Erfassung der motorischen Leistungsfähigkeit mit der Movement ABC-2
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Erfassung der motorischen Leistungsfähigkeit mit der Movement ABC-2 Franz Petermann und Julia Kastner Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Zusammenfassung Motorische Kompetenz bildet die Basis für körperliche Gesundheit, die Integration in das soziale Umfeld sowie den schulischen Erfolg. Mögliche Defizite im Bereich der motorischen Entwicklung müssen frühzeitig festgestellt werden, um gezielte Fördermaßnahmen einzulei- ten. Die Movement ABC-2 gehört weltweit zu den am häufigsten eingesetzten Testverfahren zur Überprüfung der motorischen Leistungsfähigkeit. Erstmals liegt nun eine deutsche Fas- sung des Verfahrens vor. Die Movement ABC-2 erfasst die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Alter von 3;0 bis 16;11 Jahren. Es werden die Handge- schicklichkeit, die Ballfertigkeiten sowie die Fähigkeit zur Balance erhoben. Für alle drei Komponenten und den Gesamttestwert werden dem Alter angepasste Standardwerte und Pro- zentränge angegeben. Ein differenziertes Leistungsprofils ermöglicht, therapeutische Maß- nahmen auf die Bedürfnisse des Kindes abzustimmen.
Die Entwicklung der motorischen Fertigkeiten spielt im Kindes- und Jugendalter eine bedeut- same Rolle. Die Fähigkeit, sich ohne Einschränkungen bewegen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung alltäglicher Anforderungen und verringert das Risiko ge- sundheitsschädlicher Folgen, wie Herz-Kreislaufprobleme oder Übergewicht, die durch Be- wegungsmangel begünstigt werden. Motorische Kompetenz ist aber nicht nur die Basis kör- perlicher Gesundheit, sondern auch eine entscheidende Grundlage von schulischem Erfolg, sozialer Integration und gesellschaftlicher Anerkennung (Opper, Worth, Wagner & Bös, 2007). Die motorische Leistungsfähigkeit kann unterschiedlich beeinträchtigt sein. Zum einen kön- nen Defizite auftreten, die nachweislich auf eine neurologische Schädigung zurückzuführen sind, zum anderen kann es sich um entwicklungsbedingte Koordinationsstörungen handeln, denen keine nachweisbaren angeborenen oder erworbenen neurologischen Störungen zugrun- de liegen. Das Störungsbild der entwicklungsbedingten Koordinationsstörung ist dabei häufig sehr heterogen. Manche Kinder weisen ausschließlich Probleme in fein- oder grobmotori- schen Bereichen auf, andere Kinder wiederum haben in beiden Bereichen große Schwierig- keiten. Das Ausführen alltäglicher Handlungen, wie beispielsweise das Anziehen und Zu- knöpfen einer Jacke oder das Essen mit Messer und Gabel, fällt den Betroffenen häufig sehr schwer. Um den schulischen Alltag erfolgreich bewältigen zu können, sind Kinder sowohl auf fein- als auch auf grobmotorische Fertigkeiten angewiesen. McHale und Cermak (1992) beo- bachteten, dass Kinder etwa 30-60% des Schultags mit feinmotorischen Tätigkeiten verbrin- gen, wobei das Schreiben dabei den größten Anteil ausmacht. Grobmotorische Fertigkeiten kommen hingegen überwiegend im Sportunterricht und auf dem Pausenhof zum Einsatz. Da- bei werden laut Primeau (1992) (zitiert nach Cermak, Gubbay & Larkin, 2002) nur 27% der motorisch eingeschränkten Kinder in die Spiele der Klassenkameraden mit einbezogen, hin- gegen 84% der gesunden Kinder. Zwei Beispiele sollen veranschaulichen, wie sich motori- sche Beeinträchtigungen im Alltag äußern. Ein siebenjähriger Junge kam oft hungrig nach der Schule nach Hause, weil er in der Regel nur die Hälfte seines Frühstücks gegessen hatte. Es stellte sich heraus, dass er die meiste Zeit der Pause dafür benötigte, um seine Brotdose zu öffnen und ihm deshalb kaum noch Zeit blieb, sein Frühstück zu essen. Ein 14-jähriges Mäd- chen, welches stets in allen Schulfächern gute Noten erzielte, schrieb häufig nur sehr kurze Aufsätze, da das Schreiben ihr große Mühe bereitete und sie in der vorgegebenen Zeit nur wenige Wörter zu Papier brachte (Cermak et al., 2002).
Diese Fallbeispiele verdeutlichen, welche Beeinträchtigungen durch eine unzureichende mo- torische Leistungsfähigkeit im alltäglichen Leben von Kindern entstehen. Vor allem das zwei- te Beispiel zeigt auf, dass es nicht ausreicht, eine Tätigkeit ausführen zu können, sondern dass es zusätzlich erforderlich ist, dieses auch innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu tun. Um Betroffene angemessen unterstützen und fördern zu können, ist zunächst eine umfassende Diagnostik erforderlich. In diesem Rahmen sollte immer auch ein Motoriktest, wie z.B. die Movement ABC-2, eingesetzt werden, um die Stärken und Schwächen eines Kindes zu evalu- ieren und den Grad der Betroffenheit objektiv einzuschätzen. Viele der Testverfahren, die in der Praxis häufig zur Erfassung der motorischen Leistungsfähigkeit eingesetzt werden, sind vor mehr als 20 Jahren entwickelt und normiert worden, weshalb es sehr fragwürdig erscheint, ob die Normen in Anbetracht veränderter Lebensbedingungen noch aktuell sind (Bös, 2003; Schott & Roncesvalles, 2004;). Dieses weist auf die Notwendigkeit hin, ein aktuelles Messin- strument für den deutschen Raum zu schaffen, welches nun mit der Movement ABC-2 zur Verfügung steht. Was ist ein Motoriktest? Motoriktests dienen dazu, ein und mehrere abgrenzbare Merkmale des motorischen Fähig- keitsniveaus objektiv abzubilden, wobei diese von unterschiedlichem Umfang und unter- schiedlicher Komplexität sein können. Es lassen sich dabei Inventare, Testbatterien und Screenings unterscheiden. Inventare erfassen ein sehr weites Fähigkeitsspektrum. Mithilfe vieler unterschiedlicher Aufgabentypen lässt sich die motorische Leistungsfähigkeit eines Kindes anhand eines Gesamtwertes beschreiben. Testbatterien, wie beispielsweise die Move- ment ABC-2, überprüfen hingegen eine überschaubare Anzahl inhaltlicher Bereiche, die je- weils durch Untertest abgebildet werden, die relativ ähnliche Dimensionen der Motorik, wie beispielsweise Feinmotorik oder Gleichgewicht, erfassen. Dabei können neben dem Gesamt- testwert auch Werte für die einzelnen Dimensionen ermittelt werden. Screeningverfahren sol- len mithilfe möglichst weniger Aufgaben motorisch auffällige Kinder ermitteln. Die Movement ABC-2 Bei der Movement Assessment Battery for Children- 2 (Movement ABC-2; vgl. dt. Version: Petermann, 2008) handelt es sich um eine Testbatterie zur Erfassung der motorischen Leis- tungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Alter von 3;0 bis 16;11 Jahren. Erstmalig wurde eine deutsche Bearbeitung der Movement ABC-2 vorgenommen und die klinische
Aussagekraft des Verfahrens 2007 und 2008 an einer deutschen Stichprobe von 634 Kindern in verschiedenen Regionen der Bundesrepublik überprüft. Da mithilfe der Movement ABC-2 die motorische Leistungsfähigkeit eines sehr großen Al- tersspektrums überprüft werden kann, stehen insgesamt drei Testbatterien für unterschiedliche Altersgruppen zur Verfügung. Alle Testbatterien sind nach demselben Prinzip aufgebaut. Dies bedeutet, dass stets die gleichen Fähigkeiten über ähnliche Aufgabentypen, die dem jeweili- gen Entwicklungsstand der Kinder angemessen sind, erfasst werden. Die drei Altersgruppen werden folgendermaßen untergliedert: • Altersgruppe 1: 3;0 bis 6;11 Jahre • Altersgruppe 2: 7;0 – 10;11 Jahre • Altersgruppe 3: 11;0 – 16;11 Jahre Für jede Altersgruppe liegen insgesamt acht Untertests vor, um fein- und grobmotorische Fer- tigkeiten zu überprüfen, die durch die drei Skalen Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten und Balance abgebildet werden. Es besteht die Möglichkeit, Standardwerte und Prozentränge für die einzelnen Skalen zu berechnen. Aus den Ergebnissen aller acht Untertest kann zusätzlich ein Gesamttestwert ermittelt werden, der als Indikator für die gesamte motorische Leistungs- fähigkeit eines Kindes dient. Dieser Gesamtwert setzt sich aus den Leistungen zusammen, die ein Kind in den jeweiligen Skalen Handgeschicklichkeit (HG), Ballfertigkeiten (BF) und Ba- lance (BL) erreicht hat und wiederum aus den Ergebnissen der acht Untertests ermittelt wer- den. Folgende Abbildung soll den Aufbau der Movement ABC-2 veranschaulichen: Gesamttestwert (Indikator für die allgemeinemotorische Leistungsfähigkeit) Handgeschick‐ Ballfertigkeiten Balance lichkeit HG HG HG BF BF BL BL BL Abbildung 1. Struktureller Aufbau der Movement ABC-2 (Petermann, 2008, S.20).
Die Movement ABC-2 ermöglicht dem Anwender, auf schnelle und einfache Weise spiele- risch die Fein- und Grobmotorik zu überprüfen. Die Skalen Handgeschicklichkeit, Ballfertig- keiten und Balance überprüfen alltagsnahe Fertigkeiten, die vor allem im Kindergarten- und Schulalltag ständig benötigt werden. Die Geschicklichkeit der Hände spielt eine herausragen- de Rolle, wenn es darum geht, die Umwelt zu entdecken und neue Dinge und Tätigkeiten aus- zuprobieren. Dabei ist das Zusammenspiel und die Koordination beider Hände auf verschie- dene Art und Weise (z.B. auch unter Zeitdruck) von großer Wichtigkeit. Die Movement ABC-2 überprüft daher zum einen die Geschwindigkeit und Sicherheit der Bewegungen jeder Hand (HG1), die Koordination bei der Bearbeitung einer einzelnen Handlung (HG2) sowie die Koordination von Hand und Auge, da diese insbesondere zur Kontrolle eines Stiftes benö- tigt wird (HG3). Tabelle 1. Untertests der Skala Handgeschicklichkeit (AG=Altersgruppe) (Petermann, 2008, S.22). Altersgruppe Name Inhaltliche Beschreibung AG1 HG1: Taler einwerfen Das Kind erhält die Aufgabe, sechs bzw. zwölf Plastiktaler von der Tischplatte aufzu- nehmen und durch einen schmalen Schlitz in eine Plastikbox zu stecken. AG1 HG2: Perlen aufziehen Aufgabe des Kindes ist es sechs bzw. zwölf Plastikperlen auf eine Schnur aufzufädeln. AG2 HG1: Stifte einstecken Das Kind erhält die Aufgabe, kleine Plastikstecker schnellstmöglich in ein Brett zu stecken. AG2 HG2: Schnur einfädeln Aufgabe des Kindes ist es, eine Schnur durch die Löcher eines Plastikbrettes zu ziehen. AG3 HG1: Stifte umdrehen Das Kind erhält die Aufgabe, kleine Plastikstecker schnellstmöglich in ein Brett zu stecken. AG3 HG2: Dreieck bauen Aufgabe des Kindes ist es eine Schnur durch die sechs Löcher eines Plastikbrettes zu ziehen. AG1,2 und 3 HG3: Spur nachzeich- Zwischen zwei Linien soll eine kontinuierliche gezeichnet werden, ohne die Begren- nen 1,2 und 3 zungen zu übermalen. Fangen und Werfen erfordert ein komplexes Zusammenwirken verschiedener fein- und grob- motorischer Bewegungen, wie beispielsweise die Einnahme der richtigen Körperhaltung und Bewegung des Rumpfes, die Ausrichtung von Armen, Händen und Fingern sowie das richtige Zusammenspiel von Hand und Auge. Ballspiele eignen sich optimal als Aufgaben in einem Motoriktest, da sie spielerisch eine Bandbreite an Fertigkeiten erfassen und dafür sorgen, dass die Kinder zur Testung motiviert sind. Die Movement ABC-2 überprüft, inwieweit ein Kind in der Lage ist, ein Objekt (Bohnensäckchen oder Tennisball) sicher aufzufangen (BF1) sowie die Fähigkeit, ein Objekt zielsicher zu werfen (BF2).
Tabelle 2. Untertests der Skala Ballfertigkeiten (AG=Altersgruppe) (Petermann, 2008, S.23). Altersgruppe Name Inhaltliche Beschreibung AG1 BF1: Bohnensäckchen Der Testleiter wirft dem Kind ein Bohnensäckchen zu, welches dieses auffangen soll. fangen Die Entfernung zwischen TL und Kind beträgt dabei 1,80m. AG1 BF2:Bohnensäckchen Das Bohnensäckchen soll in den orangefarbigen Kreis einer 1,80m entfernten Matte werfen 1 geworfen werden. AG2 BF1: Zweihändiges Das Kind wirft einen Tennisball von der markierten Distanz aus an die Wand und fängt ihn Fangen beim Zurückspringen mit beiden Händen zusammen auf, ohne dass dieser auf dem Boden aufspringt. AG2 BF2:Bohnensäckchen Das Bohnensäckchen soll in den orangefarbigen Kreis einer 1,80m entfernten Matte werfen 2 geworfen werden. AG3 BF1: Einhändiges Das Kind wirft einen Tennisball von der markierten Distanz aus an die Wand und fängt ihn Fangen beim Zurückspringen mit beiden Händen zusammen auf, ohne dass dieser auf dem Boden aufspringt. AG3 BF2: Zielwerfen Das Bohnensäckchen soll in den orangefarbigen Kreis einer 1,80m entfernten Matte geworfen werden. Die Balance ist die grundlegende Basis dafür, dass komplexe motorische Aktivitäten über- haupt ausgeführt werden können. Sie umfasst die Stabilisierung der Körperhaltung in Zustän- den der Ruhe und Bewegung, weshalb die Fähigkeit zur Balance in zwei Arten unterteilt wird, die beide von der Movement ABC-2 abgebildet werden. Es handelt sich dabei um die stati- sche und dynamische Balance. Die statische Balance wird überprüft, indem das Kind so lange wie möglich eine bestimmte Position halten soll (BL1). Die dynamische Balance erfasst, ob das Kind in der Lage ist, schnelle und explosive Bewegungen auszuführen, ohne das Gleich- gewicht zu verlieren (BL2) und ob langsame und exakte Bewegungen ohne Balanceverlust ausgeführt werden können (BL3).
Tabelle 3. Untertests der Skala Balance (AG=Altersgruppe) (Petermann, 2008, S.26). Altersgruppe Name Inhaltliche Beschreibung AG1 BL1: Einbeinstand Aufgabe des Kindes ist es, für maximal 30 Sekunden auf einem Bein stehend, die Balance zu halten. AG1 BL2: Laufen mit abgeho- Das Kind läuft eine Linie entlang ohne mit der abgehobenen Ferse den Boden zu benen Fersen berühren. AG1 BL3: Mattenhüpfen 1 Aus einer stehenden Position heraus, in der die Füße zusammen stehen, hüpft das Kind vorwärts von Matte zu Matte und kommt auf der Zielmatte zum Stehen. AG2 BL1: Einbrettbalance Das Kind balanciert für maximal 30 Sekunden auf einem Fuß auf dem Balancebrett. AG2 BL2: Laufen Ferse-an-Zeh Das Kind läuft so auf der Linie entlang, dass bei jedem Schritt die Ferse des einen Fu- vorwärts ßes, die Zehen des anderen Fußes berührt. AG2 BL3: Mattenhüpfen 2 Aus einer stehenden Position heraus, in der die Füße zusammen stehen, hüpft das Kind vorwärts von Matte zu Matte und kommt auf der Zielmatte zum Stehen. AG3 BL1: Zweibrettbalance Das Kind balanciert für maximal 30 Sekunden so auf dem Balancebrett, dass sich die Ferse des einen Fußes und die Zehen des anderen Fußes berühren. AG3 BL2: Laufen Ferse-an-Zeh Das Kind läuft rückwärts die Linie entlang, wobei die Zehen des einen Fußes die Ferse rückwärts des anderen Fußes bei jedem Schritt berühren müssen. AG3 BL3: Zick-Zack Hüpfen Aus einer stehenden Position heraus macht das Kind fünf durchgehende diagonale Sprünge von einer Matte zu anderen und kommt auf der Zielmatte zum Stehen. Testmaterial Das Testset besteht aus dem Testkoffer, der die kompletten Materialien enthält. Dazu gehören beispielsweise ein Bohnensäckchen, ein Tennisball, Perlen, ein Balancebrett und viele weitere Dinge, die bei der Durchführung der Untertests zum Einsatz kommen. Zusätzlich sind im Testkoffer das Manual (Petermann, 2008), Stifte sowie 25 Protokollbögen für jede der drei Altersgruppen vorhanden. Die Protokollbögen wurden dabei so gestaltet, dass für jede Alters- gruppe ein Bogen in einer spezifischen Farbe vorliegt, um eine einfach Handhabung zu ge- währleisten. Die Bodenmatten, die für einige Aufgaben benötigt werden, befinden sich in ei- ner zusätzlichen Tasche. Der Testraum sollte neben den eigentlichen Testmaterialien kein weiteres Spielzeug bereitstellen und mit kindgerechten Möbeln ausgestattet sein, da die Un- tertests zur Überprüfung der Handgeschicklichkeit im Sitzen durchgeführt werden.
Abbildung 2. Testmaterialien der Movement ABC-2. Durchführung Die Movement ABC-2 zeichnet sich durch eine einfache und schnelle Handhabung aus. Die Durchführungszeit beträgt je nach Grad der Beeinträchtigungen des Kindes maximal 20-30 Minuten. Für einige Aufgaben existieren zusätzliche Abbruchregeln, die zur Anwendung kommen, wenn ein Kind eine Aufgabe altersentsprechend bewältigt hat. Diese Regeln be- schleunigen die Testdurchführung, wobei die Zuverlässigkeit des Verfahrens nicht einge- schränkt wird. Die Berechnung des exakten Alters sollte bereits vor Beginn der Testung erfolgen, damit die richtige Altersgruppe und der richtige Protokollbogen ausgewählt werden können. Die Tes- tung beginnt zunächst immer mit einer kurzen Kontaktaufnahme zwischen Testleiter und Kind, um ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. Die Präsentation der einzelnen Test- aufgaben sollte normalerweise in der im Manual vorgegebenen Reihenfolge stattfinden. Ist ein Kind jedoch aus verschiedensten Gründen unmotiviert, einen bestimmten Untertest zu bearbeiten, kann die Reihenfolge auch verändert werden, um zu gewährleisten, dass das Ver- fahren bis zum Ende durchgeführt werden kann. Die Ausführung aller Untertests erfolgt stets nach demselben Prinzip. Aufbau, Instruktionen und Bewertungskriterien sind im Manual für alle Aufgaben ausführlich dargestellt und bebil- dert. Somit wird eine objektive Testdurchführung, Auswertung und Interpretation der Ergeb- nisse garantiert.
Abbildung 3. Beispielbilder zur Durchführung des Untertests „Bohnensäckchen werfen“ (Pe- termann, 2008, S. 55). Das Besondere an der Movement ABC-2 ist, dass keinerlei wörtliche Instruktionen vorgege- ben werden müssen. Der Testleiter besitzt die Möglichkeit, alle Anweisungen mit eigenen Worten zu erklären, bis das Kind richtig verstanden hat, wie die Aufgabe bearbeitet werden soll. Um Missverständnissen vorzubeugen, die durch die alleinige verbale Beschreibung von motorischen Aufgabenstellungen entstehen können, werden alle Untertests zusätzlich noch einmal vorgeführt. Im Anschluss daran erfolgt eine kurze Übungsphase, in der der Testleiter überprüfen kann, ob das Kind die Anforderungen der jeweiligen Aufgabe richtig verstanden hat. Erst dann beginnt die eigentliche Durchführung, deren Ergebnisse im Protokollbogen dokumentiert werden.
Abbildung 4. Beispiel für einen ausgefüllten Protokollbogen (Untertest „Perlen Aufziehen“) Am Ende eines jeden Untertests besteht die Möglichkeit, neben den eigentlichen Testergeb- nissen zusätzlich Beobachtungen zur Körperbeherrschung und Haltung des Kindes zu ver- merken. Aus Abbildung 5 können Beispiele möglicher Auffälligkeiten der Haltung bzw. Kör- perbeherrschung für den Untertest „Taler einwerfen“(HG1, Altersgruppe 3-6 Jahre) entnom- men werden. Abbildung 5. Beispiel für den Vermerk von Verhaltensbeobachtungen beim Untertest „Taler einwerfen“.
Auswertung und Interpretation Die Auswertung der Testergebnisse ist schnell und einfach und nimmt nur wenige Minuten in Anspruch. Mithilfe der Movement ABC-2 lassen sich verschiedene Kennwerte ermitteln. Die- se sind: • Rohwerte und Standardwerte für die einzelnen Untertests • Standardwerte und Prozentränge für die einzelnen Skalen und Untertests Zur Ermittlung des Gesamtwertes werden die Ergebnisse aller acht Untertests mithilfe einer Umrechnungstabelle in Standardwerte überführt und anschließend aufsummiert. Das Ergebnis dieses Umrechnungsprozesses lässt sich anschließend in einen konkreten Prozentrang über- tragen, welcher angibt, wie viele Kinder der Eichstichprobe dieselbe oder eine schlechtere Leistung erbracht haben. Wenn beispielsweise ein Kind einen Prozentrang von 20 in der Mo- vement ABC-2 erreicht hat, wissen wir, dass in der allgemeinen Bevölkerung 20% der Kinder einen gleichwertigen oder niedrigeren Wert erlangen. Umgekehrt gesprochen erreichen also 80% der Kinder einen höheren oder besseren Wert als diesen. Prozentränge variieren von 1 bis 100, wobei der Wert 50 die durchschnittliche Leistung darstellt. Als altersentsprechend gelten in der Movement ABC-2 alle Werte, die einen Prozentrang aufweisen, der größer als 15 ist. Kinder, die einen Prozentrang zwischen 6 und 15 aufweisen, erbrachten eine Leistung, die als beobachtungswürdig gilt, aber noch nicht zwangsläufig auf eine Beeinträchtigung der motorischen Fertigkeiten hinweist. Erbringt ein Kind allerdings eine Testleistung, die unter- halb des 5. Prozentranges liegt, ist diese nicht mehr als altersentsprechend anzusehen und deu- tet auf größere motorische Schwierigkeiten des Kindes hin. Ob die Leistung eines Kindes unauffällig oder therapiebedürftig ist, lässt sich leicht aus den Normtabellen entnehmen, da die verschiedenen Bereiche dort als „unauffällig“, oder „therapiebedürftig“ ausgewiesen sind. Prozentränge haben den großen Vorteil, dass sie leicht verständlich und deshalb beson- ders geeignet sind, Eltern die Testergebnisse Ihres Kindes zu erläutern. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Standardwerte und Prozentränge für die einzelnen Skalen Handgeschicklich- keit, Ballfertigkeiten und Balance zu bestimmen. Die Umrechnung und Interpretation erfolgt nach dem Prinzip des Gesamtwertes, wobei nur die zur jeweiligen Skala zugehörigen Unter- tests berücksichtigt werden. Normen Die ursprünglichen Normen, die im Jahre 2006 in Großbritannien erhoben wurden, konnten anhand von Vergleichsdaten von 634 Kindern (326 Jungen und 308 Mädchen) aus verschie-
denen Regionen Deutschlands bestätigt werden (erhoben von September 2007 bis Januar 2008). Dabei stammten rund 29% der Kinder aus Norddeutschland, 30% aus Westdeutsch- land. 12% aus Ostdeutschland und 29 % aus Süddeutschland. Zusätzlich wurde die Verteilung der Kinder auf städtische und ländliche Regionen berücksichtigt. Die Normen werden in Jah- resabständen angegeben. Eine Ausnahme bilden hierbei die Kinder im Alter von drei und vier Jahren. Da in der frühen Kindheit noch größere Entwicklungsschritte bezüglich der motori- schen Leistungsfähigkeit zu erwarten sind, stehen speziell für diesen Altersbereich Normen in halbjährlichen Abständen zur Verfügung. Testgütekriterien Für die Interpretation von Testergebnissen sind Kenntnisse über bestimmte psychometrische Eigenschaften, wie Objektivität, Reliabilität und Validität eines Testverfahrens erforderlich. Die Objektivität des Verfahrens wird durch die umfangreichen Instruktionen, die im Manual zur Durchführung und Auswertung dargestellt sind, gewährleistet. Ein zusätzliches Kapitel beschreibt häufige Durchführungs- und Auswertungsfehler und hilft somit, diese zu vermei- den. Verschiedene Studien überprüften die Reliabilität des Verfahrens, wobei die Beobachter- übereinstimmungen durchschnittliche Werte zwischen 0.92 und 0.98 erreichten. Die Zuver- lässigkeit des Verfahrens für Testwiederholungen wird mit Werten zwischen 0.73 bis 0.92 angegeben. Die inhaltliche Gültigkeit des Verfahrens konnte in vielen Validierungsstudien hinreichend belegt werden. Häufig weisen Kinder mit unterschiedlichsten Störungen zusätz- lich motorische Probleme. Dazu gehören beispielsweise Sprachstörungen, ADHS, Autistische Störungen und Lernstörungen. Dieses konnte durch verschiedene klinische Validierungsstu- dien, die mit der Movement ABC durchgeführt wurden, bestätigt werden. Anwendungsbereiche Die Movement ABC-2 dient natürlich in erster Linie der Aufdeckung von fein- und grobmo- torischen Defiziten. Das Verfahren bietet eine gute Grundlage zur Planung einer Behandlung. Der Therapeut erhält ein genaues Profil über die Stärken und Schwächen eines Kindes und kann zudem die qualitativen Beobachtungen, die er während der Testdurchführung dokumen- tiert hat, in die Vorbereitung einer Fördermaßnahme einbeziehen. Besonders eignet sich die Movement ABC-2 zusätzlich zur Überprüfung der Wirksamkeit von therapeutischen Maß- nahmen. Da dieses Verfahren ein weites Altersspektrum abdeckt, können die Entwicklungs- verläufe von der frühen Kindheit bis ins Jugendalter beobachtet werden.
Beispielprofile Abbildung 6 stellt die Ergebnisse von vier verschiedenen Kindern im Alter von fünf Jahren dar, die mit der Movement ABC-2 getestet wurden. Keines der vier Kinder war zum Zeit- punkt der Testung an einer neurologischen Störung erkrankt. Die Ergebnisse wurden im Rahmen der deutschen Normierung der Movement ABC- 2 gewonnen. Die ersten drei Balken stellen dabei die Skalen Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten und Balance dar. Balken vier bildet den Gesamttestwert ab. Anhand der Testergebnisse ist ersichtlich, dass bei allen Kin- dern bestimmte motorische Defizite vorliegen. Es wird dabei deutlich, wie heterogen Koordi- nationsstörungen ausgeprägt sein können. Während Kind A in allen Bereichen große Proble- me aufweist, liegen die Schwächen von Kind B eindeutig im Bereich der Balance und der Handgeschicklichkeit, von Kind C bei den Ballfertigkeiten. Die motorischen Defizite von Kind D konzentrieren sich hingegen ausschließlich auf den Bereich Handgeschicklichkeit. 100 90 80 70 60 HG 50 BF 40 BL 30 GT 20 10 0 Kind A Kind B Kind C Kind D Abbildung 6. Movement ABC-2 Profile vier fünfjähriger Kinder mit eingeschränkter motori- scher Leistungsfähigkeit (HG=Handgeschicklichkeit, BF=Ballfertigkeiten, BL=Balance, GT=Gesamttetestwert). Die Unterschiedlichkeit dieser Profile macht deutlich, dass es in der Regel nicht ausreichend ist, lediglich einen Gesamtwert als Indikator für die motorische Leistungsfähigkeit zu be- stimmen. Jedes Kind weist ganz individuelle Schwächen, aber auch Stärken auf, die mithilfe eines Testverfahrens wie der Movement ABC-2 aufgedeckt werden können. So können thera-
peutische Maßnahmen individuell auf die Bedürfnisse eines Kindes abgestimmt werden, um eine optimale Förderung zu erreichen. Schlussfolgerungen Die Movement ABC-2 erfüllt alle Anforderungen, die an Entwicklungstests zu stellen sind. Dazu zählen nach Petermann und Macha (2005): • Die Aktualität des Modells, auf dem das Verfahren basiert, • eine umfassende Standardisierung der Durchführung, Auswertung und Interpreta- tion, • Studien zur Zuverlässigkeit und inhaltlichen Gültigkeit des Verfahrens und • aktuelle Normen. Aktuelle Normen sind dabei von besonderer Bedeutung. Während für bestimmte Entwick- lungsbereiche, wie z. B. für die Intelligenz, im Laufe eines Jahrzehnts eine Leistungszunahme dokumentiert wird, ist speziell für den Entwicklungsbereich Motorik aufgrund anderer Le- bensbedingungen und einer Änderung des Freizeitverhaltens ein gegenläufiger Effekt zu ver- muten. Die Anwendung eines Testverfahrens, dessen Normen veraltet sind, läuft Gefahr, eine falsch positive Diagnose zu stellen. Dies bedeutet, dass eventuell Kinder als therapiebedürftig eingestuft werden, die nach heutigem Standpunkt gar nicht auffällig sind (Petermann & Ma- cha, 2005). Die Materialien der Movement ABC-2 sind sehr ansprechend gestaltet; sie motivieren Kinder da eine abwechslungsreiche Testung möglich wird. Die konkrete Demonstration aller Aufga- ben ermöglicht es, das Verfahren problemlos auch bei Kindern mit mangelndem Sprachver- ständnis oder unzureichenden Deutschkenntnissen anzuwenden.
Literatur Bös, K. (2003). Motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Schorndorf: Hoffmann. Cermak, Gubbay & Larkin (2002). What is Developmental Coordination Disorder? In Cermak, S.A. & D. Larkin (Eds.), Developmental Coordination Disorder (pp. 2-22). Albany: Delmar. McHale, K. & Cermak, S.A. (1992). Fine motor activities in elementary school: Preliminary findings and provisional implications for children with fine motor problems. American Journal of Occupational Therapy, 46, 898-903. Opper, E., Worth, A., Wagner, M. & Bös, K. (2007). Motorik-Modul (MoMo) im Rahmen des Kinder und Jugendsurveys (KIGGS). Bundesgesundheitsblatt- Gesundheitsfor- schung-Gesundheitsschutz, 50, 879-888. Petermann, F. (Hrsg.). (2008). Movement Assessment Battery for Children-2 (Movement ABC-2). Frankfurt: Pearson PLC. Petermann, F. & Macha, T. (2005). Entwicklungsdiagnostik. Kindheit und Entwicklung, 14, 131-139. Schott, N. & Roncesvalles, N. (2004). Motorische Ungeschicklichkeit – Diagnose und Thera- pie. Zeitschrift für Sportpsychologie, 11, 147-162. Prof. Dr. Franz Petermann Dipl.-Psych. Julia Kastner Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Straße 2 und 6 28359 Bremen
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