EUROPAS ZUKUNFT - 40 Visionen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Inhalt 46 Alexander Van der Bellen Europäer sein ist Glück und Geschenk 14 Ulrich Reinhardt 52 Martin Blessing Zukunftsvisionen für Europa – ein Perspektivenwechsel Investieren in der EU lohnt sich 24 Patrick Adenauer 56 Jack Bowles Das Europadilemma In Vielfalt geeint 28 Aleida Assmann 60 Zsuzsa Breier Der europäische Traum Europas Frucht reift 36 Burkhard Balz 66 Reinhard Bütikofer Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen Europa hat die Kraft, wenn wir die Kraft sind 42 Katarina Barley 72 Milagros Caiña Carreiro-Andree EU ist Hüterin des Friedens und Garantin der Verbraucherrechte An unserer Einigung wie an unserer Vielfalt weiterarbeiten
76 Markus Ferber 112 Christine Lagarde Europa muss sich emanzipieren Europa braucht jetzt eine fiskalische Risikoverteilung 80 Christoph Franz 118 Christian Lindner Von der Schweiz lernen Jetzt ist Leadership gefragt 84 Ingo Friedrich 124 Heiko Maas Besser keine neuen EU-Mitglieder Auf „America first“ antworten wir „Europe united“ 90 Jean-Claude Juncker 130 Emmanuel Macron Darum brauchen wir Europa Europa braucht ein neues Projekt und mehr Effizienz im Alltag 100 Joe Kaeser 138 Angela Merkel Europa ist nicht auserzählt Toleranz ist die Seele Europas 106 Annegret Kramp-Karrenbauer 144 Federica Mogherini Future made in Europe Eine Strategie, eine Vision, ein Handeln
148 Andrea Nahles 190 Olaf Scholz Wir brauchen mehr Solidarität in Europa Die Europäische Union muss politischer werden 152 Günther Oettinger 196 Manuela Schwesig Die Europawahl ist so wichtig wie die Bundestagswahl Wir haben Europa so viel zu verdanken 158 Joseph Ratzinger 200 Marlo Strauß Europa muss sich selbst wieder annehmen Prélude für Europa 166 Katherina Reiche 206 Margret Suckale Mehr smarte Städte und Regionen für Europa! Ja zu Europa – jetzt erst recht! 172 Frank Maximilian Salzgeber 214 Düzen Tekkal Was Europa von der Raumfahrt lernen kann Mehr Mut! 178 Wolfgang Schäuble 218 Angela Titzrath Die europäische Einigung ist die beste Vorsorge für unser 21. Jahrhundert Europas Stärke ist die Summe seiner Unterschiede
222 Margrethe Vestager Realisten können Wunder schaffen 228 Theo Waigel Wir müssen mehr über unsere Erfolge reden 232 Martin Walser Standhafte Europa 236 Theodor Weimer Investitionsunion statt Industriemuseum 244 Hiltrud Dorothea Werner Wir brauchen ein starkes Europa 252 Moritz Götze Der Neo-Pop-Historienmaler
FRANK MAXIMILIAN SALZGEBER Was Europa von der Raumfahrt lernen kann D er Blick ins Weltall bewegt die Men- schen seit jeher, zu träumen und Visionen zu entwickeln. Früher war es zeigen uns die unverfälschte Wahrheit: wo Wüsten entstehen, wo die Gletscher in den Alpen schmelzen, wo der Regen- der Traum, auf dem Mond zu landen wald abgeholzt wird. Wenn im Mittel- oder eine Raumstation um die Erde meer ein Schiffskapitän meint, sich kreisen zu lassen. Heute rückt der Mars nicht an die Regeln halten zu müssen, immer mehr in unsere Reichweite. Und sehen wir, wo der Ölteppich herkommt. 300 Jahre in die Zukunft gedacht, wer- Angesichts dieser Bilder, können wir den wir wahrscheinlich dauerhaft unser die Frage „Wie gestalten wir unsere Sonnensystem verlassen. Es wird Men- Zukunft?“ nicht mehr unbeantwortet schen geben, die zu sehr langen Reisen lassen. Wir brauchen Visionen für unse- aufbrechen werden – in dem Wissen, ren Heimatplaneten. niemals zurückzukehren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Menschheit von Ich denke, die Erkenntnis, dass wir der Erde verschwinden wird. Wir wer- Menschen es sind, die das Schicksal den die Erde nicht aufgeben, sondern der Erde in der Hand haben und die wir werden weiter hinausschauen und Verantwortung tragen, verankert sich von oben den Blick zurück auf unseren mehr und mehr im Bewusstsein vie- Heimatplaneten richten. ler Menschen. Zur Jahrtausendwende hat der niederländische Chemie-Nobel- Dank der Raumfahrt können wir unsere preisträger Paul Crutzen den Begriff Erde heute aus einer anderen Perspek- des Anthropozän als Bezeichnung einer tive betrachten. Schaue ich mir „Wal- neuen geochronologischen Epoche vor- king on Air“ an, einen Film, der unseren geschlagen. Das bedeutet: Der Mensch Planeten aus Sicht der ISS zeigt, sehe hat die Gestaltung des Planeten über- ich sehr klar und deutlich die Erde in all nommen. Durch seine Aktivitäten ihrer Schönheit, aber auch Verletzlich- nimmt er Einfluss auf die Zusammen- keit. Unser Blauer Planet, diese Insel setzung der Atmosphäre, beeinflusst des Lebens im dunklen Kosmos, ist in die Geologie und die Biologie der Erde. einem bedenklichen Zustand. Die Bilder Das bedeutet auch: Die Natur gleicht der Satelliten halten uns diesbezüg- die Fehler, die wir machen, nicht mehr lich immer wieder den Spiegel vor. Sie für uns aus. Die Verantwortung für das, 173
HEAD OF INNOVATION AND VENTURES OFFICE DER EUROPÄISCHEN RAUMFAHRT FRANK MAXIMILIAN SALZGEBER AGENTUR ESA was mit der Erde geschieht, liegt bei Neugier nicht, die Pflanze abzureißen nauten aus den USA, Russland, Kanada, tig in die Schachteln und sagen: „Sag uns. Und die Raumfahrt, die Bilder der oder einen Schmetterling zu töten und Europa und Japan und anderen Ländern mal, John, sollen wir heute tauschen?“ Satelliten, werden uns immer wieder in ein Buch zu kleben, sondern den Din- reisen ins All, arbeiten auf der ISS auf Das ist meine Vision für das Leben auf daran erinnern. gen, die wir erforschen, mit Respekt zu engstem Raum zusammen – und bauen der Erde. begegnen. gemeinsam das größte von Menschen Meine Vision ist, dass die Menschheit gemachte Objekt außerhalb unserer Die Raumfahrt wird immer von Visionen lernt, mit ihrem Planeten in Einklang zu Wenn wir uns Gedanken über die Erde. Sie bringen ihre Forschungspro- getrieben und der Ursprung der Visio- leben und ihrer Verantwortung gerecht Zukunft machen, müssen wir uns auch jekte voran, teilen sich eine Toilette nen ist etwas Positives, die Neugier der zu werden. Kurzfristig mögen wir noch fragen, wie wir Menschen miteinander und vertrauen sich gegenseitig das Menschen. Die Raumfahrt ist einer der unvernünftig sein, aber langfristig wird umgehen wollen. Auch hierbei kann uns Leben an. Ich finde, das ist ein extrem wenigen Bereiche, die den Kindheits- die Stimme der Vernunft siegen. Schon der Blick von außen auf die Erde inspi- guter Motivator, uns daran zu erinnern, und Menschheitstraum, etwas Ver- Hegel sagt: „Was vernünftig ist, das ist rieren. Blicken wir von oben auf die Kri- dass ein friedvolles und produktives rücktes und Neues zu machen, wider- wirklich.” Und diese Stimme wird auch senregionen dieser Erde, wie etwa den Miteinander funktioniert und auch in spiegelt. Sie zaubert eine leuchtende maßgeblich von Europa ausgehen. Denn Sinai, sehen wir keine Grenzen, keine anderen Bereichen möglich ist. Flamme in die Augen der Menschen. Sie wir Europäer sind Entdecker. Ich glaube, Kriege, keine unterschiedlichen Völker. bringt Kinder, junge Menschen – Män- dass die Menschen in Europa mit ihrem Wir sehen den Nil und diesen wunder- Ich habe heute das große Glück, mit den ner wie Frauen – dazu, sich für Wis- Verständnis der Welt eine Vorreiterrolle schönen Schimmer der Atmosphäre. Helden meiner Kindheit, den Astronau- senschaft, Technologie und Physik zu spielen können und ihr Handeln mehr Sonst nichts. Wir können nicht die ten, zusammenarbeiten zu dürfen. Mich interessieren und zu begeistern. Und und mehr danach ausrichten. ganze Menschheit auf die ISS schicken, faszinieren diese Menschen, die ihren diese gemeinsame Faszination vereint um sich das anzusehen. Aber wir kön- Entdeckergeist ihre kindliche Neugier die Menschen. Halten wir uns vor Augen, dass die Tat- nen diesen Blick runterbringen. Und mit zum Beruf gemacht haben und dabei sache, dass sich die Erde um die Sonne ihm die Vision der Zukunft, eine Vision, sympathisch, offen, herzlich sind – und Dabei ist Weltraumforschung und dreht (und nicht andersherum), keinen wie man sich die Erde vorstellen kann überhaupt nicht abgehoben. Heute sind -technik keineswegs so abgehoben und Einfluss auf das alltägliche Leben der und will. sie für mich die Botschafter für eine lebensfern wie viele denken. Unser all- Menschen hat: Niemand hat deshalb bessere Welt. tägliches Leben wird heute von Dingen weniger Sorgen oder mehr Brot auf sei- Die ESA arbeitet mit 22 Mitgliedslän- geprägt, die ohne Raumfahrttechnolo- nem Teller. Nichtsdestotrotz nennen dern zusammen, um gemeinsam Dinge Ich bin in der Zeit des Kalten Krieges gie nie erfunden worden wären. Dank wir diese Erkenntnis die „kopernikani- zu erreichen. In der Raumfahrt erleben aufgewachsen und war zwei Jahre ihr können wir weltweit telefonieren, sche Revolution“, sie kennzeichnet den wir, dass es funktioniert. Ja, dass es bei der Luftwaffe. Damals gab es auf Fernsehprogramme empfangen und Beginn der Moderne. Denn das Wissen sogar in extrem schwierigen Situatio- der einen Seite die Amerikaner, „die uns mit dem Internet verbinden. Wir darum, wie die Himmelskörper ange- nen funktioniert. Denn es gibt keinen Blauen“, das waren „die Guten“. Und wissen, wie das Wetter wird, und der ordnet sind, hat die Beziehung von schwierigeren Ort, keine lebensfeind- auf der anderen Seite die Russen, „die Bauer erfährt, wann er aussäen muss. uns Menschen zu uns selbst, unserer licheren Bedingungen als im Weltraum. Roten“, das waren „die Bösen“. Heute Die Raumfahrttechnik ist das Rückgrat Umwelt und unserer Rolle im Kosmos Wir haben es dort mit Temperaturun- auf der ISS erleben wir genau das der heutigen Digitalisierung. Sie hilft für immer verändert. terschieden von plus oder minus 150 Gegenteil. Zwar gibt es immer noch uns, alles zu ordnen, unsere Flugzeuge Grad zu tun, mit Vakuum und hochener- die getrennten Mahlzeiten in roten und sicher landen zu lassen, mit unseren Eine Gesellschaft, die nicht forscht getischen kosmischen Strahlen. Hinzu blauen Boxen – in den roten befindet Autos zu navigieren und ein Haus in und auf Entdeckungsreisen geht, ent- kommt, dass es uns die Erde extrem sich das russische und in den blauen einer fremden Stadt zu finden. wickelt sich nicht weiter. Dieser For- schwer macht, sie zu verlassen, und das amerikanische Essen –, doch dann scherdrang treibt die Raumfahrt an und genauso schwer, wieder zurückzukom- sitzen die Astronauten aus beiden Län- Auch in Zukunft werden Entwicklungen 174 Neugier ist ihr Leitbild. Dabei bedeutet men. Und doch funktioniert es: Astro- dern am Tisch, schauen sich gegensei- aus der Weltraumforschung unseren 175
HEAD OF INNOVATION AND VENTURES OFFICE DER EUROPÄISCHEN RAUMFAHRT FRANK MAXIMILIAN SALZGEBER AGENTUR ESA lltag bestimmen. Nehmen wir bei- A Oder die Entwicklung von künstlichen recht müssen wir uns von der heran- werden und unseren Planeten, unseren spielsweise die Brennstoffzelle, eigent- Muskeln: Wie kann man Astronauten wachsenden Generation vorhalten las- Plan A, erhalten werden. Plan B oder lich eine Erfindung aus dem 19. Jahr- unterstützen, die bei längeren Aufent- sen, nicht schon früher auf das Offen- Plan C, sei es ein Leben auf dem Mars hundert. In den 1960er-Jahren ist diese halten im Weltraum an Muskelschwund sichtliche, die Bedrohung unserer Erde, oder anderswo, sollten wir kennen Technologie im Rahmen der Satelliten- leiden? Wenn ich dann eines Tages in reagiert zu haben. Dennoch glaube ich (denn wir sind Entdecker!), jedoch nie- programme weiterentwickelt worden Rente gehe und mich dieser riesige daran, dass wir das Ruder herumrei mals brauchen müssen. und heute steht sie in Anbetracht der Stein im Garten stört, dann ziehe ich ßen, wir empfindungsfähige Weltbürger Energiewende und Mobilitätsfragen hoffentlich meinen „Raumanzug“ an, wieder hochaktuell im Fokus der tech- drücke auf den Knopf und hebe ihn mit nischen Entwicklung. meinen künstlichen Muskeln einfach aus dem Weg. So wie Obelix! Solche Auch den achtsamen Umgang mit Ideen finde ich mehr als charmant. knappen Ressourcen haben wir in der Weltraumtechnologie schon lange im Ein anderes wichtiges Thema ist Big Visier. Auf der Raumstation zum Bei- Data. In der Raumfahrt haben wir es spiel ist Recycling ein wichtiges Über- mit extrem großen Datenmengen zu lebensprinzip: Wir bereiten dort Wasser tun. Auch in diesem Bereich können auf, produzieren Luft und eigene Ener- andere Branchen von den Entwicklun- gie. Die Technologien, die dies ermög- gen profitieren. Die Agrarindustrie zum lichen, können uns auch auf der Erde Beispiel oder auch ungewöhnliche Kun- helfen, bewusster mit den knappen den wie die Bibliothek des Vatikans. Ressourcen umzugehen, und werden Diese benutzt ein Datenformat aus der schon heute im Katastrophenschutz Weltraumtechnologie für die Digitalisie- eingesetzt. rung ihrer tausend Jahre alten Bücher. Die Bibliothekare dort verwenden das Das Prinzip, Innovationen aus der Format Flexible Image Transport Sys- Raumfahrt für andere Anwendungen tem (FITS), das die NASA und die ESA für auf der Erde zu recyceln, ist nicht ihre Sternenkarten entwickelt haben. der Grund dafür, dass wir Raumfahrt Die Bibliothekare wollen damit sicher- betreiben. Aber es ist ein großartiger stellen, dass die Werke auch in 50, 100 Nebeneffekt. Es wäre fahrlässig, Inno- oder 300 Jahren noch lesbar sind. Und vationen mit so einem großen Potenzial die Chancen dafür stehen gut. Wenn wir nur einmal anzuwenden. Das Schöne an als Menschheit das Solarsystem verlas- der Raumfahrt ist, dass wir häufig Pro- sen, dann werden wir nach den Sternen bleme lösen müssen, die so weit weg navigieren, wie Magellan und Kolumbus sind, dass sich kein anderer Mensch auf das vor 500 Jahren getan haben. der Erde überhaupt darüber Gedanken macht: Wie schieße ich beispielsweise Als ich neun Jahre alt war, waren die kleine Roboter auf einen Asteroiden, Astronauten meine Helden. Heute sind damit sie diesen in drei Generationen in es meine Söhne Lucas und Johannes, 176 ein Raumschiff „umbauen“. die meine Visionen inspirieren. Ganz zu 177
Sie können auch lesen