Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik - Artikel Gabriele Rippl* - Sciendo

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Artikel
Gabriele Rippl*

Ekphrasis als intermediale
Transkriptionstechnik

     © 2019 Gabriele Rippl, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.
26                                                         10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40

Abstract: Im Anschluss an Ludwigs Jägers medientheoretische Überlegungen zu Transkriptionspro-
zessen untersucht der Beitrag „Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik” historisch unter-
schiedlich zu verortende literarische und kunstkritische Ekphrasen bekannter Kunstwerke sowie die
von ihnen angestoßenen Rezeptionsketten. Gefragt wird, welche Rolle intermedialen, transhistori-
schen und transkulturellen ekphrastischen Transkriptionen heute zukommt: Zerspielen sie als Rekur-
sionsschleifen vom Bild zum Wort, vom Wort zum Wort, vom Wort zum Bild den Status des Originals
und lassen nur Kopien zurück oder kommt es zu Reauratisierungsvorgängen, die der Sehnsucht nach
,Originalen’ Ausdruck verleihen und bestimmte Kunstwerke zu global icons machen? Die Diskussion
dieser Frage dient dazu ‚Ästhetiken des Sekundären’ mit Hilfe nicht-linearer, enthierarchisierter Netz-
werkmodelle zu fassen und damit das Verhältnis von ,Original’ und ,Kopie’ anhand einiger Beispiele
(und mit historischem Blick) neu zu beschreiben und zu bewerten. Im Sinne eines Funktionsmodells
kann die kulturelle Arbeit von Ekphrasis, einer intermedialen Praxis der produktiven Iteration und
Bezugnahme, als komplexes Mittel der kontextabhängigen Bedeutungserschließung und Vergegen-
wärtigung neu bestimmt werden.

Keywords: Ekphrasis, intermediale Transkription, Ästhetik des Sekundären, global icon, Reauratisie-
rung, Walter Pater, Teju Cole, Don DeLillo, Leonardo da Vinci, Mona Lisa, Pieter Bruegel der Ältere.

*Prof. Dr. Gabriele Rippl, Universität Bern, Department of English, Länggasstr. 49, CH-3012 Bern,
email: rippl@ens.unibe.ch

2011 publizierte der amerikanisch-nigerianische            amerikanischen Künstlern stammen.1 Auch wenn
Gegenwartsautor Teju Cole mit Open City einen              Julius selten auf das afrikanische kulturelle Erbe
Großstadtroman, der in der Tradition europäi-              zu sprechen kommt, so wird die koloniale Vergan-
scher Flaneurtexte steht und die schnellen Glo-            genheit samt den Verbrechen der Kolonialmächte
balisierungsprozesse, Migrationsbewegungen und             doch immer wieder thematisiert, etwa im Zusam-
Transkulturationsvorgänge unserer heutigen Welt            menhang mit Belgisch-Kongo:
vor dem Hintergrund von Medienlandschaften und
globalen Kommunikations- und Vernetzungsfor-
men exploriert. Der Protagonist des Romans ist ein             Brussels is old – a peculiar European oldness, which
                                                               is manifested in stone – and that antiquity is present
junger nigerianisch-deutscher Arzt namens Julius,
                                                               in most of its streets and neighborhoods. The houses,
der in der multikulturellen Metropole New York                 bridges, and cathedrals of Brussels had been spared
City seine Ausbildung zum Psychiater abschließt                the horrors visited on the low farmland and forests of
und einen Großteil seiner Freizeit mit ausgiebi-               Belgium. […] But there had been no firebombing of
gen Stadtspaziergängen verbringt. Auch während                 Bruges, or Ghent, or Brussels. Surrender, of course,
eines Weihnachtsurlaubs in der belgischen Haupt-               played a role in this form of survival, as did negotia-
                                                               tion with invading powers. Had Brussels’s rulers not
stadt Brüssel flaniert er durch die Straßen und
                                                               opted to declare it an open city and thereby exempt
beschreibt dabei in zuweilen langen und detail-                it from bombardment during the Second World War,
lierten, zuweilen kurzen, stenographisch gehalte-              it might have been reduced to rubble. It might have
nen ekphrastischen Beschreibungen sehr genau,                  been another Dresden. As it was, it had remained a
was er sieht. Besonders hebt er Plätze, Gebäude,               vision of the medieval and baroque periods, a vista
                                                               interrupted only by the architectural monstrosities
Museen und Kunstwerke hervor, die wichtige
                                                               erected all over town by Leopold II in the late nine-
geschichtliche Ereignisse, meist traumatischer                 teenth century.2
Natur, markieren. Coles kosmopolitischer Protago-
nist liefert Architekturekphrasen sowie Ekphrasen          1 Für eine ausführliche Diskussion siehe Neumann / Rippl
von Gemälden, Zeichnungen und Fotografien, die             2020.
zum großen Teil von bekannten europäischen oder            2 Cole 2011, S. 97.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019                                                                           27

Julius’ Beschreibung Brüssels öffnet einen                   Martyrien und Folter bestens auskannten, die
 ethisch-politischen Horizont für heutige Leser_             Gepeinigten von den Mitmenschen und der Welt
 innen, denn der Fokus seiner Ekphrase liegt nicht           jedoch ignoriert würden5 – was Auden am Bei-
 so sehr auf den schönen Gebäuden sondern viel-              spiel von Bruegels Ikarus expliziert. Diese Ein-
 mehr auf Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und             sicht lässt sich problemlos auf die verheerende
 der brutalen und exploitativen Kolonialherrschaft           Kolonialherrschaft in Belgisch-Kongo übertragen.
 des belgischen Königs Leopold II in ‚Congo Free             Dieser Beitrag vertritt die These, dass gerade
 State’, die dem König das nötige Kapital ver-               Coles stenographisch-ekphrastische Transkrip-
 schaffte, kostspielige Gebäude in Brüssel erbauen           tion von Bruegels Ikarus-Darstellung, der von der
 zu lassen. In der Tradition W. G. Sebalds, der              Welt unbeachtet in der rechten unteren Ecke des
 Leopolds Gewaltherrschaft im Kongo in Die Ringe             Gemäldes, also an einem obskuren Ort umkommt,
 des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995) aus-            das Gemälde im Kontext gegenwärtiger politi-
 führlich diskutierte, erinnert Cole hier an Europas         scher Entwicklungen neu lesbar macht.
 Verantwortung für das postkoloniale Afrika, das                 Coles Protagonist betrachtet im Brüsseler
 heute unter den zerstörerischen Folgen des Neo-             Museum das Originalgemälde von Pieter Brue-
 kolonialismus und globalisierten Kapitalismus zu            gel dem Älteren, das ihm jedoch bereits durch
 kämpfen hat.3 Das dunkle Kapitel europäischer               Audens verbale Transkription in Form einer
 Kolonialgeschichte wird aufgerufen, wenn Julius             Ekphrase vertraut ist. In einem anderen amerika-
 Brüssel beschreibt als „a city of monuments,                nischen Gegenwartsromans, Don DeLillos Under-
 and greatness was set in stone and metal all                world (1997), wehen dagegen einer Figur auf
 over Brussels, obdurate replies to uncomfortable            der Tribüne eines Baseballstadions während des
 questions. It was time, in any case, to go home,            legendären Baseball-Spiels am 3. Oktober 1951
 […] to leave, in the museum next door, Auden’s              zwischen den New York Giants und den Brook-
 Bruegel with its fallen Icarus”.4 Die königlichen           lyn Dodgers (kurz nachdem die Sowjetunion die
 Museen der Schönen Künste in Brüssel sind                   zweite Atombombe detonierte) zwei Teile einer
 berühmt für ihre ikonischen Ölgemälde, darunter             Reproduktion von Bruegels Gemälde Der Triumph
 auch Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (ca.               des Todes (ca. 1562, 117 x 162 cm, Öl auf Holz,
 1560er Jahre, 73,5 x 112 cm, Öl auf Leinwand),              Prado, Madrid) aus einem Lifestyle-Magazin der
 das Pieter Bruegel dem Älteren zugeschrieben                1950er Jahre zu.6 Bei der Figur handelt es sich um
 wird (allerdings könnte es sich auch um eine                J. Edgar Hoover, den berüchtigten ersten (und
 frühe Kopie des Originals handeln). Julius liefert          langjährigen) FBI-Direktor, dessen subjektive
 keine ausführliche Ekphrase dieses im kulturel-             Betrachtung des Bildes präsentiert wird:
 len Bildergedächtnis bestens verankerten und in
 zahlreichen ekphrastischen Gedichten beschrie-
 benen berühmten Gemäldes, das seinerseits                       The dead have come to take the living. The dead in
 einen antiken Mythos transkribiert, welcher unter               winding-sheets, the regimented dead on horseback,
 anderem in Ovids Metamorphosen überliefert ist.                 the skeleton that plays a hurdy-gurdy. […]
                                                                    Edgar reads the copy block on the matching page. This
 Vielmehr nimmt Julius eine Abkürzung, indem er
                                                                 is a sixteenth-century work done by a Flemish master,
 auf eines der bekanntesten englischsprachigen                   Pieter Bruegel, and it is called The Triumph of Death. […]
 ekphrastischen Gedichte verweist, W. H. Audens                  The painting has an instancy that he finds striking. Yes,
„Musée des Beaux Arts”, das der Lyriker in Brüssel               the dead fall upon the living. But he begins to see that
 im Dezember 1938 zu Zeiten der Verbreitung des                  the living are sinners. […]
 Nationalsozialismus in Europa und der beunruhi-                   The meatblood colors and massed bodies, this is a
                                                                 census-taking of awful ways to die. […]
 genden antisemitischen Vorfälle in Deutschland
 geschrieben hatte. In der ersten Strophe wird
 erklärt, dass sich die alten Meister mit Leiden,
                                                             5 Auden 1976, S. 146-147.
                                                             6 Julia Apitzsch führt aus: „In der Tat druckte das Life Ma-
3 Sebald (1995) diskutiert im Kapitel V. (vgl. insbesonde-   gazin in der Ausgabe vom 1. Oktober 1951, drei Tage vor
re S. 148-156) das postkoloniale Erbe Afrikas im Zusam-      dem legendären Spiel, eine Reportage über die Meisterwer-
menhang mit ‚Belgisch-Kongo’.                                ke des Prado ab, die als Doppeldruck auf den Seiten 66-67
4 Cole 2011, S. 145.                                         Pieter Brueghels Triumph des Todes zeigte‟ (2012, S. 100).
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       There is the secret of the bomb and there are the
                                                                 Allegorie auf unsere akuten ökologischen Prob-
     secrets that the bomb inspires [...]. […] For every
     atmospheric blast, every glimpse we get of the bared
                                                                 leme, insbesondere Abfallentsorgung, Radioakti-
     force of nature, that weird peeled eyeball exploding        vität, Atombomben und eine Wiederholung des
     the desert – for every one of these he reckons a            Kalten Krieges.
     hundred plots go underground, to spawn and skein.                Im Anschluss an Ludwig Jägers medientheo-
     And what is the connection between Us and Them,             retische Überlegungen zu Transkriptionsprozes-
     how many bundled links do we find in the neural laby-
                                                                 sen und der jüngsten Debatte zu ‚Ästhetiken des
     rinth? It’s not enough to hate your enemy. You have
     to understand how the two of you bring each other to        Sekundären’9 werden im Folgenden die ekphras-
     deep completion.                                            tischen Rezeptionsketten eines weiteren ikoni-
       The old dead fucking the new. The dead raising            schen Renaissance-Gemäldes, Leonardo Da Vin-
     coffins from the earth. The hillside dead tolling the old   cis Mona Lisa, untersucht. Diese Ekphrasen, die
     rugged bells that clang for the sins of the world.7
                                                                 aus der Frühen Neuzeit, der viktorianischen Zeit,
                                                                 der Moderne und Gegenwart stammen, werden
Der Prolog von DeLillos Roman, aus dem dieses
                                                                 als intermediale und transkulturelle ekphrasti-
Zitat stammt, trägt denselben Titel wie Bruegels
                                                                 sche Transkriptionen gelesen. Während die ein-
Gemälde, wobei anzumerken ist, dass keiner von
                                                                 gangs vorgestellten Beispiele literarischer Art
Bruegels Bildtiteln ‚original’ ist, sondern vielmehr
                                                                 waren und die zahlreichen Bezugnahmen der
Ergebnis ekphrastischer Transkriptionsprozesse.
                                                                 angloamerikanischen Gegenwartsliteratur auf
DeLillos Roman Underworld spielt in der Zeit des
                                                                 Renaissance-Gemälde schlaglichtartig vorstell-
Kalten Krieges, als ein Denken in Wir und Sie, „Us
                                                                 ten,10 erlaubt die Diskussion der Mona Lisa zusätz-
and Them”, die Welt an den Rand einer nuklearen
                                                                 lich einen historischen Blick auf das Verhältnis
Katastrophe brachte. Der Roman lotet die Rolle
                                                                 von Original und Kopie und bezieht sich in erster
der Atomkraft, des nuklearen und technologischen
                                                                 Linie auf kunstkritische und weniger auf fiktionale
Abfalls und der globalen Folgen eines nuklearen
                                                                 Texte. Gezeigt wird, dass transkriptive ‚Kopien’
Krieges im Zeitalter der digitalen Informations-
                                                                 literarischer oder künstlerischer Art nicht erst in
technologie und Vernetzung durch die interme-
                                                                 der Postmoderne als Verfahren der Aneignung
diale Referenz auf Bruegels Ölgemälde aus und
                                                                 und Umdeutung gesehen und geschätzt werden.
bietet so eine aktualisierende ekphrastische Tran-
                                                                 Zudem erlaubt die Diskussion der Ekphrasis als
skription des Bildes an. Auch dieses zweite Bei-
                                                                 Transkriptionsverfahren die kulturelle Arbeit von
spiel für die Verwendung von Ekphrasen berühm-
                                                                 Ekphrasis im Sinne eines Funktionsmodells als
ter Renaissance-Gemälde in narrativen Texten
                                                                 intermediale Praxis der produktiven Iteration und
illustriert die Produktivität ekphrastischen Schrei-
                                                                 Bezugnahme, als komplexes Mittel der kontext-
bens in der Gegenwartsliteratur. Der Triumph des
                                                                 abhängigen Bedeutungserschließung und Verge-
Todes entstand in den frühen 1560er Jahren, war
                                                                 genwärtigung, neu zu bestimmen.
als Druck weit verbreitet und stellt Massentötun-
gen gänzlich neuen Ausmasses, über die kein
göttliches Gericht mehr wacht, auf erschreckende
Weise dar.8 Während Miao Xiaochun, chinesischer                  1 Ekphrasis als intermediale
Gegenwartskünstler und Professor an der CAFA
                                                                    Transkription
Beijing, Bruegels Der Triumph des Todes 2015 als
Acryl-Bild auf Leinwand neu als politisch-media-
                                                                 Lange Zeit wurden Ekphrasen als verbale ‚Kopien’
les Überwachungsszenario erschafft, themati-
                                                                 eines visuellen Kunstwerks / ‚Originals’ verstan-
siert DeLillos lange und detaillierte ekphrastische
                                                                 den und Qualität und Wert von Ekphrasen folglich
Transkription das Gemälde als fragiles Verhältnis
                                                                 danach bemessen, wie hoch der mimetische Grad,
von Leben und Tod und macht das Ölgemälde des
flämischen Malers so für Leser_innen des späten
                                                                 9 Vgl. Fehrmann, Gisela / Linz, Erika / Schumacher, Eck-
20. und frühen 21. Jahrhunderts neu lesbar: als                  hard / Weingart, Brigitte (2004).
                                                                 10 Weitere bekannte literarische Bezugnahmen auf Re-
7 DeLillo 1998, S. 49-51.                                        naissance-Gemälde sind z.B. die anglo-amerikanischen
8 Zur Verbreitung und Hochschätzung des Drucks berühm-           Gegenwartsromane, Headlong (1999) von Michael Frayn,
ter Renaissance-Gemälde siehe den Beitrag von Christine          Sakrileg. Der Da Vinci Code (2003) von Dan Brown und
Göttler im vorliegenden Heft.                                    The Goldfinch (2013) von Donna Tartt.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019                                                                   29

die Detailliertheit und Lebendigkeit der Reprä-          gewandelt haben, bedarf es neuer Lektürefor-
sentation des ‚Originals’ durch das Medium Text          men der Symbolsysteme und ihren intermedialen
ausfielen. Dieser Beitrag schlägt eine andere Kon-       Koppelungen, die die Transkription liefert.12 Das
zeptualisierung von Ekphrasen vor und versteht           von Jäger entwickelte kultursemiotische Konzept
diese als intermediale (und häufig auch transkul-        der Transkription ist eine Form von Lektüre, die
turelle) Transkriptionen, die neue Fragen aufwer-        zur ‚Lesbarmachung’ von Daten in verschiedenen
fen: Was bedeutet es für die Ekphrasis-Forschung,        medialen Formen dient, seien es audiovisuelle,
Ekphrasis als Transkriptionstechnik zu verstehen         linguistische oder Bilddaten.
und welchen Beitrag leistet diese Definition von             Zwei grundlegende Transkriptionsverfahren
Ekphrasis zu der neueren Original-Kopie-Debatte?         semantischer Ratifizierung liegen vor: 1. intrame-
Zerspielen Ekphrasen als Rekursionsschleifen vom         diale Verfahren, anhand derer mit Sprache über
Bild zum Wort den Status des Originals und lassen        Sprache kommuniziert wird; und 2. intermediale
nur intermediale Kopien zurück oder kommt es             Verfahren, bei denen mindestens ein zweites
zu Reauratisierungsvorgängen, die der Sehnsucht          mediales Kommunikationssystem zur Kommen-
nach Originalen Ausdruck verleihen und dazu bei-         tierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung
tragen, dass bestimmte Kunstwerke zu global              (der Semantik) eines ersten Systems herangezo-
icons werden? Die Diskussion dieser Fragen dient         gen wird.13 Beide Transkriptionsverfahren besitzen
dazu, Ästhetiken des Sekundären als nicht-lineare,       performatives Potential und dienen dem „Lesbar-
enthierarchisierte Netzwerke zu begreifen und            machen des jeweils thematisierten symbolischen
Ekphrasen im Horizont von Original-Kopie-Ver-            Systems” und damit der „Bedeutungs-Erschlie-
hältnissen als wichtige Stationen einer (im Falle        ßung”.14 Transkripte sind die symbolischen Mittel,
der Mona Lisa und der beiden Bruegel-Gemälde             die das jeweils transkribierende System für eine
nicht abreißenden) Rezeptionskette zu betrachten        Transkription verwendet; Skripte sind die durch
und neu auszuloten.                                      das Verfahren lesbar gemachten, transkribierten
    Jägers allgemeine Theorie der Transkription          Ausschnitte des zugrundeliegenden symbolischen
dient als Ausgangspunkt und geht von der These           Systems, und der Quellentext oder Prätext ist das
aus, dass die Semantik natürlicher Sprachen auf          zugrundeliegende System selbst, das fokussiert
transkriptiven Verfahren beruht. Er postuliert,          und in ein Skript verwandelt wird: „Skript-Status
dass die prinzipielle Symbolizität unseres Welt-         erhalten Symbolsysteme oder Ausschnitte von
bezugs, die „mediale[] Anthropologie des Men-            diesen nur dadurch, dass sie transkribiert wer-
schen”, keineswegs das Ergebnis moderner oder            den, also aus Prätexten in semantisch auf neue
gar postmoderner Mediengeschichte ist: seit dem          Weise erschlossene Skripte verwandelt werden.
homo sapiens „ist es ein Netzwerk divergen-              [...] Obgleich der Prätext der Transkription vor-
ter symbolischer Formen, in dem [der Mensch]             ausgeht, ist er als Skript doch erst das Ergebnis
jeweils sowohl sich als Erkenntnissubjekt als            der Transkription.”15 Zwar sind Transkriptionen
auch seine Bezugnahmen auf die Erkenntniswelt           „skript-konstitutiv, sie transformieren Prätexte
entworfen hat”.11 Da sich die Struktur, Reichweite       in Skripte, versetzen diese jedoch durch Trans-
und Komplexität von Symbolsystemen ebenso                formationen in einen gegenüber den Transkripten
wie ihre Vernetzungsdichte im digitalen Zeitalter        autonomen Status: Das Skript hat Interventions-
                                                         rechte gegen die mögliche Unangemessenheit der
                                                        Transkription” und ermöglicht so Korrekturen und
11 Jäger 2002, S. 26. Jäger geht in seinen Überlegungen  neue Lesarten, welche in Postskripten ihren Aus-
zunächst auf die kulturpessimistische Kritik des Media-
                                                         druck finden.16
len ein, die die Abnahme der Lesbarkeit der Welt beklagt.
Gemäß dieser Kritik führen zunehmende Semiotisierung
und Visualisierung zur Unleserlichkeit der Welt und damit
zum Referenzverlust (vgl. Jäger 2002, S. 19-21). Kritiker   12 Jäger 2002, S. 27.
der elektronisch-digitalen Medienkultur mögen die Auf-      13 Jäger 2002, S. 29.
lösung von Aura und den Verlust von Referenz beklagen,      14 Jäger 2002, S. 29 und S. 30.
übersehen dabei jedoch, dass das interaktive Spiel der      15 Jäger 2002, S. 30. Die Relation von Transkript und
Medien nicht zur Verflüchtigung des Realen führt, sondern   Skript ist nach dem Zeichen-Muster von Signifikant und
gerade „als genuiner Konstitutions-Ort von Semantik fun-    Signifikat zu verstehen.
giert” (Jäger 2002, S. 27).                                 16 Jäger 2002, S. 33.
30                                                          10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40

    In unserem Zusammenhang sind insbeson-                  lenden und veranschaulichenden Transkription
dere Jägers Überlegungen zu medienübersetzen-               mentaler Begriffe/Ideen”, welche ohne „transkrip-
den, intermedialen Transkriptionen wichtig, bei             tive Um-Schreibung des Mentalen in eine mediale
denen nicht-lesbare in lesbare Strukturen über-             Textur” keine Bedeutung generieren würden.21
führt werden.17 Insbesondere für intermediale               Bekannterweise sind Hypotypose und evidentia in
Transkriptionen – Jäger nennt die Emblematik und            der antiken griechisch-römischen Tradition Syno-
Hieroglyphik – gilt, dass Transkription ein Skript          nyme für ekphrasis.
generiert, dieses Skript jedoch keinesfalls „in sei-             Der Begriff Ekphrasis stammt aus dem Grie-
ner Abhängigkeit von jener Transkription, der es            chischen, setzt sich aus ‚ek’ (‚aus’) und ‚phrazein’
seine Existenz verdankt” aufgeht. Da Transkribie-           (‚zeigen’, ‚bekannt, deutlich machen’) zusammen
ren auf Fragen der Medialität und Intermedialität           und bedeutet so viel wie völlig, restlos deutlich
ausgerichtet ist, bietet es sich an, das Konzept mit        machen beziehungsweise zeigen.22 In der zweiten
der neueren Ekphrasisforschung in Verbindung                Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Ekphrasis zum
zu bringen, die Ekphrasis als eine intermediale             Gegenstand zahlreicher literatur- und kulturtheo-
Strategie versteht.18 Besonders relevant für die            retischer Debatten und ist – trotz anspruchsvoller
Fruchtbarmachung des Transkriptionskonzepts                 interdisziplinärer methodologischer Herausforde-
für die Ekphrasis-Debatte ist nun, dass Jäger auf           rungen – zu einem wichtigen Forschungsgebiet
Kants Entwurf einer transkriptiven Semantik ein-            der Literatur-, Kultur-, Kunst-, Musik- und Thea-
geht, die dieser jedoch nie sprachtheoretisch aus-          terwissenschaft der letzten 30 Jahre geworden.23
baute, sondern in seiner Theorie der Darstellung            Gemäß der Definition von James A. W. Heffernan
von Begriffen unter dem rhetorischen Begriff „der           steht Ekphrasis für „the verbal representation of
Hypotypose (hypotyposis = Ausprägung) entfal-               visual representation”, das heißt für die verbale
tet”.19 Der Anschluss Kants an die „rhetorische             Repräsentation von real existierenden oder fikti-
Tradition ist dabei insofern bedeutsam, als bereits         ven Werken bildender Kunst.24 Heffernans Defini-
Quintilian die Gedankenfigur der Hypotypose als             tion, die Ekphrasis als eine Repräsentation zwei-
intermediales Verfahren auffasst”, welches auch             ten Grades bestimmt, hat den Vorteil, dass sie
den Namen evidentia (Veranschaulichung) trägt:              die reflexive Ebene betont, die Ekphrasen aus-
was man hört, wird einem vom Redner quasi vor               zeichnet: Sie reflektieren immer das eigene wie
Augen gestellt.20 Bei der Hypotypose handelt es             das fremde ‚Repräsentationsmedium’ (den Text
sich um ein „intermediales Verfahren der darstel-           und die Bilder) mit und tragen so wesentlich zur
                                                            Problematisierung von Mimesis-, Referentialitäts-
                                                            und Repräsentationskonzepten in der Moderne
17 Transkriptivität ist ein „organisatorisches Grundprinzip
des kulturellen Gedächtnisses insbesondere literalisierter  und Postmoderne bei. Der Nachteil der Defini-
Gesellschaften [...], die zur Speicherung, Tradierung und   tion ist der Begriff der Repräsentation selbst, da
Fortschreibung kulturellen Wissens auf das intramediale     er die Funktionen von Ekphrasen einschränkt.25
(intertextuelle) und intermediale Zusammenspiel verschie- Während Ekphrasen, wie bereits erläutert, in frü-
dener Symbolsysteme zurückgreifen” (Jäger 2002, S. 35).
                                                            heren Jahrhunderten noch weitgehend im Dienst
Da sich Sinn in menschlichen Gesellschaften erst dadurch
konstituiert, „daß verschiedene Symbolsysteme zuein-
                                                            der  ‚Anschaulichkeit’ (enargeia) standen und bis
ander in transkriptive Beziehung gebracht werden”, sind     weit   ins 20. Jahrhundert anhand von Mimesis-
iterative intermediale Transkriptionsformen von zentraler   Modellen und Treue zum gemalten Original beur-
Bedeutung: „eine monomediale Semantik” kann es nicht        teilt wurden, setzte doch bereits in der Moderne
geben. Sie belegen zudem die tiefe Prägung der Medien- eine Problematisierung der von antiken Rheto-
geschichte durch transkriptive Verfahren als eine „Grund-
eigenschaft kultureller Semantik” (Jäger 2002, S. 36-37).
18 Irina O. Rajewsky und Werner Wolf sprechen im Zu-        21 Jäger 2002, S. 39.
sammenhang mit Ekphrasis von „intermedial reference”        22 Webb 2009.
(Rajewsky 2005, S. 52; vgl. auch Rajewsky 2002 und 2010;    23 Vgl. Krieger 1992; Heffernan 1993; Boehm und Pfoten-
Wolf 2005, S. 254). Bruhn 2000; Rippl 2005; Sager Eidt      hauer 1995; Hollander 1995; Mitchell 1992 und 1994; Wag-
2008 verstehen Ekphrasis als Übertragung von jedwedem       ner 1996; Klarer 2001; Loizeaux 2008; Rippl 2005, 2014,
medialen Produkt, z.B. einem visuellen Kunstwerk, Film      2015a, 2015b, 2018a, 2018b, 2019a, 2019b; Kennedy 2012;
oder Musikstück, in ein anderes Medium.                     Behluli / Rippl 2017; Louvel 2018a und 2018b.
19 Jäger 2002, S. 38.                                       24 Heffernan 1993, S. 2.
20 Jäger 2002, S. 38.                                       25 Vgl. Kennedy 2012.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019                                                                             31

 ren gepriesenen Beschreibungskunst und der                  2 Ekphrasis als produktive
Techniken der Veranschaulichung und des ‚Vor-
                                                                 Ästhetik des Sekundären
 Augen-Stellens’ (evidentia; hypotyposis) ein.26 In
 zahlreichen modernen und postmodernen lite-
                                                              Jägers Überlegungen sind mit Blick auf die
 rarischen Texten, die einer Poetik der Visualisie-
                                                              jüngere Original-Kopie-Debatte von zentraler
 rung folgen, lässt sich häufig ein Spannungsver-
                                                              Bedeutung, denn er versteht „die konstitutive
 hältnis zwischen mimetischem Beschreiben und
                                                              Abhängigkeit des Skriptes von seinem Transkript
 gleichzeitiger Subversion von Mimesis-Doktrin
                                                              nicht als schlichte Derivation”.30 Zwar legen die
 und Anschaulichkeitsrhetorik feststellen.27 Zwar
                                                              Begriffe ‚Präskript’ und ‚Postskript’ ein skriptura-
 setzte sich die Forschung mit Blick auf Ekphrasis
                                                              les Modell nahe31 und implizieren einen linearen
 häufig mit dem Wettstreit der Künste (dem Para-
                                                              chronologischen Ablauf, Jäger macht jedoch für
 gone), der Medienspezifik von Wort und Bild sowie
                                                              die semantische Ebene, um die es ihm geht, klar,
Typologiebildungen auseinander, in der jüngsten
                                                              dass Wertungen wie ‚Derivation’ oder ‚Sekundä-
 Forschung rücken jedoch Fragen nach den Funk-
                                                              res’ in seinem Modell keinen Platz haben32 und
 tionen von Ekphrasis, nach ihren sozio-politi-
                                                              eine „temporale[] und logische[] Priorisierung des
 schen, ethischen und ästhetischen Leistungen
                                                             ‚Originals’ vor seinen medialen Fortschreibungen
 in den Vordergrund. Da unser Zeitalter digitaler
                                                              […] der komplexen Beziehungslogik dieses Ver-
 Netzwerke und des ‚Anthropozän’ von rasanten
                                                              hältnisses nicht angemessen gerecht werde”.33 Im
 Globalisierungsprozessen und massiven ökologi-
                                                              Sinne Jägers ist Ekphrasis verstanden als inter-
 schen Herausforderungen gekennzeichnet ist, ist
                                                              mediale Transkription nicht als verspätete und
 jüngst auch vermehrt von neuen Konzepten wie
                                                              minderwertige intermediale ‚Kopie’ eines visuel-
‚digital ekphrasis’28 und ‚eco-ekphrasis’29 die Rede.
                                                              len ‚Originals’ aufzufassen, sondern vielmehr im
 Bislang wurde Ekphrasis nicht als Transkriptions-
                                                             Zusammenhang mit medien- und kulturwissen-
 prozess sensu Jäger diskutiert, wie das hier vor-
                                                              schaftlichen Überlegungen als produktive Ästhe-
 geschlagen wird. Ekphrasis als Transkriptions-
                                                              tik des Sekundären in je spezifischen Medienöko-
 prozess zu konzeptualisieren ist jedoch wichtig,
                                                              logien zu diskutieren, denn in der transkriptiven
 weil der Funktionsansatz der Ekphrasisforschung
                                                              Bezugnahme auf ein ‚Original’ / Bild konstituiert
 gestärkt und so sichtbar gemacht wird, dass
                                                              die Ekphrase dieses semantisch in bestimmten
 Ekphrasen als Mittel der Lesbarmachung eine
                                                              historischen und kulturellen Situationen perfor-
 wichtige kulturelle Arbeit vollziehen, also weit
                                                              mativ.
 mehr als eine dienende, amplifikatorische Rolle in
                                                                  Um neu über das Verhältnis von Original und
Texten spielen. Als Transkriptionstechnik sind sie
                                                              Kopie nachzudenken, nimmt Brigitte Weingart
 Operationen der kontextabhängigen Bedeutungs-
                                                              den oxymoralen Begriff der ‚Originalkopie’ als
 erschließung und Lesbarmachung, die ‚Prätexte’ /
                                                              Ausgangspunkt, der die Opposition von Original
 visuelle Kunstwerke anhand von Transkriptionen
                                                              und Kopie hinterfragt und zum Nachdenken dar-
 in Skripte überführen, welche sich ihrerseits für
                                                              über einlädt, inwiefern es gerade „die konstitu-
 weitere Skripte und Postkripte, das heißt Rezep-
                                                              tionelle Funktion der Vervielfältigung” sei, „die
 tionsketten in verschiedenen medialen und inter-
 medialen Formaten öffnen und so ein rekursives
 Spiel ermöglichen.
                                                             30 Jäger 2002, S. 35.
                                                             31 Man kann die Nähe der Begriffe zum Wortfeld Skriptu-
                                                             ralität kritisieren, sie ist jedoch beabsichtigt, da Jäger Spra-
                                                             che als Archimedium versteht, d.h. Sprache für ihn die letz-
26 Laut Tamar Yacobi ist die Tendenz vieler Theoretikerin-   te Transkriptionsinstanz darstellt (Jäger 2002, S. 34).
nen und Theoretiker problematisch, Wort-Bild-Relationen      32 Jäger versteht „die konstitutive Abhängigkeit des Skrip-
immer noch anhand von Mimesis-Modellen und irreführen-       tes von seinem Transkript nicht als schlichte Derivation:
den, vermeintlichen Dichotomien (etwa episch vs. lyrisch;    Vielmehr wird das Skript insofern zu einer autonomen Be-
Handlung vs. Beschreibung; Narrativität vs. Pikturalität)    wertungsinstanz für die Angemessenheit der Transkription,
bestimmen zu wollen (1995, S. 600-602).                      als es zugleich den Raum für Postskripte öffnet, in denen
27 Rippl 2005.                                               die Angemessenheit der durch die Transkription behaupte-
28 Behluli / Rippl 2017; Rippl 2018b.                        ten Lektüre in Frage gestellt werden kann‟ (2002, S. 35).
29 Rippl 2019a, Rippl 2019b.                                 33 Jäger 2019, S. 14.
32                                                          10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40

 Idee des Originals hervorzuheben”.34 Laut Wein-            die auf einen gänzlich anderen Stellenwert des
 gart wird die vereinfachte Dichotomisierung von            Originals zurückzuführen sind: statt einer ‚Aura’
 Original und Kopie sowie das „traditionell voraus-         und Einzigartigkeit führt die technische Repro-
 gesetzte[] Abhängigkeitsverhältnis[] zwischen              duzierbarkeit neu zum ‚Verfall’ der Aura des ein-
 einem primären Original und seinen lediglich               maligen Kunstwerks, wie Benjamin u.a. am Bei-
 sekundären Kopien” in der Postmoderne, auch                spiel von Kopien von Leonardo da Vincis Mona
 dank des französischen Poststrukturalismus und             Lisa illustriert.38 Der vorliegende Beitrag hinter-
 dessen Insistieren auf dem Konzept der Iteration           fragt diese These Benjamins, denn es ist Benja-
 hinterfragt.35 Damit werden unter Rückbezug auf            mins blinder Fleck, nicht gesehen zu haben, dass
 die Arbeiten von Ludwig Jäger zur Transkription            Reproduktionen, Kopien und Iterationen als Quel-
 chronologische wie oppositionelle Modelle zur              len von Reauratisierungsprozessen des Originals
 Erklärung von Original und Kopie problematisiert,          zu verstehen sind, welche zu neuen ikonischen
 bei gleichzeitiger Bevorzugung relationaler Kon-           Präsenzen führen können.39
 zeptualisierungen und Aufwertung des Sekundä-
 ren und Nachgeordneten.36
     Der Perspektivwechsel auf das Verhältnis von
                                                            3 Leonardo da Vincis Mona Lisa
‚Original’ und ‚Kopie’ wurde durch neue Techniken
 medialer Reproduktion seit der Mitte des 19. Jahr-            und ihr intermediales ‚Fortleben’
 hunderts vorbereitet, so stellt Walter Benjamin
 in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen           Im Folgenden sollen die dargelegten Überle-
 Reproduzierbarkeit (1934/35) fest. Er schreibt mit         gungen zur Ekphrasis als produktive Praxis der
 seiner Oppositionsbildung von (1) Aura – Einma-            Bezugnahme und Transkription, das heisst als
 ligkeit – Original / Echtheit – Dauer – Kultwert           kulturell performative Kraft und Ästhetik des
– Rezeptionsform: Versenkung vs. (2) Verfall der            Sekundären anhand von Leonardo da Vincis
 Aura – Wiederholbarkeit – Reproduktion / Kopie             Mona Lisa diskutiert und dabei gezeigt werden,
– Flüchtigkeit – Ausstellungswert – Rezeptions-             dass ‚Originalkopien’ keineswegs eine Erfin-
 form: Ablenkung die Dichotomisierung von Ori-              dung der Moderne und Postmoderne darstellen,
 ginal und Kopie fort.37 Benjamin analysiert die            sondern bereits in früheren Jahrhunderten eine
 grundlegenden Veränderungen in den Produkti-               wichtige Rolle spielten.40 Leonardos Mona Lisa
 ons- und Rezeptionsprozessen von Kunstwerken,              zieht als ‚Original’ im Louvre jedes Jahr zahl-
                                                            reiche Besucher aus der ganzen Welt an. Das
34 Weingart 2012, S. 203. Kritiker_innen sind sich heute
                                                            Gemälde wurde im 19. Jahrhundert kanonisiert
meist einig, dass die Kopie/n das Original konstituieren    und ist seitdem fester Bestandteil des kulturellen
und seinen Wert erhöhen. Siehe z.B. Latour und Lowe         Archivs der Menschheit. Während Benjamin sich
2011; Eriksen 2017 und Jäger 2019, der in seinem Beitrag    in seinem Kunstwerk-Aufsatz auf dieses aurati-
zum vorliegenden Heft zwei unterschiedliche Auffassungen    sche Renaissancegemälde und dessen Deaurati-
des ‚Originals’ in Benjamins Kunstwerk- und dem früheren
                                                            sierung, die mit den vielen Kopien des Gemäl-
Übersetzeraufsatz herausarbeitet. In unserem Zusammen-
hang sind insbesondere Benjamins Ideen zur ‚Übersetzbar-    des einhergeht, bezog,41 lohnt es sich vor dem
keit’ von Interesse, da dieses Modell davon ausgeht, dass   Hintergrund der neueren Original-Kopie-Debatte,
sich ein Original erst in seiner transkriptiven Bewegung,   die endlosen Rezeptionsketten, Rekursionsschlei-
seinem ‚Widerhall’ in der Übersetzung, „im unabschließba-   fen und intra- wie intermedialen Transkriptionen
ren Prozess seines ‚ewigen Fortlebens’, in Prozessen des
                                                            der Mona Lisa selbst genauer zu untersuchen,
Re-Framings” entfaltet (S. 13).
35 Weingart 2012, S. 204.
                                                            denn mit Aleida und Jan Assmann muss von
36 Weingart 2012, S. 205.                                   einem „return loop” zwischen Kopie und Original
37 Benjamin 2007, S. 12-13, S. 19, S. 20. In der Repro-     ausgegangen werden: „the conditions of mass
duktionen von Porträtphotographien sieht Benjamin im
selben Aufsatz jedoch noch einmal Aura aufblitzen: „Im
flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den    38 Benjamin 2007, S. 12, Fn. 2.
frühen Photographien die Aura zum letzten Mal‟ (Benjamin    39 Behluli / Rippl 2017.
2007, S. 23). Weingart betont, dass sich „andernorts in     40 Zum komplexen Verhältnis von Original und Kopie in
seinem Werk Hinweise auf Prozesse einer Reauratisierung     der Frühen Neuzeit vgl. Erikson 2017.
von Reproduktionen” finden lassen (2012, S. 204).           41 Benjamin 2012, S. 12, Fn. 2.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 3/2019                                                                33

production and reproduction do not diminish and        Neben der ununterbrochenen medialen Auf-
destroy the original but – quite the contrary – set merksamkeit, der sich die Mona Lisa bis heute
off and highlight its value.”42 Inwiefern tragen erfreut, sind es gerade – so die These – die
also Kopien des Gemäldes zu einer Konstruktion überraschend zahlreichen transkulturellen, inter-
des Originals und zur Reauratisierung des Gemäl- textuellen und intermedialen Transkriptionen
des bei? Wenn von Reauratisierung des ‚Originals’ der Mona Lisa, die wesentlich zur Lesbarkeit
gesprochen werden kann, worin liegt diese dann? des Gemäldes in sehr unterschiedlichen histo-
Und inwiefern haben gerade die komplexen, nicht rischen und kulturellen Kontexten beigetragen
arretierbaren Deutungs- und Kopierprozesse, haben. Damit hinterfragen die Transkriptionen
die in endlosen hoch- und populärkulturellen, das „traditionell vorausgesetzte[] Abhängigkeits-
interikonischen (Bild zum Bild), intermedialen / verhältnis[] zwischen einem primären Original
ekphrastischen (Bild zum Text) und intertextuel- und seinen lediglich sekundären Kopien”.45 Den
len (Text zum Text) Transkriptionsketten münden, Ausgangspunkt der Transkriptionsketten lieferte
die Mona Lisa zu einem global icon gemacht, das Giorgio Vasari bereits im 16. Jahrhundert in sei-
scheinbar nichts von seiner Aura eingebüßt hat?     ner Leonardo-Biographie, indem er das Ölbild in
    Leonardos spätes Gemälde entstand zwi- das Medium Text übersetzte:
schen 1503 und ca. 1506.43 Das mit Ölfarbe auf
dünnem Pappelholz gemalte Bild ist recht klein         Von Francesco del Giocondo übernahm er dann den
                                                       Auftrag für das Porträt seiner Frau Mona Lisa. Er
(77 cm x 53 cm) und ist im Louvre seit 1974 nur
                                                       mühte sich vier Jahre mit diesem Werk und ließ es
noch hinter Panzerglas zu bewundern. Das Modell        dann unvollendet zurück. Heute befindet es sich im
des Porträts ist allem Anschein nach die Florenti-     Besitz des Königs Franz von Frankreich in Fontaine-
nerin Lisa Gherardini, die Frau des wohlhabenden       bleau. Und wenn jemand zu sehen wünschte, wie sehr
Seidenhändlers Francesco del Giocondo, wobei es        die Kunst in der Lage ist, die Natur nachzuahmen,
                                                       so konnte er dies mühelos an diesem Kopf erken-
sich bei der Rede von „der Mona Lisa” um „eine
                                                       nen: Leonardo hatte hier jede Einzelheit mit größter
sprachliche Personalisierung bzw. Feminisierung        Feinheit herausgearbeitet: Die Augen besaßen jenen
des Gegenstandes” handelt, die die Grenzen zwi-        Glanz und feuchten Schimmer, den man in Wirklich-
schen dem Bild und der Person bzw. dem Modell          keit ständig beobachten kann, und um sie herum sah
verwischt. Der im 16. Jahrhundert einsetzende
           44                                          man   jene fahlen Rottöne und Härchen, die nur mit
transnationale und transkulturelle Status der          allergrößter Feinheit ausgeführt werden können. Die
                                                       Brauen könnten, in der Art wie die Haare aus dem
Mona Lisa hat sicherlich eine wichtige Rolle im
                                                       Fleisch herauswachsen – an manchen Stellen dichter,
Kanonisierungsprozess des Gemäldes gespielt:           an anderen spärlicher – und wie sie sich den Poren
zunächst war es in Italien angesiedelt, Leonardo       der Haut entsprechend ausrichten, nicht natürlicher
verkaufte das Bild jedoch kurz vor seinem Tod          aussehen. Die Nase mit ihren schönen, rosigzarten
an den französischen König François I. Danach          Öffnungen war völlig naturgetreu gemalt. Der Mund,
                                                       dessen Konturen und Winkel sich im Rot der Lippen
blieb es in Frankreich bis es am 21. August 1911
                                                       mit dem Inkarnat des Gesichts verbinden, erschien
von Vincenzo Peruggia aus dem Louvre gestohlen,        nicht gemalt, sondern wie lebendiges Fleisch. Und
nach Italien entführt und schließlich unter der        wer genau auf die Grube an ihrem Hals achtete, der
großen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dem           konnte den Puls schlagen sehen. In der Tat darf man
Museum zurückgegeben wurde. Der Entzug des             wohl sagen, daß sie in einer Weise gemalt war, die
Bildes durch diesen Diebstahl und seine Rückkehr       jeden noch so kühnen Künstler zum Verzweifeln und
                                                       Erzittern brachte. Außerdem bediente Leonardo sich
in den Louvre machte die Mona Lisa nur noch
                                                       des folgenden Kunstgriffs: Während er Mona Lisa, die
bekannter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wussten          eine sehr schöne Frau war, malte, ließ er musizieren
der französische Präsident Charles de Gaulle und       und singen und Narren ihre Possen reißen, um sie so
sein Kulturminister André Malraux dieses italieni-     bei guter Laune zu halten und die Melancholie zu ver-
sche Bild einer Florentinerin als nationales fran-     treiben, die man oft in der Porträtmalerei findet. Und
                                                       in diesem Gemälde Leonardos sah man ein Lächeln,
zösisches Kulturgut zu nutzen und zu vermarkten.
                                                           so anmutig, daß es eher göttlich als menschlich anzu-
                                                           schauen war, und man hielt es für etwas Wunderbares,
                                                           da es so lebendig schien wie im Leben.46
42 Assmann und Assmann 2003, S. 150 und S. 147.
43 Vgl. hier und im Folgenden Rippl 2016.              45 Weingart 2012, S. 204.
44 Serles 2013, S. 194, Fn. 2.                         46 Vasari 2006, S. 37-40.
34                                                             10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40

Bedenkt man die Tatsache, dass Vasari das ‚Origi- dann erneut 1873 in der Essaysammlung The
nal’-Gemälde nie gesehen hatte, deckt sich seine Renaissance. Studies in Art and Poetry publiziert
ausführliche Ekphrase, die an Leonardos Mal- wurde. Unter Paters Blick werden die Mona Lisa
kunst die mimetische Genauigkeit der Naturnach- und ihr unergründliches Lächeln zu einer konden-
ahmung und Lebensechtheit hervorhebt, einiger- sierten Metapher:
maßen mit der Mona Lisa-Version im Louvre.47
Dennoch ist es gerade mit Blick auf dieses Bild        La Gioconda is, in the truest sense, Leonardo’s mas-
                                                       terpiece, the revealing instance of his mode of thought
schwierig, von einem ‚Original’-Bild, dem Werk,
                                                       and work. In suggestiveness, only the Melancholia of
zu sprechen, da von Anfang an mehrere Kopien           Dürer is comparable to it; and no crude symbolism
des Gemäldes im Umlauf gewesen sein sollen.48          disturbs the effect of its subdued and graceful mystery.
Vasari mag eine unvollendete Fassung des Gemäl-        We all know the face and hands of the figure, set in
des gesehen haben oder eine Ekphrase einer             its marble chair, in that circle of fantastic rocks, as
                                                       in some faint light under sea. [… T]he unfathomable
Ekphrase geliefert haben (falls seine Beschrei-
                                                       smile, always with a touch of something sinister in it,
bung des Gemäldes aus zweiter Hand stammt).            which plays over all of Leonardo’s work. Besides, the
Wie dem auch sei, Vasaris Ekphrase hat zu zahlrei-     picture is a portrait. From childhood we see this image
chen weiteren Rezeptionsketten in Form ekphras-        defining itself on the fabric of his dreams; and but for
tischer Transkriptionen geführt. Zudem nimmt           express historical testimony, we might fancy that this
man an, dass Vasaris erste Ekphrase auch dazu          was but his ideal lady, embodied and beheld at last.50

beitrug, dass es bereits im 16. und 17. Jahrhun-
dert nur wenige andere Gemälde gab, von denen Pater führt mit „Leonardo’s masterpiece” und
so viele gemalte Kopien angefertigt wurden.49      „suggestiveness” zunächst ästhetische Kriterien
    Die wohl einflussreichste moderne ekphras- und Ideale an, die für ihn als Kunstkritiker eine
tische Transkription von Leonardos Ölgemälde wichtige Rolle spielen. Genauso wichtig wie ästhe-
lieferte der Oxforder Ästhet, Altphilologe und tische Kriterien sind jedoch kontextuelle Faktoren,
Mythentheoretiker Walter Pater in der zweiten die sich hier in der männlichen, spätviktoriani-
Hälfte des 19. Jahrhunderts im viktorianischen schen Aufladung des Bildes und der dargestellten
Zeitalter. Seine Überlegungen zur Mona Lisa gaben Frauenfigur zeigen. Pater macht Mona Lisa zu der
der Rezeption des Gemäldes in der europäischen Verkörperung einer idealen, da rätselhaften Frau,
Kultur und Literatur die Richtung und trugen zum deren Lächeln unergründlich und sinister ist:
nicht enden wollenden Mona Lisa-Hype auch im
20. Jahrhundert wesentlich bei. Paters berühmte        The presence that rose thus so strangely beside the
                                                       waters, is expressive of what in the ways of a thou-
Ekphrase der Mona Lisa befindet sich in seinem
                                                       sand years men had come to desire. Hers is the head
Leonardo da Vinci-Essay, der zuerst 1869 in der        upon which all ,the ends of the world are come’, and
Novemberausgabe der Fortnightly Review und             the eyelids are a little weary. It is a beauty wrought
                                                                   out from within upon the flesh, the deposit, little cell
                                                                   by cell, of strange thoughts and fantastic reveries and
47 Sassoon 2001, S. 19.                                            exquisite passions. Set it for a moment beside one
48 Vgl. Sassoon 2001, S. 22. Schon von Leonardo selbst             of those white Greek goddesses or beautiful women
scheint es zwei gemalte Versionen gegeben zu haben, und            of antiquity, and how would they be troubled by this
erst 2012 ist im Prado eine weitere Mona Lisa aufgetaucht          beauty, into which the soul with all its maladies has
und im gleichen Jahr wurde die Isleworth Mona Lisa der             passed! All the thoughts and experience of the world
Öffentlichkeit präsentiert. Während umstritten ist, welches        have etched and moulded there, in that which they
Bild das ,Original’ ist, wird doch an der Idee eines ,Origi-       have of power to refine and make expressive the
nals’ und einem affirmativen Werkbegriff festgehalten.             outward form, the animalism of Greece, the lust of
49 Vgl. Sassoon 2001, S. 278. Zu den existierenden Kopien          Rome, the mysticism of the middle age with its spiri-
und Variationen der Mona Lisa vgl. Sassoon 2001, S. 41-42;         tual ambition and imaginative loves, the return of the
Kemp 2012, S. 157-162; McCullen 1975, S. 139-145, S. 155-          Pagan world, the sins of the Borgias. She is older than
156, S. 166-167. Zu den Funktionen frühneuzeitlichen Kopie-        the rocks among which she sits; like a vampire, she
rens siehe den Beitrag von Christine Göttler im vorliegen-         has been dead many times, and learned the secrets
den Heft. Es ist weithin bekannt, dass von Dürers Bildern,         of the grave; and has been a diver in deep seas, and
etwa seinem Hieronymus, sowie von anderen Kultbildern              keeps their fallen day about her; and trafficked for
eine sehr hohe Anzahl von Kopien angefertigt wurden. Vgl.
auch Vasaris Hinweis auf die 50 Kopien, die Parmigianinos
Madonna della Rosa motivierte (Vasari 2004, S. 28).            50 Pater 1986, S. 79.
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    strange webs with Eastern merchants: and, as Leda,
                                                             samt dem enigmatischen Lächeln des Modells La
    was the mother of Helen of Troy, and, as Saint Anne,
    the mother of Mary; and all this has been to her but
                                                             Gioconda   ausübte, die dann als „Leerformel, als
    as the sound of lyres and flutes, and lives only in the ,Frau  ohne  Eigenschaften’” zur Projektionsfläche
    delicacy with which it has moulded the changing linea- für Männerphantasien, zum Frauenphantom der
    ments, and tinged the eyelids and the hands. The fancy   erotisch-satanischen femme fatale wurde, die
    of a perpetual life, sweeping together ten thousand      Männer in Versuchung führt und ins Verderben
    experiences, in an old one; and modern philosophy
                                                             stürzt. 53
    has conceived the idea of humanity as wrought upon
    by, and summing up in itself, all modes of thought and       Entgegen solchen sexuell-dämonischen Aufla-
    life. Certainly Lady Lisa might stand as the embodi- dungen der Mona Lisa, die heute kaum mehr nach-
    ment of the old fancy, the symbol of the modern idea.51  vollziehbar sind, legen Schriftsteller und Künstler
                                                              des 20. Jahrhunderts ganz andere, häufig mit Iro-
 Paters ekphrastische Mona Lisa-Transkription                 nie aufgeladene Skripte der Mona Lisa vor. Kurt
 liefert weder eine Diskussion von Leonardos                 Tucholskys (1890-1935) Gedicht „Das Lächeln der
 delikater Maltechnik – sieht man einmal von                  Mona Lisa” (1928) kann als Beispiel dienen für
 der Bemerkung „and lives only in the delicacy                die große Verbreitung von Leonardos Gemälde
 with which it has moulded the changing linea-                in der Alltagskultur: in Tucholskys Gedicht hängt
 ments, and tinged the eyelids and the hands” ab              die Mona Lisa über dem „Mann vom Dienst” und
– noch präsentiert er eine anschauliche Beschrei-             belegt die andauernde Faszination von Mona
 bung des Gemäldes. Vielmehr dispersiert Paters               Lisas Lächeln auch zwischen den Weltkriegen –
 Ekphrase Bedeutung, indem sie eine intensive                 allerdings wird das Lächeln nun gänzlich anders
 Atmosphäre schafft und eine breite Palette von               gewertet.54 Allseits bekannt ist das Fortleben der
 Assoziationen anbietet. Pater sieht eine vampir-             Mona Lisa in der bildenden Kunst. Im 20. Jahr-
 gleiche, undurchschaubare und unerforschliche                hundert nahmen zahlreiche Künstler, etwa Mar-
 Frau abgebildet, deren rätselhaftes Aussehen                 cel Duchamp, Kasimir Malevich, Fernand Léger,
 und enigmatisches Lächeln ein Geheimnis bergen               Salvador Dalí und Andy Warhol, Bezug auf die
 und gibt damit die viktorianische Lesart der Mona            Mona Lisa – häufig in ikonoklastisch-ironischer
 Lisa vor.                                                    Manier.55 Aber gerade die „‚originellen’ Aneignun-
     Er leitete eine oft misogyne und „phantasma-             gen” Marcel Duchamps („L.H.O.O.Q.”, 1919, wo
 tische Auf- und Überladung” des Gemäldes samt                die Mona Lisa einen Schnurrbart trägt) und Andy
 der geheimnisvollen Geschichte um das weibliche              Warhols haben der Mona Lisa „eine eigene Kar-
 Modell mit dem enigmatischen, Sphinx-gleichen,               riere in Konzeptkunst und Pop Art” beschert; ihre
 zum Teil auch als spöttisch-gefährlich beschrie-             Reproduktionen bestätigen die Einmaligkeit des
 benen, satanischen Lächeln ein, die die Rezep-               Kunstwerks.56 Indem Duchamp und Warhol einer
 tion des Gemäldes als Renaissance-Portrait einer             Ästhetik des Sekundären folgten, die tradierte
 schönen Italienerin aussetzte.52 Die spätvikto-              ästhetische Kategorien wie ‚Originalgenie’ und
 rianischen Transkriptionen pluralisieren die von            ‚einmaliges Werk’ hinterfragte, bekamen auch
 Vasari vorgegebene Lesart der Mona Lisa und                  ihre Kopien und iterativen Verfahren eine neue
 machen so den Weg frei für weitere, divergie-                künstlerische Eigenständigkeit.57
 rende Lesarten. In den zahlreichen späteren, häu-
 fig misogynen literarischen Fortschreibungen von 53 Renner 1989, S. 150.
 Paters Mona Lisa-Rezeption – etwa durch Théo- 54 Tucholsky 1998, S. 98.
 phile Gautier, Gustave Flaubert, Oscar Wilde und 55 Vgl. dazu McMullen 1975, S. 217-237, der die Mona Lisa­
                                                   Rezipient_innen in ,Giocondoclasts’ und ,Giocondophiles’
 Algernon Charles Swinburne – lässt sich deutlich
                                                   einteilt.
 die Magie ausmachen, die das ,Rätsel Mona Lisa’ 56 Weingart 2012, S. 204.
                                                             57 Bestes Beispiel dafür ist Warhols Serialisierung der
51 Pater 1986, S. 79-80.                                     Mona Lisa in seiner Arbeit Thirty Are Better than One
52 Serles 2013, S. 194. Fehrenbach fasst es folgender-       (1963), die die Frage nach der „Original-Kopie-Differenz
maßen zusammen: „Die Schönheiten Leonardos erhalten          seinerseits als neu und originell gewürdigt hat”, was sich
[…] [bei Walter Pater] eine Doppelbödigkeit, durch die ihr   nicht zuletzt an der Wertschöpfung der Arbeit auf dem
Gegenteil, Terror und Dunkelheit, allgegenwärtig ist”, so    Kunstmarkt ablesen lässt (Weingart 2012, S. 207). Denn
versinnbildlicht die Mona Lisa nun auch „erotische Ambi-     auch im digitalen Zeitalter, wenn aufgrund verlustfreier Re-
valenzen” (2001, S. 10).                                     produktionen die Unterscheidung von Original und Kopie
36                                                            10.2478/kwg-2020-0004 | 4. Jahrgang 2019 Heft 3: 25–40

    Leonardos Gemälde Mona Lisa erhält pünkt-                 auf Vasaris Ekphrase, entwickelt dann aber ihre
lich zum 500. Todestag des Malers erneut hohe                 eigene Hypothese. Leonardos Philosophie handle
Aufmerksamkeit in den Medien. Zudem sind 2019                 davon,
mehrere Publikationen auf den Markt gekommen,
die sich mit Leonardos vielseitigen künstlerischen                wie sehr der Mensch und seine Umwelt zusammenge-
                                                                  hören. „Mona Lisa” thront vor einer Landschaft, was als
Schaffen und wissenschaftlichen Interessen aus-
                                                                  Motiv aus Herrscherdarstellungen bekannt ist. Sie aber
einandersetzen. Unter den Publikationen befindet                  gebietet nicht herrisch über die Natur, sie reagiert auf
sich neben Frank Fehrenbachs, Volker Reinhardts                   sie. Geht es der Erde schlecht, dann sorgt sich auch
und Bernd Roecks Leonardo-Studien mit ihren                       die Frau. Ist dagegen alles im Fluss, dann freut sie sich.
ekphrastischen Transkriptionen von Leonardos                      Dies zeigt ein Blick auf die Landschaft. Sie ist merk-
                                                                  würdig zweigeteilt, der Horizont rechts liegt deutlich
Bildern58 auch Kia Vahlands Künstlerbiographie
                                                                  höher als links. Das führt dazu, dass die Frau sich über
Leonardo da Vinci und die Frauen, welche für den                  die linke Hälfte zu erheben scheint. […] Das Gewäs-
Kontext des frühen 21. Jahrhunderts ein weite-                    ser steht. Ihm fehlen die Bewegungsenergie und das
res ekphrastisches Transkript der Mona Lisa lie-                  Volumen, um das ausgetrocknete Flussbett wiederzu-
fert. Neben der Leidenschaft für die Natur, so                    beleben, das sich auf der Höhe des Dekolletés und der
Vahland, sei es „das Wissen der Frauen”, das                      Brust der Frau nach unten schlängelt. Bis auf wenige
                                                                  noch feuchte Flecken am Grund ist der Fluss tot, und
Leonardo interessiert habe, denn „[s]chon in der
                                                                  auch die Felsen an seinen Seiten scheinen schon bald
Antike galt das Gemälde einer schönen Frau als                    zu erodieren. Von diesem Teil der Landschaft wendet
Beweis für die Kunstfertigkeit eines Malers. […]                  die Frau sich ab, sie dreht sich auf ihrem Stuhl nach
Erst Leonardo wendet seine Frauenfiguren dem                      rechts vorne, weg von Dürre und Stillstand links
Betrachter zu und erlaubt beiden einen innigen                    hinten. Doch sie kann das Elend auch nicht einfach
                                                                  ignorieren. Ihre rechte Gesichtshälfte (vom Betrachter
Dialog.”59 In Leonardos Gemälden, neben der
                                                                  aus gesehen links im Bild) wirkt ernst, beinahe ange-
Mona Lisa wird die Anna selbdritt genannt, sieht                  spannt. Mit diesem Mundwinkel lächelt sie nicht. Das
Vahland eine Verbindung des Weiblichen „mit                       Wissen, das die „Mona Lisa” in sich trägt, ist auch ein
der Natur- und Erdgeschichte, die der Maler in                    Wissen um Tod und Weltenende.
den Landschaftshintergründen entfaltet. In Leo-                      Ein Grund zum Verzweifeln ist das aber nicht. In der
nardos Sicht kann eine individuelle Frau für das                  rechten Bildhälfte ist die Welt in Ordnung: Über einem
                                                                  gut gefüllten Bergsee oben geht wohl die Sonne auf.
große Ganze stehen, weil sie mit der Natur die
                                                                  Das Wasser […] umspült die Felsen am Ufer, gleitet
Gabe teilt, Leben zu geben. Diese Fähigkeit zum                   unter einer Brücke durch und fließt auf Schulterhöhe
steten Neuanfang ermöglicht der Menschheit,                       der Frau aus dem Bild heraus. Diese Szenerie ist der
das Dasein immer wieder neu zu gestalten.”60 In                   Figur viel näher als die linke. […] Vor allem aber blickt
ihrer langen ekphrastischen Beschreibung der                      die Frau nach rechts, und: In diese Richtung lächelt sie
                                                                  auch, mit ihrer ganzen linken Gesichtshälfte. „Mona
Mona Lisa bezieht sich Vahland zwar zunächst
                                                                  Lisa” lächelt dem Leben zu.61

im technischen Sinne hinfällig wird, ist die Unterscheidung   Angesichts der andauernden, heftig geführ-
in „kultureller, ökonomischer und juridischer Sicht nach      ten Debatten über Klimawandel, Nachhaltig-
wie vor wirksam” (Weingart 2012, S. 204).                     keit und andere ökologische Themen zu Beginn
58 Fehrenbach 2019; Reinhardt 2019; Roeck 2019.               des 21. Jahrhunderts überrascht es wenig, dass
59 Vahland 2019, S. 8. Vahlands These ist: „Leonardo
                                                              Vahlands Transkription auf die Darstellung der
da Vinci hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan
wie kein anderer Maler‟ (2019, S. 7). Auch wenn er heute
                                                              Natur- und Erdgeschichte und die ‚deep time’ im
hauptsächlich als technischer Pionier und Maschineninge-      Gemäldehintergrund, das heisst Leonardos öko-
nieur wahrgenommen wird, so bilden seine Maschinen „nur       logisches Interesse und das Zusammengehören
einen kleinen Teil seines umfassenden zeichnerischen Oeu-     von Mensch und Umwelt, in den Mittelpunkt ihres
vre. Ausgiebig befasst er sich mit der menschlichen Anato-    Mona Lisa-Skripts rückt.62 Dieses Skript, man
mie, der Erdgeschichte, dem Wachstum von Pflanzen und
immer wieder, mit größter Leidenschaft, mit den Bewegun-
gen des Windes und des Wassers” (Vahland 2019, S. 8).
60 Vahland 2019, S. 9. Dass Leonardos Wissen um das           61 Vahland 2019, S. 237-238.
Funktionieren des menschlichen Körpers und geologischer       62 Auch Fehrenbachs Ausführungen zu Leonardos dyna­
Gebilde sowie deren Zusammenspiel enorm war, ist ein Ge-      mischer Bildtheorie enden mit einem Verweis auf das Zeit-
meinplatz der Leonardo-Forschung; vgl. dazu Kemp 2012,        alter des „Anthropozän” (2019, S. 73-74). Siehe ebenfalls
S. 151 und S. 164; Wolf 2002, S. 406; Fehrenbach 2002.        Fehrenbach 1997, S. 193-215.
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