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Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz Menschen mit Demenz haben das Recht auf körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Ihre Willensäußerungen – verbal und / oder non-verbal vermittelt – sind jederzeit zu achten und es ist diesen entsprechend zu handeln. In unserer Gesellschaft dominiert das Verständnis von Erkrankung verändern können. Dies gilt auch für zu ei- Demenz als Verlust geistiger und körperlicher Kräfte nem früheren Zeitpunkt getroffene Entscheidungen. Mit und damit auch als Verlust der Selbstbestimmung. So Fortschreiten der Demenzerkrankung verändert sich bei bedeutet die Diagnose Demenz für die Erkrankten und den Betroffenen auch die Wahrnehmung – weg von der auch für ihre Angehörigen einen tiefen Einschnitt in den Vernunft, hin zu gefühlsgeleitetem Empfinden. Dies kann bisherigen Lebensalltag. Verbunden damit ist auch die Auswirkungen auf die eigene Vorstellung von Lebens- Angst, wie das persönliche Umfeld auf die Erkrankung qualität haben und diese im Zuge der Erkrankung auch reagiert und welche sozialen Folgen daraus resultieren. verändern. Das Leben mit einer Demenzerkrankung ist durch den fortschreitenden Verlust geistiger, alltagspraktischer und später auch körperlicher Fähigkeiten geprägt. Dies führt Aus dem Alltag in der gesellschaftlichen Wahrnehmung meist zu einem defizitorientierten Blick auf Menschen mit Demenz, denen im Fortschreiten der Erkrankung ein eigener Wille Im Alltag erleben Demenzerkrankte immer wieder die abgesprochen wird. Vorurteile, die Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld mit der Erkrankung verbinden, so auch zur Frage des Viele Selbstzeugnisse von Menschen mit Demenz zeigen, eigenen Willens und der Selbstbestimmung: Eine gesell- dass Betroffene im Verlauf der Erkrankung zwar in einer schaftliche Annahme ist, dass Menschen mit Demenz eigenen, für sie jedoch wertvollen Welt leben, dass sie keine vernünftigen Entscheidungen treffen können und Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit spüren und auch daher die Entscheidung anderer benötigen. Dies hat zur weiterhin Wünsche und Bedürfnisse haben, auf die ihr Folge, dass häufig zu früh und zu umfassend eine ge- persönliches Umfeld eingehen muss. setzliche Betreuung für die Erkrankten eingerichtet wird. In der Praxis wird so auch zu schnell über die jeweilige Ebenso belegen mittlerweile eine Vielzahl von wissen- Person mit Demenz entschieden und über die Ansätze schaftlichen Untersuchungen und Erkenntnissen sowie deren eigener Willensbildung hinweggegangen. Ebenso praktische Erfahrungen von Pflegenden und Angehöri- wird dem eigenen Willen häufig nicht ausreichend Raum gen, dass Menschen mit Demenz über viele Potenziale gegeben, er wird nicht erkannt oder für unbeachtlich verfügen, die auch noch im fortgeschrittenen Stadium erklärt und durch die Entscheidung von Anderen ersetzt. der Erkrankung eine Selbstbestimmung in Teilen Betreuerinnen und Angehörige entscheiden so zum Be- ermöglichen. spiel über Kleidung, Essen, Freizeitaktivitäten sowie über Unterstützungsangebote und den Wohnort. Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass sich per- sönliche Wünsche und Wertvorstellungen im Verlauf der Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 1 von 5
Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz Was ist Selbstbestimmung? Aus der Lebenswelt der Betroffenen Auch wenn es verschiedene Konzepte von Selbstbestim- Selbsterleben und Selbstbestimmungsfähigkeiten ver- mung gibt, kann man von selbstbestimmten Handlungen ändern sich im Laufe der Demenzerkrankung. In allen dann sprechen, wenn Phasen haben die Erkrankten aber ein sehr gutes Gespür dafür, ob ihre Bezugspersonen sie und ihre Wünsche res- • eine Person mehrere Handlungsmöglichkeiten hat pektieren und ob sie authentisch mit ihnen umgehen. („anders können“), • sie aufgrund von Überlegungen unter verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen und die Folgen für Ein Blick auf die frühe Phase sich selbst und die Umwelt abschätzen kann („Gründe haben“), Im frühen Stadium der Erkrankung stehen in der Regel • sie sich ihrer eigenen Urheberschaft bewusst ist („Ich Gedächtnisstörungen im Vordergrund. Betroffene haben bin es“). häufig Wortfindungsstörungen, sind in ihrer Auffas- sungsgabe sowie beim Planen und Problemlösen einge- Die Person muss wesentliche Aspekte der Situation ver- schränkt und es kommt zu ersten Schwierigkeiten bei der stehen und bewerten und ihr Handeln danach ausrich- zeitlichen und räumlichen Orientierung. Sie sind aber in ten. Diese Fähigkeiten können sich am Anfang einer de- der Lage, gewohnte Alltagstätigkeiten mit gelegentlicher menziellen Entwicklung auf komplexe Zusammenhänge Hilfestellung auszuüben. Geschäftsfähigkeit und Testier- beziehen (wie die Wahl der Wohnform), im Laufe des fähigkeit sind in der Regel nicht beeinträchtigt. Bei an- Fortschreitens der Demenzerkrankung auf erlebnisnahe, spruchsvollen Aufgaben wie Organisieren des Haushalts, anschauliche Dinge einschränken (wie die Wahl eines Führen des Bankkontos oder Durchführung von Reisen Einrichtungsgegenstandes oder des Essens). brauchen die Betroffenen oft Unterstützung. Berufliche Tätigkeiten können sie meist nicht mehr ausüben. Sie nehmen das Nachlassen ihrer Leistungsfähigkeit wahr. Respektierung der Selbstbestimmung Depressive Verstimmungen, verminderte Aktivität und Rückzug sind häufige Reaktionen. Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiven In dieser Phase sind Vorausverfügungen für Finanzen, Einschränkungen müssen stets dem Grundsatz folgen, Gesundheit, Erbschaft etc. noch möglich. Die Erfahrung zuerst den Willen der Betroffenen zu erkunden. Dies kann zeigt, dass diese Angelegenheiten auch zu Konflikten nicht nur durch Befragung des Betroffenen (ersatzweise innerhalb der Familie führen können. Eine frühzeitige des Umfeldes), sondern auch durch Beobachtung ge- Kommunikation und die Einbeziehung von Familienan- schehen. Wesentlich hierfür sind ausreichend Zeit sowie gehörigen in (rechtskräftige) Entscheidungen sind daher eine wertschätzende und unterstützende Atmosphäre. empfehlenswert. In Zweifelsfällen sollte eine neutrale Person hinzugezogen werden. Anhaltspunkte können auch frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische und religiöse Überzeu- Das Informationsblatt 10 „Vorsorgevollmacht, gungen sowie sonstige persönliche Wertvorstellungen Betreuungsverfügung, Patientenverfügung“ gibt sein. Auch für Menschen mit Demenz gilt die Freiheit, weitere Hinweise. Handlungen oder Maßnahmen abzulehnen, ebenso kann eine Entscheidung jederzeit ohne Angabe von Gründen widerrufen werden. Dies gilt es zu respektieren. Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 2 von 5
Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz Ein Blick auf die mittlere Phase Ein Blick auf die späte Phase Im Stadium der mittelschweren Demenz sind die kogniti- Im Stadium der schweren Demenz sind die Erkrankten ven Störungen so stark ausgeprägt, dass die Betroffenen vollständig pflegebedürftig, eine sprachliche Verständi- auch bei einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens gung gelingt nicht mehr. Sie sind häufig bettlägerig, ihre Hilfe benötigen. Das Langzeitgedächtnis verblasst, die Gliedmaßen versteift und ihre Nahrungsaufnahme ist zeitliche und örtliche Orientierungsfähigkeit geht verlo- erschwert. In diesem Stadium sind Betroffene besonders ren, die sprachliche Verständigung wird zum Problem. anfällig für Infektionen. Eine selbstständige Lebensführung ist nicht mehr mög- lich. Zusätzlich können ausgeprägte Verhaltensände- Willensäußerungen sind in dieser Phase meist im Be- rungen auftreten, vor allem Antriebslosigkeit, Unruhe reich der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung möglich. und Reizbarkeit, aber auch Aggressivität. Seltener sind Sie beziehen sich zum Beispiel auf den Geschmack von Störungen des Wirklichkeitsbezugs wie wahnhafte Be- Speisen, die Raumumgebung wie Temperatur, Licht fürchtungen, Verkennung von Situationen oder Halluzi- usw., oder die Abwehr unangenehmer Empfindungen nationen. In diesem Stadium können ein einfühlsamer und negativer Gefühle. Diese Willensäußerungen können Umgang mit den Betroffenen sowie die Unterstützung durchaus auch Rückschlüsse auf den Lebenswillen zulas- durch Erinnerungstraining, Musiktherapie oder auch Er- sen. Entscheidungen werden nun von den Gefühlen und gotherapie dazu beitragen, die Symptome abzumildern nicht mehr von Überlegungen geleitet. Das ist von der und das Wohlbefinden zu verbessern. Umwelt nicht immer leicht zu interpretieren. Diese Phase ist häufig von verschiedenen Konflikten Pflegenden und Angehörigen ist es über eine ganz- zwischen den Menschen mit Demenz und ihren Ange- heitliche Wahrnehmung des Gegenübers immer noch hörigen geprägt, zum Beispiel aufgrund von Übersorge möglich, den Willen festzustellen. Entscheidungen zur durch die Angehörigen oder auch Missverständnissen Gestaltung der unmittelbaren Lebensumwelt sollten bei Handlungen. Deshalb ist es gut, Entscheidungen zu durch Beobachtung der Reaktionen getroffen werden. Alltagsgestaltungen (Beispiele: Reisen, Verschenken von Bei weiterreichenden Entscheidungen müssen die ge- Einrichtungs- oder Wertgegenständen) anschauungsnah setzlichen Betreuungspersonen bzw. die Bevollmäch- und erlebnisbezogen zu kommunizieren und herbei- tigten (das können auch Angehörige sein) auch mit Hilfe zuführen (Abschätzung kurz-, mittel- und langfristiger von früheren biografischen Indizien oder Verfügungen Folgen). Menschen in diesem Demenzstadium sind in entscheiden. der Lage, kurzfristige Folgeabschätzungen abzugeben, langfristige Folgen sind für sie aber oft nur noch schwer einzuschätzen. Deshalb sollten Entscheidungen über Bedeutung von Vorausverfügungen unbekannte, früher zugängliche, heute aber dem Ge- dächtnis nicht mehr zur Verfügung stehende Dinge zwar mit größtmöglicher Mitwirkung des Demenzerkrankten, Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten, For- letztlich aber durch den gesetzlichen Betreuer oder den schungsverfügungen und Advance Care Planning (ACP) Bevollmächtigten getroffen werden. Dabei gilt es sowohl können die Entscheidungsfindungen bei fortschreitender die Schadensabwendung zu berücksichtigen als auch Demenz erleichtern, weil sie wichtige Anhaltspunkte die persönlichen Präferenzen und den natürlichen Willen über den Willen der Betroffenen geben. Allerdings be- des Betroffenen zu beachten. steht ein prinzipieller Vorbehalt für solche Verfügungen, Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 3 von 5
Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz weil niemand mit Sicherheit einen später eintretenden beiden Perspektiven unterscheiden. Selbstbestimmung Zustand und die damit verbundenen Umstände vorher- heißt, einfühlsam den Willen der Betroffenen zu erkun- sagen kann. Das eigene Erleben dieses Zustands ist nur den, auch wenn er nicht mehr unmittelbar geäußert schwer zu prognostizieren, dies betrifft auch den Um- wird, und diesem Willen zu folgen. Eine Zurückweisung gang mit einer Demenzerkrankung und ihren Folgen für von Forderungen des Betroffenen ist nur möglich, wenn das eigene Leben. Erst in zeitlicher Nähe zu einem Ereig- sie trotz wohlwollender Prüfung nicht erfüllbar sind, we- nis, in diesem Fall zur Erkrankung, können Entscheidun- der durch Begleitpersonen noch durch Dritte (Beispiel: gen und Verfügungen eher dem aktuellen Willen entspre- jede Stunde spazieren gehen). Eine Entscheidung gegen chen. Deshalb ist eine frühzeitige und kontinuierliche den Willen oder ohne den Willen der Betroffenen ist nur Kommunikation unerlässlich. geboten, wenn diese sonst sich selbst oder andere schä- digen oder gefährden würden. Weiterhin bestehen verschiedene Schwierigkeiten bei der Anwendung und Umsetzung von Verfügungen. So passt die Formulierung in der Verfügung selten ganz prä- Literatur zise auf die aktuell vorliegende Situation. [1] Deutscher Ethikrat (Hrsg.) (2012): Demenz und Prüfung des aktuellen Willens Selbstbestimmung. Stellungnahme. Im Internet: www.ethikrat.org » Presse » Mitteilungen » Ebenso muss das Umfeld der Erkrankten immer prüfen, Pressemitteilung 04/2012 ob ein aktueller Wille gegen die Entscheidung steht. Prin- zipiell besteht ein Vorrang des aktuellen Willens gegen- über dem vorausverfügten Willen. Obwohl auch Mimik, [2] DGGG / DGPPN / DGN (Hrsg.) (2020): Einwilligung von Gestik oder Verhaltensbeobachtung als Widerruf aner- Menschen mit Demenz in medizinischen Maßnahmen. kannt werden, ist die Beurteilung solcher Äußerungen als Interdisziplinäre S2k-Leitlinie für die medizinische Praxis. Widerruf in der Praxis oft umstritten. Daher wird eine von Im Internet: einer unabhängigen Person moderierte Entscheidungs- www.awmf.de » Leitlinien » Detail findung aller Beteiligten im Umfeld des demenzkranken Menschen empfohlen, die sich stets am mutmaßlichen Willen und am Wohl der Betroffenen orientieren sollte. [3] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz: Demenz. Das Wichtigste. Ratgeber für Angehörige und Profis Schlussbemerkungen Bestellung: www.deutsche-alzheimer.de » Unser Service » Broschüren und mehr Selbstbestimmte Entscheidungen in einzelnen Lebens- bereichen sind noch sehr lange möglich. Bei der Erkun- dung des Willens des Betroffenen ist es notwendig, dass [4] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe alle Beteiligten eine Abgrenzung zwischen den eigenen Demenz: Informationsblatt 9: Das Betreuungsrecht Vorstellungen, Wünschen und Werten und denen des Im Internet: Menschen mit Demenz vornehmen und zwischen diesen www.deutsche-alzheimer.de » Unser Service » Informationsblätter Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 4 von 5
Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz [5] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Impressum Demenz: Informationsblatt 10: Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Im Internet: Selbsthilfe Demenz www.deutsche-alzheimer.de » Unser Service » Friedrichstraße 236 Informationsblätter 10969 Berlin Tel: 030 - 259 37 95 0 Fax: 030 - 259 37 95 29 Stand: Februar 2021 www.deutsche-alzheimer.de Erarbeitet vom Arbeitsausschuss Ethik der Deutschen info@deutsche-alzheimer.de Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz Alzheimer-Telefon: Tel: 030 - 259 37 95 14 Mo – Do 9 – 18 Uhr, Fr 9 – 15 Uhr Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft Berlin IBAN: DE91 1002 0500 0003 3778 05 BIC: BFSWDE33BER Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ❯ Link zur Downloadseite Empfehlungen zur Begleitung von Empfehlungen zur medizinischen Menschen mit Demenz in der Sterbephase Behandlung bei Demenz Empfehlungen zum Umgang mit Empfehlungen zum Umgang mit Frühdiagnostik bei Demenz Gefährdung bei Demenz Empfehlungen zum Umgang mit Diagnose Empfehlungen zum Umgang mit und Aufklärung bei Demenz Ernährungsstörungen bei Demenz Empfehlungen zum Umgang mit Schuldgefühlen Empfehlungen zum Umgang mit von Angehörigen bei der Betreuung und Patientenverfügungen bei Demenz Pflege von Menschen mit Demenz Empfehlungen zur Selbstbestimmung bei Demenz Empfehlungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 5 von 5
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