Entgeltfreier Öffentlicher Personen-nahverkehr statt "Abwrackprämie"!

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8/2009

MICHAEL BRIE

Entgeltfreier Öffentlicher Personen-
nahverkehr statt »Abwrackprämie«!
Schon lange waren sich Unternehmerverbände, Gewerk-         chen der Begrenzung dieser Summe oder der Absen-
schaften und Regierung nicht so einig wie im Moment         kung des Förderbetrags wurde eine Absage erteilt. Es ist
der Krise: die deutsche Industrie muss verteidigt wer-      Wahlkampf in Deutschland.
den. Gemeinsam wurde in kürzester Frist für den be-            Die »Umweltprämie« ist ein charakteristisches Bei-
drohtesten Industriezweig, den Automobilbau, eine Lö-       spiel für Strategien der Herrschenden im Moment der
sung gefunden: Die »Umweltprämie«, beschlossen im           Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus, einen gesellschafts-
Rahmen des Konjunkturpakets II der Bundesregierung          weiten Konsens herzustellen, der die gegensätzlichsten
vom 14. Januar 2009. Vorgeschlagen worden war sie           Interessen miteinander verbindet und sie so ausrichtet,
von Frank-Walter Steinmeier, dem Kanzler-Kandidaten         dass die Grundtendenzen bisheriger Politik fortgesetzt
der SPD, im Dezember 2008. Hatte IG Metall noch             werden können, wenn auch mit veränderten Mitteln:
3000 Euro für das Abwracken eines Altautos gefordert,          1. Die »Umweltprämie« ist strukturkonservativ und
so waren es am Ende »nur« 2500 Euro. Dies ist mehr          spaltet: Sie setzt auf den Erhalt vorhandener Produk-
als das Siebenfache des monatlichen Hartz-IV-Regelsat-      tions-, Infrastruktur-, Konsumtions- und Lebensweise-
zes. Kein anderes Projekt der Regierung hat solche          strukturen. Die Autogesellschaft wird verteidigt als zen-
Popularität. Gemeinsam mit der Diskussion um die            traler Ort kapitalistischer Produktion und wichtige Basis
Zukunft von »Opel« beherrscht die »Umweltprämie«            der Lohnerwerbsgesellschaft, der Hochburgen des
die täglichen Schlagzeilen. Während die Auseinander-        Modells Deutschland, der Kernbelegschaften, die
setzungen um die »Opel« von Bedrohung kündet, steht         zugleich das Rückgrat der IG Metall bilden. Diese Ver-
die »Umweltprämie« dafür, wie die Krise zur Chance          teidigung der schrumpfenden Kernstrukturen des deut-
wurde – gerade auch für die »kleinen Leute«.                schen Industriesystems geht zugleich einher mit der
   Kaum wurde die »Umweltprämie« verkündet, finden          Ausweitung des Feldes prekärer Beschäftigung, wach-
wir auf den Websites der Hersteller solche Losungen         sender Unsicherheit und Verarmung. Working poor hat
wie: »Opel macht Deutschlands Straßen sauberer.«            in Deutschland US-amerikanische Maßstäbe angenom-
»BMW verdoppelt die Umweltprämie«. Und über VW              men, Leiharbeiter sind zum immer schwächeren Reser-
heißt es auf der Website von Autor-Presse: »Das gab es      veproletariat geworden. Sie waren die Ersten, die gehen
noch nie! Sie können zusätzlich zum AUTO-PRESSE             mussten, als die Krise die Automobilindustrie erreichte.
Neuwagenrabatt und der Umweltprämie der Bundes-             An ihnen geht diese Lösung vorbei. Durch eine struk-
regierung die VW Umweltprämie plus von bis zu 7.500         turkonservative Politik wird die Spaltung der Gesell-
Euro beim Kauf eines VW Neuwagens erhalten. Damit           schaft und gerade auch der Lohnabhängigen weiter vor-
ist es möglich, zusätzlich zu unserem Neuwagenrabatt        angetrieben.
bis zu 10.000 Euro zu sparen!« Aber all dies sollte nicht      2. Die »Umweltprämie« behauptet »grüne Moderni-
vergessen machen, dass der durchschnittliche Preis für      sierung«: CO2-Reduktion soll mit dem Abwracken alter
einen Neuwagen in Deutschland deutlich über 20.000          Autos und der Zulassung von neueren Wagen erfolgen.
Euro liegt.                                                 Die sog. ökologische Modernisierung erweist sich dabei
   Das reale Ergebnis der »Umweltprämie« ist beein-         als Fortsetzung einer Entwicklung, die auf fossilen
druckend: Im Mai 2009 sind schon über 1,5 Mio. An-          Brennstoffen, basiert und auf Großstrukturen und
träge gestellt. Die zunächst auf 1,5 Mrd. Euro be-          Großkonzerne setzt. Dabei geht ein Fünftel des globa-
schränkte Fördersumme wurde erhöht auf insgesamt            len CO2-Ausstoßes auf den Verkehr zurück. Dies soll
5 Mrd. Euro bis zum Ende dieses Jahres. Allen Versu-        der energieeffizienten Erneuerung und Senkung der
Umweltbelastungen dienen. Eine strategisch ausgerich-      ten der Augen beim Anblick der schickeren Karosse
tete Konversion findet nicht statt. Die Krise wird so      soll den Blick »männlicher Jäger« bei der Witterung
nicht zu Chance, die notwendige zusätzliche Staatsver-     eines Raubtiers ersetzen. Nur ist ein Jaguar etwas
schuldung einzusetzen für eine ökologisch ausgerichte-     teuer. Wäre es um die Umwelt gegangen, so wäre vor
te Transformation hin zu den Strukturen eines solaren      allem die Förderung des Kaufs von Kühlschränken
Zeitalters. Noch einmal werden die immer knapper wer-      beim Abwracken aller jener, die keine sehr hohe Effi-
den Ressourcen verschwendet, um eine mit Recht in          zienzklasse haben, wesentlich sinnvoller. Und auch
Frage gestellte Produktionsweise zu erhalten.              der kostenlose Austausch von klassischen Glühbirnen
   3. Die »Umweltprämie« ist Teil der herrschenden         gegen Energiesparlampen, wie er in Venezuela prakti-
Sprachpolitik und steht für das neoliberale Neusprech      ziert wird, wäre ökologisch außerordentlich wirksam.
der Umdeutung der Begriffe in ihr Gegenteil (George        Eine einzige 11-Watt-Energiesparlampe, mit der eine
Orwell). Die »Umweltprämie« ist eine Prämie, die man       60-Watt-Glühlampe ersetzt wird, spart im Laufe ihres
für fortgesetzte bzw. sogar verstärkte Umweltzerstörung    Lebens etwa 735 kWh. Zur Erzeugung dieser 735 kWh
erhält. Aufgrund der Tatsache, dass neue Autos alte        sind 830 kg Braunkohle notwendig, die 2100 kg CO2
Autos verdrängen, die leichter gewesen sind, sinkt der     freisetzen. Aber Kühlschrank und Glühbirne gehören
Benzinverbrauch zumeist nicht, und auch der CO2-Aus-       offensichtlich immer noch in die »weibliche« Welt des
stoß bleibt gleich oder erhöht sich sogar. Es werden       Heims.
volkswirtschaftliche Werte (Altautos) mit der Abgas-         5. Die »Umweltprämie« stellt Zustimmung der Subal-
norm Euro 4 verschrottet und teilweise durch Autos         ternen her. Sie ist eine sehr erfolgreiche Herrschaftspra-
ersetzt, die sogar mehr CO2 freisetzen. Hätte man primär   xis. In Zeiten der Krise können genau jene, die sowieso
die Umweltbelastung senken wollen, so wäre der             schon eng dran sind, ein »Schnäppchen« machen oder
kostenfreie Einbau von Katalysatoren in Altautos der       davon zumindest träumen. Für nicht wenige ist es die
beste Weg gewesen. Schlimmer noch: Beachtet man die        Chance, sich zum ersten Mal ein wirklich neues Auto
ökologische Gesamtbilanz eines Autors über die             leisten zu können. Sie ziehen in die Autohäuser, rätseln
Lebenszeit von Produktion bis Verschrottung so erweist     darüber, ob sie es sich irgendwie doch leisten können,
sich, dass die gesteigerte Nachfrage nach neu produ-       vergleichen ihr altes Auto mit einem neuen, besseren,
zierten Autos zusätzliche Umweltzerstörung anrichtet.      einem mit Prestige. Sie werden in eine Massenbewe-
Zudem verlangen sie mehr Aluminium und Kunststoffe         gung verwickelt, deren Bedingungen von oben gesetzt
als frühere Autos, so dass ihre Produktion bzw. zukünf-    wurden. Diese Massenbewegung ist nicht kollektiv,
tige Entsorgung stark umweltbelastend ist.                 sondern privat, verändert nicht die Strukturen, sondern
   4. Die »Umweltprämie« ist patriarchal: Die Phanta-      nutzt diese nur aus, bringt nicht zusammen, sondern
sien, die angesprochen sind, sind männlich. Das Leuch-     spaltet.

2
Die »Umweltprämie« ist eine »aktivierende Passivie-         aufsteigenden Mittelklasse im Süden) inszeniert, der
rung« (Antonio Gramsci) der unteren Mittelschichten.           seine Kehrseite im Mangel, Umweltzerstörung, zuge-
Sie beteiligen sich mit hohem Engagement am Ausbau             parkter, lauter, verdreckter, stinkender und für den
genau jener Strukturen, durch die sie beherrscht werden.       Fußgänger immer gefährlichen Städte hat und in den
Die »Umweltprämie« macht sie zu »Krisengewinnern«,             ökologischen GAU führt. Weltweit verursacht das
gerade noch rechtzeitig im Wahljahr und bevor die Krise        heutige, vom privaten Auto und Motorrad beherrschte
die Arbeitslosigkeit richtig hoch treibt. Sie erhalten Chan-   Ver-kehrssystem jährlich über eine 1,2 Mio. Tote und
cen zugeteilt, über deren Sinn oder Unsinn sie nicht ent-      rd. 50 Mio. Verletzte. Diese Zahlen werden sich, wenn
schieden haben. Und dabei wird ihnen zudem das Gefühl          keine Wende eintritt, in den nächsten zwanzig Jahren
vermittelt, sie könnten durch Nutzung dieser Chancen           voraussichtlich um rd. 60 Prozent erhöhen, so die Welt-
ihre eigene Lage und die der Gesellschaft (Umweltsiche-        gesundheitsorganisation.1 In Deutschland sind es jähr-
rung, Schutz von Arbeitsplätzen) real verbessern. Es ist       lich »nur« 4.500 Tote, insgesamt aber seit 1950 über
dies eine kulturelle Herrschaftspraxis: Der einzelne als       700.000!
privater Autofahrer, der den öffentlichen Raum gleich-            9. Die »Umweltprämie« treibt die Energie- und Roh-
gültig vernutzt, dabei keine Rücksicht nimmt auf Natur         stoffpreise auch für das Lebensnotwendige hoch, beför-
und Umwelt, immer durch Fahrlässigkeit zur Bedrohung           dert eine Situation, in der die Produktion von Triebstoff,
für andere werden kann, wird bestätigt: Ich bin, was ich       erzeugt aus Getreide, Zuckerrohr usw. durch Großkon-
fahre. Anstelle der Solidarität des öffentlichen Verkehrs      zerne und von ihnen abhängigen Farmern die Erzeu-
wird der private Wettbewerb auf den Straßen gewählt.           gung von Nahrungsmitteln durch Bauern und ihre
Dies erzeugt genau jene Ge-sellschaft, die so leicht neo-      Genossenschaften verdrängt, die Nahrungsmittelsicher-
liberal beherrscht werden kann.                                heit ganzer Länder zerstört. Die »Umweltprämie« hier
   6. Die »Umweltprämie« macht abhängig. Viele der             in Deutschland nimmt die wachsende Zahl von Hunger-
Käufer neuer Autos nehmen Kredite auf, denn die Zin-           toten in der Welt als »Kollateralschaden« in Kauf. Die
sen sind relativ günstig und viele haben auch keine            deutsche Regierung und die Mehrheit im Bundestag
Reserven, um das neue Auto aus der »Portokasse« zu             haben sich der vielfachen fahrlässigen Tötung schuldig
bezahlen. Für sie sind diese rund 10.000 Euro keine            gemacht. Und die Bevölkerung, zu Schnäppchenjägern
»peanuts«. Das System von Verschuldung und spekula-            gemacht, ist Mitläufer.
tiver Finanzakkumulation wird weiter angeheizt. Aber              Es wird Zeit, über konkrete Alternativen zu sprechen:
diese Kredite müssen bedient werden. Das ist ein               solidarisch, ökologisch, demokratisch, die Entwicklung
zusätzlicher Grund, fast gnadenlos mit sich selbst und         im Süden des Planeten befördernd. Was wäre, wenn die
anderen um die Arbeitsplätze zu kämpfen, Leiharbeiter          Gewerkschaften, soziale Bewegungen und die parteipo-
als feindliche Konkurrenz zu behandeln, Migranten              litische Linke den alten Gedanken eines entgeltfreien
»nach Hause« schicken zu wollen. Und vielleicht wird           öffentlichen Personennahverkehrs auf die Tagesord-
bald dieser oder jener doch den Kredit nicht bedienen          nung setzen würde?!
können und in den privaten Bankrott getrieben, weil die
Krise die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen auf
fünf Millionen erhöhen wird.                                   Eine seit über 30 Jahren
   7. Die »Umweltprämie« entsolidarisiert. Sie erzeugte        unterdrückte Alternative:
einen Wettlauf zwischen allen, die sich formal ein Recht
darauf ausrechnen. Denn die anfänglich bereitgestellten
                                                               der Öffentliche Personennahverkehr
1,5 Mrd. Euro hätten nur für rd. 5 Prozent jener Autos,        (ÖPNV) zum Nulltarif
die in Deutschland älter als 9 Jahre sind, ausgereicht.
Bis heftige Proteste dem ein Ende machten, wurde ein           Eine Krise, so der Chefs des Weißen Hauses von
»Windhundverfahren« in Gang gesetzt: Diejenigen, die           US-Präsident Obama, Rahm Emanuel, sei die Chance,
zuerst die vollständigen Anträge eingereicht hatten,           »Dinge zu tun, von denen Du glaubst, Du hättest sie
sicherten sich dadurch ihre Ansprüche. Anstelle gründ-         ohne diese Krise nicht tun können«. Die alten Pfade, die
lichen Abwägens wurde die Hatz von Schnäppchen-                zu dieser Krise geführt haben, können verlassen wer-
jägern ausgelöst. Und Hartz-IV-Empfänger sind (wie-            den. Dabei kommt es nicht darauf an, die fertige Lösung
der einmal) per Gesetz arm dran, ihnen wird nichts             für die ganze Komplexität der Probleme zu finden,
geschenkt. Und jene 30 Prozent der Bevölkerung, die            sondern schrittweise vorzugehen. Aus der modernen
kein Auto haben, weil sie so nicht fahren wollen oder es       Evolutionstheorie kann man lernen, dass es nicht darauf
sich nicht leisten können, sind sowieso exkommuniziert
                                                               1 Peden M, Scurfield R, Sleet D et al. (eds.) (2004). World report on
aus der Mehrheitswelt.
                                                                 road traffic injury prevention. World Health Organization. ISBN
   8. Durch die »Umweltprämie« wird Mobilität als pri-           92-4-156260-9. http://who.int/violence_injury_prevention/publi-
vater Luxus der kleinen Leute (des »Nordens« und der             cations/road_traffic/world_report/en/. Retrieved on 2008-06-24.

                                                                                                                                  3
ankommt, »ein gutes Tier hervorzubringen, sondern gu-      einem Nulltarif wurde aber Abstand genommen. In
te Bausteine zu finden, die sich zu guten Tieren zusam-    den späten 1960er und frühen 1970er Jahren hat-
mensetzen lassen« (John Holland). Das Komplizierte         ten derartige Projekte im Westen ein Comeback. Sie
eines grundlegenden Zivilisationsumbruchs kann ein-        wurden zugleich als Antwort auf die »Grenzen des
fach begonnen werden, immer in der Hoffnung, dass          Wachstums«, den American Way of Life und den
sich die guten Bausteine am Ende auf heute noch völlig     Kapitalismus diskutiert. Es gab einzelne, kurzzeitige
unvorhersehbare Weise zu einem besseren, einem soli-       Experimente auf lokaler Ebene, bis sich der Zeitgeist
darischen Ganzen verbinden.                                und die reale Wirtschafts- und Sozialpolitik des sich
   Zu den Versuchen, den Neoliberalismus mit anderen       formierenden Neoliberalismus dagegen wandte.
Mitteln fortzusetzen, und der Konjunkturkrise der Au-      Anfang der 1960er Jahre hatte der Öffentliche Perso-
tomobilindustrie durch eine antiökologische und an-        nennahverkehr in der Bundesrepublik noch die gleiche
tisoziale »Umweltprämie« zu begegnen, gibt es eine         quantitative Bedeutung wie der motorisierte Indivi-
seit langem bekannte und vieldiskutierte und doch fast     dualverkehr, 30 Jahre später war sein Anteil auf unter
völlig zum Vergessen gebrachte Alternative – den           20 Prozent gesunken.
öffentlichen Personennahverkehr zum Nulltarif. Seit           Eine neue Welle der Diskussion kam in den 1990er
dem Richta-Report der Reformkräfte der Tschechoslo-        Jahren auf und in Brandenburger Städten wie Lübben
wakei der späten 1960er Jahre und der Publikation der      und Templin begannen 1997 bzw. 1998 neue Versuche
»Grenzen des Wachstums« des Club of Rome von 1972          der Einführung eines öffentlichen Busverkehrs zum
war klar, ein Weiter-So führt in die Katastrophe. Die      Nulltarif. Das größte Projekt dieser Art läuft gegenwär-
Unmöglichkeit der globalen Verallgemeinerung der           tig in der belgischen Stadt Hasselt, in der 70.000 Men-
Auto-Gesellschaft war common sense und stillschwei-        schen wohnen, 40.000 lernen und studieren und die
gend haben wohl viele gehofft, dass die Menschen in        durch viele sog. »Einpendler« geprägt ist, Menschen,
China und Indien, Asien, Afrika und Lateinamerika          die am Tage für Arbeit, Studium und Einkauf in die
arm bleiben und sich bestenfalls mit der Geschwindig-      Stadt fahren.
keit von Fahrrädern fortbewegen. Die Zerstörung               1995 kam es im Zusammenhang mit einem Wechsel
menschlicher Persönlichkeit durch eine Gesellschaft des    des Bürgermeisters (der linke Sozialdemokrat Steve
»Habens« (Erich Fromm) war schon vor vierzig Jahren        Stevaert war 1994 gewählt worden) zur Entscheidung,
gut erforscht. Die Zivilisationskrise warf ihre Schatten   anstelle einer neuen, dann dritten Ringstraße dazu
lange voraus. Heute ist sie eingetreten.                   überzugehen, den öffentlichen Busverkehr zum Nullta-
   Der Neoliberalismus hat mit der Entfesselung des        rif anzubieten. Es wurde ein Mobilitätsabkommen mit
Finanzmarkt-Kapitalismus ein weiteres und vielleicht       der Region Flandern und dem Verkehrsunternehmen
letztes (?) Mal die Maschinerie des Fossilismus, Konsu-    »De Lijn« abgeschlossen. 1997 gab es in Hasselt acht
mismus und des expansiven kapitalistischen Wachstums       Stadtbusse, die gerade einmal tausend Fahrgäste am Tag
um jeden Preis sowie der hemmungslosen Selbstberei-        hatten. 2007 waren es 46 Stadtbusse und die Zahl der
cherung aller, die sich bedienen konnten, angefeuert.      Fahrgäste hatte sich verzehnfacht. Der innere Ring
Für Jahrzehnte wurden wichtigste Aufgaben wie die          wurde begrünt und umgebaut. Die Innenstadt wurde
völlige nukleare Abrüstung, der Übergang zu einer          attraktiver und die Mobilität stieg.
nachhaltigen Entwicklung durch einen sozialökologi-           Was spricht für den Öffentliche Personennahverkehr
schen Umbau, gemeinsamer Entwicklung von Nord und          zum Nulltarif als bundesweitem und europäischem Pro-
Süd sowie die Schaffung von Möglichkeiten eines            jekt gerade jetzt in der Krise? Welchen Grund sollte es
selbstbestimmten solidarischen Lebens als leere Uto-       geben, diesen Einstieg in den Ausstieg aus dem indivi-
pien von »Gutmenschen« in zynischer Weise der Lä-          duellen Autoverkehr zu beginnen?
cherlichkeit preisgegeben. Der Untergang des Staatsso-        1. Die erste Frage ist, können wir uns einen Nahver-
zialismus wurde als Selbstbestätigung der eigenen          kehr zum Nulltarif überhaupt leisten? Nun liegen die
Herrschafts- und Lebensweise genossen, während sich        volkswirtschaftlichen Kosten des Öffentlichen Perso-
real die Elemente einer globalen Zivilisationskrise        nennahverkehrs bei höchstens der 50 bis 70 Prozent der
immer schneller anhäuften, bis sie jetzt zur Explosion     Kosten für den motorisierten Individualverkehr.2
kommen. Es ist deshalb an der Zeit, sich der durch den     Bezieht man alle Folgekosten ein, so liegen die Auf-
Neoliberalismus zerstörten Alternativen zu erinnern.       wendungen im Vergleich noch deutlich niedriger. Die
   Projekte eines für die Bürgerinnen und Bürger ent-      Gesellschaft würde enorm sparen. Ein gleich hohes
geltfreien öffentlichen Personennahverkehrs sind           Bruttosozialprodukt wäre plötzlich deutlich mehr wert.
schon in der frühen Sowjetunion für kurze Zeit prakti-
ziert worden, fielen dann aber der Neuen Ökono-            2 Diesendorf, Mark. »The Effect of Land Costs on the Economics of
                                                             Urban Transportation Systems« (PDF). Proceedings of Third
mischen Politik zum Opfer. Zwar blieben die Nahver-          International Conference on Traffic and Transportation Studies
kehrsbetriebe auch weiterhin hoch subventioniert, von        (ICTTS2002): 1422-1429. Retrieved on 2008-04-15.

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Wachsender Reichtum der Gesellschaft und ihrer Bürge-                 3. Von Garrett Hardin gibt es einen berühmten Arti-
rinnen und Bürger bei Nullwachstum! Aber die Kosten                kel: Die Tragödie der Gemeinwesen (1968). Dort schil-
wären anders verteilt. Sie müssten durch die öffentliche           dert er, wie Weideland, wenn es im Gemeindebesitz ist,
Hand aufgebracht werden. Dies bedeutet eine Umvertei-              Gefahr läuft, überweidet und zerstört zu werden. Was er
lung von privat hin zu öffentlich, damit auch privat               nicht beachtet, ist, dass gute Gemeinden genau dies
gespart werden kann. Die These des »Mehr Netto vom                 über viele Jahrhunderte nicht zugelassen haben, ganz
Brutto« erweist sich hier als Demagogie. Denn ein Weni-            anders als die auto- und kapitalfixierten westlichen
ger vom Brutto des Einzelnen wäre real ein mehr für viele          Gesellschaften, die ihren »Schafen« frei Lauf ließen.
Einzelne, wenn es nur wirklich in die richtigen Ausgaben,          Sie haben zugelassen, dass die Autos den Globus zer-
in den Aufbau des Öffentlichen Personennahverkehrs,                stören, die Städte verstopfen, sie mit Abgasen vergiften,
ginge. In Großbritannien geben Autobesitzer rund ein               die Ressourcen erschöpfen, das Land zerteilen durch
Drittel (!) ihres Nettolohns monatlich für Kosten aus, die         immer größere Straßen. Weltweit gab es im Jahre 2007
mit dem Auto verbunden sind.3 Der Blick auf die bloßen             über 800 Millionen Autos, davon 250 Millionen in den
Benzinkosten, den viele an-stellen, führt völlig in die Irre.      USA. Jährlich werden rd. 70 Millionen neue Autos pro-
Ein Kleinwagen kostet seinen Nutzer zum Beispiel in                duziert.5 Die Zahl von Toten je zurückgelegtem Kilome-
Deutschland rd. 320 Euro im Monat, ihre Besitzer gehen             ter ist beim Auto sechs- bis achtmal so hoch wie bei Bus
aber im Durchschnitt von nur 190 Euro aus.4                        oder Eisenbahn. Autos sind nicht nur eine Waffe gegen
   Wäre die Gesellschaft ein Unternehmen, so würde sie             die Natur, sie richten auch ein Gemetzel unter motori-
sagen, dass das Kapital, das in den Verkehrsmitteln                sierten und nicht motorisierten Bürgerinnen und Bür-
steckt, möglichst intensiv ausgenutzt werden müsse.                gern an. Wir haben uns für das buchstäblich mörde-
Private Autos haben eine genau entgegengesetzte                    rischste Verkehrssystem entschieden.
Eigenschaft: Sie stehen vor allem im Wege und auf dem                 4. Ein Hauptgrund, der für Autos zu sprechen scheint,
Wege. Sie nehmen gigantische Fläche an Fahrbahnen                  ist die erhöhte individuelle Mobilität, die Möglichkeit,
und Stellplätzen weg. Ihre Produktivität ist gegenüber             direkt von Haus zu Haus zu kommen. Dem stehen zum
dem Öffentlichen Personennahverkehr uneinholbar                    einen die oft langen Fahrzeiten gegenüber. Zum an-
zurück. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn sie                deren könnte die grundsätzliche Verlagerung des Per-
sich bewegen, ist in Städten um ein Vielfaches unter               sonenverkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel mit dem
dem von Bahnen. Um diese Kostennachteile privater                  hochsubventionierten oder gleichfalls entgeltfreien
Autos auszugleichen, werden sie massiv subventioniert.             Ausbau eines Taxisystems für kurze Strecken kombi-
Die Kosten, die privat in Rechnung gestellt werden,                niert werden. Auch die Möglichkeit von Carsharing für
sind nach unterschiedlichen Angaben nur 70 bis 50                  »die letzten zwei Kilometer« ist in Erwägung zu ziehen,
Pro-zent der realen gesellschaftlichen Kosten.                     wobei eine Nutzung in der Höhe von 50 km (oder in
   2. Die CO2-Emmissionen in den hochentwickelten                  dünn besiedelten Gebiete auch mehr) im Monat kos-
Ländern gehen zu rd. einem Viertel auf den Verkehr                 tenfrei wäre. Die Lieferung von Einkäufen würde nicht
zurück. Die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln               im privaten Auto, sondern durch Massenlieferanten
würde den CO2-Ausstoß um den Faktor 5 oder sogar 10                erfolgen. Länder wie die Schweiz zeigen, dass ein gutes
senken können. Um eine extreme Klimakatastrophe zu                 dichtes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln die
verhindern, sind Reduktionen in dieser Größenordnung               Nutzung des privaten Automobils deutlich senkt.
in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten notwendig.              Umgekehrt ist die Ausdünnung des öffentlichen Ange-
Im Verkehr würde dies auf der Basis vorhandener Tech-              bots, seine Verschlechterung oder das schlichte Fehlen
nologien allein durch die Umstellung auf öffentliche               entsprechender Angebote eine wesentliche Ursache des
Verkehrssysteme möglich sein. Es gibt dazu keine ver-              steigenden motorisierten Individualverkehrs.
gleichbare technologische Alternative. Auch das sog.                  5. Die Verdrängung des Autos aus den öffentlichen
Elektroauto müsste ja auf Strom zurückgreifen, der in              Räumen unserer Städte würde deren Rückgewinnung
absehbarer Zeit in vielen Ländern nicht durch erneuer-             als Räume der Begegnung, des öffentlichen Lebens
bare Energiequellen erzeugt werden kann. Die Treib-                auf der Straße, der gefahrlosen Begegnung mit Fremden
stoffe aus landwirtschaftlichen Produkten (»Agrofuel«)             ermöglichen. Die Belastung durch Lärm, Schmutz
haben sich als eine Hauptursache weiterer Umweltzer-               (Feinstaub) und Abgase würde drastisch sinken. Viele
störung, des Ruins der ländlichen Produktion insbeson-             große Straßen könnten weitgehend begrünt werden.
dere von Klein- und Mittelbauern und des wachsenden                Man stelle sich für einen Moment die Zentren von Rom
Hungers erwiesen.                                                  und Paris autofrei vor! Die Möglichkeiten der demokra-
                                                                   tischen Mitbestimmung über die Stadt würden steigen.
3 Osborne, Hilary (2006-10-20). »Cost of running a car 'exceeds    Mit deutlich gestärkten kommunalen Verkehrsbetrieben
  £5,000'«. The Guardian (London: Guardian Media Group). http://
  www.guardian.co.uk/money/2006/oct/20/motoring.
4 http://www.focus.de/auto/diverses/umfrage_aid_119549.html.       5 http://en.wikipedia.org/wiki/Automotive_industry.

                                                                                                                          5
könnten Unternehmen starker bürgernaher Mitbestim-                  den ÖPNV zum Nulltarif im Norden wäre eine wirk-
mung entwickelt werden. Anstelle der Zwänge privater                same Entwicklungshilfe: Er senkt die Nachfrage nach
Mobilität untergeordnet zu werden, würden die Städte                Ressourcen, verringert die Klimagefährdung, von der
ganz anders demokratisch gestaltbar. Die Städte des                 vor allem der Süden bedroht ist, bietet ein Modell an,
»Habens« sind die des Autoverkehrs und der Konsum-                  dass anders als der motorisierte Individualverkehr
tempel, oft auf der zubetonierten Wiese, die Städte des             tatsächlich global verallgemeinert werden kann, könnte
»Seins« sind Orte öffentlichen Nahverkehrs und der                  mit einem entgeltfreien Technologietransfer von Nord
Kultur.                                                             nach Süd verbunden werden. Ein Teil der volkswirt-
   6. Ein Öffentlicher Nahverkehr, der zum Nulltarif                schaftlich eingesparten Kosten könnten in die Förde-
angeboten wird, ist ein typisches Mitte-Unten-Bündnis.6             rung entsprechender Infrastrukturprojekte in den Ent-
Er ist solidarisch mit den Schwächeren, jenen, die sich             wicklungsländern investiert werden.
kein Auto leisten können, die auf den öffentlichen Ver-                In der jetzigen Krise sind öffentliche Konjunkturpro-
kehr angewiesen sind, von dessen Mängeln besonders                  gramme notwendig, um eine dauerhafte Rezession zu
betroffen sind, denen teilweise aber auch das Geld für              verhindern. Die Frage ist nur, ob es Programme wie die
eine Monatskarte fehlt. Und er ist ein Angebot für die              der »Umweltprämie« sein sollen, die Industrien und
Mittelschichten, ihre hohe Mobilität nicht als privaten             Technologien fördern, die völlig überholt sind und
Luxus der Wenigen, sondern als »Luxus des Öffentli-                 einem vergangenen Zeitalter angehören, oder die des
chen« (Mike Davis) zu praktizieren, der allen zugäng-               langfristigen sozialökologischen Umbaus. Der Planet ist
lich ist und keinen ausschließt.                                    zu klein geworden, um auf seine Kosten noch weiter
   7. Ein ausgebauter öffentlicher Nahverkehr zum Null-             Ressourcen zu verschwenden. Die Not ist zu groß, um
tarif wäre eines jener Projekte, die wirkliche globale              durch wachsende Staatsverschuldung überlebte Struk-
Kooperation ermöglichen. Der private Autoverkehr ist                turen zu erhalten. Die Chancen eines Wandels liegen zu
nicht global zu verallgemeinern, auch wenn genau                    sehr auf der Hand, als dass ein phantasieloses zerstöre-
daran gerade gearbeitet wird. In den reichen Ländern                risches Weiter-So geduldet werden sollte. Es ist Zeit,
des Nordens ist die gleichzeitige Aufrechterhaltung                 aus der Krise eine Chance zu machen, genau das zu tun,
eines privaten und öffentlichen Verkehrssystems heute               was wir eigentlich schon immer wollten – aufbrechen in
noch zu finanzieren, aber wohl kaum noch morgen. Im                 eine gute, eine solidarische und deshalb auch autofreie
Süden ist dies schon heute ausgeschlossen. Hier ist die             Gesellschaft.
Mobilität sozial extrem eingeschränkt. Der Umstieg auf

6 Vgl.: Michael Brie: Segeln gegen den Wind. Bedingungen eines
  politischen Richtungswechsels in Deutschland. In: Michael Brie;
  Cornelia Hildebrandt; Meinhard Meuche-Mäker: DIE LINKE.
  Wohin verändert sie die Republik? Berlin 2007, S. 259 – 318.

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