EXTREM ZERFASERTE DATENINFRASTRUKTUR
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70 I 08/21 DUZ I DIE WISSENSCHAFT HAT FESTGESTELLT „EXTREM ZERFASERTE DATENINFRASTRUKTUR“ Die jüngste Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet, an die 200 Menschen verloren ihr Leben. Das hätte vermieden werden können, wie Katastrophenforscher Andreas M. Schäfer und seine Kollegen vom KIT in einer ersten Analyse der Ereignisse feststellten INTERVIEW: VERONIKA RENKES Herr Dr. Schäfer, Sie erforschen die Risiken von ger. Zudem helfen uns die Erkenntnisse aus den Hochwas- Naturkatastrophen und entwickeln Lösungen für ein serjahren 1804 und 1910 einzuschätzen, wo man zum Bei- Risikomanagement. Was reizt Sie daran? spiel heute besser nicht mehr bauen sollte. Ich hoffe, dass Mich faszinieren Naturgewalten. Ich will verstehen, wie daraus nach der aktuellen Hochwasserkatastrophe endlich die Umwelt um uns herum funktioniert und warum regel- die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Die histo- mäßig Katastrophen über uns hereinbrechen. Am CEDIM rischenErkenntnisse helfen uns auch bei Entscheidungen entwickeln wir neue Techniken und Instrumente, um na- darüber, wie hoch eine Brücke gebaut werden sollte und türliche und anthropogene Risiken erfassen, analysieren, wie massiv Pegelmessstellen gebaut sein müssen, damit sie kommunizieren und managen zu können. Hierzu nutzen wir von einem Hochwasser nicht hinweggeschwemmt werden. Erkenntnisse anderer nationaler und internationaler wis- Notwendig sind zudem Frühwarnsysteme für Starknieder- senschaftlicher Institutionen und Einrichtungen des Kata- schlag. Denn eine wichtige Komponente der Hochwasser- strophenschutzes. Ein Beispiel dafür ist der von uns am KIT katastrophe war die Tatsache, dass die Böden in Rheinland- gegründete unabhängige Thinktank „risklayer“, der Katast- Pfalz und Nordrhein-Westfalen gesättigt waren und kaum rophen analysiert und Lösungen für das Risikomanagement weiteres Wasser aufnehmen konnten. Ähnlich wie 1804 und im Katastrophenfall erarbeitet, dazu gehört auch die größte 1910 hatte es bereits in den Monaten davor viel geregnet. Katastrophenschadensdatenbank der Welt „CATDAT“. Der erneut einsetzende Starkniederschlag führte so zu den Überschwemmungen. Wenn solche Erfahrungen vor Ort Welchen Nutzen ziehen Sie daraus für Ihre Forschung? bekannt sind, könnte man sofort eine Warnung ausspre- Dadurch können wir aktuelle Katastrophen sehr gut mit chen oder entscheiden, ob evakuiert werden sollte, weil ähnlichen Ereignissen in der Vergangenheit vergleichen. die Gefahr besteht, dass die Situation sehr extrem werden So erfahren wir, welche Auswirkungen die Katastrophen in könnte. Es tut mir als Forscher weh zu wissen, dass solche den Regionen hatten und mit welchen wir womöglich bei Ereignisse historisch bekannt sind und die Bevölkerung aktuellen Katastrophen zu rechnen haben. Wie jetzt bei der trotzdem nicht darauf vorbereitet ist. Hochwasserkatastrophe im Juli an der Ahr, die wir mit his- torischen Hochwasserereignissen von 1804 und 1910 ver- Sie entwickeln Technologien und Werkzeuge, die gleichen konnten. auch Einrichtungen des Katastrophenschutzes auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sowie In Ihrem Bericht über die aktuellen Ereignisse in internationaler Ebene nutzen können. Warum ist das Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz fordern nützlich? Sie, auch historische Daten einzubeziehen, um Im Katastrophenfall können wir in Deutschland nur auf Hochwassergefahren besser einschätzen zu können. eine extrem zerfaserte Dateninfrastruktur zugreifen. Dies Warum wurde das bisher nicht getan? gilt für Daten über Pegelstände und Abflüsse bei Hoch- Warum diese Informationen fehlen, weiß ich nicht. Eine Ver- wasser ebenso wie für Erdbebendaten oder Corona-Daten. mutung ist, dass man nur die am Pegel entstehenden Abfluss- Wenig effizient sind auch die Verfügbarkeit, Kommunika- werte ab 1947 nutzte, um daraus eine Statistik zu extrapolie- tion und Transparenz dieser nicht selten lebensrettenden ren. Diese Extrapolation war aber völlig unzureichend. Denn Daten. In einigen Bundesländern sind sie transparent und die relevanten Ex-tremwerte haben sich vor 1947 ereignet und offen zugänglich, in anderen wiederum muss man um- sind für Hochwasserkatastrophen wesentlich aussagekräfti- ständlich nachfragen oder sie werden überhaupt nicht zur
DIE WISSENSCHAFT HAT FESTGESTELLT I DUZ 08/21 I 71 Foto: Pressezentrum Hochwasser Ahr / Polizei RLP, https://hochwasser-ahr.rlp.de Jüngste Hochwasserkatastrophe an der Ahr: 141 Menschen sind gestorben, neun werden derzeit noch vermisst und mehr als 700 wurden verletzt (Stand: 10. August 2021)
72 I 08/21 DUZ I DIE WISSENSCHAFT HAT FESTGESTELLT Foto: Land NRW / Ralph Sondermann Galerie Die NRW-Stadt Altena versinkt im Wasser: Bei den Rettungsarbeiten kamen zwei Feuerwehrleute ums Leben Verfügung gestellt. Eine einheitliche, transparente und kommuniziert. Um die Katastrophe zu verhindern, hätte verfügbare Dateninfrastruktur ist aber für ein wirksames man wahrscheinlich andere Entscheidungen treffen sollen Krisenmanagement dringend notwendig. Ähnlich wie wir als die, die dann letzten Endes getroffen wurden. unseren „RisklayerExplorer“ nutzen, um die Bevölkerung über Erdbeben oder die Corona-Pandemie zu informieren. Könnte man schlussfolgern, dass die Systeme zur So gibt es für Erdbeben bereits eine internationale trans- Früherkennung grundsätzlich gut geeignet sind, es parente Dateninfrastruktur. Problemlos haben wir Zugang aber an den zuständigen Behörden und nicht funkti- zu Daten aus den USA, weil dort vorgeschrieben ist, dass onierenden Meldeketten in den Kommunen hapert? alle Datensätze, die öffentliche Einrichtungen erarbeiten, Ja. Die Prognosen für die nahende Katastrophe wurden ge- grundsätzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wer- stellt und kommuniziert. Auch die ungewöhnlich großen den müssen. Bei uns gibt es da noch viel Luft nach oben. Regenmengen waren hinreichend gut prognostiziert. Zudem wurden großflächig Warnungen ausgegeben. Auch die Ge- Gab es für die aktuelle Hochwasserkatastrophe an fahr, dass sich über große Flächen gewaltige Wassermengen Rhein und Ahr also keine oder keine ausreichenden abregnen würden, war frühzeitig erkennbar und auch hierü- Frühwarnsysteme? ber wurden Warnungen ausgesprochen. Warum bestimmte Die gibt es und sie werden weiter entwickelt. Nur wurden für die Berechnung des Hochwassers die viel zu niedrigen Höchstpegelstände (3,71 Meter) und Abflüsse (236 Kubikme- ter pro Sekunde) der Nachkriegszeit verwendet und nicht die für Hochwasserkatastrophen relevanten Daten aus DIE STUDIE den Jahren 1910 und 1804. Wir konnten beobachten, dass das Ereignis von 2021 ein ähnliches Ausmaß hatte wie das Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021 (Deutschland). Hochwasserereignis von 1910, mit Pegelständen bis zu sie- Bericht Nr. 1 „Nordrhein-Westfalen & Rheinland-Pfalz“. ben Metern und einer Abflussgeschwindigkeit von 400 bis CEDIM Forensic Disaster Analysis (FDA) Group. KIT, 700 Kubikmeter pro Sekunde. Dass es in diesem Juli zu ei- 2021. https://bit.ly/3jQyNyT ner extremen Hochwasserlage kommen könnte, war schon relativ früh bekannt und wurde auch schon Tage vorher
DIE WISSENSCHAFT HAT FESTGESTELLT I DUZ 08/21 I 73 „ES TUT MIR ALS FORSCHER WEH ZU WISSEN, DASS SOLCHE EREIGNISSE HISTORISCH BEKANNT SIND UND DIE BEVÖLKERUNG TROTZDEM NICHT DARAUF VORBEREITET IST“ Meldeketten nicht funktionierten, kann ich nicht beurteilen. Wir brauchen eine zuverlässige Warninfrastruktur und ein Ein wichtiger Faktor ist auf jeden Fall: Einfache Warnmecha- größeres Verantwortungsbewusstsein bei den in Politik und nismen, wie etwa Sirenenanlagen, wurden abgebaut, weil Verwaltung für das Katastrophenmanagement Zuständigen. Kommunen Geld sparen wollten. Hilfreich wäre zudem eine Denn auch die Warn- und Meldekette muss funktionieren. unkomplizierte Warnung per SMS, wie etwa „In zehn Minu- Zudem sollte der Hochwasserschutz auch baulich verbessert ten kommt eine Flut durch das Dorf“. So etwas ist an den werden. Dazu zählt auch die Entscheidung, bestimmte Ge- Pegelständen flussaufwärts abzulesen. Das funktioniert bei biete nicht mehr zu bebauen. Weder der Katastrophenschutz Erdbebenwarnungen sehr gut. Auch wenn nur zwei Minuten noch der Bevölkerungsschutz sollte Opfer kurzfristiger Fi- Zeit blieben, könnte man so viele Menschenleben retten. Wir nanzpolitik werden. Wir müssen die Zeiten, in denen nichts benötigen zudem bundeseinheitliche Warnsysteme. Zwar passiert, dafür nutzen, uns darauf vorzubereiten, dass etwas gibt es Warn-Apps wie Katwarn oder Nina. Diese funktionie- passieren kann – etwa durch regelmäßige Katastrophen- ren aber nur teilweise in bestimmten Bundesländern. Die schutzübungen für alle. Die Bevölkerung sollte wissen, was meisten Menschen aber sind mobil unterwegs und machen zu tun ist, wenn es zu einer Katastrophe kommt. // sich keine Gedanken darüber, welche App wo im Katastro- phenfall informiert. Es wäre viel sinnvoller, mindestens ein bundeseinheitliches System zu haben, ähnlich wie die Coro- na-Warn-App. Das müsste auf europäischer Ebene ebenfalls möglich sein. Dazu könnte man bereits existierende Syste- me bundes- und europaweit ausrollen. Ich würde mich freu- en, wenn so etwas nicht an der Politik scheitern würde. DR. ANDREAS M. SCHÄFER Welche Erkenntnisse zur jüngsten Hochwasserkatast- Der Geophysiker rophe haben Sie besonders überrascht? ist Koordinator für Vor allen die Komplexität der verschiedenen Arten von Forenische Kata- Hochwassern, die sich ereignet haben. Die Sturzflutereig- nisse in verschiedenen Tälern; die schweren Gewitter, die strophenanalysen sich über Stadtzentren wie Hagen abgeregnet haben; die am CEDIM – Cen- angespannten Situationen an verschiedenen Dämmen; die ter for Disaster Ma- großflächigen Überflutungen einzelner Landstriche und die nagement and Risk Extremfälle wie im Ahrtal. Überrascht haben mich auch der Reduction Techno- unzureichende Hochwasserschutz sowie die fehlende In- logy am Karlsruher Foto: privat formation und Kommunikation über die sich anbahnenden Katastrophen. Erschreckend war auch, dass die Hochwas- Institut für Tech- serpegel auf einmal weg waren und nichts mehr gemessen nologie (KIT). Dort wurde, weil die Bauwerke mitgerissen wurden. Das sollte forscht er über Naturgefahren und Risiken von Tsunami, uns zu denken geben. Erdbeben und Hurricanes. Er ist Mitgründer des am KIT entstandenen unabhängigen Think-tanks „risklayer“, der Welche Konsequenzen ergeben sich aus Ihren Beobachtungen, was sollten Politik und Verwaltung maßgeschneiderte Lösungen für das Risikomanagement unbedingt tun? im Katastrophenfall erarbeitet.
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