"Europa verschiedener Geschwindigkeiten" - ein Zukunftsmodell für Europa?
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„Europa verschiedener Geschwindigkeiten“ – ein Zukunftsmodell für Europa? Aufsatz der Rechtsreferendarin Hannah Barnekow I. Einleitung Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind geprägt von Konflikten über einen fehlenden Konsens unter den Mitgliedsstaaten, sowohl über Grundsatzfragen als auch in Einzelfällen. Exemplarisch sollen einerseits die internen Konflikte unter den Mitgliedsstaaten mit osteuro- päischen Mitgliedsstaaten wie Polen, Ungarn und Tschechien, die gegen die EU-Verträge verstoßen, genannt werden. Sie behindern systematisch die Unabhängigkeit der Justiz, sie schränken die Pressefreiheit ein und gehen gegen missliebige Nichtregierungsorganisatio- nen sowie gegen Universitäten vor. Andererseits war der Austritt Großbritanniens im Jahr 2020 sinnbildlich für die Identitätskrise der EU. Die Probleme geben Anlass, Vorschläge für die Zukunft Europas zu entwickeln und möglich- erweise neue Lösungswege einzuschlagen. Eine solche Lösung könnte ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten bieten. Dieser Aufsatz unternimmt daher den Versuch, die Debatte um ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten, insbesondere in Form der abgestuften Integration zusammenzufassen und auf ihr Potential einer zukünftigen Umsetzbarkeit in Europa zu untersuchen. II. Das Konzept eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten Das Modell eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten sieht vor, dass die europäischen Staaten alle einen unterschiedlichen Integrationsstandard haben und sich unterschiedlich stark an der Zusammenarbeit in einzelnen Politikfeldern beteiligen. Teilweise beziehen die unterschiedlichen Modelle auch europäische Staaten mit ein, die nicht Mitglied der EU sind – insbesondere im Hinblick auf die Nachbarschaftspolitik und Er- weiterungsdebatten. Für die Zukunft eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten zeichnen sich drei Entwicklungsmöglichkeiten ab: Erstens eine Kooperation ohne zugrundeliegende Struktur, bei der sich je nach Thema un- terschiedliche Staatenkoalitionen in verschiedenen Politikfeldern bilden. Zweitens eine Kooperation in einzelnen Themenfeldern. Dieses Szenario geht davon aus, dass nur noch einzelne Bereiche der EU-Politik wie der Binnenmarkt gemeinsam betrieben werden. Abwertend wird dieses Konzept auch als „Europa à la carte“ 1 bezeichnet und wurde insbesondere von weniger integrationsfreundlichen Staaten, wie Großbritannien wiederholt 1 Zandonella, Pocket Europa, Begriff „Europa à la carte“. 1
vorgeschlagen: Die Mitgliedstaaten sollen sich demnach nur auf ein Minimum an Zielen eini- gen, die für alle beteiligten Länder verbindlich sind (z. B. den Binnenmarkt); in allen anderen Politikfeldern (z. B. Währungsunion, Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Freizügigkeit, Flüchtlings- und Asylpolitik, innere Sicherheit, Justizpolitik) sollen nur die willigen Staaten spezifische Einigungsschritte unternehmen, während die übrigen weiterhin die nationalstaat- liche Souveränität behalten. In Abgrenzung zum nachfolgend dargestellten dritten Modell einigen sich die Staaten lediglich auf ein Mindestmaß an Kooperation. In der dritten Variante bilden die Mitgliedstaaten die Struktur. Es gibt einen Kern von Staaten, die in allen Themen zusammenarbeiten wollen und andere, die nur bei einigen Projekten teilnehmen. Dieses Modell wird auch als „Idee eines Kerneuropa“ bezeichnet. 2 Ein Kern von Mitgliedsstaaten strebt eine verstärkte Integration an, während andere eine weitreichendere Zusammenarbeit ablehnen. Gemeint ist damit ein System „dauerhaft abgestufter Integration“. Im Unterschied zum zweiten Modell ist die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten hier der Regelfall. III. Abgestufte Integration als Ausgestaltung eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten Der Begriff der abgestuften Integration innerhalb der Mitgliedsstaaten fasst die verschiede- nen Formen unterschiedlicher Beteiligung der Mitgliedsstaaten an der EU zusammen. 3 Be- reits zum jetzigen Zeitpunkt gibt es Staatengruppen unterschiedlicher Größe, die je nach Politikbereich mehr oder weniger Verpflichtungen eingehen. Problematisch ist die abgestufte Integration deshalb, weil dadurch ein tragender Grundsatz des Unionsrechts, nämlich die Einheitlichkeit des Unionsrechts, partiell aufgehoben wird. Abgestufte Integration kann einerseits dazu dienen, dass ein Kreis von Mitgliedsstaaten vo- rangeht und andere nachfolgen (Methode der „mehreren Geschwindigkeiten“, vorüberge- hende Flexibilisierung) oder andererseits eine zeitlich unbefristete Ausnahmeregelung zubil- ligen („variable Geometrie“). 4 Ein Beispiel vorübergehender Flexibilisierung bildete die Sozialpolitik: an deren Gestaltung wollte das Vereinigte Königreich durch den Vertrag von Maastricht nicht mitwirken, jedoch wurde nach einem Regierungswechsel die Regelung des Vertrags von Amsterdam akzep- tiert. 5 Schließlich kann eine Flexibilisierung auch außerhalb des Unionsrechts durch völker- rechtliche Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten erfolgen. Den Mitgliedsstaaten ist es also von ihrem Integrationsbeginn an möglich, auf völkervertragliche Kooperationen auszu- weichen, womit der supranationale Rahmen bewusst außen vorgelassen wird. 2 Zandonella, Pocket Europa, Begriff „Idee eines Kerneuropa“. 3 Zum Begriff: Blanke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EUV Art. 20 Rn. 2; Streinz, Die Verstärkte Zusammenarbeit: Eine realistische Form abgestufter Integration, in: JuS 2013, 892. 4 Blanke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EUV Art. 20 Rn. 8 m. w. Nachw. 5 Blanke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EUV Art. 20 Rn. 8 m. w. Nachw. 2
Ein Beispiel variabler Geometrie ist die mitgliedsstaatliche Ausnahme über Protokolle zu den Verträgen. Dänemark und das Vereinigte Königreich wollten sich nicht an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, nämlich der „Eurogruppe“ mit dem Euro als gemein- same Währung beteiligen. Grundsätzlich ist an sich jedoch jeder Mitgliedsstaat, der die Vo- raussetzungen erfüllt, verpflichtet, an der Währungsunion teil zu nehmen, Dänemark und das Vereinigte Königreich wollten dies aus politischen Gründen jedoch nicht. Um den Vertrag von Maastricht, der gem. Art. 48 EUV Einstimmigkeit erfordert, und die Wirtschafts- und Wäh- rungsunion trotzdem zu ermöglichen, wurde den beiden Mitgliedsstaaten eine Opting-out Möglichkeit zugebilligt. 6 Ohne diese Möglichkeit hätte sich der Euro vermutlich im Vertrag von Maastricht nicht verwirklichen lassen. IV. Europa verschiedener Geschwindigkeiten als Szenario der Kommission in deren Weißbuch 2017 Das Weißbuch zur Zukunft Europas wurde vom damaligen Kommissionspräsidenten Juncker am 1. März 2017 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der römischen Verträge vorgestellt und markiert den Beginn eines Prozesses, in dem die 27 Mitgliedstaaten über die Zukunft der Union entscheiden. Es zeigt mögliche Wege für die Zukunft Europas auf und skizziert fünf Szenarien für die Entwicklung der Europäischen Union. Neben den Szenarien „Weiter wie bisher“, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, „Weniger aber effizienter“ und „Viel mehr gemein- sames Handeln“ findet sich das Szenario „wer mehr will, tut mehr“, welches die Vision eines Europas abgestufter Integration verkörpert. „Wir werden gemeinsam – wenn nötig mit unterschiedlicher Gangart und Intensität – han- deln, während wir uns in dieselbe Richtung bewegen, so wie wir es schon in der Vergangen- heit getan haben; dies wird im Einklang mit den Verträgen geschehen und die Tür wird allen offen stehen, die sich später anschließen möchten. Unsere Union ist ungeteilt und unteil- bar.“ 7 heißt es in der Erklärung von Rom. Das Szenario sieht vor, dass sich in Bereichen wie der Verteidigung, inneren Sicherheit, Steuern oder Soziales „Koalitionen der Willigen“ bilden, die gemeinsam mehr unternehmen wollen. Das bedeutet, dass neue Gruppen von Mitgliedstaaten spezifische Rechts- und Fi- nanzregelungen vereinbaren, um ihre Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen zu vertie- fen. Wie im Falle des Schengen-Raums oder des Euro kann dies auf dem bestehenden EU-- Rahmen aufbauen, setzt aber die Präzisierung von Rechten und Pflichten voraus. Der Status 6 Protokolle Nr. 15 und Nr. 16 zum Vertrag von Lissabon (ehemals Protokolle Nr. 25 und Nr. 26 zum Vertrag von Maastricht). 7 Erklärung von Rom 2017. 3
der übrigen Mitgliedstaaten bleibt gewahrt; es steht ihnen unverändert offen, sich im Laufe der Zeit denjenigen anzuschließen, die weiter gehen. 8 V. Verstärkte Zusammenarbeit als primärrechtlich verankertes Modell abgestufter In- tegration Das Primärrecht bietet im Rahmen der seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 verankerten Verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20 EUV und Art. 326 – 334 AEUV) die Möglichkeit der un- terschiedlich intensiven Zusammenarbeit. Jean Claude Juncker sagte dazu: „Im Weißbuch steht, dass der Ausgangspunkt für jedes Szenario prinzipiell ein gemeinsames Voranschreiten der 27 Mitgliedstaaten als Union ist. Aber es gibt eben auch die Möglichkeit, dass diejenigen, die mehr tun wollen, auch mehr tun können. Das ist ganz klar bereits jetzt die Faktenlage auf der Grundlage der bestehenden Verträge. Die Verträge von heute werden die Verträge von morgen sein, und das für einen längeren Zeitraum. Verstärkte Zusammenarbeit gibt es bereits heute, nicht nur beim Euro oder beim Schengener Abkommen, sondern auch zum Beispiel bei der Finanztransaktions- steuer, dem Europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung oder der Europäischen Staats- anwaltschaft.“ 9 Durch den Vertrag von Amsterdam wurde das Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit in einem kleineren Kreis der Mitgliedsstaaten erstmalig eingeführt, das den Mitgliedern eine stärkere Nutzung des institutionellen Rahmens der EU ermöglicht, ohne dass die Verträge mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten geändert werden müssen (wie bei der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion oder bei der Einbeziehung des Schengener Abkommens in den EU-Rechtsrahmen). Durch den Vertrag von Nizza 10 und zuletzt durch den Vertrag von Lissabon wurde das Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit nicht nur redaktionell, son- dern auch substanziell mit dem Ziel geändert, es praktikabler zu machen. 11 Die Verstärkte Zusammenarbeit sieht dabei als Grundkonzeption das Leitbild einer einheitlichen Integration vor. Sie ermöglicht den Erlass partiellen, d.h. nur für die beteiligten Mitgliedsstaaten gelten- den Sekundärrechts in allen Bereichen, die nicht unter die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen. 8 Weißbuch zur Zukunft Europas 2017, S. 20. 9 Jean-Claude Juncker im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rates vom 10.03.2017. 10 Vgl. dazu Becker in: von der Groeben/Schwarze/Hatje/Adam/Grill, Europäisches Unionsrecht, EUV Art. 43 Rn. 4 ff. 11 Streinz, Die Verstärkte Zusammenarbeit: Eine realistische Form abgestufter Integration, in: JuS 2013, 892 [893]. 4
Gemäß Art. 20 EUV können mindestens neun Mitgliedstaaten, die untereinander eine Zu- sammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union begründen wollen, in den Grenzen der Art. 326 – 334 AEUV die Organe der Union in Anspruch nehmen und diese Zuständigkeiten unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ausüben. Danach muss u. a. der Beitritt weiterer Mitgliedstaaten jederzeit offenstehen (Art. 20 I UA 2 EUV, Art. 328 I 2 AEUV). Um die Einheitlichkeit des Unionsrechts möglichst wenig zu beeinträchtigen, soll dieses Instrument ultima ratio sein (Art. 20 II EUV). Die Verträge und das (sekundäre) Unionsrecht müssen geachtet, der Binnenmarkt und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt darf nicht beeinträchtigt, der Handel zwischen den Mitgliedstaaten weder behindert noch diskriminiert, der Wettbewerb zwischen den Mitglied- staaten nicht verzerrt werden (Art. 326 AEUV). Die Verstärkte Zusammenarbeit bedarf der Ermächtigung durch einen Beschluss des Rates mit Zustimmung des Europäischen Parla- ments auf Vorschlag der Kommission, an die der entsprechende Antrag der Mitgliedstaaten zu richten ist (Art. 20 II UA 1 EUV, Art. 329 AEUV). Außer im Bereich der GASP beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit (vgl. Art. 329 I UA 1 AEUV i. V. mit Art. 16 III EUV). 12 Eine Verstärkte Zusammenarbeit wurde bereits in den Bereichen eines Europäischen Pa- tents mit einheitlicher Wirkung 13, einem einheitlichen Scheidungsrecht 14 und neuerdings zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft 15 realisiert. Diskutiert wird sie ebenfalls für die Finanztransaktionssteuer. VI. Umsetzbarkeit eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten – Stärken und Ri- siken Nicht alle Mitgliedsstaaten können aus tatsächlichen Gründen immer das konkret angestreb- te Ziel der Einheitlichkeit erreichen oder wollen dies aus politischen Gründen nicht. Die Heterogenität einer wachsenden EU hat in den vergangenen Jahren nicht zu einer ein- heitlicheren Meinungsbildung beigetragen und wird dies auch in Zukunft nicht tun, wobei sich aus der Präambel des EUV ergibt, dass die einheitliche Integration der Regelfall, verschie- denen Integrationsstufen lediglich die Ausnahme bleiben sollen. Daher ist der Begriff der verschiedenen Geschwindigkeiten auch besonders zutreffend, da er verdeutlicht, dass das Ziel stets ein einheitlicher Integrationsstandard sein soll. Die abgestufte Integration ist ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma zwischen Erweiterung und Vertiefung der EU. Ein Europa der zwei oder noch mehr Geschwindigkeiten bietet ein 12 Streinz, Die Verstärkte Zusammenarbeit: Eine realistische Form abgestufter Integration, in: JuS 2013, 892 [893]. 13 LTO, EuGH billigt verstärkte Zusammenarbeit beim EU-Patent. 14 ARD, Aus für das Windhundprinzip, 2018. 15 BMJ Pressemitteilung: Europäische Staatsanwaltschaft soll Ende 2020 Mehrwertsteuerbetrug und Missbrauch von EU-Mitteln verfolgen, 2020. 5
großes Maß an Flexibilität. Jeder europäische Staat könnte je nach Interessenlage und Tra- dition selbst entscheiden, wann er in welchem Politikbereich wie viel Souveränität abge- ben möchte. Das Modell eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten vermag jedoch nicht als grundsätzli- che Lösung aller Strukturprobleme der Europäischen Union dienen. Dafür birgt es zu viele Schwächen als Zukunftsmodell Europas. Betrachtet man einmal die Währungsunion als Paradeobjekt eines Europas mehrerer Ge- schwindigkeiten, so zeigt sich, dass das Konzept nicht reibungslos gelingt. Eine Vertiefung der Euro-Zone ist in der Vergangenheit an den unterschiedlichen nationalen Interessen ge- scheitert. Frankreich und die Länder südlich der Alpen drängten auf mehr Vergemeinschaf- tung, etwa in Form einer europäischen Arbeitslosenversicherung, vor allem in Deutschland wird eine Mithaftung abgelehnt. 16 Die Kritiker eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten führen daher an, dass das Modell bereits bei seinem Paradeobjekt scheitere. Daher sei auch es auch in Zukunft unwahrschein- lich, dass bei den Themen wie Migration, Sicherheit und Verteidigung, die als mögliche Fel- der einer Verstärkten Zusammenarbeit gesehen werden, ein Europa mehrerer Geschwindig- keiten gelingt. Die EU werde auf dieselben Probleme stoßen wie beim Euro: der Plan sei groß, die Umsetzung scheitere jedoch an nationalen Interessen, die über europäische Inte- ressen gestellt würden. Beim Thema Steuern zeige sich etwa, dass Irland, Luxemburg und die Niederlande nichts davon halten, steuerliche Gestaltungsmodelle, die politisch von der Mehrheit so nicht gewollt sind, von Konzernen einzudämmen. Und solange keine Flüchtlinge nach Deutschland kamen, habe die EU Italien und andere Staaten mit den Migranten alleine gelassen. 17 Vom Anspruch des Modells, dass die EU-Mitgliedstaaten sich zwar in unterschiedlichen Tempi integrieren, aber letztlich auf dasselbe Ziel hinarbeiten, ist die aktuelle EU weit ent- fernt. Noch mehr: In der Vergangenheit ist es mit einer Ausnahme – Großbritannien ist nach- träglich der EU-Sozialcharta beigetreten – in keinem Fall „verschiedener Geschwindigkeiten“ gelungen, dass am Ende alle EU-Mitgliedstaaten am selben Ziel angekommen sind. Auch nach dem britischen Austritt ist es auf absehbare Zeit wohl eher unrealistisch, dass irgend- wann alle EU-Staaten den Euro übernehmen. Auf der einen Seite leidet die Transparenz des ohnehin komplexen Konstrukts Europäische Union weiter. Für die Bevölkerung ist es kaum nachvollziehbar, welche Staaten sich bei- spielsweise nicht am »einheitlichen« EU-Patent beteiligen (Spanien, Kroatien), oder ob Ab- geordnete aus Nicht-Eurostaaten wie Polen über Regelungen der Eurozone mitbestimmen 16 Mühlauer, Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine Lösung, sondern eine Gefahr, Kom- mentar in: Süddeutsche Zeitung vom 07.03.2017. 17 Mühlauer, Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine Lösung, sondern eine Gefahr, Kom- mentar in: Süddeutsche Zeitung vom 07.03.2017. 6
(das können sie). Auf der anderen Seite gefährdet die Gruppenbildung den Zusammenhalt in der EU, der gerade nach dem Brexit-Votum eigentlich Priorität haben sollte. Dies gilt insbe- sondere dann, wenn ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten zu einem Kerneuropa führt, aus dem einige Staaten dauerhaft ausgeschlossen bleiben. 18 Darüber hinaus besteht die Sorge, dass die abgestufte Integration eben das befördert, was sie eigentlich verhindern will: nämlich die Abkehr von Europa und die Stärkung nationaler Ressentiments. Die Möglichkeit, nun in einigen Politikfeldern „auszusteigen“, alle Fehler in diesen Bereichen der EU zuzuschieben und deswegen für eine „Nicht-Teilnahme“ zu plädie- ren, erleichtert es europaskeptischen und nationalistischen Parteien, ein simples Feindbild aufzubauen. 19 Dennoch hat sich die Zusammenarbeit als selten genutzte Möglichkeit abgestufter Integrati- on erwiesen. Ihre Bedeutung könnte sich in Zukunft verstärken, wenn die Erweiterungspolitik in der Europäischen Union fortgeführt wird und daher die wirtschaftliche, politische und kultu- relle Divergenz zwischen den Mitgliedsstaaten wächst. 20 18 von Ondarza, Erfolgsbedingungen für ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten, in: Stiftung Wissenschaft und Politik vom 03.03.2017. 19 https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/kein-europa-a-la-carte-1994/ (Stand 15.01.2021). 20 Streinz, Die Verstärkte Zusammenarbeit: Eine realistische Form abgestufter Integration, in: JuS 2013, 892 [895]. 7
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• von Ondarza, Nicolai: „Erfolgsbedingungen für ein Europa der mehreren Geschwin- digkeiten“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik vom 03.03.2017, online abrufbar un- ter: https://www.swp-berlin.org/kurz-gesagt/erfolgsbedingungen-fuer-ein-europa-der- mehreren-geschwindigkeiten/ (zuletzt abgerufen am: 15.01.2021); zit.: „von Ondarza, Erfolgsbedingungen für ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten, in: Stiftung Wissenschaft und Politik vom 03.03.2017“. • Mühlauer, Alexander: „Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine Lösung, sondern eine Gefahr“, Kommentar in: Süddeutsche Zeitung vom 07.03.2017, online abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/europa-tempo-und-risiko- 1.3408914 (zuletzt abgerufen am: 15.01.2021); zit.: „Mühlauer, Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine Lösung, sondern eine Gefahr, Kommentar in: Süddeut- sche Zeitung vom 07.03.2017“. • Zandonella, Bruno: Pocket Europa. EU-Begriffe und Länderdaten. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Bonn 2005 (2009 aktualisiert); zit.: „Zandonella, Pocket Eu- ropa“. 9
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