Geriatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt

 
WEITER LESEN
Geriatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Geriatrie – highlighted

Mit steigender Lebenserwartung gewinnt         Fall 1: Ausgeprägte (112 mmol/l),                  Medikation bei Aufnahme: Metoprolol succi-
die Altersmedizin an Bedeutung. Um den                                                            nat 47,5 mg 1-0-1, Amiodaron 100 mg 1-0-1;
                                               symptomatische Hyponatriämie –                     Hydrochlorothiazid 12,5 mg 1-0-0, Acetylsali-
besonderen Bedürfnissen des alten Men-
                                               ein typisch geriatrischer Notfall                  cylsäure 100 mg 1-0-0; Eplerenon 25 mg 1-0-0,
schen mit Multimorbidität und erhöhtem
                                                                                                  Bisacodyl 10 mg 1-0-0.
Risiko von Funktions- und Fähigkeitsstö-
                                               Anamnese
rung mit der Gefahr bleibender Behin-
                                               Ein 87-jähriger Patient wurde vom Notarzt          Diagnostik, Therapie und Verlauf
derung und Pflegebedürftigkeit gerecht         wegen Verschlechterung des Allgemeinzustan-        Bei Aufnahme zeigte sich ein schwacher, 87-jäh-
zu werden, wurden in Bayern zahlreiche         des in die Notaufnahme gebracht. Der Patient       riger, wacher, unscharf orientierter Patient mit
Akutgeriatrien eröffnet.                       war mehrfach gestürzt und seit einigen Tagen       milden Exsikkosezeichen (gefurchte Zunge, ris-
                                               nicht mehr gehfähig. Er sei müde, verlangsamt,     sige Lippen, trockene Haut), sonst unauffälligem
Zentren für Akutgeriatrie und Frührehabili-    verwirrt und desorientiert, außerdem klag-         internistischem Untersuchungsbefund ohne Hin-
tation übernehmen geriatrische Patienten       te er über Rückenschmerzen, Schwindel und          weis auf periphere Ödeme. Puls 96/min, Tempe-
(älter als 70 Jahre und multimorbid, oder      Übelkeit.                                          ratur 36,4 °C, Atemfrequenz 12/min, Sättigung
älter als 80 Jahre) direkt aus dem Notfall-                                                       bei Raumluft 96 Prozent. EKG: Sinusrhythmus,
zentrum, nach Einweisung vom Hausarzt          Fremdanamnestisch sei der Patient bis vor drei     AV-Block 1. Grades, keine Erregungsrückbil-
                                               bis vier Wochen kognitiv voll leistungsfähig,      dungsstörungen.
oder zur Weiterbehandlung, Diagnostik und
                                               selbstständig ohne Hilfsmittel mobil gewesen
Frührehabilitation nach Intensivaufenthal-
                                               und eigenständig in die Stadt gefahren. Er lebt    Laborchemisch fand sich eine ausgeprägte Hypo-
ten oder Operationen. Ziel der Behandlung      mit seiner Ehefrau im Eigenheim, ohne fremde       natriämie (112 mmol/l; Norm 136 bis 145 mmol/l),
ist neben einer altersgerechten Therapie der   Unterstützung, ohne Pflegegrad.                    bei grenzwertigem Serum Creatinin (1,3 mg/dl;
bestmögliche Erhalt der Selbstständigkeit                                                         Normwert: 0,7 bis 1,2 mg/dl) und leicht redu-
und die Vermeidung von Pflegebedürftig-        An Vorerkrankungen sind eine chronische Nie-       zierter GFR (50 ml/min; Norm > 60 ml/min),
keit.                                          reninsuffizienz, paroxysmales Vorhofflimmern       ein leicht erhöhtes C-reaktives Protein (CRP)
                                               (keine Antikoagulation), eine Sigmadivertikulose   (20 mg/l; Norm bis 5 mg/l) und eine milde, nor-
                                               sowie eine Motilitätsstörung des Ösophagus         mochrome, makrozytäre Anämie (Hb 12,8 g/dl;
                                               bekannt.                                           Norm 13,5 bis 17,5 g/dl).

520     Bayerisches Ärzteblatt 11/2020
Geriatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

                                                                         Privatdozentin Dr. Brigitte Buchwald-Lancaster

Das cranielle Computertomogramm (CT) ergab           Bei erniedrigter Osmolalität im Serum (248 mosm/kg;     Bei massiv erhöhtem Ferritin (3.409 μg/l; Norm
bis auf eine globale Substanzminderung keinen        Norm 275 bis 300 mosm/kg), Hypourikämie                 22 bis 275 µg/l) und erhöhter LDH (366 U/l;
Hinweis auf eine akute cerebrale Affektion.          (2,9 mg/dl; Norm 3,5 bis 7,2 mg/dl), Hypo- bis          Norm 125 bis 220) erfolgte zum Ausschuss einer
                                                     Euvolämie, einer mit 325 mosm/kg normalen               paraneoplastischen Hyponatriämie ein Tumor-
Bei zunehmender Vigilanzminderung erfolgte           Urin-Osmolalität (Norm 300 bis 1.400 mosm/              screening. Erfreulicherweise ergaben sich weder
eine intensivmedizinische Überwachung. Unter         kg) und mit 70,8 mmol/l normalem Natrium im             im Thorax-CT, noch in der Abdomensonografie,
kontrollierter intravenöser Substitution von Na-     Urin (Norm 64 bis 172 mmol/l) lag der Verdacht          der Gastroskopie oder der partiellen Kolosko-
trium zeigte sich eine sukzessive Verbesserung       auf ein Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion           pie Hinweise auf eine Neoplasie. Das erhöhte
des Allgemeinzustandes mit adäquatem Anstieg         (SIADH) nahe. Cortisol, ACTH, TSH basal sowie           Ferritin war im Verlauf rückläufig.
des Serumnatriums, sodass der Patient nach drei      fT3 und fT4 waren normwertig.
Tagen mit einem Serumnatrium von 124 mmol/l
auf Normalstation in die Akutgeriatrie verlegt
werden konnte.

Bei Übernahme war der Patient wach, hatte
aber eine Amnesie für die letzten Tage vor und
während des Krankenhausaufenthaltes. Er war
insgesamt sehr schwach (Barthel-Index 15/100),
nicht gehfähig (Timed-up-and-go-Test [TUG]
nicht durchführbar), niedergestimmt (Geriat-
ric-depression-Scale [GDS] 7) und zeigte ko-
gnitive Einschränkungen (Mini Mental Status
[MMS] 23/30). Die Bereiche des geriatrischen
Assessments sind in Tabelle 1 dargestellt. In der
logopädischen Schluckdiagnostik fand sich ein
auffälliger Wasserschlucktest mit Verdacht auf
laryngeale Penetration und ein Verschlucken mit
Husten bei Nahrungsaufnahme.

Bei ansteigenden Entzündungsparametern (CRP bis
41 mg/l; Norm < 5 mg/l) und röntgenologischem
Verdacht auf pneumonisches Infiltrat wurde eine
kalkulierte antibiotische Therapie mit Ampicillin/
Sulbactam intravenös begonnen, hierunter wa-         Abbildung 1: CT der LWS mit sagittaler und coronarer Rekonstruktion: frische muldenförmige Deckplatten­
ren die Entzündungsparameter rasch rückläufig.       sinterung LWK 3 (Pfeil). Keine Hinterkantenbeteiligung.

                                                                                                                   Bayerisches Ärzteblatt 11/2020         521
Geriatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

 Bereiche des geriatrischen Assessments                                                                    Unter der Annahme einer HCT- (Hydrochlorothia-
                                                                                                           zid) und Eplerenon-assoziierten Hyponatriämie
 Selbsthilfefähigkeit – Barthel-Index
                                                    Interpretation                                         wurde die bestehende Medikation pausiert. Bei
 nach Mahoney und Barthel
                                                                                                           unauffälliger Echokardiografie mit intakter links-
 Beobachtungsinstrument zur Beurteilung                 100     selbstständig (maximale Punktzahl)         ventrikulärer Pumpfunktion bestand formal keine
 der basalen Aktivitäten des täglichen Le-            Punkte                                               Indikation für eine Herzinsuffizienztherapie. Es
 bens (ADL): Es beurteilt folgende Bereiche           95 – 80 punktuell hilfebedürftig                     wurde auf die Gabe von Diuretika verzichtet und
 (in Punkten) Essen – Baden – Körperpflege            Punkte
 – An- und Auskleiden – Stuhlkontrolle – Urin-
                                                                                                           die Trinkmenge auf 1,5 Liter pro Tag beschränkt
 kontrolle – Toilettenbenutzung – Bett- bzw.          75 – 35 hilfebedürftig                               sowie oral Natrium zugeführt. Damit konnte
 Stuhltransfer – Mobilität – Treppensteigen.          Punkte                                               unter engmaschiger Kontrolle das Serumnatrium
                                                       30 – 0 weitgehend pflegeabhängig                    über zwei Wochen bis auf 130 mmol/l gesteigert
                                                      Punkte                                               werden. Die Vigilanz, die kognitive Leistungsfä-
 Mobilität – Timed Up & Go Test (TUG) nach
                                                                                                           higkeit, Stimmung und Motorik besserten sich
                                           Interpretation                                                  zusammen mit dem Allgemeinzustand darunter
 Podsiadlo
                                                                                                           kontinuierlich.
 Der Untersucher misst die Zeit, die der Pati- < 10 Sek.        normale Gehfähigkeit
 ent braucht um ohne fremde Hilfe aus einem      10 – 19        leichte Mobilitätseinschränkung,
 Stuhl üblicher Höhe, mit Armlehnen, aufzu-
                                                                                                           Die, bei immobilisierenden Rückenschmerzen und
                                                    Sek.        meist ohne Alltagsrelevanz                 Zustand nach häuslichen Stürzen durchgeführte
 stehen, drei Meter zu gehen, umzudrehen,
 zurück zum Stuhl zu gehen und sich wieder       20 – 29        deutliche, alltagsrelevante Mobilitäts-    CT von Brust- und Lendenwirbelsäule zeigte, neben
 hinzusetzen in der üblichen Geschwindigkeit        Sek.        einschränkung                              einer alten, vorbekannten BWK 12 Fraktur eine
 (Hilfsmittel sind erlaubt).                   > 30 Sek.        schwere Mobilitätseinschränkung; diese     subakute Deckplattensinterung LWK 3 ohne Hin-
                                                                Patienten können meist nicht ohne frem-    terkantenbeteiligung oder Spinalkanaleinengung
                                                                de Hilfe ihre Wohnung verlassen            (Abbildung 1). Nach dem WHO-Stufenschema
 Stimmung – Geriatrische Depressionsskala                                                                  wurde die Schmerztherapie mit Metamizol um
                                          Interpretation                                                   Tapentadol ergänzt, dadurch kam es zu einer
 (GDS) nach Yesavage
 Fragebogen mit 15 Fragen in den Kategorien            Bis 5 normal
                                                                                                           Schmerzlinderung und der Patient konnte aktiv
 „Stimmung“ – „Denken“ – „Psychomotorik“              Punkte                                               an den Therapien teilnehmen.
 und „Verhaltensweisen                                 6 – 10   leichte Depression wahrscheinlich
                                                                                                           Im Rahmen des multimodalen frührehabilitati-
                                                      Punkte
                                                                                                           ven Behandlungskonzeptes erhielt der Patient
                                                      ab 11 schwere Depression wahrscheinlich              regelmäßig Krankengymnastik, physikalische
                                                    Punkten
                                                                                                           Maßnahmen, Ergotherapie und Logopädie. Da-
 Kognition – Mini Mental State Examination                                                                 durch konnte eine deutliche Verbesserung von
                                                    Interpretation
 (MMS) nach Folstein                                                                                       Kraft und Beweglichkeit erreicht werden. Das
 Screeningverfahren zur Beurteilung der               30 – 24 kein Hinweis für eine kognitive Störung      Schlucken war wieder sicher und die Nahrungs-
 kognitiven Funktionen:                               Punkte                                               aufnahme eigenständig möglich. Vor Entlassung
 1. Teil: zeitliche und räumliche Orientierung,       24 – 18   hohe Wahrscheinlichkeit für eine leichte   war der Patient in der Lage, ohne Hilfe aus dem
 Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Kurzzeit-          Punkte    kognitive Beeinträchtigung                 Bett aufzustehen und selbstständig im Zimmer
 gedächtnis                                                                                                und auf dem Gang sicher am Rollator zu gehen.
 2. Teil: Benennen, Lesen, Schreiben sowie              < 18 deutliche kognitive Einschränkung wahr-
                                                      Punkte scheinlich                                    Er konnte in deutlich gebessertem Allgemeinzu-
 visuell-konstruktive Fähigkeiten
                                                                                                           stand (Barthel 70, TUG 40 s), nach Hilfsmittelan-
Tabelle 1: Typische Tests, die im Rahmen des geriatrischen Assessments zur Beurteilung der funktionellen   passung, in sein gewohntes häusliches Umfeld
Fähigkeiten und zur Therapieplanung bzw. Verlaufsbeurteilung bei Aufnahme und bei Entlassung erhoben
werden.
                                                                                                           entlassen werden. Die Entlassmedikation bestand
                                                                                                           aus Metoprolol, Amiodaron, Nitrendipin, ASS 100
                                                                                                           (auf Patientenwunsch keine Antikoagulation)
                                                                                                           sowie Metamizol, Tapentadol und Magnesium.
 Einteilung der Hyponatriämie
 1. Grad                                                                                                   Diskussion
 Mild                                130 bis 135 mmol/l                                                    Höheres Lebensalter ist ein unabhängiger Risiko-
                                                                                                           faktor für Hyponatriämie, der häufigsten Elek-
 Mäßig                               125 bis 129 mmol/l
                                                                                                           trolytstörung. Während in der Allgemeinbevöl-
 Ausgeprägt                          < 125 mmol/l                                                          kerung die Prävalenz der milden Hyponatriämie
 2. Schwere der Symptome                                                                                   bei 1,7 bis 7,7 Prozent liegt, nimmt sie bei den
 Mild                                ↓ Konzentration, ↓ Kognition, neuropsychiatrische Defizite            > 75-Jährigen auf 11,6 Prozent zu [1]. Für Alten-
                                                                                                           heimbewohner ist sogar eine Prävalenz von bis
 Mittel                              Kopfschmerz, Übelkeit, Delir                                          zu 18 Prozent und für Krankenhauspatienten von
 Schwer                              Erbrechen, Somnolenz, zerebraler Krampfanfall, Koma                   16 bis 35 Prozent beschrieben [2, 3]. Hyponatri-
 3. Akuität                                                                                                ämie ist mit höherer Morbidität, Mortalität und
                                                                                                           längeren Krankenhausverweildauern assoziiert.
 Akut                                < 48 h
 Chronisch                           > 48 h                                                                Die klinischen Symptome der Hyponatriämie rei-
Tabelle 2: Einteilung der Hyponatriämie [5].                                                               chen von leichten Aufmerksamkeitsstörungen bis

522        Bayerisches Ärzteblatt 11/2020
Geriatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

 Ursachen der Hyponatriämie bei geriatrischen Patienten
 Plasma-         Vermindert                        Vermindert                 Vermindert                     Normal                      Erhöht
 osmolalität     < 275 mosm/kg                     < 275 mosm/kg              < 275 mosm/kg                  275 bis 300 mosm/kg         > 300 mosm/kg
 Volumen         Hypovolämie                       Euvolämie                  Hypervolämie
 Klinik          Exsikkose, Orthostase             Keine Ödeme,               Lungenödem,                    Keine Symptome durch
                                                   keine Orthostase           periphere Ödeme                Hyponatriämie
 Ursachen        » Diuretika                       » SIADH (Urin-Natrium     » Niereninsuffizienz           » Pseudohyponatriämie      » Hyperglykämie
                 »O smotische Diurese                > 20 mmol/l)            » Nephrotisches Syndrom            bei Hyperlipidämie         (pro 100 mg/dl
                   (Hyperkalzämie,                 » Hypothyreose             » Herzinsuffizienz             » Hyperproteinämie          Blutzuckererhöhung
                   Hyperglykämie)                  » Nebennierenrinden-      » Leberzirrhose                    (z. B. bei Multiplem      erfolgt Absinken des
                 » Salzverlustniere                   insuffizienz            » Intravenöse natrium­arme        Myelom)                   Serum-­Natriums um
                 »E xtrarenal: Diarrhö,           » Primäre Polydipsie         Flüssigkeitsgabe                                          1,6 mmol/l)
                   Erbrechen, Schwitzen               (selten bei Älteren)       (z. B. Glukose 5 Prozent)
                   (Urin-Natrium < 20 mmol/l)                                 » Natriumarme Kost
Tabelle 3: Ursachen der Hyponatriämie bei geriatrischen Patienten.

 Diagnosekriterien des SIADH                             Ursachen des SIADH beim geriatrischen Patienten
 Hyponatriämie < 135 mmol/l                              ZNS-Erkrankungen                » zerebrovaskulär (Insult/Blutung)
 Plasma-Hypoosmolalität < 275 mosm/kg                                                    » subdurales Hämatom
                                                                                         » Schädel-Hirn-Trauma
 Urin-Osmolalität > 100 mosm/kg                                                          » neurochirurgische Operation
 Normovolämie Urin-Natrium > 30 mmol/l                                                   » entzündlich (Meningitis)
 (unter normaler NaCl-Zufuhr)                                                            » Hirntumor
 Ausschluss Niereninsuffizienz, Neben-                   Lungenerkankungen               » Tumor
 niereninsuffizienz und Hypothyreose                                                     » Pneumonie
                                                                                         » Abszess
Tabelle 4: Diagnosekriterien des SIADH [5].
                                                                                         » Tuberkulose
                                                         Medikamente                     » Thiazid-Diuretika
                                                                                         » Antiepileptika (vor allem Carbamazepin)
                                                                                         » Selektive Serotoninrückaufnahme-Inhibitoren (SSRI)
                                                                                            (vor allem Citalopram)
                                                                                         » trizyklische Antidepressiva
                                                                                         » orale Antidiabetika
                                                                                         » Phenothiazine
hin zu Koma und Tod durch Atemstillstand oder                                            » nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR)
Hirnödem mit Einklemmung. Der vorgestellte
                                                         Ektope ADH-Produktion           » kleinzelliges Bronchialkarzinom
Patient präsentierte sich mit einer ausgepräg-           (paraneoplastisch)              » Pankreasneoplasma
ten, mittelschweren, chronischen Hyponatriämie                                           » Lymphome
(vergleiche Tabelle 2). Die im Rahmen der Stürze
                                                        Tabelle 5: Ursachen des SIADH beim geriatrischen Patienten.
aufgetretene Wirbelfraktur ist als direkte Folge
der Hyponatriämie zu sehen ebenso wie die begin-
nende Pneumonie am ehesten durch Aspiration
bei muskulärer Schwäche und Vigilanzstörung
entstanden ist.

Für die Diagnostik der Hyponatriämie ist die Be-
urteilung des Volumenstatus (Hypo-, Eu- oder            der Befunde notfallmäßig mit 0,9 prozentiger           insuffizienz oder eine Hypothyreose ergab sich
Hypervolämie) sowie die genaue Anamnese der             NaCl-Infusion behandelt wurde. Der initiale            differenzialdiagnostisch kein Anhalt.
Begleiterkrankungen und der Medikamente (ver-           Anstieg des Serumnatriums nach Gabe von 0,9
gleiche Tabelle 5) wichtig. Laborchemisch müs-          prozentiger NaCl-Lösung spricht für eine (mit-)        Das SIADH ist die häufigste Ursache der Hypo-
sen Natrium und Osmolalität im Serum und Urin           verursachende Hypovolämie. Der niedrige Se-            natriämie. Als Erstlinientherapie gilt die gezielte
bestimmt werden, Serum-Kreatinin, Harnstoff,            rumnatriumwert bei niedriger Serumosmolali-            Suche und das Ausschalten des Auslösers – sehr
Blutzucker sowie Serum-Kortisol und TSH nüt-            tät und gleichzeitig normalen Natriumwerten            häufig Medikamente (Tabelle 5). Thiazid-Diure-
zen differenzialdiagnostisch (vergleiche Tabelle        und normaler Osmolalität im Urin legen jedoch          tika sind, wie auch im beschriebenen Fall, die
3 und 4).                                               den Verdacht auf eine Hyponatriämie im Rah-            häufigste medikamentöse Ursache eines SIADH.
                                                        men eines Schwartz-Bartter-Syndroms (SIADH,            Die Prävalenz wird auf 79 Prozent aller Frauen
Der vorgestellte Patient präsentierte sich kli-         Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion) na-             mit Hyponatriämie im Alter von 70 bis 74 Jah-
nisch mit milden Exsikkosezeichen ohne pe-              he (vergleiche Tabelle 4). Für einen entgleis-         ren geschätzt [4]. Absetzen oder reduzieren des
riphere Ödeme, sodass er wegen der Schwere              ten Diabetes, eine Nieren- oder Nebennieren-           verursachenden Medikaments können bereits

                                                                                                                      Bayerisches Ärzteblatt 11/2020        523
Titelthema

hilfreich sein. In zweiter Linie wird eine Trinkmen-   In der Notaufnahme war die Patientin wieder         Im Rahmen der multimodalen geriatrischen Be-
genrestriktion und eine Kochsalzzulage (Brühe,         schläfrig, der körperliche Untersuchungsbefund      handlung mit Physiotherapie, physikalischen
Salzgebäck, gesalzene Nüsse) empfohlen. Auch           war bis auf einen abdominellen Druckschmerz         Maßnahmen und Ergotherapie gelang bei chro-
wenn evidenzbasierte Daten zur Reduktion der           unauffällig. Am Rücken der Patientin fanden         nischem muskuloskelettalem Schmerzsyndrom
Trinkmenge auf 0,8 bis 1,5 Liter/Tag fehlen, wird      sich noch zwei weitere 75 µg Fentanylpflaster.      (vergleiche Abbildung 2) eine befriedigende an-
dieses Vorgehen in der Praxis häufig erfolgreich       EKG: Schrittmacherrhythmus, durchgehend ven-        algetische Neueinstellung mit Metamizol (500 mg
angewendet.                                            trikuläre Stimulation, Frequenz 97/min. Im Labor    4 x tgl.) zusammen mit Hydromorphon hydro-
                                                       zeigten sich bis auf ein CRP von 28 mg/l (Norm      chlorid (2 mg retard 1 x tgl.) sowie eine Verbesse-
Bei Therapieversagen, wenn hyponatriämie-              > 5 mg/l) und ein erhöhtes BNP von 588 ng/l         rung der alltagsrelevanten Fähigkeiten, Gangbild,
induzierende Medikamente unverzichtbar oder            (Norm < 100 ng/l) keine Auffälligkeiten. Die        Gehstrecke und allgemeinen Kraft (Barthel-Index
Trinkmengenbeschränkungen nicht umsetzbar              unmittelbar veranlasste CT-Diagnostik lieferte      45/100). Die Patientin war wieder selbstständig
sind, kommen als Drittlinientherapie Vaptane           keinen Hinweis auf eine akute cerebrale Patho-      am Rollator gehfähig (TUG 20 Sekunden), sodass
(Vasopressin-Antagonist – in Deutschland nur           logie, thorakal und abdominell ergaben sich,        sie in deutlich gebessertem Allgemeinzustand
bei SIADH zugelassen) zum Einsatz. Damit kön-          abgesehen von degenerativen Wirbelsäulenver-        nach Hause entlassen werden konnte.
nen Natriumspiegel rasch korrigiert werden. Laut       änderungen (Abbildung 2) und einem geringen
Leitlinie sollte der Natriumspiegel innerhalb von      Pleuraerguss, keine wesentlichen Auffälligkei-      Diskussion
24 Stunden um nicht mehr als 6 bis 8 mmol/l            ten. Bei negativem COVID-19-Abstrich wurde          Fentanyl ist ein synthetisches Opioid zur Therapie
angehoben werden (Limit maximal 10 mmol/l)             die Patientin zur weiteren Überwachung auf die      akuter und chronischer Schmerzen. Die Verschrei-
[5], bei zu schnellem Anstieg des Serumnatriums        Intensivstation verlegt.                            bung von Opioiden steigt mit zunehmendem Pati-
droht die Gefahr der zentralen pontinen Myeli-                                                             entenalter in Häufigkeit, Ausmaß und Dauer [12].
nolyse. Bei Älteren wird sogar nur eine Korrektur      Dort war ein weiteres Mal die Gabe von Nalo-        Bei hochaltrigen Patienten (> 85 Jahre) wurde
des Natriumspiegels um 5 mmol/l in 24 Stunden          xon nötig, zur Analgesie erhielt die Patientin      zwischen 2005 bis 2017 ein deutlicher Anstieg der
empfohlen [7, 8]. Deswegen muss die Einleitung         Metamizol. Darunter zeigte sich die Patientin       Verordnung sehr starker Opioide, insbesondere
einer Vaptantherapie unter stationären Bedin-          kreislaufstabil und wurde am nächsten Tag zur       Fentanyl, beobachtet. Wie bei der beschriebenen
gungen (sechsstündlichen Natriumkontrollen)            weiteren Diagnostik und Frührehabilitation in       Patientin werden starke Opioide in der Gruppe
erfolgen.                                              die Akutgeriatrie verlegt.                          der Hochaltrigen (> 85 Jahre) vor allem zur Be-
                                                                                                           handlung muskuloskelettaler Schmerzsyndrome
Im Jahr 2006 fand ein Paradigmenwechsel in             Die Patientin präsentierte sich dort noch fluk-     eingesetzt, für Tumorschmerzen in der jüngeren
der Wahrnehmung der Hyponatriämie statt [8].           tuierend vigilant, in sehr schlechtem Ernäh-        Subgruppe (65 bis 74 Jahre). In Deutschland sind
Es wurde gezeigt, dass bereits leichte, scheinbar      rungs- (BMI 16,5) und stark hilfebedürftigem        Fentanylpflaster zum stark wirksamen Opioid der
asymptomatische Hyponatriämien (< 135 mmol/l)          Allgemeinzustand (Barthel-Index 20/100). Die        ersten Wahl geworden.
messbare Einschränkungen der Kognition und der         Kognition war nicht beeinträchtigt (MMS 27/30),
Mobilität bewirken können [9]. Schon leichte Hypo-     die Stimmung ausgeglichen (GDS 3). Im logopä-       Fentanyl besitzt als synthetisches Opioid eine
natriämien begünstigen Stürze und Frakturen            dischen Schluckscreening zeigten sich keinerlei     mehr als 100-fach stärkere Potenz als Morphin,
signifikant, und funktionelle Einschränkungen          Einschränkungen. Die Patientin lebt allein zu-      ist sehr wirksam und wegen der hohen Lipophilie
im geriatrischen Assessment sind belegt [10, 11].      hause (ihr Lebensgefährte wohnt in der Nach-        bestens für die transdermale Applikation geeig-
Nach aktueller Literatur ist, vor allem beim           barschaft) mit einer 24-Stunden-Hilfe, es besteht   net. Nachteilig ist die sehr geringe therapeutische
SIADH, die vollständige Korrektur einer auch nur       Pflegegrad 3.                                       Breite. So sind Intoxikationen aufgrund von An-
leichten Hyponatriämie anzuraten.                                                                          wendungsfehlern, wie falscher Dosierung oder
                                                       Wegen erneut aufgetretener Somnolenz musste         unzweckmäßigem Einsatz, häufig und bei hoch-
                                                       die Patientin noch für eine weitere Nacht auf       altrigen Patienten besonders schwerwiegend.
Fall 2: Somnolenz bei Überdosierung                    der Intensivstation überwacht werden, konnte
von transdermalem Fentanyl – ein                       aber bereits am Folgetag in wachem Zustand          Fentanylpflaster bilden in den oberen Hautschich-
                                                       auf die Normalstation verlegt werden. Sie setzte    ten ein Wirkstoffdepot, charakteristisch ist der
abwendbarer gefährlicher Verlauf                       einmalig blutige Koagel auf geformtem Stuhl         verzögerte Wirkungseintritt (12 bis 24 Stunden),
                                                       ab. In der mikrobiologischen Stuhluntersu-          aber auch die fortgesetzte Wirksamkeit nach
Eine 96-jährige Frau wurde zuhause von ihrem           chung wurde ein Shiga-1-Toxin produzieren-          Entfernen des Pflasters, denn das kutane Depot
Lebensgefährten somnolent aufgefunden. Beim            der enterohämorrhagischer Escherichia coli          setzt den Wirkstoff weiter frei. Die Plasmakon-
Eintreffen des Notarztes war die Patientin tief        (EHEC) asserviert und die Patientin isoliert.       zentration des Fentanyls nimmt langsam, mit
komatös, hatte lichtstarre enge Pupillen und eine      Die Infektionsquelle war nicht eruierbar. Eini-     einer Halbwertszeit von 12 bis 24 Stunden, ab.
Atemfrequenz von 8/min (Sauerstoffsättigung            ge Tage später entwickelte die Patientin einen      Deswegen müssen Patienten nach Überdosierung,
initial 84 Prozent). Seit einer mit Gammanagel         Harnwegsinfekt bzw. eine beginnende Urosepsis       auch wenn die Pflaster entfernt sind, lange genug
versorgten Hüftfraktur vor sechs Monaten, er-          mit laborchemisch stark erhöhten Infekt- und        (in unserem Fall drei Tage) überwacht werden.
halte sie Fentanylpflaster (37,5 µg alle drei Tage),   Nierenretentionswerten sowie erhöhtem Procal-
am Abend vorher sei ein 75 µg Pflaster am Rücken       citonin. Bei signifikantem Nachweis von EHEC        Des Weiteren ist dringend zu beachten, dass
neu geklebt worden. Außerdem nehme sie Meta-           im Urin wurde sie testgerecht mit Piperacillin/     Fentanylpflaster nach abgelaufener Anwen-
mizol, Mirtazapin und Vitamine. Seit zwei Tagen        Tazobactam behandelt. Hierunter besserte sich       dung noch über eine erhebliche Menge (bis zu
bestünden unklare abdominelle Schmerzen und            der Allgemeinzustand und die veränderten            84 Prozent) [13] an Wirkstoff verfügen. Im be-
erhöhte Temperaturen, die mit Metamizol-Tropfen        Laborparameter waren regredient. Auch im            schriebenen Fall waren nach Gebrauch nicht
behandelt wurden. Nach Gabe von Naloxon durch          Stuhl wurden keine Keime mehr nachgewiesen,         entfernte Fentanylpflaster neben der zu hohen
den Notarzt zeigte sich die Patientin wacher und       sodass die Isolationsmaßnahmen aufgehoben           Dosis für die Intoxikation mit Somnolenz und
wurde in die Klinik gebracht.                          werden konnten.                                     Atemdepression verantwortlich. Die hohe Rest-

524       Bayerisches Ärzteblatt 11/2020
Titelthema

                                                      bei Patienten mit Schluckstörungen, Passagehin-      in die Klinik geschickt. Die Schmerzen würden
                                                      dernissen oder Resorptionsstörungen im Gastro-       in beide Beine ausstrahlen, sich im Liegen bes-
                                                      intestinaltrakt oder bei therapieresistentem Er-     sern und bei Bewegung oder im Sitzen zuneh-
                                                      brechen indiziert [16]. Im Gegensatz dazu zeigen     men. Außerdem bestünde seit vier Tagen eine
                                                      Studien, dass nur bei einem Viertel der Patienten    Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit
                                                      Erkrankungen (zum Beispiel Schluckstörungen)         Dysurie, Inappetenz und postprandialer Übelkeit.
                                                      vorliegen, die eine transdermale Schmerzmittel-      Fieber, Schüttelfrost, abdominelle Schmerzen
                                                      gabe erforderlich machen. Bei 72,5 Prozent der       oder Diarrhöen wurden verneint. Die Patientin
                                                      Patienten gab es keinen Hinweis auf mögliche         lebte bisher selbstständig zuhause mit einmal
                                                      Probleme bei einer oralen Einnahme [17], ebenso      täglich Pflegedienst zur Medikamenteneinnah-
                                                      wie bei der beschriebenen Patientin.                 me (Pflegegrad 2).

                                                      Bei der transdermalen Applikation von Fentanyl       In der klinischen Untersuchung zeigte sich ei-
                                                      ist zu beachten, dass erhöhte Hauttemperaturen,      ne wache, vollständig orientierte Patientin in
                                                      wie zum Beispiel bei Fieber, aber auch bei Wärme-    reduziertem Allgemein- und kachektischem
                                                      anwendungen (heiße Bäder, Sauna, Heizdecken,         Ernährungszustand (BMI: 14,8), Blutdruck
                                                      Sonnenexposition) zu einer beschleunigten und        130/60 mmHg, Puls 74/min, Temperatur 36,5 °C,
                                                      verstärkten Fentanylresorption und zu tödlichen      Atemfrequenz 16/min, Sättigung bei Raumluft
                                                      Überdosierungen führen können. Patienten und         98 Prozent, Herz und Lunge unauffällig, Abdo-
                                                      ihre Angehörigen müssen darüber aufgeklärt und       men: weich, Druckschmerz links und mittlerer
                                                      Patienten mit Fieber entsprechend engmaschig         Unterbauch, spärliche Darmgeräusche, rekta-
                                                      überwacht werden.                                    le Untersuchung unauffällig. Klopfschmerz im
                                                                                                           rechten Nierenlager und im Bereich der unteren
                                                      Da Fentanyl hauptsächlich über das Zyto-             Lendenwirbelsäule. Beinödeme beidseits, Pulse
                                                      chrom-P450-(CYP) 3A4 metabolisiert wird, kann        tastbar, kein fokalneurologisches Defizit. Gang
                                                      die gleichzeitige Anwendung von CYP3A4-Inhi-         und Stand schwächebedingt nicht beurteilbar
                                                      bitoren zu einem gefährlichen Anstieg der Fen-       (TUG nicht durchführbar). Stark eingeschränk-
                                                      tanylplasmakonzentration führen. Beispiele für       te Selbsthilfefähigkeit (Barthel-Index 25/100),
                                                      CYP3A4-Inhibitoren sind: Amiodaron, Diltiazem,       kein Hinweis auf Depression (GDS 4/15), leichte
                                                      Verapamil, Cimetidin, Clarithromycin, Erythromy-     kognitive Beeinträchtigung (MMS 22/30), kein
Abbildung 2: Aufnahmetag CT-Polytrauma – Dege­        cin, Fluconazol, Itraconazol, Ketoconazol, Vorico-   kognitives Defizit vorbekannt.
nerative Veränderungen BWK 10-SWK 1 mit älteren
                                                      nazol, Nefazodon, Ritonavir. Auch Grapefruitsaft
Grund- und Deckplatteneinbrüchen, erosive Osteo­
chondrose mit Vakuumphänomen lumbosakral.             kann zu einer Inhibition von CYP3A4 führen, vor      Laborchemisch zeigte sich eine Infektkon-
                                                      übermäßigem Genuss sollte gewarnt werden.            stellation mit deutlich erhöhten humoralen Entzün-
                                                                                                           dungsparametern CRP 157,3 mg/l (Norm < 5 mg/l);
                                                      Generell muss die Dosisfindung vor allem bei         Procalcitonin 9,55 µg/l (Norm < 0,5 µg/l), Leu-
                                                      älteren Patienten mit eingeschränkter Nieren-        kozytose 11,2/nl (Norm 3,5-9,8/nl), Hb 10,6 g/dl;
                                                      und Leberfunktion unter Beachtung der Labor-         (Norm 12,0-16,0 g/dl).
wirkstoffmenge in den Pflastern ist ein Grund         parameter und des Körpergewichtes (BMI, der
für Unglücksfälle, deswegen warnte 2014 ein           beschriebenen Patientin sehr niedrig) erfolgen       Als Fokus ergab sich eine Urosepsis bei nitrit-
„Rote-Hand-Brief“ vor einer „versehentlichen          und in Abhängigkeit von der Stärke der Schmer-       negativem Harnwegsinfekt mit E. coli (Multi-
Übertragung des Fentanylpflasters auf die Haut        zen im Verlauf immer wieder angepasst werden.        resistente gramnegative Bakterien [MRGN] 3)
einer anderen (opioidnaiven) Person (zum Bei-         Studien zeigen, dass vor allem bei älteren Patien-   sowie Nachweis dieses Keims in mehreren Blut-
spiel während der gemeinsamen Nutzung eines           ten die Dosierungen der Schmerzmedikamente           kulturen. Die Flankenschmerzen wurden initial
Bettes oder bei engem Körperkontakt)“. Die hohe       nach akuten Ereignissen im Verlauf nicht über-       im Rahmen einer Pyelonephritis gewertet. Sono-
Restwirkstoffmenge bedingt leider auch die nicht      wacht und entsprechend reduziert werden [18].        grafisch bestand kein Anhalt für einen Nieren-
seltene missbräuchliche Anwendung. So spielte         So war bei der beschriebenen Patientin bereits       Harnstau, Abszessbildung oder signifikante
Fentanyl 2013 bei 52 Prozent aller in München         mit 2 mg Hydromorphon oral, einem Sechstel           Restharnbildung. Eine antibiotische Therapie
untersuchten Drogentoten durch Opioide eine           der verordneten und einem Zwölftel der ver-          mit Piperacillin/Tazobactam in nierenadaptierter
Rolle [14].                                           abreichten Fentanyldosis, eine ausreichende          Dosis bei akut auf chronischem Nierenversagen
                                                      Schmerzkontrolle zu erzielen.                        (Serumkreatinin 2,1 mg/dl, Norm 0,6-1,1 mg/dl;
Wegen der hohen Rate an schweren Nebenwir-                                                                 GFR 22 ml/min, Norm > 60 ml/min) wur-
kungen und Todesfällen in Zusammenhang mit                                                                 de begonnen. Nach Erhalt des Antibio-
transdermalem Fentanyl gibt es zahlreiche War-        Fall 3: Patientin mit Harnwegsin-                    gramms er folgte aufgrund der Resis-
nungen der U.S. Food and Drug Administration          fekt, Urosepsis und Spondylodiszitis                 tenzlage die testgerechte Umstellung auf
(FDA) und auch der Arzneimittelkommission der         – der alltägliche Fall mit kompli-                   Meropenem i.v. Hierunter kam es zu einer Re-
deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) [15], die Indikation                                                          gredienz der Infektparameter (CRP 78,1 mg/l,
für fentanylhaltige Pflaster streng zu stellen. Sie   ziertem Verlauf                                      Norm < 5 mg/l; Procalcitonin 1,5 µg/l, Norm
sollten nur bei opioidtoleranten Patienten mit                                                             < 0,5 µg/l) und Besserung des Allgemeinzu-
bekanntem, stabilem Opioidbedarf eingesetzt           Eine 81-jährige Patientin wurde vom Hausarzt         standes. Unter bilanzierter i.v.-Flüssigkeitszu-
werden, wenn ein orales Opioid nicht eingenom-        wegen akuter, vor vier Tagen aufgetretener           fuhr besserten sich die Nierenwerte im Verlauf
men werden kann. Transdermale Opioide sind nur        Rücken- und rechtsseitiger Flankenschmerzen          (Serum­kreatinin 1,0 mg/dl, GFR 50 ml/min).

                                                                                                                Bayerisches Ärzteblatt 11/2020         525
Titelthema

                                                                                                                                       BWK 12 / LWK 1
                                                                                                                Abszess

Abbildung 3: Bei Aufnahme konventionelles Röntgen    Abbildung 4: CT der LWS nativ mit sagittaler Rekon­   Abbildung 5: MRT Abdomen T1w nach Kontrastmittel
seitlich: unauffälliger thorakolumbabler Übergang,   struktion: Unauffälliger thorakolumbaler Übergang,    (KM) koronar: Spondylodiszitis mit paravertebralem
insbesondere kein Hinweis auf Fraktur BWK 12         degenerative Veränderungen der LWS.                   Abszess rechts mehr als links.
(Pfeil)/LWK 1.

Konventionell radiologisch bestand kein Anhalt       den angrenzenden Grund- und Deckplatten, dem          menden Ödems und Entzündungsreaktionen in
für eine Fraktur im LWS-Bereich (Abbildung 3).       Zwischenwirbelraum und perivertebral wurde            den Wirbelkörpern BWK 12 und LWK 1 sowie im
Ergänzend erfolgte eine Computertomografie (CT)      bestätigt (Abbildung 7).                              Bandscheibenfach mit nun zunehmenden und
des thorakolumbalen Übergangs, welche neben                                                                beginnend destruierenden Abschlussplatten-
ausgeprägten skoliotischen und degenerativen         Unter Antibiose mit Meropenem gingen die In-          veränderungen.
Veränderungen ebenfalls keinen Anhalt für eine       fektparameter zurück und es kam klinisch zu
akute Pathologie erbrachte (Abbildung 4).            einer deutlichen Besserung. Mit intensiver Phy-       Bei beginnender Destruktion der Grund- und
                                                     siotherapie, physikalischen Maßnahmen und             Deckplatten bestand nun die Notwendigkeit
Bei weiterbestehenden Schmerzen und erhöh-           Ergotherapie erlangte die Patientin wieder die        einer stabilisierenden Operation. Die Patientin
ten, erneut steigenden Entzündungsparametern         Gehfähigkeit am Rollator. Die Schmerzen im Lum-       stimmte zu und wurde in der Unfallchirurgie
wurde ein MRT des Abdomens durchgeführt. Hier        balbereich blieben jedoch trotz Medikamenten          komplikationslos von TH 11 bis LWK 2 mit einem
zeigte sich eine Spondylodiszitis BWK 12/LWK 1       (Metamizol, Tilidin) bestehen.                        Fixateur interne versorgt und das Bandschei-
mit partiell liquifiziertem Bandscheibenfach sowie                                                         benfach entsprechend entlastet (Abbildung 8).
tubulärem Senkungsabszess im Bereich des rechten     Bei im weiteren stagnierendem CRP (50 bis             Im Abstrich aus dem Bandscheibenfach TH 12/
Musculus psoas von 5 x 1,2 cm (Abbildung 5). Im      60 mg/l) imponierte im MRT-Verlauf nach vier          LWK 1 war kein Keimwachstum nachweisbar.
ergänzenden MRT der LWS zeigte sich zudem ein        Wochen (Abbildung 6 b) eine progrediente Spon-        Die pathologische Aufarbeitung ergab keinen
intraspinaler rechtsbetonter epiduraler Abszess      dylodiszitis BWK 12/LWK 1 mit progredienter           Hinweis auf Malignität.
mit geringer Spinalkanalstenose (Abbildung 6 a).     perivertebraler Weichteilaffektion und an Aus-
                                                     dehnung unveränderten Abszessen im rechten            Die Patientin erholte sich postoperativ gut, die
Sowohl Unfall- als auch Neurochirurgen emp-          Musculus psoas und intraspinal Höhe BWK 12/           Schmerzen waren binnen weniger Tage deut-
fahlen erst ein konservatives Vorgehen. Zur Si-      LWK 1 (Abbildung 6 b).                                lich geringer und die Funktion besserte sich
cherung des Erregers erfolgte eine CT-gesteuerte                                                           kontinuierlich. Nach sechswöchiger postopera-
Punktion des Psoas-Abszesses. In dem gewon-          Nachdem die Patientin einer operativen Sanierung      tiver Antibiose wurde die Patientin in deutlich
nenen Material zeigte sich ein 3MRGN E. coli         ablehnend gegenüberstand, erfolgte in Rück-           gebessertem Allgemeinzustand (Barthel-Index
wie in Urin und Blutkulturen. Die testgerechte       sprache mit den Mikrobiologen eine Erweiterung        85/100, TUG 21 s, MMS 25/30) wieder mobil
antibiotische Therapie wurde beibehalten.            der bestehenden Antibiose mit Meropenem um            nachhause entlassen.
                                                     Cotrimoxazol, das neben Meropenem im Anti-
Zum Ausschluss einer Endokarditis führten wir        biogramm als einziges Antibiotikum sensibel für       Diskussion
eine transthorakale Echokardiographie und eine       den Keim getestet worden war.                         Die Spondylodiszitis, eine Knochenentzündung
transösophageale Echokardiografie durch, zudem                                                             der Wirbelkörper (vertebrale Osteomyelitis) und
bei suspektem Befund an der Mitralklappe noch        Hierunter war der CRP-Wert gut rückläufig             der angrenzenden Bandscheibe, ist eine seltene
ein PET-CT. Darin ergab sich kein Hinweis auf        (13,7 mg/l; Norm < 5 mg/l) und die Blutkulturen       (Inzidenz 1 bis 7/100.000), im Alter zunehmende
eine Endokarditis, der Befund der Spondylodis-       steril. Die Patientin klagte jedoch weiterhin über    Erkrankung mit einer Gesamtmortalität bis zu
zitis auf Höhe BWK 12/LWK 1 mit entzündlicher        deutliche lumbale Schmerzen. Korrelierend fand        20 Prozent [19, 20]. Bei steigender Fallzahl sind
Infiltration im rechten Musculus psoas und ent-      sich in der erneuten MRT-Kontrolle (Abbildung         Patienten > 65 Jahre bis zu 3,5 Mal häufiger
sprechend großflächiger Tracermehrbelegung in        6 c) eine Verschlechterung in Form eines zuneh-       betroffen [21]. Die Spondylodiszitis ist, wie im

526       Bayerisches Ärzteblatt 11/2020
Titelthema

                                                  a                                                      b                                                      c
Abbildung 6: MRT T1w nach KM sagittal im Verlauf.
Abbildung 6 a: Zur Diagnosestellung: Wirbelkörperödem BWK 12/LWK 1, Kontrastmittelaufnahme epidural bei Abszedierung; Abbildung 6 b: Nach vier Wochen Antibiose:
Zunehmendes Wirbelkörperödem mit Kontrastmittelaufnahme der Bandscheibe; Abbildung 6 c: Nach sechs Wochen Antibiose (zwei Wochen 2-fach): Zunehmendes Wirbel­
körperödem und jetzt auch unregelmäßig berandete Grund- und Deckplatten.

Abbildung 7: PET-CT in koronarer Rekonstruktion.        Abbildung 8: Kontrollröntgen in zwei Ebenen: Regelrechter postoperativer Befund bei Zustand nach Fixateur
Deutlich vermehrter Uptake des Tracers thorakolumbal,   interne BWK 11 auf LWK 2.
begleitend paravertebrale Entzündungsmanschette.

beschriebenen Fall, meist Folge einer hämatoge-         Niereninsuffizienz, Alkohol- und Drogenabusus,         Leitsymptom sind Rückenschmerzen (86 Pro-
nen Streuung (endogen), kann aber auch durch            vor­angegangene systemische Infektionen so-            zent), die typischerweise konstant auch in Ruhe
direkte Inokulation bei Wirbelkörperoperationen         wie invasive Eingriffe an der Wirbelsäule als          vorhanden sind. Zweithäufigstes Symptom ist
(exogen) oder durch Weiterleitung eines infek-          Risikofaktoren.                                        Fieber (35 bis 60 Prozent) [22], wobei zu beach-
tiösen Fokus (per continuitatem) entstehen.                                                                    ten ist, dass Patienten wegen der gleichzeitigen
Neben dem Alter gelten Diabetes melli-                  Die klinische Symptomatik der Spondylodiszitis         Einnahme von Analgetika oft afebril sind (wie
tus, Tumorerkrankungen, Immunsuppression,               beginnt unspezifisch, subakut bis schleichend,         auch die beschriebene Patientin). In einem Drit-

                                                                                                                     Bayerisches Ärzteblatt 11/2020          527
Titelthema

tel der Fälle bestehen zusätzlich neurologische
Symptome wie Sensibilitätsstörungen, Paresen
                                                       Das Wichtigste in Kürze
und Blasen-Mastdarmstörungen. Diese treten
jedoch meist erst im Rahmen von Komplikatio-           Der erste Fall verdeutlicht, dass bei jeder Verschlechterung des Allgemeinzustandes an eine
nen wie Epiduralabszessen auf. Bei hämatogener         Hyponatriämie als Risikofaktor für Schwindel, Schwäche, Depression, schlechtere Kognition,
Streuung dominieren, wie im beschriebenen Fall,        verminderte Vigilanz und Stürze zu denken ist. Hyponatriämie-begünstigende Medikamente
häufig die Symptome des primären Infektions-           sollten bei älteren Patienten nur restriktiv, unter engmaschiger Kontrolle des Serumnatrium-
herdes, hier des Harnwegsinfektes.                     spiegels, angewendet werden.

Bei unklaren Rückenschmerzen steht die konven-         Fall 1 bis 3 zeigen, dass Opioide in der Schmerztherapie geriatrischer Patienten eine wichti-
tionelle Röntgenaufnahme an erster Stelle, wobei       ge Rolle spielen. Um Nebenwirkungen zu vermeiden, sollte, wenn immer möglich, eine orale
diese in der Frühphase der Spondylodiszitis nicht      Gabe angestrebt, die Dosis individuell titriert und kontrolliert der Schmerzintensität ange-
aussagekräftig ist (Abbildung 3). Ein unauffälliger    passt werden. Fall 2 unterstreicht, dass transdermale Opioide ausschließlich bei Patienten mit
nativradiologischer Befund schließt eine Spon-         Schluckstörungen oder gastrointestinalen Hindernissen eingesetzt werden sollen. Patienten,
dylodiszitis nicht aus. Die CT ist der Kernspin-       Angehörige und Pflegende sind über mögliche Nebenwirkungen, Gebrauchsfehler und Gegen-
tomografie bei der Spondylodiszitis, insbesonde-       maßnahmen ausreichend aufzuklären.
re in der Frühphase der Erkrankung (vergleiche
Abbildung 4), unterlegen. Die kontrastmittel-          Der dritte Fall verdeutlicht, dass bei Patienten mit starken Rückenschmerzen und CRP-Erhö-
verstärkte Magnetresonanztomografie (MRT)              hung, vor allem nach durchgemachter systemischer Infektion wie einem Harnwegsinfekt, an
gilt als Bildgebung der Wahl bei Spondylodiszi-        das Vorliegen einer Spondylodiszitis gedacht werden soll. Die frühzeitige Diagnosestellung
tis. Entzündliche Veränderungen finden sich im         mittels kontrastverstärktem MRT (bei Kontraindikationen alternativ PET-CT) und Therapie-
Diskus, den angrenzenden Grund- und Deckplat-          einleitung sind wichtig, um neurologische Komplikationen und damit bleibende Schäden zu
ten, sowie im paravertebralen Weichteilgewebe          vermeiden.
(vergleiche Abbildung 5 bis 6). Im Verlauf kann
mittels MRT die ossäre Destruktion der End- und
Deckplatten sowie der Wirbelkörper detektiert
werden (Abbildung 6 c).
                                                      Prozent durch Staphylococcus (S.) aureus ver-       Ausfälle, die operative Therapie indiziert. Post-
Gleichwertig zum MRT wird die Fluor-18-Fluo-          ursacht, gefolgt von gramnegativen Erregern         operativ waren Schmerzen und Funktion signi-
rodesoyglucose Positronenemissionstomografie          wie E. coli [27].                                   fikant gebessert.
(18F-FDG-PET-CT) gesehen, wobei die PET bei
der Unterscheidung zwischen degenerativen und         Bei der vorgestellten Patientin gelang in mehre-    Das Literaturverzeichnis kann im Internet
entzündlichen Veränderungen Vorteile aufweist.        ren Blutkulturen und in dem durch CT-gesteuerte     unter www.bayerisches-aerzteblatt.de
Physiologisch reichert sich die entsprechend          Feinnadelpunktion gewonnenen Material eindeu-       (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
markierte Glukose nicht im Knochenmark und an         tig der Nachweis eines multiresistenten (3MRGN)
den knöchernen Strukturen der Wirbelsäule an,         E. coli, der gegen Carbapeneme sensibel war         Die Autorin erklärt, dass sie keine finanziel­
sodass sich entzündliche Prozesse mit erhöhter        (3MRGN). Carbapeneme entsprechen nicht den          len oder persönlichen Beziehungen zu Drit­
Glukoseaktivität im PET-CT als „hot spots“ (Abbil-    Empfehlungen zur Behandlung der Spondylodiszi-      ten hat, deren Interessen vom Manuskript
dung 7) darstellen. Im vorgestellten Fall konnten     tis [28], waren aber die einzige Antibiogrammge-    positiv oder negativ betroffen sein könnten.
mittels PET-CT weitere Entzündungsherde (zum          rechte Therapiemöglichkeit. Bezüglich der Dauer
Beispiel Endokarditis) als mögliche Quellen der       der antibiotischen Therapie gibt es für die Spon-
Spondylodiszitis ausgeschlossen werden.               dylodiszitis keine einheitlichen Empfehlungen,
                                                      mindestens vier bis sechs Wochen bis zu zwölf        Autorin
Laborchemisch sind bei Spondylodiszitis typi-         Wochen werden beschrieben. Die konservative
scherweise (90 bis 98 Prozent) das C-reaktive         Therapie umfasst, neben der gezielten Antibiose,     Privatdozentin Dr. Brigitte
Protein (CRP) und die Blutsenkungsgeschwin-           eine Schmerztherapie und Entlastung des betrof-      Buchwald-Lancaster
digkeit (BSR) erhöht [23, 24], eine Leukozytose       fenen Wirbelsäulenabschnitts; lang andauernde
ist nicht obligat. Zusätzlich sollten mindestens      Bettruhe ist obsolet [29].                           Chefärztin, Zentrum für Akutgeriatrie und
zwei Blutkulturenpaare (aerob/anaerob) gewon-                                                              Frührehabilitation, Akademische Lehrein-
nen werden. Dabei lässt sich bei antibiotisch         Im beschriebenen Fall war wegen Wirbelkör-           richtung der LMU München für Geriatrie,
nicht vorbehandelten Patienten in 70 Prozent          perdestruktionen unter Einbeziehung der Deck-        München Klinik gGmbH, Klinikum
der Fälle [25, 26] ein Erreger nachweisen. Die        platten und damit drohender Instabilität, trotz      Neuperlach, Oskar-Maria-Graf-Ring 51,
Spondylodiszitis liegt meist als monobakterielle      erfolgreicher Infektsanierung (Punktat des OP-       81737 München
Infektion vor und wird in Europa zu mehr als 50       Materials steril), und dem Fehlen neurologischer

528       Bayerisches Ärzteblatt 11/2020
Sie können auch lesen