Essen und Trinken, wie und wann ich will - Nahrungsverweigerung und Sondenernährung
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Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck „Essen und Trinken, wie und wann ich will… - Nahrungsverweigerung und Sondenernährung“ Verehrte Damen und Herren, manche unter Ihnen werden denken, nun das Thema ist bekannt und häufig behandelt… Aber ich möchte Ihnen durch meinen Beitrag bewusst machen, dass Bekanntes in vielen Belangen doch nicht so präsent ist wie man denkt, und, dass wir alle durch Diskussion der verschiedenen Aspekte zu neuen Sichtweisen gelangen können. Eine Nebenbemerkung zu Beginn: Wenn ich von Pflegefachkräften spreche sind alle Pflegenden gemeint, denn jeder für sich hat seine notwendige Qualifikation zum Pflgen! Da die Ernährung eine Aktivität des täglichen Lebens darstellt - den Pflegenden hier bestens bekannt durch die verschiedenen Pflegetheorien, und diese Aktivität in Wechselwirkung zu allen anderen Lebensaktivitäten steht, ist sie stets im Auge zu behalten und somit eine Aufgabe des pflegerischen und damit unseren beruflichen Bereichs (Friedemann, 2003). „ Der Mensch ist was er isst“ oder „ Die Augen essen mit“ dies sind Sprichworte die Verknüpfungen und die Wichtigkeit der Ernährung in unserem „normalen und gesunden“ Leben aufzeigen. Doch wie steht es, wenn wir unserem Lebensabend entgegen streben oder in den Ausnahmesituationen unseres Lebens? Ich möchte aus verschiedenen Blinkwinkeln in nachfolgenden Schritten die Gedanken zu Essen und Trinken, Nichtessen und dessen Folgen formulieren: 1. Annäherung an die Begriffe Nahrungsverweigerung und Sondenernährung 2. Ein kleiner juristischer Exkurs zur Thematik im Zusammenhang mit der Patientenverfügung 3. Nahrungsverweigerung - einfach nicht mehr wollen oder können – aus dem Blickwinkel alter Menschen daheim und in stationären Einrichtungen der Altenhilfe 4. Sondenernährung - eine Frage des Gewissens für Betroffene 5. Handlungsperspektiven für Pflegefachkräfte und Pflegemanagement -1-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck 6. Ausblick und Resümee Beginnen möchte ich mit einem Artikel in den Nürnberger Nachrichten, der durch die Deutsche Presseagentur verbreitet wurde. Der Titel ist in der Folie deutlich zu lesen. Die ersten Sätze lauten: „Nur dem Zufall und dem beherzten Eingreifen zweier Juristen hat eine 74-jährige geistig behinderte Frau ihr Leben zu verdanken….“ Bei einem Besuch in dem Heim hatte ein Vormundschaftsrichter festgestellt, dass die Bewohnerin seit Tagen nur noch Medikamente und Wasser erhielt. Daraufhin entzog er dem Bruder die Betreuung und ordnete die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung an. Zu Recht oder Unrecht dieser Handlungen möchte ich keine Stellung nehmen und den Artikel nur als anschauliches Beispiel für die Aktualität meines Themas an den Anfang stellen. -2-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Annäherung an die Begriffe Nahrungsverweigerung, wie ist dieser Begriff zu sehen? Inwieweit man bei einem älteren Patienten oder Bewohner, der kein Essbedürfnis mehr entwickelt, von bewusster Nahrungsverweigerung oder nur von besonders schwerwiegender Appetitlosigkeit sprechen kann, ist sehr fraglich. Die andere Sichtweise ist, dass Patienten, die „nichts mehr essen wollen“, damit signalisieren, in den Tod gehen zu wollen, oder sich deren Körper für das Sterben vorbereitet. Nahrungsverweigerung kann schleichend einhergehen, mit immer geringer werdendem Appetit, Lustlosigkeit beim Essen wird häufig erlebt beim alten Menschen, ein normaler Zustand, oder schon Nahrungsverweigerung? Aktives Abwehren beim Zuhilfegehen während einer Mahlzeit ist hier schon ein deutlicheres Zeichen. Allgemein ist zu bemerken: Wenn ein Mensch mit wachsendem Pflegebedarf, sei es aufgrund des fortschreitenden Alters oder zunehmender Demenz zunächst unmerklich, später aber augenscheinlich an Gewicht verliert und „abmagert“ ist die strikte Grenze zwischen Normalität und Essenverweigerung gezogen. Uns allen sind im Risikoassessment der Gerontologie die Normwerte des BMI und die Mindestgewichtsspannen für die Körpergröße bekannt. Sind unser Schutzbefohlenen in der Nähe der Grenzwerte oder sogar darunter, entsteht für die Pflegenden eine brisante Konfliktsituation, die Emotionen und Gewissenskonflikte mit sich bringen kann. Sondenernährung, was gibt es dazu anzumerken? In 2004 lebten nach Studien ca. 140.000 Menschen mit Trink- und Sondenernährung in Deutschland, 50 % davon in stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Die Zahl hatte in den Jahren vorher stark zugenommen und so ist von einer weiteren Zunahme bis zum heutigen Tag auszugehen (Schwerdt, 2004, S.59). Demographische Entwicklungen und Prognosen zeigen in dieselbe Richtung für die nahe und ferne Zukunft. -3-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Es gibt bekannterweise mehrere Möglichkeiten der Sondenernährung, einmal die obligatorische Magensonde, wenn eine selbständige Nahrungsaufnahme in naher Zukunft wieder absehbar ist oder die Percutane Endoskopische Gastrostomie, besser bekannt als PEG, ein endoskopisch angelegter direkter Zugang zum Magen, der die Bauchwand durchdringt und bei Patienten eine langfristige künstliche Ernährung ermöglicht. Eine parenterale Ernährung unter Umgehen des Magen- Darm-Traktes, dies ist zentral- oder periphervenös durch Hickman-/Portkatheter oder andere Zugangsweisen möglich, wird aber nur selten in der Altenhilfe, sondern eher in der Intensivmedizin angewandt. Die Ernährung über eine PEG oder andere Sonde ist ein ärztlicher Eingriff in die Körperintegrität des Menschen. Über das rechtliche Procedere brauche ich nicht weiter referieren, es ist allen bestens bekannt. -4-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Ein kleiner juristischer Exkurs Direkte Nahrungsverweigerung, wenn also ein Mensch dies willentlich äußert - in bestimmten Fällen nicht mehr ernährt werden zu wollen - bedarf der juristischen Klärung, einer Patientenverfügung. Die Patientenverfügung weist den Arzt und das medizinische Personal an, bestimmte medizinische Maßnahmen nach dessen persönlichen Vorstellungen vorzunehmen oder zu unterlassen. Vorausgesetzt er verfasste dies als Schriftstück im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, ohne Anzeichen von äußerem Zwang oder hat es anderweitig zuverlässig dokumentiert. Dies bedeutet, dass dem Willen stattgegeben werden muss, sowohl von medizinischer Seite, als auch von Seitens einer Einrichtung der Pflege. Was aber, wenn diese Einstellung und der Wunsch des Bewohners nicht mit dem Leitbild der Einrichtung in Einklang zu bringen ist – vielleicht nicht deckungsgleich mit der Meinung und dem Willen der Angehörigen ist? Welch ein Konfliktpotential!! In der medizinischen, juristischen und ethischen Literatur wird über das Vorenthalten fester Nahrung, die Entfernung der Sonden zur Ernährung seit den 1980er Jahren heftigst diskutiert. Während die eine Seite solche Maßnahmen mit der Beendigung medizinischer Behandlung gleichsetzt, lehnt die andere Seite eine nicht stattfindende künstliche Ernährung oder das Einstellen, als Verhungern- und Verdurstenlassen des Patienten/ Bewohners definitiv ab! Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer von 1998 muss die Situation genau bedacht und dem Willen mehr Gewicht beigemessen werden. Hierzu zwei aktuelle Beispiele: Prof. Dr. Merkel, Rechtswissenschaftler an der Uni Hamburg stellt aktuell dar, dass ein, im Zustand der Einwilligungsfähigkeit getätigter Beschluss gegen eine Zwangsernährung per Sonde bei späterer Erkrankung - bspw. Demenz mit dem Verlust den eigenen Willen zu äußern – es nicht zulässt dann eine Sondenernährung einzuleiten. Nach einem Bericht des Switch-X-Medicine-Journals wird zurzeit von Seitens der Staatsanwaltschaft Berlin gegen Ärzte ermittelt die, anscheinend auch im Zusammenhang mit Sondenernährung gegen einmal getroffene Patientenverfügungen handelten. -5-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Sie sehen, Regelungen gibt es, allein die verschiedenen Interpretationen machen oft den Unterschied aus!!! Hier eine konkrete Äußerung eines Rechtswissenschaftlers, dort ein Zuwiderhandeln in der Praxis aus bestimmt nicht unbedachten Gründen. Aktuell haben unsere Bundesjustizministerin Zypries, der Ärztekammerpräsident Hoppe und der stellvertretende Vorsitzende des nationalen Ethikrates Prof. Dr. Schockenhoff sich für neue und genauere Festlegungen zu diesem Themengebiet vor dem Juristentag 2006 ausgesprochen. -6-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Nahrungsverweigerung - einfach nicht mehr können oder wollen? Gründe für eine Essensverweigerung zu finden, scheinen mannigfaltig zu sein. Ich beginne mit dem scheinbar einfachsten Punkten, den körperlichen Ursachen, wie nicht passende Zahnprothesen, Schleimhautentzündungen und Schluckstörungen. Onkologische Erkrankungen, neurologische Ausfälle, sie werden als Praktiker neben Übelkeit/Erbrechen und Schmerzen meine Liste schnell vervollständigen können. Seelische Ursachen sind häufige und vielschichtige Gründe der Enthaltsamkeit vom Essen. Wir alle kennen den Begriff dass sich der Magen vor Sorgen verschließt! Niemand kann unter Sorgen und Stress seine Mahlzeit genießen. Lassen Sie die Gedanken schweifen, welche Gründe neben Demenz, Depression und Heimweh, der anderen, ungewohnten Umgebung im Heim, noch zutreffend sein können für eine Nahrungsverweigerung. Sie werden noch viele Ursachen in ganz kurzer Zeit finden. Oft wissen Sie als Fachkräfte in Altenhilfeeinrichtungen von diesen Gründen. Nur Umstände wie Zeitnot, Zeitdruck, Fragestellungen zu Kosten und deren Auswirkungen auf unser Arbeitsumfeld lassen uns dieses Wissen vergessen und verdrängen. Und so greift so manches Mal die Pflege, hier verallgemeinere ich bewusst, zu einer schnellen und scheinbar guten Lösung diese Problematik zu beheben. Eine Sondenernährung als liegt am nahe. Nun komme ich zu einem weiteren nahe liegenden Grund nichts essen zu wollen: dem Zeitpunkt des Essens. Auch heute noch sind Essenszeiten in Einrichtungen zu finden, die nicht in Geringsten mit den uns, und auch den alten Menschen vertrauten Essenszeiten zu tun haben. Die Entwicklung geht zwar in die richtige Richtung aber es bedarf noch ein gutes Stück Arbeit. Wer kann dann da behaupten, essen und trinken zu können wann und wie er möchte, wenn nirgendwo Kleinigkeiten für Zwischendurch bereitstehen? Bei Demenzkranken führen häufig Fehlinterpretationen, Missverständnisse und Aufmerksamkeitsdefizite von Pflegeseite zu Abwehrreaktionen in ihrem Verhalten, die Kollegen mit geronto-psychiatrischer Fachweiterbildung werden dies bestätigen können. Wie vielen hier im Raum mag wohl bekannt sein, dass Menschen mit Demenz und psycho-gerontologischen Erkrankungen Nahrung mit süßem Geschmack bevorzugen? Und selbst wenn es vielen bekannt ist, dann denke ich einfach mal an das Aussehen, Geruch und manchmal den Einheitsgeschmack der Süßspeisen aus -7-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck den Einrichtungsküchen. Ist da ein Verweigern nicht oft eine Entscheidung die zu verstehen ist? Medikamente verändern oft den Geschmackssinn oder, was auch sehr selten von den Pflegekräften bedacht und akzeptiert wird, ist, dass ältere Menschen eine große Bandbreite an Geschmacksvariabilität besitzen. Das heißt dem Einen ist es zu leicht gewürzt, einem anderen ist dasselbe Essen schon zu salzig und ungenießbar. Bisher lag mein Fokus mehr auf den Bewohnern in Einrichtungen der Altenhilfe und deren Ernährungsproblematik. Nun möchte ich noch kurz auf die Situation Älterer in ihrer häuslichen Umgebung eingehen. Dort sind ganz andere Bedingungen vorzufinden. Das Ideal der pflegenden Angehörigen die genügend Zeit haben, ist wahrscheinlich nur noch selten zu finden. Eher realistisch scheint zu sein, sich die Pflege mit einem Ambulanten Dienst und dem „Essen auf Rädern“ zu teilen. Dieser Dienst unterstützt nach besten Gewissen und Wissen seine zu Versorgenden aber er ist nicht immer anwesend und es entzieht sich somit seiner Kontrolle wie viel, was und wie häufig gegessen wird. Von Seiten der ärztlichen Versorgung ist anzumerken, dass oft ein regelmäßiger Besuchsturnus aufgrund der Überlastung der Hausärzte nicht gewährleistet werden kann und bei alleine Lebenden somit eine schleichende Gewichtsabnahme erst später entdeckt werden wird. Ein weiterer Grund warum Sondenernährung in der ambulanten Versorgung nicht so häufig vorzufinden ist, liegt daran, dass Angehörige in Fällen dann die Versorgung meist in die Hände einer stationären Einrichtung legen, wenn es durch Verschlechtern des Ernährungszustandes für sie unausweichlich erscheint. -8-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Sondenernährung- als eine Frage des Gewissens Auch wenn eine PEG häufig die einzige Möglichkeit darstellt, die Ernährung eines Menschen langfristig sicherzustellen, ist Folgendes zu bedenken: Eine PEG allein garantiert nicht immer eine befriedigende Ernährungssituation. Es gibt genügend Studien, die eine Mangelernährung trotz Sondennahrung nachweisen. Auch sollen vor Anlage einer PEG alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, natürlich zu essen oder zu trinken. Denn Essen und Trinken sind wichtige soziale Akte und vermitteln entscheidende Lebensqualität. Dies dürfen wir nicht verdrängen und vergessen. Denn sie üben die orale Aufnahme von Nahrung und gewähren die Zuwendung von Pflegenden. Nach den grundlegenden Prinzipien der Medizinalethik ist es auch nicht gerechtfertigt, eine Sonde einem Patienten zu legen, nur um z.B. die zeitraubende Essensprozedur bei bspw. Demenzkranken - und damit höhere Personalkosten - einzusparen. Trotzdem scheint dies zumindest in der deutschen Pflegepraxis manchmal an der Tagesordnung zu sein. „Essen nach Zeittakt“, vorgegeben von den Pflegekassen und durch interne Einrichtungsabläufe, verhindern Eigeninitiative der Fachkräfte und Bewohner. Zentrale Essensversorgung macht es den Kollegen in den Einrichtungen unmöglich den Bewohnern das Essen „schmackhaft“ zu machen. Es ist mein Anliegen dies deutlich darzustellen!! Und zusätzlich wird von Krankenhäusern und manchmal auch von den Hausärzten sehr schnell die emotionale Seite des Ernährungszustandes zur Meinungsbildung herangezogen: Man appelliert an das Gewissen der Betreuenden, diese Menschen doch nicht einfach verhungern lassen zu können!!! Bewohner mit allgemein schlechterem Ernährungszustand rücken die Betreuenden sehr schnell in die Richtung eines Vorwurfs der Vernachlässigung. Das Legen einer PEG-Sonde bei Sterbenden stellt eine lebensverlängernde Maßnahme dar. Liegt eine Patientenverfügung vor, dürfen nach einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom April 2003 sowieso keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden, also auch keine Ernährungssonden gelegt werden. Hier stellt sich die Frage des Gewissens nicht mehr. Meine eigene positive Einstellung zum Tod und Sterben liegt in meinem christlichen Glauben. Er nimmt mir die Angst und lässt mich auf etwas Besseres nachher hoffen. Ich weiß den Tod zu schätzen, empfinde ihn als nicht so schlimm und mein Glaube -9-
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck gibt mir die Sicherheit auf etwas Gutes das nachkommt. Dies lässt es mir leicht fallen Regelungen in diesem Zusammenhang festzusetzen. Zum Stichwort Autonomie und Selbstgesetzlichkeit des Menschen ist noch zu erklären: Es sollte uns Menschen klar werden, dass wenn ein Mensch in seiner ihm eigenen Autonomie beschlossen hat nicht mehr zu essen und dies im Vollbesitz seiner geistigen Kraft bedacht hat, was dadurch auf ihm möglicherweise zukommt, sollte kein Angehöriger und keine Pflegefachkraft einen Vorwurf der Minderversorgung oder des Vernachlässigens zu hören bekommen, wenn er dessen Wunsch nachkommt! - 10 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Handlungsperspektiven für Pflegefachkräfte und Pflegemanagement A) Perspektiven für Pflegefachkräfte Die Diskussion der Ernährungsproblematik des Bewohners nicht zur Schuldproblematik der Betreuenden machen. Dies bedeutet: Nutzen Sie alle Möglichkeiten aus die Sie haben, um dem gefährdeten Betreuten Energie zuzuführen. Benutzen Sie Essens- und Trinkprotokolle. Setzen Sie Supplemente und Zusatznahrung gezielt ein, überzeugen Sie wenn notwendig den Arzt für einen weiteren versuch bevor er eine Sonde in Betracht zieht. Jeder Versuch einer Hilfestellung, jeder Lösungsansatz muss dokumentiert sein und werden. Man muss in ständiger Kommunikation miteinander stehen. Hier gilt „Klarheit vor Freundlichkeit“: Stellen Sie die Meinung und den Willen des Betreuten in den Vordergrund und argumentieren Sie gegen emotionale Äußerungen Andersdenkender im ärztlichen und klinischen Bereich im Sinne des Willens der Bewohner. Sprechen Sie schon bei Einzug das Thema Patientenverfügung und Vorsorge- vollmacht bei den Beteiligten an, oder erinnern Sie die Leitung der Einrichtung an die Wichtigkeit einer solchen Regelung. Die Pflege muss bedenken: Wo benötigt der Mensch Hilfe? Wo hat er eigene Ressourcen, die unterstützt werden müssen, auch wenn sie zeitaufwändiger sind? Eine gute, an dem Wohle des Bewohners ausgerichtete Zusammenarbeit aller Disziplinen ist anzustreben. Das bedeutet individuelle Problemlösungsversuche anstatt Pauschalprogrammen, Kommunikation anstatt sturem Abarbeiten und ein Orientieren an Bewohnern anstatt an den Abläufen der Einrichtung. Versuchen Sie durch Gespräche mit Ihren Vorgesetzten auf Ernährungs- problematiken hinzuweisen. Sprechen Sie diese auf die Möglichkeit regelmäßiger Fallbesprechungen hin an. Es sollte im Zusammenhang mit Nahrungsverweigerung und Gewichtsabnahmen evtl. ein so genanntes ethisches Konsil einberufen werden. Dieser wohlklingende Begriff bedeutet einfach eine Beratung unter kollegialen Bedingungen. Alle Beteiligte, das können Angehörige, Betreuer, evtl. Seelsorger, Einrichtungsmitar- beiter und Bezugspflegekraft, ambulant betreuender Hausarzt, sie sitzen zusammen - 11 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck und tragen ihre Gedanken, Bedenken zu einer Entscheidung bei. Ein Protokoll hält die getroffene Entscheidung fest. Eine Nebenbemerkung aus der Praxis sei erlaubt: Nach solchen ethischen Beratungen fing so mancher Nahrungsverweigerer wieder an zu essen, da Beziehungsaspekte zu wirken beginnen, die vorher evtl. nicht ausreichend bedacht wurden. Ich habe Ihnen einige Möglichkeiten aufgezeigt, aber ich kann Ihnen nicht sagen was zu tun ist. Mein Rat ist: Lassen Sie Ihr Bauchgefühl sprechen, dann sprechen und beraten Sie sich mit Kollegen, Angehörigen und dem direkten Umfeld. Entscheiden kann man nicht alleine, sondern immer im Kreise aller Beteiligten unter Berücksichtigen der rechtlichen Aspekte. - 12 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck B) Perspektiven für den Bereich des Pflegemanagements Die Pflege und Begleitung Älterer und oft demenziell veränderter Menschen bedarf ein, in der Einrichtung abgestimmtes werteorientiertes Konzept der Versorgung ohne natürlich betriebswirtschaftliche Aspekte zu vernachlässigen. Es müssen alle Bereiche eingebunden werden um die Qualität der Arbeit in den Einrichtungen und die Lebensqualität der Bewohner sicherzustellen und zu erhöhen. Es ist die Aufgabe des Managements dafür zu sorgen! Dies kann im Detail sein: Entwickeln einer Prozessbeschreibung zum Ernährungsmanagement, mit Ermitteln des Ernährungsstatus, individueller Bedürfnisse, Wünsche und Ressourcen, einer individuellen Planung des Hilfebedarfs, der Dokumentation, einer Verlaufsbe- obachtung unter Rücksichtnahme auf eine evtl. vorhandene Patientenverfügung. Es müssen im Weiteren Assessmentverfahren entwickelt werden, die ein professionelles Umgehen mit Ernährung und Nahrungsverweigerung ermöglichen. Statistisch gesehen sind mehr als ein Viertel bis zu einem Drittel der Bewohner in Altenhilfeeinrichtungen von Schluckstörungen betroffen, aber Erfahrungswerte zeigen dass nur ca. 5% als solche erkannt werden. Also schulen Sie diesbezüglich Ihre Mitarbeitenden oder bilden Sie Qualitätszirkel und entwickeln Wissen zu diesem Thema! Systematisches Vorgehen mit feststellen des Ist-Zustandes und nutzen Sie die Checklisten der MDK-Qualitätsprüfungen als Hilfestellung. Schon zwei regelmäßig durchgeführte Tagesschulungen im Jahr zeigen Erfolg. Im Rahmen des Qualitätsmanagements überprüfen Sie regelmäßig alle Prozesse des Ernährungs- und Verpflegungsmanagements. So ist der Erhalt oder sogar eine Verbesserung erreichbar. Ablaufstrukturen müssen in den Einrichtungen so gestaltet werden, dass den Menschen die Zuwendung und Zeit zuteil wird, die sie benötigen, damit das Essen auch zum Genuss werden kann und nicht zum reinen Versorgungsakt degradiert wird. Lassen Sie prüfen welche Möglichkeiten es in Ihrer Einrichtung gibt jederzeit verfügbare Speisenangebote vorhalten zu können. Und am Ende erwähnt werden muss auch die Personalproblematik. Es sollten genügend Personal zur Essenszeit im Dienst sein oder Spannen der Essenseingabe ausgedehnt werden. Schnittstellen in Einrichtungen, die nur schwer zu koordinieren sind müssen zu Nahtstellen werden die Ineinandergreifen und zusammen- anstatt gegeneinander - 13 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck arbeiten. Nutzen Sie die Gesprächsrunden mit den HW Kräften zu regelmäßigen Analysen. Sorgen Sie für eine umfassende Dokumentation!! Dies gilt ganz strikt auch bei den Pflegekräften selbst!! Nur eine gute, konsequente Dokumentation der bereits durchgeführten und erprobten Maßnahmen sichert und unterstützt die Angestrebten und belegen dass keine Unterlassung vorliegt!! Sorgen Sie als Leitung für ausreichende Information der Bewohner und Angehörigen, ermöglichen Sie Infoabende und fordern Regelungen zu dieser Thematik von Seitens der möglichen Betroffenen ein!! Informieren Sie die Angehörigen über die rechtlichen Möglichkeiten in den verschiedenen Fällen und argumentieren Sie fachlich anstatt emotional! Ein professionelles eigenes, auf den Bedarf der Einrichtung zugeschnittenes Konzept und eine konsequente Dokumentation sorgen für Schutz und Sicherheit in diesem Zusammenhang auf allen Seiten. Und: Kritik gibt uns allen die Möglichkeit uns zu verbessern, also sehen Sie Anregungen von verschiedenen Seiten als Chance zur Verbesserung und nicht als Kritik an Ihrer Arbeit!! - 14 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Resümee und Ausblick Nach meinen Erfahrungen mit alten Menschen und mit alten dementen Menschen zum Thema Ernährung und Nahrungsverweigerung ergibt sich folgendes Resümee: Nahrungsverweigerung und dadurch bedingtes Lebensende stellt sich für mich nicht als Verhungern lassen dar. Es ist vielmehr ein vom Körper gesteuertes und kontrolliertes Sterben. Ein kurzer Ausflug in die Zeit meiner Urgroßeltern lässt diese, meine Einstellung erklären. Meine Großmutter und nicht nur sie, sondern viele andere Ältere erzählen mir häufig, dass „man“ früher häufiger erlebte dass alte Menschen einfach aufhörten zu essen und dann irgendwann verstarben. Die Familie akzeptierte dies und das Sterben wurde von den Außenstehenden als friedlich, zufrieden stellend und würdig beschrieben. Im krassen Gegensatz dazu sehe das Bild des dementen alten Menschen mit Sondenernährung längere Zeit hinweg. Eine theologische Gewissensentlastung möchte ich hier auch noch einfließen lassen. In einem Gespräch mit einem Theologen bekräftigte dieser, dass es nicht dem Willen Gottes entgegenstrebe wenn ein Mensch sich so entscheidet. Vielmehr ist es bedenklich wenn sich eine paternalistische Haltung durchsetzt und eine Therapie um jeden Preis gestartet und durchgezogen wird. Durch Studien(Deutsches Institut für Ernährung und Diätetik, DIET 2000/2001) ist bewiesen, dass im Endstadium der demenziellen Erkrankung, Sondenernährung keinen wirklich lebensverlängerten Effekt hat. So ist das Vorenthalten der künstlichen Ernährung auch keine Handlung die nur in die Nähe von Sterbehilfe gebracht werden darf!! Das Wohlbefinden und die Lebensqualität älterer und häufig kranker Menschen sind nur so gut, wie sie ihm von Versorgenden und betreuenden Kräften zugestanden werden. Autonomie und Selbstbestimmung in der Ernährung reduziert sich auf den Punkt wie selbständig man in diesem Zusammenhang ist! Zentraler Punkt und von hoher Bedeutung ist, dass in einer Entscheidungsfindung pro oder contra einer Sondenernährung nicht nur der mutmaßliche Wille des Betroffenen, sondern auch rechtliche Klarheit, alle Bedenken der Eingebundenen gehört, bedacht und dann in die Entscheidung einfließen müssen. Eine Entscheidung über Sinn und Unsinn einer Sondenernährung kann meiner Meinung nach immer nur individuell, Personen- bzw. Situationsbezogen getroffen werden. Sie ist nie einfach und bedarf vieler Überlegungen und gezielter Kommuni- - 15 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck kation der verschiedenen, den Menschen betreuenden Kräfte und dessen direktem Umfeld. Die Pflege und hier ist sowohl das Management als auch die Träger der Einrichtungen gemeint, ist gefordert beim MDK und bei den politisch Verantwortlichen( Frau Stewens) die Kriterien einer Einstufung so einzufordern dass dem erhöhtem Zeit- und Hilfebedarf bspw. Dementer Rechnung getragen werden kann. Schließen möchte ich mit folgenden Statements: Recht auf Leben bedeutet nicht die Pflicht zum Erhalt des Lebens um jeden Preis! Gegen Ende des Lebens sollte nicht eine maximale Therapie, sondern eine maximale Pflege und Versorgung im Focus aller stehen! Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag Ihnen sehr geehrte Teilnehmende zum einen Anregungen zum Nachdenken, und zum anderen Perspektiven in Ihrem pflegerischen Handeln oder in Ihrem Alltagsleben in der Leitungsebene aufzeigen konnte. - 16 -
Fachtagung Ethik in der Pflege Tamara Gehring- Vorbeck Bibliographie DIET(2000/2001): Deutsches Institut für Ernährung und Diätetik, www.diet-aachen.de Friedemann Marie-Luise(2003): Familien- und umweltbezogene Pflege - Die Theorie des systemischen Gleichgewichts, 2. Auflage, Bern, Göttingen, Toronto Schwerdt, Ruth Hrsg. (2004): Probleme der Ernährung demenziell veränderter älterer Menschen, Frankfurt - 17 -
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