EUROPÄISCHE RAUMENTWICKLUNG NACH COVID-19 - Herausforderungen und Visionen
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03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 9 Klaus R. Kunzmann EUROPÄISCHE R AUMENTWICKLUNG NACH COVID -19 Herausforderungen und Visionen Covid-19 hält die Welt in Atem. Die Pandemie zwingt die oder drei Jahre nach der Pandemie wieder zu alter Routine Gesellschaft, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. zurückkehren wird – so wie dies seinerzeit nach der Spani- Planer/innen haben mehr Zeit zum Lesen und zum Schrei- schen Grippe in den Jahren 1918/1919 geschah (Barry ben. Die Pandemie muss für alles herhalten, was in der 2005). Politische Realität ist auch – und dies hat die Pande- kommenden Dekade nicht verwirklicht werden kann. Viele mie noch einmal ausdrücklich bestätigt –, dass in den letz- Länder haben ihre Grenzen gesperrt. Herausforderungen ten Jahren nationaler Egoismus nicht nur in den USA, der werden neu bewertet und neue Visionen entwickelt. Eine Volksrepublik China oder in der Türkei, sondern auch in Eu- große Welle von Büchern zu Covid-19 wird in den kommen- ropa zugenommen hat. Getrieben von populistischen den Jahren den populären und akademischen Büchermarkt Gruppierungen, die sich zurückgelassen fühlen und Angst überschwemmen, doch bald werden sie kein Interesse haben, ihren Arbeitsplatz an Migrantinnen und Migranten mehr finden. Die Pandemie muss nicht der Tod von Utopi- zu verlieren oder im Alter ihren Wohlstand einzubüßen, ha- en in Europa sein, wie es Ulrike Guérot prophezeit hat ben nationale Regierungen und ihre technokratischen Be- (Guérot 2020: 291). Aber Covid-19 wird keine neue Be- rater/innen vor allem die Heimatperspektive im Blick. Der geisterung für eine wirksame europäische Raumentwick- europäische Traum war ein erfolgreiches Friedensprojekt. lungspolitik auslösen. Auch nicht die Territoriale Agenda Da nun der Frieden nicht mehr die Sorge der jungen Mille- 2030 „Eine Zukunft für Alle“ , die im Dezember 2020 anläss- nials ist, wird es immer schwieriger, Europa als Traum zu lich des Informellen Treffens der Ministerinnen und Minis- kommunizieren. Weder der amerikanische noch der chine- ter für Raumordnung, Raumentwicklung und/oder territo- sische Traum sind geeignete Modelle für Europa. In diesem rialen Zusammenhalt verabschiedet wurde. Spannungsfeld steht das Projekt Europa vor immensen Zer- Nach der Pandemie – wann sie zu Ende ist, lässt sich reißproben, die auch durch noch so großzügige Finanzzu- im Winter 2020/2021 noch nicht absehen – werden wirt- sagen aus Brüssel nur mühsam bestanden werden können. schaftliche Prioritäten politisches Handeln in Europa be- Zielkataloge zur ausgewogenen Raumentwicklung in stimmen. Es gilt Arbeitsplätze zu sichern. Ob die Zeit nach Europa in wohlformulierte Worte zu fassen, wie es die Ter- der Pandemie (und nach dem BREXIT) Europa näher zu- ritoriale Agenda tut, sind ein Mittel, um von den öko- sammenbringen wird oder eher noch mehr fragmentiert, nomischen Herausforderungen, die in Europa die Raum- ist noch nicht abzusehen. Es sind vor allem wirtschaftliche entwicklung bestimmen, etwas abzulenken, aber sie kön- und politische Realitäten, die Hoffnungen zunichtemachen, nen diese Spannungen nicht negieren. Covid-19 hat nicht dass die Ziele, die in der Territorialen Agenda 2030 genannt die Hoffnungen auf Europa zerstört, aber es hat die Ver- werden, erreicht werden können. wirklichung des europäischen Traums und eine einheitliche Wirtschaftliche Realität ist, dass die neoliberale und effiziente Reaktion auf den Klimawandel auf die lange Marktwirtschaft unter dem Einfluss eines mächtigen, von Bank geschoben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden der Politik kaum kontrollierbaren Finanzsystems auch in bald wieder alte Denkgewohnheiten zurückkommen. Än- den kommenden Jahrzehnten bestimmen wird, wo in Euro- dern wird sich absehbar nur wenig, doch zeichnet sich be- pa Arbeitsplätze sicher sind und wo und in welchen Regio- reits ab, dass die Fernreisefreudigkeit durch Heimatliebe nen der Welt sie neu entstehen, damit Produkte und ersetzt wird und dass die smarte Digitalisierung der Gesell- Dienstleistungen in Europa billiger angeboten und konsu- schaft gewaltigen Rückenwind erhalten wird. miert werden können (Collier 2008; Tooze 2018). Für die zukünftige Raumentwicklung in Europa gibt es Politische Realität ist, dass die Europäische Union im im Grunde nur zwei Perspektiven: Die EU wird ihre liberale Kontext der politischen Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaftspolitik fortsetzen und sich bemühen, ihre sozi- den USA und China, zwei Weltmächten mit unterschiedli- alen Anliegen dabei nicht zu vernachlässigen. Sie wird ihre chen politischen Systemen und gesellschaftlichen Werten, Umweltziele durchsetzen und ihre Grenzen sichern. Oder: einen Weg finden muss, wie sie die Herausforderungen der Die EU verständigt sich mit ihren Mitgliedsländern darauf, Pandemie bewältigen kann und will, und ob sie nicht zwei sich als europäisches Laboratorium für nachhaltiges Wirt-
10 THEMA 03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L schaften über kleinräumige regionale Wirtschaftskreisläufe Hochschulen begünstigen. Duale Studiengänge wer- und Nahrungsmittelketten von globalen Konsumgüterströ- den in der Folge des Siegeszuges von Online-Studien- men und Versorgungsketten unabhängig zu machen. Die gängen an Bedeutung gewinnen. Akteure der Realpolitik werden versuchen, zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln. 4. Dominanz ökonomischer Ziele gegenüber ökologischen Erfordernissen Was wird nach Covid-19 anders sein? Trotz politischer Willensbekundungen wird die Siche- Die Trends, die schon vor Covid-19 politisches Handeln, Art rung von Arbeitsplätzen in der Folge von Covid-19 po- und Richtung der Raumentwicklung bestimmt haben, wer- litische Priorität haben. Der Green Deal, den die EU den auch in Zukunft bestimmend sein. Die Pandemie wird 2019 mit großer Empathie verkündet hat, wird die Entwicklungsprozesse lediglich beschleunigen. Dazu zäh- grüne Wirtschaft stärken (COM 2019). Die Produkti- len: on erneuerbarer Energien, neue Mobilitätskonzepte und ökologisch sinnvolle landwirtschaftliche Produkti- 1. Die Verlangsamung der Globalisierung on werden verstärkt vom öffentlichen Sektor subventi- Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sich die Globalisie- oniert und von umweltbewussten Unternehmen und rung nach der Pandemie zur Slowbalisierung verlang- Stiftungen verwirklicht werden. Die smarte digitale samen wird. Manche der weltweiten Lieferketten ver- Kontrolle von Luftverschmutzung, Energie- und Was- schwinden, aber nur dort, wo Konsumierende bereit serverbrauch wird mit ökologischen Argumenten be- und auch in der Lage sind, mehr für das zu zahlen, was gründet werden. Der mit Covid-19 verbundene Rück- sie gerne konsumieren. Apple wird auch nach der Krise gang des internationalen Flugverkehrs wird sich positiv auf die Zulieferung aus China und chinesische Käufer/ auf die Umwelt auswirken. innen seiner iPhones angewiesen sein. Dafür werden die sorgen, die von der Globalisierung profitieren: die 5. Zukunftsorientierte Wirtschaftsentwicklung Unternehmen der Logistikbranche, die Luftfahrt, die nur in wenigen Wissensregionen Touristik, die Gesundheitswirtschaft, aber auch Mo- Unabhängig von Covid-19 werden sich europäische de-, Blumen- und Nahrungsmittelunternehmen. Sie Stadt- und Metropolregionen weiter ins Hinterland werden trotz innovativer Agrarindustrien im Land ihre ausdehnen. Diese Stadtregionen werden polyzentrisch Produkte weiterhin aus der ganzen Welt beziehen. sein und von einer räumlich-funktionalen Aufgabentei- lung zwischen Kernstadt sowie Klein- und Mittelstäd- 2. Die Wiederentdeckung der Heimat ten profitieren. Da innovative Wissensentwicklung als Die Migrationswellen aus Syrien, Afghanistan und Afri- Schlüssel für regionale Wettbewerbsfähigkeit gilt, wer- ka haben im Jahr 2015 viele Menschen in Europa auf- den Forschung und Entwicklung in diesen Stadtregio- geschreckt. Sie hatten Angst vor Konkurrenz auf dem nen gebündelt, vorzugsweise im Umfeld von Prestige- Arbeitsmarkt und Angst um ihre religiösen und kultu- Universitäten, Wissenschaftsparks und weltweit täti- rellen Werte, obwohl diese schon lange vor der Migra- gen Industrieunternehmen. Der Wohlstand der oberen tionswelle an Bedeutung verloren hatten. In der Folge Mittelschicht, die in diesen Stadtregionen lebt, wird von Covid-19 wurden zeitweise neue mentale und weiterwachsen und die Zweitwohnungswirtschaft im physische Mauern errichtet, um die Heimat vor einge- ländlichen Hinterland stärken. schleppten Viren zu schützen. Mit dem Aufstieg des Populismus hat sich auch das etablierte Parteiensys- 6. Intelligente Mobilitätssysteme tem geändert. Traditionelle Parteien haben mit dem Die künftige Infrastrukturentwicklung in Europa wird Wandel westlicher Industriegesellschaften in Dienst- sich vor allem auf die Vernetzung dieser Stadtregionen leistungsgesellschaften an Zustimmung verloren. durch schnelle Datenautobahnen, intelligente Schnell- straßen, Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr und 3. Die Beschleunigung der Digitalisierung effiziente internationale Flughäfen konzentrieren. Zur der Gesellschaft Kompensation werden in den Innenstädten Radwege Covid-19 hat die Digitalisierung in allen Lebensberei- und autofreie Zonen gefördert. Je nach Druck der Zi- chen und Arbeitsfeldern (e-shopping, online-educa- vilgesellschaft wird die regionale Verkehrsinfrastruktur tion, e-medicine, e-logistics) enorm beschleunigt in wirtschaftlich starken Stadtregionen schrittweise (Kunzmann 2020a). Die Digitalisierung von Arbeits- durch erhöhte Investitionen in den öffentlichen Ver- und Lebenswelten wird nach der Krise weiter zuneh- kehr und in intelligente Mobilitätssysteme ausgebaut men. Menschen in Stadt und Land werden digitale werden. Dienstleistungen von der Wiege bis zur Bahre nutzen. Öffentliche Verwaltungen werden immer mehr Dienst- 7. Mehr Wohnen in der Stadt? leistungen und Partizipation nur noch online anbieten. Die Meinungen über die Folgen der Corona-Krise für Die Hochschulen, die während des Lockdowns auf On- den Wohnungsmarkt in den Städten gehen noch aus- line-Learning umstellen mussten, werden den Digitali- einander. Die einen erwarten, dass das Arbeiten im sierungsschub nutzen, um Routinelehre zu digitalisie- Home-office eine Renaissance der Suburbanisierung ren. Dies wird die weitere Kommerzialisierung der ermöglicht, da die hohen Wohnkosten in den Innen-
03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 11 städten so umgangen werden können. Andere erwar- onaler Nahrungsmittelproduktion geführt, die sich ten fallende Wohnungspreise, weil viele Büro- und auch in den Angeboten von Supermärkten niederge- Handelsflächen in den Innenstädten in Wohnungen schlagen hat. Nach Covid-19 wird sich dieser Trend umgewandelt werden. Sicher ist nur, dass Innenstädte weiter fortsetzen. Die Nachfrage wird steigen, weil als Wohnquartiere an Bedeutung gewinnen werden, gesunde Ernährung nach der Krise noch mehr Bedeu- auch wenn nicht alle Bewohner/innen davon profitie- tung erfahren wird. Immer mehr Betriebe in Stadtregi- ren. onen werden auf biologische Landwirtschaft umstellen. 8. Die kommerzielle und kulturelle Musealisierung der Innenstädte 12. Rückgang der Bevölkerung in ländlichen Regionen In der Folge der Pandemie und des unaufhaltsamen Unabhängig von Covid-19 werden ländliche Regionen Vormarsches von Onlineshopping werden in den In- in Europa, die nicht vom Fremdenverkehr profitieren, nenstädten von Klein-, Mittel- und Großstädten Euro- weiterhin an Bevölkerung verlieren. Die Landwirt- pas nur die Geschäfte am Leben bleiben, die sich schaft, unterstützt durch Digitalisierung und saisonale kreativ um multifunktionale Angebote bemühen. Nur Erntehelfer/innen, wird mehr und mehr von großindu- Städte, die es im Rahmen ihrer Boden- und Baupolitik strieller Landwirtschaft oder von spezialisierten Pro- schaffen, Wohnungen, urbane Produktion sowie auf duktionen (z. B. Wein, Obst, Gemüse) dominiert wer- Bauunterhaltung ausgerichtete handwerkliche Unter- den. Soziale Dienstleistungen für die verbleibende nehmen in den Innenstädten zu halten, und öffent- Bevölkerung (z. B. Bildung oder Gesundheit) werden lich-urbane Plätze und Gärten bereithalten, können digitalisiert und vom (regionalen, nationalen und eu- hoffen, dass die Innenstädte lebendig bleiben. ropäischen) öffentlichen Sektor stark subventioniert werden. Wenige stadtmüde Raumpioniere werden 9. Digitale Kultur und Unterhaltung dort neue Lebens- und Arbeitsformen erproben. Flä- Zu den größten Verlierern der Corona-Krise 2020 ge- chen, die sich nicht für die landwirtschaftliche Produk- hört die Kultur. Zusammen mit der Unterhaltungsin- tion eignen, werden nach und nach aufgeforstet oder dustrie sowie den davon abhängigen nicht digitalisier- der Natur zurückgegeben. ten Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft haben die breite kulturelle Landschaft in Europa – und Die Herausforderungen, vor denen Städte und Regio- mit ihr Teile der kreativen Klasse – am meisten unter nen in Europa im Jahre 2030 stehen, werden sich mit gro- dem zeitweiligen Lockdown und danach gelitten. Ent- ßer Wahrscheinlichkeit nicht wesentlich von den aktuellen wicklungen, die schon vor der Krise absehbar waren, Herausforderungen unterscheiden, es sei denn es ereignen wurden in der Krise sichtbar. Nach Covid-19 werden sich größere und unvorhersehbare weltpolitische Konflik- die Städte ihre Kulturausgaben kürzen müssen und te. Diese Herausforderungen müssen Akteure auf allen Pla- noch mehr Kulturangebote dem freien Markt überlas- nungs- und Entscheidungsebenen in Betracht ziehen, wenn sen. Sie können auch darauf hoffen, dass die wohlha- sie strategische Entscheidungen zur Raumentwicklung tref- bende Mittelklasse bereit ist, mehr Geld für den nicht fen wollen oder müssen. Erste empirische Erkenntnisse im digitalisierbaren Kulturkonsum auszugeben. Winter 2020/2021 deuten darauf hin, dass Covid-19 herr- schende Trends beschleunigen und die wirtschaftlichen, 10. Transformation des Tourismus sozialen und räumlichen Disparitäten in vielen Bereichen Mit Covid-19 und den damit zusammenhängenden weiter vertiefen wird. Bemühungen, die Disparitäten durch Grenzsperrungen ist die Fernreisefreudigkeit der Men- Politiken einer sozialeren Marktwirtschaft zu reduzieren, schen in Europa kurzzeitig zurückgegangen. Dies hat werden keine politische Priorität erhalten. Die wirtschaftli- für einzelne Branchen und Regionen in Europa erhebli- che Entwicklung wird auch im nächsten Jahrzehnt von der che wirtschaftliche Folgen. Ist die Krise überwunden, marktbezogenen Ideologie des Westens beherrscht wer- werden sich die Tourismuswirtschaft und Fremdenver- den, der auch die Volksrepublik China keine überzeugende kehrsregionen nur langsam erholen. Viele kleine und Alternative entgegensetzen konnte. Das globale Finanzsys- mittlere Betriebe, die vom (inter)nationalen Touris- tem mit der Vorherrschaft des Dollars und der Macht ame- mus und vom Geschäftstourismus abhängen, werden rikanischer Banken und des von ihnen beherrschten globa- die Ausfälle während der staatlich verordneten Sper- len Finanzsystems wird weiterhin den Welthandel bestim- ren nicht überstehen. Ferienregionen im Hinterland men. Die Chancen, dass die Länder Europas ihre diversen der Stadtregionen hingegen werden sich als Orte für politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen in Zweitwohnungen der urbanen Mittelklasse anbieten. den nächsten 10 Jahren gemeinsam bündeln können, sind Airbnb-Angebote werden in den Städten abnehmen. nicht groß. Hinzu kommt, dass aus nachvollziehbaren his- torischen und aktuellen Gründen die Möglichkeiten einer 11. Hinwendung zur Selbstversorgung mit Nahrungs- engeren Zusammenarbeit mit Russland und China nicht ge- mitteln nutzt werden können (Macaes 2018). Voraussagen zur Zu- Trends, die Nahrungsmittelversorgung mehr auf re- kunft der Raumplanung in Europa lassen sich angesichts gionale Produkte umzustellen, haben im letzten Jahr- der bestehenden und absehbaren zukünftigen Rahmenbe- zehnt trotz höherer Kosten zu einer Bevorzugung regi- dingungen nur sehr schwer machen.
12 THEMA 03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Visionen Planer/innen selbstverständlich jeden Versuch begrüßen, Utopien zu Europa gibt es viele. Seit Thomas Morus im Jah- Europa als territoriale Einheit mit offenen Grenzen und ei- re 1516 sein epochales Werk „Utopia“ veröffentlicht hat, ner auf Polyzentralität basierenden Raumentwicklung zu haben sich Generationen von Autorinnen und Autoren Ge- betrachten, ziehen es konservative politische Gruppierun- danken über gesellschaftliche Utopien Europas gemacht. gen in ganz Europa vor, Grenzen zu schließen, um ihre Hei- Doch weil Utopien oft mit Ideologien verwechselt werden, mat und ihren Reichtum vor Migration und Asylsuchenden gelten sie als „irrational, gefährlich und extremistisch (Tro- zu schützen. janow 2019). Doch abgesehen von geopolitischen Szenari- Auf der Grundlage eines anderen ESPON-Projekts ha- en gibt es nur wenige wirklich räumliche Visionen für Euro- ben Kai Böhme und Christian Lüer über die räumliche Zu- pa. Die räumliche Zukunft Europas spielt in den politischen kunft Europas spekuliert (Böhme/Lüer 2016). Im Rahmen und wirtschaftlichen Diskursen am Ende des zweiten Jahr- von zwei Visionen, „Perseverance“ (business as usual) und zehnts des 21. Jahrhunderts nur eine untergeordnete Rol- „Metamorphosis“ (circular economy and equality), be- le. Was bleibt, sind die Erwartungen benachteiligter Regio- stimmen Wissensindustrien und (grenzüberschreitende) nen, aus Brüssel Zuschüsse für lokale Projekte zu erhalten, wirtschaftliche Integration die Wege in die Zukunft. und die Hoffnungen vieler Planer/innen, dass sie an der Pla- Im Jahre 2017 hat auch die Europäische Kommission nung und Umsetzung dieser Projekte beteiligt werden. Un- fünf Szenarien zur Zukunft Europas zur Diskussion gestellt zählige Dokumente berichten von den Bemühungen der – die räumlichen Dimensionen der fünf Szenarien wurden europäischen Kommission die Entwicklung von Städten jedoch nicht thematisiert. Dieser Verzicht macht deutlich, und Regionen in der Europäischen Union zu unterstützen. dass die räumlichen Folgen von Politiken selten ins Auge Doch es sind meist nationale Perspektiven, die die politi- gefasst werden. schen Diskurse beherrschen. In den 70er und frühen 80er Jahren des vergangenen Jahr- Wege in die Zukunft Europas hunderts hatte sich der Europarat in Straßburg um Visio- Auch wenn sich bis zum Jahr 2030 in Europa nicht viel än- nen für den europäischen Raum bemüht und Wissenschaft- dern wird, sind drei Wege in die nahe Zukunft Europas ler/innen aus Europa eingeladen, Szenarien und Visionen denkbar (vgl. Abbildung). Was wäre, wenn Europa nach für Europa zu entwickeln, die heute in den Archiven ver- dem durch Covid-19 verursachten zeitweiligen Stillstand stauben (Kunzmann/Rojahn 1977; Kunzmann 1982). Das der Bemühungen zur territorialen Kohäsion zu einem dys- 1999 in Potsdam verabschiedete Europäische Raumord- topischen Mosaik von nach innen gerichteten nationalisti- nungskonzept (EUREK) ist Geschichte. Die Ergänzung und schen Staaten mit geschlossenen Grenzen zurückkehren Fortschreibung hatte keine politische Priorität. Sie ist auch würde? Was würde geschehen, wenn zwei, drei oder vier nicht geplant und macht angesichts der geringen politi- Makroregionen Europas mit zwei, drei oder auch fünf Ge- schen Wertschätzung von Raumordnung wenig Sinn. schwindigkeiten die räumliche Entwicklung selbst in die Ein ehrgeiziges Szenarioprojekt, das 2014 im Rahmen des Hände nehmen würden? Oder könnte die EU nach Corona ESPON-Programms durchgeführt wurde, kam zu dem geeint, aber mit dichten Grenzen und hohen Mauern nach Schluss, dass Europa offen und polyzentrisch gestaltet außen aus der Krise gestärkt hervorgehen und eine selbst- werden sollte (ESPON 2014; Kunzmann/Spiekermann/We- bewusste Mittlerrolle zwischen China und den USA einneh- gener 2015). Doch während aufgeklärte, liberal gesinnte men? Quelle: eigene Darstellung Wege in die nahe Zukunft Europas
03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 13 1. Europa 2050, ein dystopischer Archipel? ten. Eine vierte Gruppe von Ländern in Mittel- und Ost- Covid-19 hat die weitere territoriale Integration Euro- europa (Österreich, Tschechische Republik, Polen, Un- pas erst einmal zum Stillstand gebracht. Die Krise hat garn, Slowenien und Slowakei) verfolgt eigene Koope- nationale und populistische Strömungen eher noch rationsstrategien mit der Europäischen Union. Und verstärkt. Den Beispielen des Vereinigten Königreichs eine fünfte Gruppe alter und potenziell neuer Mitglied- und der USA folgend leiten „My country first“-Politiken staaten (Bulgarien, Rumänien, Nordmazedonien, Serbi- in den meisten Ländern der Europäischen Union die en und Albanien) koordiniert ihre politischen und wirt- räumliche Entwicklung. Auch wenn die wirtschaftlichen schaftlichen Interessen in Abstimmung mit der Ukraine, Vorteile des einheitlichen Wirtschaftsmarktes und ei- Weißrussland, Armenien, Georgien und der Türkei. Die ner europäischen Freihandelszone gerne genutzt wer- räumlichen Auswirkungen variieren von Gruppe zu den, ist die Bereitschaft gering, europaweite Regelun- Gruppe. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen gen zu akzeptieren und die Europäische Union nicht diesen fünf Ländergruppen werden nach der Krise wie- nur als Wirtschaftszone, sondern auch als politische der zunehmen. Macht zu betrachten. Die reicheren Länder im Norden und Westen sind nicht mehr willens, ärmeren Mitglied- 3. Europa, ein abgeschotteter, wehrhafter Kontinent staaten im Süden und Osten finanziell entgegenzukom- Die immensen Migrationsströme aus dem Nahen und men. Sie leisten nur noch marginale Beiträge für einen Mittleren Osten und Afrika nach Europa im Jahre 2015 stark reduzierten europäischen Haushalt. Die Mittel spielten populistischen Bewegungen in ganz Europa in für die Landwirtschafts- und Kohäsionspolitik wurden die Hände. Europa zuerst! Getrieben von wenigen Mit- deutlich gekürzt. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf gliedstaaten, insbesondere Polen, Ungarn und Öster- die Lebensqualität der europäischen Bürger/innen in reich, könnte die EU beschließen, die Grenzen zum den von der Pandemie am stärksten betroffenen Regio- europäischen Arbeitsmarkt und zum europäischen So- nen. Die populistischen Bewegungen in ganz Europa zialsystem zu schließen. Die Europäische Union ist haben ihre Ziele erreicht. Statt Kooperation dominie- nicht mehr bereit, neue Mitglieder aufzunehmen und ren nationale Interessen die Regionalpolitik. Das Ziel, den europäischen Binnenmarkt zu erweitern. Eine vir- die territorialen Ungleichheiten in Europa zu verrin- tuelle, in Teilen aber auch physische Mauer schottet gern, ist noch weiter entfernt als vor der Krise. Die Er- Europa vom Rest der Welt ab. Nur wenige Tore für qua- weiterung der europäischen Union um die Länder Süd- lifizierte Facharbeiter/innen, Ärztinnen/Ärzte sowie billi- osteuropas ist vertagt. ge landwirtschaftliche Arbeitskräfte bleiben offen. Auf intensives Drängen der USA und der NATO werden die 2. Europa, Union der fünf Geschwindigkeiten Verteidigungsausgaben erheblich erhöht. Die Politik Die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs des kalten Krieges erlebt eine Renaissance. Die Mittel der EU im Sommer 2020 zur Bewältigung der Coro- der Kohäsionsfonds für die Entwicklung der Verkehrs- na-Krise haben gezeigt, dass Europa noch immer sehr und Transportinfrastruktur werden aus geopolitischen weit davon entfernt ist, eine Solidargemeinschaft zu Erwägungen von den Regionen in der Mitte Europas auf sein. Vereinbart wurde zwar das größte Haushalts- und die äußeren Grenzregionen und Gateway-Städte im Sü- Finanzpaket in der Geschichte der EU. Zusammen um- den und Osten verlagert, die für die Verteidigung des fasst es 1,8 Billionen Euro – davon 1.074 Milliarden Territoriums der Europäischen Gemeinschaft als we- Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen sentlich identifiziert werden. Sie erhalten mehr finanzi- und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Inves- elle Unterstützung für die Entwicklung der technischen titionsprogramm gegen die Folgen der Pandemiekrise. Infrastruktur, für die Stärkung der regionalen Verwal- Die sogenannten Sparsamen Vier – die Niederlande, tung und für die landwirtschaftliche Entwicklung. Vor- Österreich, Dänemark und Schweden – erreichten gro- rang haben Verkehrskorridore, die die Gateway-Städte ße Zugeständnisse. Dies könnte der Beginn einer Ent- mit den Kernregionen Europas verbinden. Private In- wicklung zu einer Union unterschiedlicher Geschwin- vestitionen und innovative Wissensentwicklung kon- digkeiten sein, wie sie auch schon früher ins Gespräch zentrieren sich hingegen auf Kernregionen, um Risiken gebracht wurde: das Europa von fünf Makroregionen in den Grenzregionen zu vermeiden. Tourismus und mit jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Eine Wohnungsbau stagnieren in den meisten Grenzregio- Gruppe von Kernländern (Niederlande, Belgien, Lux- nen. Die Bevölkerung nimmt ab und die nicht von der emburg, Deutschland und Frankreich) könnte die poli- Grenzsicherung abhängige Wirtschaft stagniert. tische Integration vorantreiben und gemeinsame Fi- nanzbudgets akzeptieren. Ein vergleichbares Konzept Visionär weitergedacht … könnte die nordischen Länder mit den baltischen Staa- Weiter in die Zukunft reichende Gedankenspiele zu denk- ten vereinen. Eine dritte Gruppe von Ländern (Spani- baren räumlichen Auswirkungen politischer Entscheidun- en, Italien, Portugal, Slowenien, Griechenland, Malta, gen in Europa auf Infrastruktur (Wasser, Energie, digitale Zypern, Kroatien und Italien), die die Integrationspoli- Netze, Stadtregionen, Industrieproduktion, Wissensent- tik der EU-Kerngruppe nicht akzeptiert, beschließt zur wicklung, Tourismus und Landwirtschaft) könnten neue Verteidigung ihrer Interessen eng zusammenzuarbei- Wege einer europäischen Raumentwicklungspolitik aufzei-
14 THEMA 03 / 2 02 0 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L gen. Was könnte ein völlig neues Konzept für die europä- Guérot, U. (2020): Perspektiven für Europa und seine Demokratie(n) nach Corona. In: Vollmer, M.; Werner, K. (Hrsg.): Die Corona-Gesell- isch-afrikanische Zusammenarbeit mit sich bringen, das schaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld. über die traditionelle ungerechte Handelskooperation und Kunzmann, K. R. (1982): The European Regional Planning Concept. die im Wesentlichen moralisch argumentierende pastorale In: Ekistics, 294, 217-222. Entwicklungshilfepolitik hinausgeht? Wie könnten die Eu- Kunzmann, K. R. (2020a): Smart Cities After Covid-19: Ten Narratives. ropäische Union und die künftigen Mitgliedsstaaten des In: disP – The Planning Review 221, 56/2, 20-31. Balkans vom Entwicklungspotenzial des Nahen Ostens pro- Kunzmann, K. R. (2020b): Gedankenspiele zur räumlichen Zukunft von Europa. In: PlanerIn O6/2020 (im Druck). fitieren, wenn sie die Kontroversen mit der Türkei nach Er- Kunzmann, K. R.; Rojahn, G. (1977): Outline of a Concept of European dogan ignorieren würden? Welche Städte und Regionen Regional Policy-Pilot Study. Strasbourg. = European Regional Planning würden profitieren, wenn die dauernde Uneinigkeit der Study Series, No. 3, Council of Europe. Mitgliedsstaaten der EU mit einem demokratischen Russ- Kunzmann, K. R.; Spiekermann, K.; Wegener, M. (2015): Deutschland land nach Putin überwunden werden könnte? Und in Europa: Ergebnisse des Programms ESPON 2013. Heft 6: Räumliche schließlich: was wäre, wenn die permanente Angst vor der Szenarien für Europa 2050. Bonn. Macaes, B. (2018): The Dawn of Eurasia. On the Trail of the New chinesischen Gefahr durch eine enge eurasische Zusam- World Order. London. menarbeit mit China im Rahmen des Projekts der neuen Tooze, A. (2018): How a Decade of Financial Crisis Changed the chinesischen Seidenstraße ersetzt werden könnte? Darü- World. London. ber habe ich an anderer Stelle spekuliert (Kunzmann Trojanow, I. (2019): Alle Wege führen durch Utopia. In: IWMpost, 3. 2020b). Weidenfeld, W. (2020): Zukunft Europa: Milliarden sind noch keine Strategie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.08.2020. Fazit Visionäre Vordenker wie Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schumann oder Jaques Delors haben die Länder K L AU S R . K U N Z M A N N , Europas nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise zusam- Dipl. Ing., Dr. techn. HonDLitt (Newcastle), mengebracht und Frieden geschaffen. Die Europäische war von 1974 bis 2006 Professor an der Fakul- tät Raumplanung der TU Dortmund, bis 1993 Union ist Wirklichkeit geworden, aber der Fortschritt ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für eine Schnecke. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis die Raumplanung, ab 1993 Jean Monnet-Profes- Utopie einer politischen, wirtschaftlichen, vor allem aber sor für Europäische Raumplanung an der TU auch räumlichen Integration in Europa verwirklicht ist, so Dortmund. Er ist Honorarprofessor am Uni- wie es die wohlformulierte Territoriale Agenda 2030 for- versity College London und Gastprofessor an dert. Der Entwurf zur Fortschreibung der Territorialen der Southeast University in Nanjing/China. Agenda der Europäischen Union beschreibt, was sich Pla- Seit seiner Pensionierung lebt, schreibt und forscht er in Potsdam und Templin. ner/innen wünschen (BMI 2020). Die Folgen von Covid-19 für Städte und Regionen Tel. +49 3317405973 werden die politische Landschaft in Europa auf allen Pla- Klaus.Kunzmann@udo.edu nungs- und Entscheidungsebenen noch lange beschäfti- gen. In den kommenden Jahren wird die Erholung der Wirt- schaft allerhöchste Priorität erhalten. Dafür werden Milliarden Euro verteilt, doch Milliarden sind keine Strate- gie (Weidenfeld 2020) und davon werden letztlich wieder nur die Städte und Stadtregionen profitieren, die schon vor der Krise gezeigt haben, dass sie mit kreativen und innova- tiven Strategien im internationalen Städtewettbewerb be- stehen können. Literatur Barry, J. M. (2005): The Great Influenza: The Story of the Deadliest Pandemic in History. London. BMI – Bundesministerium für Inneres, Bau und Heimat (2020): Terri- torial Agenda. A Future for all Places (Draft). Berlin. Böhme, K.; Lüer, C. (2016): Europe’s territorial futures: between day- dreams and nightmares. In: Ukrainian Geographical Journal, 1, 29-40. Collier, P. (2008): The Future of Capitalism. London. COM – European Commisson (Eds.) (2017): White Paper on the Future of Europe: Reflections and Scenarios for the EU 27 by 2025. Brussels. ESPON 2050 (2014): Making Europe Open and Polycentric. Visions and Scenarios for the European Territory towards 2050. https://www.espon.eu/topics-policy/publications/making-europe- open-and-polycentric (01.10.2020)
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