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STRATEGIEPAPIER #2 ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES NATIONALEN AKTIONSPLANS Foto: Jürgen Georg „Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren“
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 2 Herausgeber: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz - Geschäftsstelle - Hertie School of Governance Friedrichstraße 180 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 259 219 432 Internet: www.nap-gesundheitskompetenz.de Die Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz wird von der Universität Bielefeld und der Hertie School of Governance gemeinschaftlich betrieben. Autoren: Doris Schaeffer, Sebastian Schmidt-Kaehler, Marie-Luise Dierks, Michael Ewers, Dominique Vogt Bitte wie folgt zitieren: Schaeffer, D., Schmidt-Kaehler, S., Dierks, M.L., Ewers, M., Vogt, D.: Strategiepapier #2 zu den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans. Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren. Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz 2019. Die Erstellung dieses Strategiepapieres wurde aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung und des AOK-Bundesverbandes gefördert. Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer Das vorliegende Strategiepapier basiert auf den Ergebnissen eines themenbezogenen Workshops, an dem folgende Expertinnen und Experten teilgenommen haben: Klaus Balke (Kassenärztliche Bundesvereinigung), Dr. Eva-Maria Berens (Universität Bielefeld), Kerstin Berr (Robert Bosch Stiftung), Prof. Dr. Marie-Luise Dierks (Medizinische Hochschule Hannover), Iris Dyck (NCL-Gruppe Deutschland e.V.), Prof. Dr. Nicole Ernstmann (Universitätsklinikum Bonn), Prof. Dr. Michael Ewers (Charité – Universitätsmedizin Berlin), Hedwig François-Kettner (Aktionsbündnis Patientensicherheit), Margit Golfels (Kindernetzwerk e.V.), Johanna Gossens (Klinikum Lüdenscheid), Lennert Griese (Institut für Pflegewissenschaft), Heike Gronski (Deutsche Aids- Hilfe), Barbara Haake (Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.), Dr. Jörg Haslbeck (Krebsliga Schweiz), Rudolf Herweck (Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen), Prof. Dr. Claudia Hornberg (Universität Bielefeld), Günter Hölling (Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen und -initiativen), Dr. Steffi Koch-Stoecker (Evangelisches Klinikum Bethel), Bernd Kronauer (Geschäftsstelle des Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege), Karin Niederbühl (Verband der Ersatzkassen e.V.), Dr. Peter Nowak (Gesundheit Österreich GmbH), Prof. Dr. Doris Schaeffer (Universität Bielefeld), Claudia Schick (AOK-Bundesverband), Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler (Patientenprojekte GmbH), Dr. Gabriele Seidel (Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Dr. Tanja Segmüller (Hochschule für Gesundheit Bochum), Dr. Jutta Semrau (Bundesministerium für Gesundheit), Dr. Dominique Vogt (Hertie School of Governance), Dieter Wiek (Deutsche Rheuma-Liga)
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 3 DIE ELFTE EMPFEHLUNG DES NATIONALEN AKTIONSPLANS Menschen mit chronischen Erkrankungen sind mit Der Anteil an eingeschränkter Gesundheitskompe- vielfältigen Anforderungen an die Krankheitsbewäl- tenz liegt in dieser Gruppe bei fast 73 Prozent2. tigung und einem hohen Bedarf an Information Diese durchaus beunruhigende Situation erfordert, konfrontiert: Allein der Umgang mit dem Krank- gerade Menschen mit chronischen Erkrankungen heits- und Behandlungsgeschehen sowie den dabei oder Behinderungen durch gezielte Maßnahmen3 zu fällenden Entscheidungen wirft zahllose Fragen in ihrer funktionalen, interaktiven und kritischen auf. Ähnlich ist es mit dem durch die Krankheit ir- Gesundheitskompetenz4 zu stärken. ritierten Alltagsleben. Herausforderungen bringt auch der Umgang mit Gesundheitskompetenz meint im Kontext chroni- dem intransparenten und hochgradig fragmentier- scher Krankheit die Motivation und die Fähigkeit ten Versorgungssystem mit sich: Allein den passen- von Menschen, sich gesundheitsrelevante Infor- mation aneignen und kritisch mit ihr auseinan- den Zugang zum Versorgungssystem ausfindig zu dersetzen zu können, um machen, ist nicht einfach. Nicht selten erstreckt sich dann der Weg bis zur Diagnose über einen langen • die zahlreichen Herausforderungen, die das Zeitraum und viele Instanzen, und auch später sind Leben mit chronischer Erkrankung aufwirft, zahlreiche Institutionen und Professionen aus unter- bewältigen und schiedlichen Sektoren an der Behandlung und Ver- • sich aktiv an der Behandlung und Wiederer- sorgung beteiligt. Mit der Vielfalt an Instanzen und langung bzw. Aufrechterhaltung gesundheit- den oft komplizierten Regeln der Inanspruchnahme licher Stabilität sowie den dazu nötigen Ent- zurechtzukommen, fällt vielen Nutzern1 schwer. scheidungen beteiligen zu können, Entsprechend hoch ist der Bedarf an Information • ebenso um sich im Versorgungssystem zu- und Beratung. Daher kommt der Förderung von recht zu finden und Gesundheitskompetenz gerade bei der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen be- • partnerschaftlich mit den Gesundheitspro- sondere Bedeutung zu. fessionen zusammenzuarbeiten, so dass eine optimale Bewältigung der Krank- Zwar wurden in den vergangenen Jahren etliche heitssituation und eine bestmögliche Behand- Schritte unternommen, um die Information und lung und Versorgung erreicht werden können. Beratung in den unterschiedlichen Sektoren der Versorgung auszubauen. Im Ergebnis ist dabei je- doch eine Angebotslandschaft entstanden, die ähn- Aus diesem Grund wurden die Belange von Men- lich zersplittert und unüberschaubar ist wie das schen mit chronischen Erkrankungen im Nationa- Versorgungssystem selbst, so dass auch hier eine len Aktionsplan Gesundheitskompetenz explizit auf- ausgeprägte Gesundheitskompetenz gefordert ist, gegriffen5. Sie standen auch im Mittelpunkt eines um die geeignete Stelle zu ermitteln. der Expertenworkshops, in denen die Empfehlun- gen des Nationalen Aktionsplans mit dem Ziel dis- Die empirischen Befunde zeigen, dass sich ausge- kutiert wurden, sie in konkrete Handlungsschritte rechnet Menschen mit chronischen Erkrankungen zu übersetzen. Das vorliegende Strategiepapier ba- überdurchschnittlich häufig vor Schwierigkeiten im siert auf den Diskussionsergebnissen der 11. Emp- Umgang mit Gesundheitsinformation gestellt sehen: fehlung des Nationalen Aktionsplans. Sie lautet: 1 Wenn im Folgenden der einfachen Lesbarkeit halber nur die 4 Nutbeam, D.: Health literacy as a public health goal: a chal- männliche Bezeichnung verwendet wird, steht diese stets stellver- lenge for contemporary health education and communication tretend für Personen beider Geschlechter. strategies into the 21st century. Health Promotion International 2 Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E. M., Hurrelmann, K.: Ge- 2000, 15 (3): 259-267. sundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – Ergeb- 5 Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U., Kolpatzik, K. nisbericht. Bielefeld: Universität Bielefeld 2016. (Hrsg.): Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Ge- 3 Solche Maßnahmen sollten sowohl auf die Stärkung der per- sundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin: Kompart sönlichen Gesundheitskompetenz als auch die Lebensumwelt 2018. von Menschen mit chronischen Erkrankungen und die dort ge- gebenen Bedingungen zielen, denn diese beeinflussen – fördern oder hemmen – die Entfaltung von Gesundheitskompetenz.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 4 „Gesundheitskompetenz in die Versorgung gen, behandlungsbedingte Belastungen und un- von Menschen mit chronischer Erkrankung nötiges Leid vermeiden oder verringern und gute Lebensqualität erhalten zu können“. integrieren“ Warum ist das wichtig? Für die Umsetzung dieser Empfehlung wurden Chronische Krankheiten zeichnen sich durch hohe von den Experten des Workshops die folgen- Komplexität und Langfristigkeit aus. Das Krank- den fünf strategischen Vorschläge erarbeitet: heitsgeschehen ist nicht gleichförmig, sondern ver- ändert sich im Verlauf der Zeit und geht mit mal mehr, mal weniger ausgeprägten Symptomen und 1. Das Gesundheitssystem vom Leben mit Einschränkungen einher, die sich in den Spätsta- chronischer Erkrankung her denken dien aufschichten und verdichten. Dies alles unter- Chronische Krankheiten manifestieren sich in allen scheidet sich von Person zu Person. Menschen mit Lebensphasen, besonders häufig aber im Alter. chronischen Erkrankungen benötigen deshalb eine Schon seit geraumer Zeit bestimmen sie das Morbi- auf Kontinuität angelegte, bedarfs- und bedürfnis- ditätsspektrum. Deshalb ist es überfällig, die Versor- orientierte Versorgung, die der individuellen Prob- gung konsequent an die mit ihnen einhergehenden lemsituation entspricht und insbesondere darauf Herausforderungen anzupassen. Dazu ist es erfor- zielt, sie in ihrer Gesundheitskompetenz zu stärken. derlich, die Versorgungsgestaltung nicht länger vor- nehmlich an den Zwängen des Systems und den Was ist zu tun? strukturellen Vorgaben seiner Sektoren zu orientie- ren. Stattdessen müssen die Erkrankten, ihr Bedarf, • Versorgungsstrukturen und -prozesse so aus- ihre Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Präferen- richten, dass sie Menschen mit chronischer Er- zen an die erste Stelle gesetzt werden. krankung eine langfristig angelegte, präventiv ausgerichtete Versorgung ermöglichen, hinrei- Eine solchermaßen patienten-, ja personen- chende Patientensicherheit gewährleisten und zentrierte Versorgung, wie sie auch von der Weltge- die Gesundheitskompetenz stärken sundheitsorganisation gefordert wird6, lässt sich nicht auf dem Wege punktueller Systemoptimierun- • Gesundheitskompetenz verbessern, indem die gen verwirklichen. Sie erfordert einen grundsätzli- Versorgung so gestaltet wird, dass sie neben chen Paradigmenwechsel hin zu einem Gesund- den körperlichen auch den besonderen lebens- heitssystem, das konsequent aus der Perspektive von weltlichen, psychischen, sozialen und ökonomi- Menschen mit chronischer Erkrankung gedacht schen Herausforderungen beim Leben mit wird. Eine personen-/patientenzentrierte Versor- chronischer Erkrankung entspricht und zum gung unter Berücksichtigung der Gesundheitskom- Erhalt von Autonomie trotz bedingter Gesund- petenz zu realisieren bedeutet: heit beiträgt • Menschen mit chronischer Erkrankung und • die nach wie vor beobachtbare „somatische Fi- xierung“ zu überwinden und die Person – nicht ihre Angehörigen in die Versorgungsgestaltung die Krankheit – in den Mittelpunkt der Versor- einbeziehen und sie zu einem kompetenten, gung zu stellen; partnerschaftlichen und kritischen Umgang mit dem Versorgungssystem und seinen Akteuren • der Stärkung der Gesundheitskompetenz in der Versorgung zentralen Stellenwert einzuräumen befähigen und ermutigen und Menschen mit chronischer Krankheit zu • Kommunikation und Information verbessern, befähigen, sich kritisch mit gesundheitsrelevan- ten Informationen auseinanderzusetzen; um auch in fortgeschrittenen Krankheitsphasen und am Lebensende informierte Entscheidun- • chronisch Erkrankte und ihre Angehörigen auf die besonderen Anforderungen in den Spät- 6WHO – World Health Organisation: Framework on inte- grated, people-centred health services. Genf: WHO 2016.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 5 phasen chronischer Krankheit und am Lebens- 2. Die Förderung der Gesundheitskompetenz ende vorzubereiten und ihre Möglichkeiten zur gemeinsamen Entscheidungsfindung zu för- von Menschen mit chronischen Erkrankungen dern; im Lebensalltag verankern und Partizipation • ein Recht auf Anhörung und Information – erleichtern ebenso auf Nicht-Information und informatio- nelle Selbstbestimmung – einzuräumen und im Chronische Krankheiten berühren alle Lebensbe- Versorgungsalltag die Stimme von Menschen reiche und beeinflussen nicht nur die physische, mit chronischer Erkrankung zu respektieren; sondern auch die psychische und soziale Situation • Menschen mit chronischer Erkrankung durch sowie das gesamte Alltagsleben der Erkrankten und Ermächtigung (Empowerment) und Aktivie- ihrer Angehörigen. Deshalb ist es wichtig, ihren le- rung zu ermutigen, eigene Bedarfslagen, Be- bensweltlichen Bedingungen und einem gelingen- dürfnisse und Präferenzen zu erkennen, zum den Alltagsleben mit weitgehender Autonomie und Ausdruck zu bringen und gegenüber den ent- Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hohe Beach- sprechenden Instanzen und Professionen zu vertreten; tung zu schenken. In der Versorgungspraxis wird das meist vernachlässigt. • Menschen mit chronischer Erkrankung dabei zu unterstützen, das Gesundheitssystem und Übersehen wird auch, dass die Krankheitsbewälti- seine Funktionsweise zu verstehen, um geeig- nete Versorgungsinstanzen identifizieren zu gung in großen Teilen fernab des Gesundheitssys- können; tems erfolgt, nämlich im privaten Lebensumfeld. Die Hauptakteure sind dort die Erkrankten und • das Gesundheitssystem und Behandlungs- und ihre Angehörigen bzw. das soziale Umfeld. Deshalb Versorgungsabläufe transparent und informa- tiv zu gestalten, so dass es für chronisch Er- ist es notwendig, Menschen mit chronischer Er- krankte einfach ist, zu informierten Entschei- krankung und deren Angehörige in besonderer dungen zu gelangen, aktiv und ko-produktiv zu Weise in die Gestaltung der Versorgung und Be- handeln und partnerschaftlich mit den Ge- handlung, die dabei zu treffenden Entscheidungen sundheitsprofessionen zusammenzuarbeiten; und auch die Stärkung der Gesundheitskompetenz • Versorgungspfade zu etablieren, die ohne Um- einzubeziehen. wege zu den für das jeweilige Anliegen richti- gen Instanzen im Versorgungssystem führen Zugleich sind Angehörige als eigene Zielgruppe zu und besonders für Menschen mit niedriger Ge- betrachten. Denn Familienangehörige, Wahlver- sundheitskompetenz und komplexen Gesund- wandte und Freunde nehmen meist eine ganze heitsproblemen die Nutzung und Navigation vereinfachen; Reihe an unterschiedlichen Aufgaben bei der Un- terstützung und Versorgung von Menschen mit • die Gesundheitsprofessionen durch gezielte chronischer Erkrankung wahr und sind dabei etli- Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote zu chen Belastungs- und Gesundheitsrisiken ausge- wirksamer Kommunikation und partnerschaft- licher Interaktion zu befähigen; setzt. Darauf sind sie vielfach nicht vorbereitet und benötigen deshalb ihrerseits Unterstützung und • integrierte Gesundheits-/Versorgungszentren Kompetenzförderung. zu schaffen, die eine umfassende teambasierte Versorgung ermöglichen, die in gemeinsamer Verantwortung aller Gesundheitsprofessionen Hohe Bedeutung kommt auch der gesundheitsbezo- erbracht wird, der Bandbreite des Bedarfs genen Selbsthilfe für die Stärkung der Gesundheits- chronisch Erkrankter gerecht wird und auf kompetenz zu: Menschen, die aufgrund eigener Be- Stärkung der Gesundheitskompetenz zielt. troffenheit über reichhaltige Erfahrung und um- fangreiches Erfahrungswissen verfügen, können auf Eine so gedachte personen-/patientenzentrierte ganz andere Weise unterstützen als das professio- Versorgung von Menschen mit chronischen Er- nelle Versorgungssystem. Auch bei der Vermittlung krankungen ermöglicht einen direkten Zugang zu von Fachinformation und -wissen spielen Selbsthil- passenden Leistungen und respektiert die Wahlfrei- fegruppen und -organisationen eine wichtige Rolle, heit und Autonomie. Sie ist durch Ko-Produktion, ebenso bei der Unterstützung im Umgang mit Partizipation, hohe Patientensicherheit sowie eine neuen Informationsmedien und neuen Formen der teambasierte Versorgung gekennzeichnet und Information, etwa digitaler Information. räumt der Information und Stärkung der Gesund- heitskompetenz zentralen Stellenwert ein.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 6 Selbsthilfegruppen und -organisationen sind zudem Menschen mit chronischer Erkrankung durch ein in der Lage, wichtige Impulse für die Alltagsbewäl- systematisches Informationsmanagement zu unter- tigung zu geben7 oder vulnerable Gruppen zu un- stützen, das sich über den gesamten Krankheitsver- terstützen. Beispielhaft sind hier die sogenannten lauf erstreckt. Genesungsbegleiter im Bereich der psychiatrischen Versorgung zu erwähnen, die praktisch und lebens- Ein solches Informationsmanagement muss zeitli- nah Information und Kompetenz vermitteln und che und inhaltliche Dimensionen berücksichtigen. Brückenfunktion zwischen den Erkrankten und Nicht jeder Zeitpunkt ist richtig für die Vermittlung dem Versorgungssystem einnehmen. Auch dies von Information: In Krisenzeiten und besonders in zeigt, dass die Selbsthilfe mit ihrem peer-to-peer- der Phase der Verarbeitung der Diagnose dringen Ansatz eine zentrale Ressource für die Förderung Informationen nicht immer zu den Erkrankten von Gesundheitskompetenz darstellt und in der durch. Vor allem bei schwerwiegenden Krisen oder Förderpraxis gem. § 20 SGB V explizit berücksich- Diagnosen befinden sie sich oft längere Zeit in ei- tigt werden sollte. nem schockartigen Zustand. Erst wenn er abzuklin- gen beginnt, sind sie wieder in der Lage, sich inten- Generell können Konzepte der ‚peer-to-peer-educa- siver mit Informationen zu befassen. Nicht immer tion‘ und Selbstmanagementförderung den Erwerb kann Information also wirklich rezipiert und ange- von Gesundheitskompetenz effektiv unterstützen. eignet werden. Vielmehr ist dazu der richtige Zeit- Denn mit einer chronischen Erkrankung zu leben, punkt entscheidend. bedeutet, immer wieder den eigenen Lebensstil zu reflektieren, persönliche Grenzen auszuloten und Gleiches gilt für die Wahl des richtigen Informati- den Alltag umzustellen. Selbstmanagement im onsmediums: Neben textgebundenen Printmedien Sinne der Fähigkeit, aktiv mit der Situation umzu- bieten gerade die digitalen Gesundheitsanwendun- gehen, sich eigene, kleine Ziele zu setzen, Probleme gen große Spielräume und zahllose Möglichkeiten zu lösen und so mit den Gesundheitsprofessionen für eine multimediale, interaktive, personalisierte zu kommunizieren, dass die eigenen Präferenzen Informationsvermittlung. Zudem sind digitale An- beachtet werden und in Entscheidungen einfließen, gebote in der Lage, Prozesse abzubilden und so die sollte durch entsprechende Angebote im Gesund- Krankheitsbewältigung und das Selbstmanagement heitssystem unterstützt werden. – etwa bei Menschen mit chronischen Erkrankun- gen – effektiv zu unterstützen oder zu erleichtern8. Wichtig ist zudem, die richtigen Informationsinhalte 3. Die richtige Information zum richtigen Zeit- zur richtigen Zeit zu vermitteln. Denn abhängig punkt bereitstellen: Menschen mit chroni- vom Verlauf chronischer Krankheit und den dabei scher Erkrankung durch ein systematisches auftretenden Herausforderungen, verändern sich Informationsmanagement während des auch der Informationsbedarf und die Informations- Krankheitsverlaufs unterstützen bedürfnisse. Ein systematisches Informationsma- nagement für Menschen mit chronischer Erkran- Chronische Krankheiten gehen nicht nur mit einem kung sollte dem entsprechen und unterschiedliche hohen, sondern sich immer wieder verändernden Inhalte zu unterschiedlichen Zeiten bereithalten. Es Bedarf an Information und Kommunikation einher. sollte zudem – wie nochmals zu betonen ist – nicht Auch die Informationspräferenzen verändern sich einzig auf die Krankheit ausgerichtet sein, sondern im Verlauf der Krankheit, denn das Krankheitsge- dem ganzen Spektrum an Anforderungen entspre- schehen verläuft in einem unkalkulierbaren Wech- chen, die das Leben mit chronischer Erkrankung im sel von krisenhaften, instabilen und stabilen Phasen, Alltagsleben, in der Familie und Zuhause, in wobei eine jede Phase neue Fragen und andere Schule, Ausbildung und Arbeitswelt, im Sozial- und Herausforderungen aufwirft. Deshalb ist es wichtig, Freizeitleben aufwirft. 7Dierks, M.L., Kofahl, C.: Die Rolle der gemeinschaftli- 8 Hurrelmann, K., Schmidt-Kaehler, S, von Hirschhau- chen Selbsthilfe in der Weiterentwicklung der Gesund- sen, E., Betsch, C., Schaeffer, D.: Strategiepapier #3 zu heitskompetenz der Bevölkerung. Bundesgesundheitsblatt den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans. Den 2019, 62 (1), 17-25. Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien erleichtern. Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheits- kompetenz 2019.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 7 Beachtet werden muss auch, dass Menschen mit Weiterbildung der Gesundheitsprofessionen Beach- chronischer Krankheit einerseits im Lauf der Zeit tung finden. immer versierter im Umgang mit Information wer- den, andererseits aber die empfundenen Schwierig- keiten im Umgang mit Information nicht abneh- 4. Aneignung von Information und Wissen als men. Denn zunehmendes Wissen führt dazu, dass Lernprozess begreifen und in eine didaktisch die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit der fundierte Vermittlungsstrategie einbetten Information stärker hinterfragt und differenziertere Fragen gestellt werden. Ein systematisches Informa- Komplexe und anspruchsvolle Informationen lassen tionsmanagement sollte deshalb konsequent den sich nicht wirkungsvoll durch bloße Bereitstellung Fragen, der Problemsicht und den Präferenzen der und Weitergabe von Information vermitteln. Damit Erkrankten folgen und ihren Umgang mit Gesund- Informationen subjektiv aufgenommen und ange- heits- und Krankheitsinformation so fördern, wie eignet werden können, und erst recht, damit sie ein- sie es für erforderlich halten und nicht nur, wie es geschätzt und zur Problemlösung genutzt werden aus Expertensicht für notwendig erachtet wird. können, sind zahlreiche Lernschritte nötig. Infor- mation zielt faktisch auf Erweiterung und teilweise Ein so aufgestelltes, systematisches Informationsma- auch auf Anpassung und Korrektur des individuel- nagement erfordert einen grundlegenden Perspek- len Wissensrepertoires, weshalb die Aneignung von tivwechsel: Punktuelle Informationen wie beispiels- Information aus lerntheoretischer Sicht einem kog- weise die einmalige Aushändigung von Aufklä- nitiven Lernprozess gleichkommt. rungs- und Patienteninformationsbroschüren, die aktuell noch die Alltagspraxis bestimmen, werden Doch sind die Bereitstellung und Vermittlung von dem Informationsbedarf von Menschen mit chroni- Information in der Regel vornehmlich auf die scher Erkrankung in keiner Weise gerecht. Viel- Sammlung, Überprüfung der Richtigkeit, Evidenz mehr müssen die Vermittlung und Aneignung von und Form der Weitergabe von Information kon- Informationen als fortlaufender Prozess verstanden zentriert. Sie schenken dem Adressaten oder der und verwirklicht werden. Ziel muss es dabei sein, Aneignungsseite, also der Rezeption und Verarbei- die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt tung von Information, meist nur wenig Aufmerk- und individuell passgenaue, präferenzsensible Infor- samkeit. mation zu vermitteln. Zudem orientiert sich die Vermittlung gesundheits- Ein systematisches Informationsmanagement sollte und krankheitsrelevanter Informationen häufig an zudem darauf zielen, die kritische Urteilsfähigkeit einem einfachen Sender-Empfänger-Modell, das zu fördern, aber auch für eine hohe Qualität von der Komplexität solcher Aneignungs- und Lernpro- Informationen Sorge tragen. Ausgangspunkt bildet zesse nicht gerecht wird. Erforderlich ist stattdessen deshalb die von einem kontinuierlichen Vertrauens- ein systematischer, didaktisch reflektierter Vermitt- verhältnis gestützte, persönliche Kommunikation. lungsprozess, der den spezifischen Lernvorausset- Die angebotenen Informationen sollten dabei für zungen und Aneignungsbedingungen unterschiedli- Menschen mit chronischen Erkrankungen relevant, cher Adressatengruppen entspricht und auch die verständlich und vertrauenswürdig sein. Sie sollten spezielle psychosoziale Situation von Menschen mit aufeinander aufbauen, in unterschiedlicher Tiefe chronischer Erkrankung nicht außer Acht lässt. strukturiert und qualitätsgesichert sein. Denn sie sind permanent mit neuen Fragen und Herausforderungen bei der Bewältigung ihrer Situ- Die Umsetzung eines systematischen Informations- ation konfrontiert, denen sie krankheits- und res- managements muss auf verschiedenen Ebenen an- sourcenbedingt mal besser und mal schlechter be- setzen, stets mit Beteiligung der Zielgruppen erfol- gegnen können. Nichtsdestotrotz müssen sie ihnen gen und sich auch auf regionale Angebote erstre- begegnen und sich dazu immer wieder neu mit In- cken. Sie erfordert eine gute Organisation, Koope- formationen befassen. Gewissermaßen lernen sie ration und Koordination der beteiligten Einrichtun- also unter Ausnahmebedingungen9. gen und Akteure und sollte in der Aus-, Fort- und 9Nittel, D., Seltrecht, A. (Hrsg.): Krankheit: Lernen im Ausnah- mezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinärer Perspektive. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag 2013.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2 8 Auch daraus erwachsen Konsequenzen für die Ver- Deshalb sollten sie flächendeckend ausgeweitet und mittlung von Information: Sie bedingt hohe Sensi- eng mit dem Versorgungssystem vernetzt werden. bilität und gute Vermittlungskompetenz, die bei Dabei ist sicherzustellen, dass Beratung explizit für den Gesundheitsprofessionen nicht ohne weiteres die Belange der Patienten eintritt und inhaltlich wie vorausgesetzt werden können. Deshalb ist eine ge- strukturell unabhängig von den Akteuren des Ge- zielte methodisch-didaktische Qualifikation auf dem sundheitssystems erfolgt. Ebenso ist zu beachten, Weg der Aus-, Fort- und Weiterbildung notwendig. dass sie der kulturellen Diversität der Zielgruppen gerecht wird und einfach auffindbar und zugänglich ist. 5. Anwaltschaftliche Unterstützung ausbauen Darüber hinaus sind langfristige einrichtungs- bzw. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung und der In- sektorenübergreifende anwaltschaftliche Formen formations- und Wissensgesellschaft sind Menschen der Unterstützung wie Coaching, Case-Manage- mit chronischer Erkrankung mit einem täglich un- ment oder Lotsendienste erforderlich. Sie sollten übersichtlicher werdenden Angebot an Information insbesondere für Menschen in komplexem Krank- konfrontiert. Allein geeignete Information zu fin- heitssituationen und ebensolchen Behandlungs- und den, erfordert daher eine ganze Reihe an Kompe- Versorgungsverläufen zu einem selbstverständli- tenzen, die nicht bei allen Bevölkerungsgruppen vo- chen Bestandteil der Versorgung werden. rausgesetzt werden können. Ähnlich ist es bei dem Verständnis und der Einschätzung von Informa- tion, wie die vorliegenden empirischen Befunde zur Gesundheitskompetenz bestätigen. Sie zeigen außerdem, dass Gesundheitskompetenz ungleich verteilt ist und sich bestimmte Bevölke- rungsgruppen im Umgang mit Information und in- formierter Entscheidungsfindung überfordert füh- len. Nicht immer sind sie in der Lage, das Informa- tionsmanagement eigenständig zu bewältigen und benötigen anwaltschaftliche Unterstützung. Dazu gehören Strategien wie Beratung und Patientenedu- kation. Sie unterstützen die Informationsvermitt- lung wie auch die Aneignung von Wissen; helfen, Komplexität zu reduzieren und fördern die Prob- lemlösungsfähigkeit und Kompetenzentwicklung.
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