiet Kants Entwurf einer transkriptiven Semantik ein- der Literatur-, Kultur-, Kunst-, Musik- und Thea- geht, die dieser jedoch nie sprachtheoretisch aus- terwissenschaft der letzten 30 Jahre geworden.23 baute, sondern in seiner Theorie der Darstellung Gemäß der Definition von James A. W. Heffernan von Begriffen unter dem rhetorischen Begriff „der steht Ekphrasis für „the verbal representation of Hypotypose (hypotyposis = Ausprägung) entfal- visual representation”, das heißt für die verbale tet”.19 Der Anschluss Kants an die „rhetorische Repräsentation von real existierenden oder fikti- Tradition ist dabei insofern bedeutsam, als bereits ven Werken bildender Kunst.24 Heffernans Defini- Quintilian die Gedankenfigur der Hypotypose als tion, die Ekphrasis als eine Repräsentation zwei- intermediales Verfahren auffasst”, welches auch ten Grades bestimmt, hat den Vorteil, dass sie den Namen evidentia (Veranschaulichung) trägt: die reflexive Ebene betont, die Ekphrasen aus- was man hört, wird einem vom Redner quasi vor zeichnet: Sie reflektieren immer das eigene wie Augen gestellt.20 Bei der Hypotypose handelt es das fremde ‚Repräsentationsmedium’ (den Text sich um ein „intermediales Verfahren der darstel- und die Bilder) mit und tragen so wesentlich zur Problematisierung von Mimesis-, Referentialitäts- und Repräsentationskonzepten in der Moderne 17 Transkriptivität ist ein „organisatorisches Grundprinzip des kulturellen Gedächtnisses insbesondere literalisierter und Postmoderne bei. Der Nachteil der Defini- Gesellschaften [...], die zur Speicherung, Tradierung und tion ist der Begriff der Repräsentation selbst, da Fortschreibung kulturellen Wissens auf das intramediale er die Funktionen von Ekphrasen einschränkt.25 (intertextuelle) und intermediale Zusammenspiel verschie- Während Ekphrasen, wie bereits erläutert, in frü- dener Symbolsysteme zurückgreifen” (Jäger 2002, S. 35). heren Jahrhunderten noch weitgehend im Dienst Da sich Sinn in menschlichen Gesellschaften erst dadurch konstituiert, „daß verschiedene Symbolsysteme zuein- der ‚Anschaulichkeit’ (enargeia) standen und bis ander in transkriptive Beziehung gebracht werden”, sind weit ins 20. Jahrhundert anhand von Mimesis- iterative intermediale Transkriptionsformen von zentraler Modellen und Treue zum gemalten Original beur- Bedeutung: „eine monomediale Semantik” kann es nicht teilt wurden, setzte doch bereits in der Moderne geben. Sie belegen zudem die tiefe Prägung der Medien- eine Problematisierung der von antiken Rheto- geschichte durch transkriptive Verfahren als eine „Grund- eigenschaft kultureller Semantik” (Jäger 2002, S. 36-37). 18 Irina O. Rajewsky und Werner Wolf sprechen im Zu- 21 Jäger 2002, S. 39. sammenhang mit Ekphrasis von „intermedial reference” 22 Webb 2009. (Rajewsky 2005, S. 52; vgl. auch Rajewsky 2002 und 2010; 23 Vgl. Krieger 1992; Heffernan 1993; Boehm und Pfoten- Wolf 2005, S. 254). Bruhn 2000; Rippl 2005; Sager Eidt hauer 1995; Hollander 1995; Mitchell 1992 und 1994; Wag- 2008 verstehen Ekphrasis als Übertragung von jedwedem ner 1996; Klarer 2001; Loizeaux 2008; Rippl 2005, 2014, medialen Produkt, z.B. einem visuellen Kunstwerk, Film 2015a, 2015b, 2018a, 2018b, 2019a, 2019b; Kennedy 2012; oder Musikstück, in ein anderes Medium. Behluli / Rippl 2017; Louvel 2018a und 2018b. 19 Jäger 2002, S. 38. 24 Heffernan 1993, S. 2. 20 Jäger 2002, S. 38. 25 Vgl. Kennedy 2012.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019 31 ren gepriesenen Beschreibungskunst und der 2 Ekphrasis als produktive Techniken der Veranschaulichung und des ‚Vor- Ästhetik des Sekundären Augen-Stellens’ (evidentia; hypotyposis) ein.26 In zahlreichen modernen und postmodernen lite- Jägers Überlegungen sind mit Blick auf die rarischen Texten, die einer Poetik der Visualisie- jüngere Original-Kopie-Debatte von zentraler rung folgen, lässt sich häufig ein Spannungsver- Bedeutung, denn er versteht „die konstitutive hältnis zwischen mimetischem Beschreiben und Abhängigkeit des Skriptes von seinem Transkript gleichzeitiger Subversion von Mimesis-Doktrin nicht als schlichte Derivation”.30 Zwar legen die und Anschaulichkeitsrhetorik feststellen.27 Zwar Begriffe ‚Präskript’ und ‚Postskript’ ein skriptura- setzte sich die Forschung mit Blick auf Ekphrasis les Modell nahe31 und implizieren einen linearen häufig mit dem Wettstreit der Künste (dem Para- chronologischen Ablauf, Jäger macht jedoch für gone), der Medienspezifik von Wort und Bild sowie die semantische Ebene, um die es ihm geht, klar, Typologiebildungen auseinander, in der jüngsten dass Wertungen wie ‚Derivation’ oder ‚Sekundä- Forschung rücken jedoch Fragen nach den Funk- res’ in seinem Modell keinen Platz haben32 und tionen von Ekphrasis, nach ihren sozio-politi- eine „temporale[] und logische[] Priorisierung des schen, ethischen und ästhetischen Leistungen ‚Originals’ vor seinen medialen Fortschreibungen in den Vordergrund. Da unser Zeitalter digitaler […] der komplexen Beziehungslogik dieses Ver- Netzwerke und des ‚Anthropozän’ von rasanten hältnisses nicht angemessen gerecht werde”.33 Im Globalisierungsprozessen und massiven ökologi- Sinne Jägers ist Ekphrasis verstanden als inter- schen Herausforderungen gekennzeichnet ist, ist mediale Transkription nicht als verspätete und jüngst auch vermehrt von neuen Konzepten wie minderwertige intermediale ‚Kopie’ eines visuel- ‚digital ekphrasis’28 und ‚eco-ekphrasis’29 die Rede. len ‚Originals’ aufzufassen, sondern vielmehr im Bislang wurde Ekphrasis nicht als Transkriptions- Zusammenhang mit medien- und kulturwissen- prozess sensu Jäger diskutiert, wie das hier vor- schaftlichen Überlegungen als produktive Ästhe- geschlagen wird. Ekphrasis als Transkriptions- tik des Sekundären in je spezifischen Medienöko- prozess zu konzeptualisieren ist jedoch wichtig, logien zu diskutieren, denn in der transkriptiven weil der Funktionsansatz der Ekphrasisforschung Bezugnahme auf ein ‚Original’ / Bild konstituiert gestärkt und so sichtbar gemacht wird, dass die Ekphrase dieses semantisch in bestimmten Ekphrasen als Mittel der Lesbarmachung eine historischen und kulturellen Situationen perfor- wichtige kulturelle Arbeit vollziehen, also weit mativ. mehr als eine dienende, amplifikatorische Rolle in Um neu über das Verhältnis von Original und Texten spielen. Als Transkriptionstechnik sind sie Kopie nachzudenken, nimmt Brigitte Weingart Operationen der kontextabhängigen Bedeutungs- den oxymoralen Begriff der ‚Originalkopie’ als erschließung und Lesbarmachung, die ‚Prätexte’ / Ausgangspunkt, der die Opposition von Original visuelle Kunstwerke anhand von Transkriptionen und Kopie hinterfragt und zum Nachdenken dar- in Skripte überführen, welche sich ihrerseits für über einlädt, inwiefern es gerade „die konstitu- weitere Skripte und Postkripte, das heißt Rezep- tionelle Funktion der Vervielfältigung” sei, „die tionsketten in verschiedenen medialen und inter- medialen Formaten öffnen und so ein rekursives Spiel ermöglichen. 30 Jäger 2002, S. 35. 31 Man kann die Nähe der Begriffe zum Wortfeld Skriptu- ralität kritisieren, sie ist jedoch beabsichtigt, da Jäger Spra- che als Archimedium versteht, d.h. Sprache für ihn die letz- 26 Laut Tamar Yacobi ist die Tendenz vieler Theoretikerin- te Transkriptionsinstanz darstellt (Jäger 2002, S. 34). nen und Theoretiker problematisch, Wort-Bild-Relationen 32 Jäger versteht „die konstitutive Abhängigkeit des Skrip- immer noch anhand von Mimesis-Modellen und irreführen- tes von seinem Transkript nicht als schlichte Derivation: den, vermeintlichen Dichotomien (etwa episch vs. lyrisch; Vielmehr wird das Skript insofern zu einer autonomen Be- Handlung vs. Beschreibung; Narrativität vs. Pikturalität) wertungsinstanz für die Angemessenheit der Transkription, bestimmen zu wollen (1995, S. 600-602). als es zugleich den Raum für Postskripte öffnet, in denen 27 Rippl 2005. die Angemessenheit der durch die Transkription behaupte- 28 Behluli / Rippl 2017; Rippl 2018b. ten Lektüre in Frage gestellt werden kann‟ (2002, S. 35). 29 Rippl 2019a, Rippl 2019b. 33 Jäger 2019, S. 14.
32 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 Idee des Originals hervorzuheben”.34 Laut Wein- die auf einen gänzlich anderen Stellenwert des gart wird die vereinfachte Dichotomisierung von Originals zurückzuführen sind: statt einer ‚Aura’ Original und Kopie sowie das „traditionell voraus- und Einzigartigkeit führt die technische Repro- gesetzte[] Abhängigkeitsverhältnis[] zwischen duzierbarkeit neu zum ‚Verfall’ der Aura des ein- einem primären Original und seinen lediglich maligen Kunstwerks, wie Benjamin u.a. am Bei- sekundären Kopien” in der Postmoderne, auch spiel von Kopien von Leonardo da Vincis Mona dank des französischen Poststrukturalismus und Lisa illustriert.38 Der vorliegende Beitrag hinter- dessen Insistieren auf dem Konzept der Iteration fragt diese These Benjamins, denn es ist Benja- hinterfragt.35 Damit werden unter Rückbezug auf mins blinder Fleck, nicht gesehen zu haben, dass die Arbeiten von Ludwig Jäger zur Transkription Reproduktionen, Kopien und Iterationen als Quel- chronologische wie oppositionelle Modelle zur len von Reauratisierungsprozessen des Originals Erklärung von Original und Kopie problematisiert, zu verstehen sind, welche zu neuen ikonischen bei gleichzeitiger Bevorzugung relationaler Kon- Präsenzen führen können.39 zeptualisierungen und Aufwertung des Sekundä- ren und Nachgeordneten.36 Der Perspektivwechsel auf das Verhältnis von 3 Leonardo da Vincis Mona Lisa ‚Original’ und ‚Kopie’ wurde durch neue Techniken medialer Reproduktion seit der Mitte des 19. Jahr- und ihr intermediales ‚Fortleben’ hunderts vorbereitet, so stellt Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Im Folgenden sollen die dargelegten Überle- Reproduzierbarkeit (1934/35) fest. Er schreibt mit gungen zur Ekphrasis als produktive Praxis der seiner Oppositionsbildung von (1) Aura – Einma- Bezugnahme und Transkription, das heisst als ligkeit – Original / Echtheit – Dauer – Kultwert kulturell performative Kraft und Ästhetik des – Rezeptionsform: Versenkung vs. (2) Verfall der Sekundären anhand von Leonardo da Vincis Aura – Wiederholbarkeit – Reproduktion / Kopie Mona Lisa diskutiert und dabei gezeigt werden, – Flüchtigkeit – Ausstellungswert – Rezeptions- dass ‚Originalkopien’ keineswegs eine Erfin- form: Ablenkung die Dichotomisierung von Ori- dung der Moderne und Postmoderne darstellen, ginal und Kopie fort.37 Benjamin analysiert die sondern bereits in früheren Jahrhunderten eine grundlegenden Veränderungen in den Produkti- wichtige Rolle spielten.40 Leonardos Mona Lisa ons- und Rezeptionsprozessen von Kunstwerken, zieht als ‚Original’ im Louvre jedes Jahr zahl- reiche Besucher aus der ganzen Welt an. Das 34 Weingart 2012, S. 203. Kritiker_innen sind sich heute Gemälde wurde im 19. Jahrhundert kanonisiert meist einig, dass die Kopie/n das Original konstituieren und ist seitdem fester Bestandteil des kulturellen und seinen Wert erhöhen. Siehe z.B. Latour und Lowe Archivs der Menschheit. Während Benjamin sich 2011; Eriksen 2017 und Jäger 2019, der in seinem Beitrag in seinem Kunstwerk-Aufsatz auf dieses aurati- zum vorliegenden Heft zwei unterschiedliche Auffassungen sche Renaissancegemälde und dessen Deaurati- des ‚Originals’ in Benjamins Kunstwerk- und dem früheren sierung, die mit den vielen Kopien des Gemäl- Übersetzeraufsatz herausarbeitet. In unserem Zusammen- hang sind insbesondere Benjamins Ideen zur ‚Übersetzbar- des einhergeht, bezog,41 lohnt es sich vor dem keit’ von Interesse, da dieses Modell davon ausgeht, dass Hintergrund der neueren Original-Kopie-Debatte, sich ein Original erst in seiner transkriptiven Bewegung, die endlosen Rezeptionsketten, Rekursionsschlei- seinem ‚Widerhall’ in der Übersetzung, „im unabschließba- fen und intra- wie intermedialen Transkriptionen ren Prozess seines ‚ewigen Fortlebens’, in Prozessen des der Mona Lisa selbst genauer zu untersuchen, Re-Framings” entfaltet (S. 13). 35 Weingart 2012, S. 204. denn mit Aleida und Jan Assmann muss von 36 Weingart 2012, S. 205. einem „return loop” zwischen Kopie und Original 37 Benjamin 2007, S. 12-13, S. 19, S. 20. In der Repro- ausgegangen werden: „the conditions of mass duktionen von Porträtphotographien sieht Benjamin im selben Aufsatz jedoch noch einmal Aura aufblitzen: „Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den 38 Benjamin 2007, S. 12, Fn. 2. frühen Photographien die Aura zum letzten Mal‟ (Benjamin 39 Behluli / Rippl 2017. 2007, S. 23). Weingart betont, dass sich „andernorts in 40 Zum komplexen Verhältnis von Original und Kopie in seinem Werk Hinweise auf Prozesse einer Reauratisierung der Frühen Neuzeit vgl. Erikson 2017. von Reproduktionen” finden lassen (2012, S. 204). 41 Benjamin 2012, S. 12, Fn. 2.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019 33 production and reproduction do not diminish and Neben der ununterbrochenen medialen Auf- destroy the original but – quite the contrary – set merksamkeit, der sich die Mona Lisa bis heute off and highlight its value.”42 Inwiefern tragen erfreut, sind es gerade – so die These – die also Kopien des Gemäldes zu einer Konstruktion überraschend zahlreichen transkulturellen, inter- des Originals und zur Reauratisierung des Gemäl- textuellen und intermedialen Transkriptionen des bei? Wenn von Reauratisierung des ‚Originals’ der Mona Lisa, die wesentlich zur Lesbarkeit gesprochen werden kann, worin liegt diese dann? des Gemäldes in sehr unterschiedlichen histo- Und inwiefern haben gerade die komplexen, nicht rischen und kulturellen Kontexten beigetragen arretierbaren Deutungs- und Kopierprozesse, haben. Damit hinterfragen die Transkriptionen die in endlosen hoch- und populärkulturellen, das „traditionell vorausgesetzte[] Abhängigkeits- interikonischen (Bild zum Bild), intermedialen / verhältnis[] zwischen einem primären Original ekphrastischen (Bild zum Text) und intertextuel- und seinen lediglich sekundären Kopien”.45 Den len (Text zum Text) Transkriptionsketten münden, Ausgangspunkt der Transkriptionsketten lieferte die Mona Lisa zu einem global icon gemacht, das Giorgio Vasari bereits im 16. Jahrhundert in sei- scheinbar nichts von seiner Aura eingebüßt hat? ner Leonardo-Biographie, indem er das Ölbild in Leonardos spätes Gemälde entstand zwi- das Medium Text übersetzte: schen 1503 und ca. 1506.43 Das mit Ölfarbe auf dünnem Pappelholz gemalte Bild ist recht klein Von Francesco del Giocondo übernahm er dann den Auftrag für das Porträt seiner Frau Mona Lisa. Er (77 cm x 53 cm) und ist im Louvre seit 1974 nur mühte sich vier Jahre mit diesem Werk und ließ es noch hinter Panzerglas zu bewundern. Das Modell dann unvollendet zurück. Heute befindet es sich im des Porträts ist allem Anschein nach die Florenti- Besitz des Königs Franz von Frankreich in Fontaine- nerin Lisa Gherardini, die Frau des wohlhabenden bleau. Und wenn jemand zu sehen wünschte, wie sehr Seidenhändlers Francesco del Giocondo, wobei es die Kunst in der Lage ist, die Natur nachzuahmen, so konnte er dies mühelos an diesem Kopf erken- sich bei der Rede von „der Mona Lisa” um „eine nen: Leonardo hatte hier jede Einzelheit mit größter sprachliche Personalisierung bzw. Feminisierung Feinheit herausgearbeitet: Die Augen besaßen jenen des Gegenstandes” handelt, die die Grenzen zwi- Glanz und feuchten Schimmer, den man in Wirklich- schen dem Bild und der Person bzw. dem Modell keit ständig beobachten kann, und um sie herum sah verwischt. Der im 16. Jahrhundert einsetzende 44 man jene fahlen Rottöne und Härchen, die nur mit transnationale und transkulturelle Status der allergrößter Feinheit ausgeführt werden können. Die Brauen könnten, in der Art wie die Haare aus dem Mona Lisa hat sicherlich eine wichtige Rolle im Fleisch herauswachsen – an manchen Stellen dichter, Kanonisierungsprozess des Gemäldes gespielt: an anderen spärlicher – und wie sie sich den Poren zunächst war es in Italien angesiedelt, Leonardo der Haut entsprechend ausrichten, nicht natürlicher verkaufte das Bild jedoch kurz vor seinem Tod aussehen. Die Nase mit ihren schönen, rosigzarten an den französischen König François I. Danach Öffnungen war völlig naturgetreu gemalt. Der Mund, dessen Konturen und Winkel sich im Rot der Lippen blieb es in Frankreich bis es am 21. August 1911 mit dem Inkarnat des Gesichts verbinden, erschien von Vincenzo Peruggia aus dem Louvre gestohlen, nicht gemalt, sondern wie lebendiges Fleisch. Und nach Italien entführt und schließlich unter der wer genau auf die Grube an ihrem Hals achtete, der großen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dem konnte den Puls schlagen sehen. In der Tat darf man Museum zurückgegeben wurde. Der Entzug des wohl sagen, daß sie in einer Weise gemalt war, die Bildes durch diesen Diebstahl und seine Rückkehr jeden noch so kühnen Künstler zum Verzweifeln und Erzittern brachte. Außerdem bediente Leonardo sich in den Louvre machte die Mona Lisa nur noch des folgenden Kunstgriffs: Während er Mona Lisa, die bekannter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wussten eine sehr schöne Frau war, malte, ließ er musizieren der französische Präsident Charles de Gaulle und und singen und Narren ihre Possen reißen, um sie so sein Kulturminister André Malraux dieses italieni- bei guter Laune zu halten und die Melancholie zu ver- sche Bild einer Florentinerin als nationales fran- treiben, die man oft in der Porträtmalerei findet. Und in diesem Gemälde Leonardos sah man ein Lächeln, zösisches Kulturgut zu nutzen und zu vermarkten. so anmutig, daß es eher göttlich als menschlich anzu- schauen war, und man hielt es für etwas Wunderbares, da es so lebendig schien wie im Leben.46 42 Assmann und Assmann 2003, S. 150 und S. 147. 43 Vgl. hier und im Folgenden Rippl 2016. 45 Weingart 2012, S. 204. 44 Serles 2013, S. 194, Fn. 2. 46 Vasari 2006, S. 37-40.
34 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 Bedenkt man die Tatsache, dass Vasari das ‚Origi- dann erneut 1873 in der Essaysammlung The nal’-Gemälde nie gesehen hatte, deckt sich seine Renaissance. Studies in Art and Poetry publiziert ausführliche Ekphrase, die an Leonardos Mal- wurde. Unter Paters Blick werden die Mona Lisa kunst die mimetische Genauigkeit der Naturnach- und ihr unergründliches Lächeln zu einer konden- ahmung und Lebensechtheit hervorhebt, einiger- sierten Metapher: maßen mit der Mona Lisa-Version im Louvre.47 Dennoch ist es gerade mit Blick auf dieses Bild La Gioconda is, in the truest sense, Leonardo’s mas- terpiece, the revealing instance of his mode of thought schwierig, von einem ‚Original’-Bild, dem Werk, and work. In suggestiveness, only the Melancholia of zu sprechen, da von Anfang an mehrere Kopien Dürer is comparable to it; and no crude symbolism des Gemäldes im Umlauf gewesen sein sollen.48 disturbs the effect of its subdued and graceful mystery. Vasari mag eine unvollendete Fassung des Gemäl- We all know the face and hands of the figure, set in des gesehen haben oder eine Ekphrase einer its marble chair, in that circle of fantastic rocks, as in some faint light under sea. [… T]he unfathomable Ekphrase geliefert haben (falls seine Beschrei- smile, always with a touch of something sinister in it, bung des Gemäldes aus zweiter Hand stammt). which plays over all of Leonardo’s work. Besides, the Wie dem auch sei, Vasaris Ekphrase hat zu zahlrei- picture is a portrait. From childhood we see this image chen weiteren Rezeptionsketten in Form ekphras- defining itself on the fabric of his dreams; and but for tischer Transkriptionen geführt. Zudem nimmt express historical testimony, we might fancy that this man an, dass Vasaris erste Ekphrase auch dazu was but his ideal lady, embodied and beheld at last.50 beitrug, dass es bereits im 16. und 17. Jahrhun- dert nur wenige andere Gemälde gab, von denen Pater führt mit „Leonardo’s masterpiece” und so viele gemalte Kopien angefertigt wurden.49 „suggestiveness” zunächst ästhetische Kriterien Die wohl einflussreichste moderne ekphras- und Ideale an, die für ihn als Kunstkritiker eine tische Transkription von Leonardos Ölgemälde wichtige Rolle spielen. Genauso wichtig wie ästhe- lieferte der Oxforder Ästhet, Altphilologe und tische Kriterien sind jedoch kontextuelle Faktoren, Mythentheoretiker Walter Pater in der zweiten die sich hier in der männlichen, spätviktoriani- Hälfte des 19. Jahrhunderts im viktorianischen schen Aufladung des Bildes und der dargestellten Zeitalter. Seine Überlegungen zur Mona Lisa gaben Frauenfigur zeigen. Pater macht Mona Lisa zu der der Rezeption des Gemäldes in der europäischen Verkörperung einer idealen, da rätselhaften Frau, Kultur und Literatur die Richtung und trugen zum deren Lächeln unergründlich und sinister ist: nicht enden wollenden Mona Lisa-Hype auch im 20. Jahrhundert wesentlich bei. Paters berühmte The presence that rose thus so strangely beside the waters, is expressive of what in the ways of a thou- Ekphrase der Mona Lisa befindet sich in seinem sand years men had come to desire. Hers is the head Leonardo da Vinci-Essay, der zuerst 1869 in der upon which all ,the ends of the world are come’, and Novemberausgabe der Fortnightly Review und the eyelids are a little weary. It is a beauty wrought out from within upon the flesh, the deposit, little cell by cell, of strange thoughts and fantastic reveries and 47 Sassoon 2001, S. 19. exquisite passions. Set it for a moment beside one 48 Vgl. Sassoon 2001, S. 22. Schon von Leonardo selbst of those white Greek goddesses or beautiful women scheint es zwei gemalte Versionen gegeben zu haben, und of antiquity, and how would they be troubled by this erst 2012 ist im Prado eine weitere Mona Lisa aufgetaucht beauty, into which the soul with all its maladies has und im gleichen Jahr wurde die Isleworth Mona Lisa der passed! All the thoughts and experience of the world Öffentlichkeit präsentiert. Während umstritten ist, welches have etched and moulded there, in that which they Bild das ,Original’ ist, wird doch an der Idee eines ,Origi- have of power to refine and make expressive the nals’ und einem affirmativen Werkbegriff festgehalten. outward form, the animalism of Greece, the lust of 49 Vgl. Sassoon 2001, S. 278. Zu den existierenden Kopien Rome, the mysticism of the middle age with its spiri- und Variationen der Mona Lisa vgl. Sassoon 2001, S. 41-42; tual ambition and imaginative loves, the return of the Kemp 2012, S. 157-162; McCullen 1975, S. 139-145, S. 155- Pagan world, the sins of the Borgias. She is older than 156, S. 166-167. Zu den Funktionen frühneuzeitlichen Kopie- the rocks among which she sits; like a vampire, she rens siehe den Beitrag von Christine Göttler im vorliegen- has been dead many times, and learned the secrets den Heft. Es ist weithin bekannt, dass von Dürers Bildern, of the grave; and has been a diver in deep seas, and etwa seinem Hieronymus, sowie von anderen Kultbildern keeps their fallen day about her; and trafficked for eine sehr hohe Anzahl von Kopien angefertigt wurden. Vgl. auch Vasaris Hinweis auf die 50 Kopien, die Parmigianinos Madonna della Rosa motivierte (Vasari 2004, S. 28). 50 Pater 1986, S. 79.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019 35 strange webs with Eastern merchants: and, as Leda, samt dem enigmatischen Lächeln des Modells La was the mother of Helen of Troy, and, as Saint Anne, the mother of Mary; and all this has been to her but Gioconda ausübte, die dann als „Leerformel, als as the sound of lyres and flutes, and lives only in the ,Frau ohne Eigenschaften’” zur Projektionsfläche delicacy with which it has moulded the changing linea- für Männerphantasien, zum Frauenphantom der ments, and tinged the eyelids and the hands. The fancy erotisch-satanischen femme fatale wurde, die of a perpetual life, sweeping together ten thousand Männer in Versuchung führt und ins Verderben experiences, in an old one; and modern philosophy stürzt. 53 has conceived the idea of humanity as wrought upon by, and summing up in itself, all modes of thought and Entgegen solchen sexuell-dämonischen Aufla- life. Certainly Lady Lisa might stand as the embodi- dungen der Mona Lisa, die heute kaum mehr nach- ment of the old fancy, the symbol of the modern idea.51 vollziehbar sind, legen Schriftsteller und Künstler des 20. Jahrhunderts ganz andere, häufig mit Iro- Paters ekphrastische Mona Lisa-Transkription nie aufgeladene Skripte der Mona Lisa vor. Kurt liefert weder eine Diskussion von Leonardos Tucholskys (1890-1935) Gedicht „Das Lächeln der delikater Maltechnik – sieht man einmal von Mona Lisa” (1928) kann als Beispiel dienen für der Bemerkung „and lives only in the delicacy die große Verbreitung von Leonardos Gemälde with which it has moulded the changing linea- in der Alltagskultur: in Tucholskys Gedicht hängt ments, and tinged the eyelids and the hands” ab die Mona Lisa über dem „Mann vom Dienst” und – noch präsentiert er eine anschauliche Beschrei- belegt die andauernde Faszination von Mona bung des Gemäldes. Vielmehr dispersiert Paters Lisas Lächeln auch zwischen den Weltkriegen – Ekphrase Bedeutung, indem sie eine intensive allerdings wird das Lächeln nun gänzlich anders Atmosphäre schafft und eine breite Palette von gewertet.54 Allseits bekannt ist das Fortleben der Assoziationen anbietet. Pater sieht eine vampir- Mona Lisa in der bildenden Kunst. Im 20. Jahr- gleiche, undurchschaubare und unerforschliche hundert nahmen zahlreiche Künstler, etwa Mar- Frau abgebildet, deren rätselhaftes Aussehen cel Duchamp, Kasimir Malevich, Fernand Léger, und enigmatisches Lächeln ein Geheimnis bergen Salvador Dalí und Andy Warhol, Bezug auf die und gibt damit die viktorianische Lesart der Mona Mona Lisa – häufig in ikonoklastisch-ironischer Lisa vor. Manier.55 Aber gerade die „‚originellen’ Aneignun- Er leitete eine oft misogyne und „phantasma- gen” Marcel Duchamps („L.H.O.O.Q.”, 1919, wo tische Auf- und Überladung” des Gemäldes samt die Mona Lisa einen Schnurrbart trägt) und Andy der geheimnisvollen Geschichte um das weibliche Warhols haben der Mona Lisa „eine eigene Kar- Modell mit dem enigmatischen, Sphinx-gleichen, riere in Konzeptkunst und Pop Art” beschert; ihre zum Teil auch als spöttisch-gefährlich beschrie- Reproduktionen bestätigen die Einmaligkeit des benen, satanischen Lächeln ein, die die Rezep- Kunstwerks.56 Indem Duchamp und Warhol einer tion des Gemäldes als Renaissance-Portrait einer Ästhetik des Sekundären folgten, die tradierte schönen Italienerin aussetzte.52 Die spätvikto- ästhetische Kategorien wie ‚Originalgenie’ und rianischen Transkriptionen pluralisieren die von ‚einmaliges Werk’ hinterfragte, bekamen auch Vasari vorgegebene Lesart der Mona Lisa und ihre Kopien und iterativen Verfahren eine neue machen so den Weg frei für weitere, divergie- künstlerische Eigenständigkeit.57 rende Lesarten. In den zahlreichen späteren, häu- fig misogynen literarischen Fortschreibungen von 53 Renner 1989, S. 150. Paters Mona Lisa-Rezeption – etwa durch Théo- 54 Tucholsky 1998, S. 98. phile Gautier, Gustave Flaubert, Oscar Wilde und 55 Vgl. dazu McMullen 1975, S. 217-237, der die Mona Lisa Rezipient_innen in ,Giocondoclasts’ und ,Giocondophiles’ Algernon Charles Swinburne – lässt sich deutlich einteilt. die Magie ausmachen, die das ,Rätsel Mona Lisa’ 56 Weingart 2012, S. 204. 57 Bestes Beispiel dafür ist Warhols Serialisierung der 51 Pater 1986, S. 79-80. Mona Lisa in seiner Arbeit Thirty Are Better than One 52 Serles 2013, S. 194. Fehrenbach fasst es folgender- (1963), die die Frage nach der „Original-Kopie-Differenz maßen zusammen: „Die Schönheiten Leonardos erhalten seinerseits als neu und originell gewürdigt hat”, was sich […] [bei Walter Pater] eine Doppelbödigkeit, durch die ihr nicht zuletzt an der Wertschöpfung der Arbeit auf dem Gegenteil, Terror und Dunkelheit, allgegenwärtig ist”, so Kunstmarkt ablesen lässt (Weingart 2012, S. 207). Denn versinnbildlicht die Mona Lisa nun auch „erotische Ambi- auch im digitalen Zeitalter, wenn aufgrund verlustfreier Re- valenzen” (2001, S. 10). produktionen die Unterscheidung von Original und Kopie
36 10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40 Leonardos Gemälde Mona Lisa erhält pünkt- auf Vasaris Ekphrase, entwickelt dann aber ihre lich zum 500. Todestag des Malers erneut hohe eigene Hypothese. Leonardos Philosophie handle Aufmerksamkeit in den Medien. Zudem sind 2019 davon, mehrere Publikationen auf den Markt gekommen, die sich mit Leonardos vielseitigen künstlerischen wie sehr der Mensch und seine Umwelt zusammenge- hören. „Mona Lisa” thront vor einer Landschaft, was als Schaffen und wissenschaftlichen Interessen aus- Motiv aus Herrscherdarstellungen bekannt ist. Sie aber einandersetzen. Unter den Publikationen befindet gebietet nicht herrisch über die Natur, sie reagiert auf sich neben Frank Fehrenbachs, Volker Reinhardts sie. Geht es der Erde schlecht, dann sorgt sich auch und Bernd Roecks Leonardo-Studien mit ihren die Frau. Ist dagegen alles im Fluss, dann freut sie sich. ekphrastischen Transkriptionen von Leonardos Dies zeigt ein Blick auf die Landschaft. Sie ist merk- würdig zweigeteilt, der Horizont rechts liegt deutlich Bildern58 auch Kia Vahlands Künstlerbiographie höher als links. Das führt dazu, dass die Frau sich über Leonardo da Vinci und die Frauen, welche für den die linke Hälfte zu erheben scheint. […] Das Gewäs- Kontext des frühen 21. Jahrhunderts ein weite- ser steht. Ihm fehlen die Bewegungsenergie und das res ekphrastisches Transkript der Mona Lisa lie- Volumen, um das ausgetrocknete Flussbett wiederzu- fert. Neben der Leidenschaft für die Natur, so beleben, das sich auf der Höhe des Dekolletés und der Vahland, sei es „das Wissen der Frauen”, das Brust der Frau nach unten schlängelt. Bis auf wenige noch feuchte Flecken am Grund ist der Fluss tot, und Leonardo interessiert habe, denn „[s]chon in der auch die Felsen an seinen Seiten scheinen schon bald Antike galt das Gemälde einer schönen Frau als zu erodieren. Von diesem Teil der Landschaft wendet Beweis für die Kunstfertigkeit eines Malers. […] die Frau sich ab, sie dreht sich auf ihrem Stuhl nach Erst Leonardo wendet seine Frauenfiguren dem rechts vorne, weg von Dürre und Stillstand links Betrachter zu und erlaubt beiden einen innigen hinten. Doch sie kann das Elend auch nicht einfach ignorieren. Ihre rechte Gesichtshälfte (vom Betrachter Dialog.”59 In Leonardos Gemälden, neben der aus gesehen links im Bild) wirkt ernst, beinahe ange- Mona Lisa wird die Anna selbdritt genannt, sieht spannt. Mit diesem Mundwinkel lächelt sie nicht. Das Vahland eine Verbindung des Weiblichen „mit Wissen, das die „Mona Lisa” in sich trägt, ist auch ein der Natur- und Erdgeschichte, die der Maler in Wissen um Tod und Weltenende. den Landschaftshintergründen entfaltet. In Leo- Ein Grund zum Verzweifeln ist das aber nicht. In der nardos Sicht kann eine individuelle Frau für das rechten Bildhälfte ist die Welt in Ordnung: Über einem gut gefüllten Bergsee oben geht wohl die Sonne auf. große Ganze stehen, weil sie mit der Natur die Das Wasser […] umspült die Felsen am Ufer, gleitet Gabe teilt, Leben zu geben. Diese Fähigkeit zum unter einer Brücke durch und fließt auf Schulterhöhe steten Neuanfang ermöglicht der Menschheit, der Frau aus dem Bild heraus. Diese Szenerie ist der das Dasein immer wieder neu zu gestalten.”60 In Figur viel näher als die linke. […] Vor allem aber blickt ihrer langen ekphrastischen Beschreibung der die Frau nach rechts, und: In diese Richtung lächelt sie auch, mit ihrer ganzen linken Gesichtshälfte. „Mona Mona Lisa bezieht sich Vahland zwar zunächst Lisa” lächelt dem Leben zu.61 im technischen Sinne hinfällig wird, ist die Unterscheidung Angesichts der andauernden, heftig geführ- in „kultureller, ökonomischer und juridischer Sicht nach ten Debatten über Klimawandel, Nachhaltig- wie vor wirksam” (Weingart 2012, S. 204). keit und andere ökologische Themen zu Beginn 58 Fehrenbach 2019; Reinhardt 2019; Roeck 2019. des 21. Jahrhunderts überrascht es wenig, dass 59 Vahland 2019, S. 8. Vahlands These ist: „Leonardo Vahlands Transkription auf die Darstellung der da Vinci hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan wie kein anderer Maler‟ (2019, S. 7). Auch wenn er heute Natur- und Erdgeschichte und die ‚deep time’ im hauptsächlich als technischer Pionier und Maschineninge- Gemäldehintergrund, das heisst Leonardos öko- nieur wahrgenommen wird, so bilden seine Maschinen „nur logisches Interesse und das Zusammengehören einen kleinen Teil seines umfassenden zeichnerischen Oeu- von Mensch und Umwelt, in den Mittelpunkt ihres vre. Ausgiebig befasst er sich mit der menschlichen Anato- Mona Lisa-Skripts rückt.62 Dieses Skript, man mie, der Erdgeschichte, dem Wachstum von Pflanzen und immer wieder, mit größter Leidenschaft, mit den Bewegun- gen des Windes und des Wassers” (Vahland 2019, S. 8). 60 Vahland 2019, S. 9. Dass Leonardos Wissen um das 61 Vahland 2019, S. 237-238. Funktionieren des menschlichen Körpers und geologischer 62 Auch Fehrenbachs Ausführungen zu Leonardos dyna Gebilde sowie deren Zusammenspiel enorm war, ist ein Ge- mischer Bildtheorie enden mit einem Verweis auf das Zeit- meinplatz der Leonardo-Forschung; vgl. dazu Kemp 2012, alter des „Anthropozän” (2019, S. 73-74). Siehe ebenfalls S. 151 und S. 164; Wolf 2002, S. 406; Fehrenbach 2002. Fehrenbach 1997, S. 193-215.
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