"Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren" - STRATEGIEPAPIER #2 ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES ...

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"Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren" - STRATEGIEPAPIER #2 ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES ...
STRATEGIEPAPIER #2
ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES NATIONALEN AKTIONSPLANS

                                             Foto: Jürgen Georg

„Gesundheitskompetenz in die
Versorgung von Menschen mit
chronischer Erkrankung integrieren“
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                                                                  2

                                                                      Herausgeber:

                                                       Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz
                                                                      - Geschäftsstelle -
                                                                Hertie School of Governance
                                                                    Friedrichstraße 180
                                                                        10117 Berlin
                                                              Telefon: +49 (0)30 259 219 432
                                                        Internet: www.nap-gesundheitskompetenz.de

                                    Die Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz wird von der
                                    Universität Bielefeld und der Hertie School of Governance gemeinschaftlich betrieben.

                                                                         Autoren:

                             Doris Schaeffer, Sebastian Schmidt-Kaehler, Marie-Luise Dierks, Michael Ewers, Dominique Vogt

                                                                   Bitte wie folgt zitieren:

                                          Schaeffer, D., Schmidt-Kaehler, S., Dierks, M.L., Ewers, M., Vogt, D.:
                                          Strategiepapier #2 zu den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans.
                              Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren.
                                               Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz 2019.

                                               Die Erstellung dieses Strategiepapieres wurde aus Mitteln der
                                              Robert Bosch Stiftung und des AOK-Bundesverbandes gefördert.

                                                    Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer

                               Das vorliegende Strategiepapier basiert auf den Ergebnissen eines themenbezogenen Workshops,
                                             an dem folgende Expertinnen und Experten teilgenommen haben:

             Klaus Balke (Kassenärztliche Bundesvereinigung), Dr. Eva-Maria Berens (Universität Bielefeld), Kerstin Berr (Robert Bosch Stiftung),
         Prof. Dr. Marie-Luise Dierks (Medizinische Hochschule Hannover), Iris Dyck (NCL-Gruppe Deutschland e.V.), Prof. Dr. Nicole Ernstmann
 (Universitätsklinikum Bonn), Prof. Dr. Michael Ewers (Charité – Universitätsmedizin Berlin), Hedwig François-Kettner (Aktionsbündnis Patientensicherheit),
Margit Golfels (Kindernetzwerk e.V.), Johanna Gossens (Klinikum Lüdenscheid), Lennert Griese (Institut für Pflegewissenschaft), Heike Gronski (Deutsche Aids-
                    Hilfe), Barbara Haake (Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.), Dr. Jörg Haslbeck (Krebsliga Schweiz), Rudolf
            Herweck (Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen), Prof. Dr. Claudia Hornberg (Universität Bielefeld), Günter Hölling
                 (Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen und -initiativen), Dr. Steffi Koch-Stoecker (Evangelisches Klinikum Bethel),
          Bernd Kronauer (Geschäftsstelle des Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege), Karin Niederbühl (Verband der Ersatzkassen e.V.),
          Dr. Peter Nowak (Gesundheit Österreich GmbH), Prof. Dr. Doris Schaeffer (Universität Bielefeld), Claudia Schick (AOK-Bundesverband),
       Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler (Patientenprojekte GmbH), Dr. Gabriele Seidel (Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Dr. Tanja Segmüller
                      (Hochschule für Gesundheit Bochum), Dr. Jutta Semrau (Bundesministerium für Gesundheit), Dr. Dominique Vogt
                                            (Hertie School of Governance), Dieter Wiek (Deutsche Rheuma-Liga)
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                                         3

DIE ELFTE EMPFEHLUNG DES NATIONALEN AKTIONSPLANS
Menschen mit chronischen Erkrankungen sind mit                      Der Anteil an eingeschränkter Gesundheitskompe-
vielfältigen Anforderungen an die Krankheitsbewäl-                  tenz liegt in dieser Gruppe bei fast 73 Prozent2.
tigung und einem hohen Bedarf an Information                        Diese durchaus beunruhigende Situation erfordert,
konfrontiert: Allein der Umgang mit dem Krank-                      gerade Menschen mit chronischen Erkrankungen
heits- und Behandlungsgeschehen sowie den dabei                     oder Behinderungen durch gezielte Maßnahmen3
zu fällenden Entscheidungen wirft zahllose Fragen                   in ihrer funktionalen, interaktiven und kritischen
auf. Ähnlich ist es mit dem durch die Krankheit ir-                 Gesundheitskompetenz4 zu stärken.
ritierten Alltagsleben.

Herausforderungen bringt auch der Umgang mit                            Gesundheitskompetenz meint im Kontext chroni-
dem intransparenten und hochgradig fragmentier-                         scher Krankheit die Motivation und die Fähigkeit
ten Versorgungssystem mit sich: Allein den passen-                      von Menschen, sich gesundheitsrelevante Infor-
                                                                        mation aneignen und kritisch mit ihr auseinan-
den Zugang zum Versorgungssystem ausfindig zu
                                                                        dersetzen zu können, um
machen, ist nicht einfach. Nicht selten erstreckt sich
dann der Weg bis zur Diagnose über einen langen                         •    die zahlreichen Herausforderungen, die das
Zeitraum und viele Instanzen, und auch später sind                           Leben mit chronischer Erkrankung aufwirft,
zahlreiche Institutionen und Professionen aus unter-                         bewältigen und
schiedlichen Sektoren an der Behandlung und Ver-
                                                                        •    sich aktiv an der Behandlung und Wiederer-
sorgung beteiligt. Mit der Vielfalt an Instanzen und
                                                                             langung bzw. Aufrechterhaltung gesundheit-
den oft komplizierten Regeln der Inanspruchnahme                             licher Stabilität sowie den dazu nötigen Ent-
zurechtzukommen, fällt vielen Nutzern1 schwer.                               scheidungen beteiligen zu können,
Entsprechend hoch ist der Bedarf an Information
                                                                        •    ebenso um sich im Versorgungssystem zu-
und Beratung. Daher kommt der Förderung von
                                                                             recht zu finden und
Gesundheitskompetenz gerade bei der Versorgung
von Menschen mit chronischen Erkrankungen be-                           •    partnerschaftlich mit den Gesundheitspro-
sondere Bedeutung zu.                                                        fessionen zusammenzuarbeiten,

                                                                        so dass eine optimale Bewältigung der Krank-
Zwar wurden in den vergangenen Jahren etliche
                                                                        heitssituation und eine bestmögliche Behand-
Schritte unternommen, um die Information und
                                                                        lung und Versorgung erreicht werden können.
Beratung in den unterschiedlichen Sektoren der
Versorgung auszubauen. Im Ergebnis ist dabei je-
doch eine Angebotslandschaft entstanden, die ähn-                   Aus diesem Grund wurden die Belange von Men-
lich zersplittert und unüberschaubar ist wie das                    schen mit chronischen Erkrankungen im Nationa-
Versorgungssystem selbst, so dass auch hier eine                    len Aktionsplan Gesundheitskompetenz explizit auf-
ausgeprägte Gesundheitskompetenz gefordert ist,                     gegriffen5. Sie standen auch im Mittelpunkt eines
um die geeignete Stelle zu ermitteln.                               der Expertenworkshops, in denen die Empfehlun-
                                                                    gen des Nationalen Aktionsplans mit dem Ziel dis-
Die empirischen Befunde zeigen, dass sich ausge-                    kutiert wurden, sie in konkrete Handlungsschritte
rechnet Menschen mit chronischen Erkrankungen                       zu übersetzen. Das vorliegende Strategiepapier ba-
überdurchschnittlich häufig vor Schwierigkeiten im                  siert auf den Diskussionsergebnissen der 11. Emp-
Umgang mit Gesundheitsinformation gestellt sehen:                   fehlung des Nationalen Aktionsplans. Sie lautet:

1 Wenn im Folgenden der einfachen Lesbarkeit halber nur die         4 Nutbeam, D.: Health literacy as a public health goal: a chal-
männliche Bezeichnung verwendet wird, steht diese stets stellver-   lenge for contemporary health education and communication
tretend für Personen beider Geschlechter.                           strategies into the 21st century. Health Promotion International
2 Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E. M., Hurrelmann, K.: Ge-       2000, 15 (3): 259-267.
sundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – Ergeb-          5 Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U., Kolpatzik, K.

nisbericht. Bielefeld: Universität Bielefeld 2016.                  (Hrsg.): Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Ge-
3 Solche Maßnahmen sollten sowohl auf die Stärkung der per-         sundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin: Kompart
sönlichen Gesundheitskompetenz als auch die Lebensumwelt            2018.
von Menschen mit chronischen Erkrankungen und die dort ge-
gebenen Bedingungen zielen, denn diese beeinflussen – fördern
oder hemmen – die Entfaltung von Gesundheitskompetenz.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                     4

„Gesundheitskompetenz in die Versorgung                       gen, behandlungsbedingte Belastungen und un-
von Menschen mit chronischer Erkrankung                       nötiges Leid vermeiden oder verringern und
                                                              gute Lebensqualität erhalten zu können“.
integrieren“

Warum ist das wichtig?
                                                          Für die Umsetzung dieser Empfehlung wurden
Chronische Krankheiten zeichnen sich durch hohe           von den Experten des Workshops die folgen-
Komplexität und Langfristigkeit aus. Das Krank-
                                                          den fünf strategischen Vorschläge erarbeitet:
heitsgeschehen ist nicht gleichförmig, sondern ver-
ändert sich im Verlauf der Zeit und geht mit mal
mehr, mal weniger ausgeprägten Symptomen und              1. Das Gesundheitssystem vom Leben mit
Einschränkungen einher, die sich in den Spätsta-          chronischer Erkrankung her denken
dien aufschichten und verdichten. Dies alles unter-
                                                          Chronische Krankheiten manifestieren sich in allen
scheidet sich von Person zu Person. Menschen mit
                                                          Lebensphasen, besonders häufig aber im Alter.
chronischen Erkrankungen benötigen deshalb eine
                                                          Schon seit geraumer Zeit bestimmen sie das Morbi-
auf Kontinuität angelegte, bedarfs- und bedürfnis-
                                                          ditätsspektrum. Deshalb ist es überfällig, die Versor-
orientierte Versorgung, die der individuellen Prob-
                                                          gung konsequent an die mit ihnen einhergehenden
lemsituation entspricht und insbesondere darauf
                                                          Herausforderungen anzupassen. Dazu ist es erfor-
zielt, sie in ihrer Gesundheitskompetenz zu stärken.
                                                          derlich, die Versorgungsgestaltung nicht länger vor-
                                                          nehmlich an den Zwängen des Systems und den
Was ist zu tun?                                           strukturellen Vorgaben seiner Sektoren zu orientie-
                                                          ren. Stattdessen müssen die Erkrankten, ihr Bedarf,
•    Versorgungsstrukturen und -prozesse so aus-          ihre Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Präferen-
     richten, dass sie Menschen mit chronischer Er-       zen an die erste Stelle gesetzt werden.
     krankung eine langfristig angelegte, präventiv
     ausgerichtete Versorgung ermöglichen, hinrei-        Eine solchermaßen patienten-, ja personen-
     chende Patientensicherheit gewährleisten und         zentrierte Versorgung, wie sie auch von der Weltge-
     die Gesundheitskompetenz stärken                     sundheitsorganisation gefordert wird6, lässt sich
                                                          nicht auf dem Wege punktueller Systemoptimierun-
•    Gesundheitskompetenz verbessern, indem die
                                                          gen verwirklichen. Sie erfordert einen grundsätzli-
     Versorgung so gestaltet wird, dass sie neben
                                                          chen Paradigmenwechsel hin zu einem Gesund-
     den körperlichen auch den besonderen lebens-
                                                          heitssystem, das konsequent aus der Perspektive von
     weltlichen, psychischen, sozialen und ökonomi-
                                                          Menschen mit chronischer Erkrankung gedacht
     schen Herausforderungen beim Leben mit               wird. Eine personen-/patientenzentrierte Versor-
     chronischer Erkrankung entspricht und zum            gung unter Berücksichtigung der Gesundheitskom-
     Erhalt von Autonomie trotz bedingter Gesund-
                                                          petenz zu realisieren bedeutet:
     heit beiträgt
•    Menschen mit chronischer Erkrankung und              •   die nach wie vor beobachtbare „somatische Fi-
                                                              xierung“ zu überwinden und die Person – nicht
     ihre Angehörigen in die Versorgungsgestaltung
                                                              die Krankheit – in den Mittelpunkt der Versor-
     einbeziehen und sie zu einem kompetenten,                gung zu stellen;
     partnerschaftlichen und kritischen Umgang mit
     dem Versorgungssystem und seinen Akteuren            •   der Stärkung der Gesundheitskompetenz in der
                                                              Versorgung zentralen Stellenwert einzuräumen
     befähigen und ermutigen
                                                              und Menschen mit chronischer Krankheit zu
•    Kommunikation und Information verbessern,                befähigen, sich kritisch mit gesundheitsrelevan-
                                                              ten Informationen auseinanderzusetzen;
     um auch in fortgeschrittenen Krankheitsphasen
     und am Lebensende informierte Entscheidun-           •   chronisch Erkrankte und ihre Angehörigen auf
                                                              die besonderen Anforderungen in den Spät-

6WHO – World Health Organisation: Framework on inte-
grated, people-centred health services. Genf: WHO 2016.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                5

    phasen chronischer Krankheit und am Lebens-      2. Die Förderung der Gesundheitskompetenz
    ende vorzubereiten und ihre Möglichkeiten zur
    gemeinsamen Entscheidungsfindung zu för-
                                                     von Menschen mit chronischen Erkrankungen
    dern;                                            im Lebensalltag verankern und Partizipation
•   ein Recht auf Anhörung und Information –         erleichtern
    ebenso auf Nicht-Information und informatio-
    nelle Selbstbestimmung – einzuräumen und im      Chronische Krankheiten berühren alle Lebensbe-
    Versorgungsalltag die Stimme von Menschen        reiche und beeinflussen nicht nur die physische,
    mit chronischer Erkrankung zu respektieren;      sondern auch die psychische und soziale Situation
•   Menschen mit chronischer Erkrankung durch        sowie das gesamte Alltagsleben der Erkrankten und
    Ermächtigung (Empowerment) und Aktivie-          ihrer Angehörigen. Deshalb ist es wichtig, ihren le-
    rung zu ermutigen, eigene Bedarfslagen, Be-      bensweltlichen Bedingungen und einem gelingen-
    dürfnisse und Präferenzen zu erkennen, zum       den Alltagsleben mit weitgehender Autonomie und
    Ausdruck zu bringen und gegenüber den ent-
                                                     Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hohe Beach-
    sprechenden Instanzen und Professionen zu
    vertreten;                                       tung zu schenken. In der Versorgungspraxis wird
                                                     das meist vernachlässigt.
•   Menschen mit chronischer Erkrankung dabei
    zu unterstützen, das Gesundheitssystem und
                                                     Übersehen wird auch, dass die Krankheitsbewälti-
    seine Funktionsweise zu verstehen, um geeig-
    nete Versorgungsinstanzen identifizieren zu      gung in großen Teilen fernab des Gesundheitssys-
    können;                                          tems erfolgt, nämlich im privaten Lebensumfeld.
                                                     Die Hauptakteure sind dort die Erkrankten und
•   das Gesundheitssystem und Behandlungs- und
                                                     ihre Angehörigen bzw. das soziale Umfeld. Deshalb
    Versorgungsabläufe transparent und informa-
    tiv zu gestalten, so dass es für chronisch Er-   ist es notwendig, Menschen mit chronischer Er-
    krankte einfach ist, zu informierten Entschei-   krankung und deren Angehörige in besonderer
    dungen zu gelangen, aktiv und ko-produktiv zu    Weise in die Gestaltung der Versorgung und Be-
    handeln und partnerschaftlich mit den Ge-        handlung, die dabei zu treffenden Entscheidungen
    sundheitsprofessionen zusammenzuarbeiten;        und auch die Stärkung der Gesundheitskompetenz
•   Versorgungspfade zu etablieren, die ohne Um-     einzubeziehen.
    wege zu den für das jeweilige Anliegen richti-
    gen Instanzen im Versorgungssystem führen        Zugleich sind Angehörige als eigene Zielgruppe zu
    und besonders für Menschen mit niedriger Ge-     betrachten. Denn Familienangehörige, Wahlver-
    sundheitskompetenz und komplexen Gesund-         wandte und Freunde nehmen meist eine ganze
    heitsproblemen die Nutzung und Navigation
    vereinfachen;                                    Reihe an unterschiedlichen Aufgaben bei der Un-
                                                     terstützung und Versorgung von Menschen mit
•   die Gesundheitsprofessionen durch gezielte       chronischer Erkrankung wahr und sind dabei etli-
    Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote zu        chen Belastungs- und Gesundheitsrisiken ausge-
    wirksamer Kommunikation und partnerschaft-
    licher Interaktion zu befähigen;                 setzt. Darauf sind sie vielfach nicht vorbereitet und
                                                     benötigen deshalb ihrerseits Unterstützung und
•   integrierte Gesundheits-/Versorgungszentren      Kompetenzförderung.
    zu schaffen, die eine umfassende teambasierte
    Versorgung ermöglichen, die in gemeinsamer
    Verantwortung aller Gesundheitsprofessionen      Hohe Bedeutung kommt auch der gesundheitsbezo-
    erbracht wird, der Bandbreite des Bedarfs        genen Selbsthilfe für die Stärkung der Gesundheits-
    chronisch Erkrankter gerecht wird und auf        kompetenz zu: Menschen, die aufgrund eigener Be-
    Stärkung der Gesundheitskompetenz zielt.         troffenheit über reichhaltige Erfahrung und um-
                                                     fangreiches Erfahrungswissen verfügen, können auf
Eine so gedachte personen-/patientenzentrierte       ganz andere Weise unterstützen als das professio-
Versorgung von Menschen mit chronischen Er-          nelle Versorgungssystem. Auch bei der Vermittlung
krankungen ermöglicht einen direkten Zugang zu       von Fachinformation und -wissen spielen Selbsthil-
passenden Leistungen und respektiert die Wahlfrei-   fegruppen und -organisationen eine wichtige Rolle,
heit und Autonomie. Sie ist durch Ko-Produktion,     ebenso bei der Unterstützung im Umgang mit
Partizipation, hohe Patientensicherheit sowie eine   neuen Informationsmedien und neuen Formen der
teambasierte Versorgung gekennzeichnet und           Information, etwa digitaler Information.
räumt der Information und Stärkung der Gesund-
heitskompetenz zentralen Stellenwert ein.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                          6

Selbsthilfegruppen und -organisationen sind zudem          Menschen mit chronischer Erkrankung durch ein
in der Lage, wichtige Impulse für die Alltagsbewäl-        systematisches Informationsmanagement zu unter-
tigung zu geben7 oder vulnerable Gruppen zu un-            stützen, das sich über den gesamten Krankheitsver-
terstützen. Beispielhaft sind hier die sogenannten         lauf erstreckt.
Genesungsbegleiter im Bereich der psychiatrischen
Versorgung zu erwähnen, die praktisch und lebens-          Ein solches Informationsmanagement muss zeitli-
nah Information und Kompetenz vermitteln und               che und inhaltliche Dimensionen berücksichtigen.
Brückenfunktion zwischen den Erkrankten und                Nicht jeder Zeitpunkt ist richtig für die Vermittlung
dem Versorgungssystem einnehmen. Auch dies                 von Information: In Krisenzeiten und besonders in
zeigt, dass die Selbsthilfe mit ihrem peer-to-peer-        der Phase der Verarbeitung der Diagnose dringen
Ansatz eine zentrale Ressource für die Förderung           Informationen nicht immer zu den Erkrankten
von Gesundheitskompetenz darstellt und in der              durch. Vor allem bei schwerwiegenden Krisen oder
Förderpraxis gem. § 20 SGB V explizit berücksich-          Diagnosen befinden sie sich oft längere Zeit in ei-
tigt werden sollte.                                        nem schockartigen Zustand. Erst wenn er abzuklin-
                                                           gen beginnt, sind sie wieder in der Lage, sich inten-
Generell können Konzepte der ‚peer-to-peer-educa-          siver mit Informationen zu befassen. Nicht immer
tion‘ und Selbstmanagementförderung den Erwerb             kann Information also wirklich rezipiert und ange-
von Gesundheitskompetenz effektiv unterstützen.            eignet werden. Vielmehr ist dazu der richtige Zeit-
Denn mit einer chronischen Erkrankung zu leben,            punkt entscheidend.
bedeutet, immer wieder den eigenen Lebensstil zu
reflektieren, persönliche Grenzen auszuloten und           Gleiches gilt für die Wahl des richtigen Informati-
den Alltag umzustellen. Selbstmanagement im                onsmediums: Neben textgebundenen Printmedien
Sinne der Fähigkeit, aktiv mit der Situation umzu-         bieten gerade die digitalen Gesundheitsanwendun-
gehen, sich eigene, kleine Ziele zu setzen, Probleme       gen große Spielräume und zahllose Möglichkeiten
zu lösen und so mit den Gesundheitsprofessionen            für eine multimediale, interaktive, personalisierte
zu kommunizieren, dass die eigenen Präferenzen             Informationsvermittlung. Zudem sind digitale An-
beachtet werden und in Entscheidungen einfließen,          gebote in der Lage, Prozesse abzubilden und so die
sollte durch entsprechende Angebote im Gesund-             Krankheitsbewältigung und das Selbstmanagement
heitssystem unterstützt werden.                            – etwa bei Menschen mit chronischen Erkrankun-
                                                           gen – effektiv zu unterstützen oder zu erleichtern8.

                                                           Wichtig ist zudem, die richtigen Informationsinhalte
3. Die richtige Information zum richtigen Zeit-
                                                           zur richtigen Zeit zu vermitteln. Denn abhängig
punkt bereitstellen: Menschen mit chroni-                  vom Verlauf chronischer Krankheit und den dabei
scher Erkrankung durch ein systematisches                  auftretenden Herausforderungen, verändern sich
Informationsmanagement während des                         auch der Informationsbedarf und die Informations-
Krankheitsverlaufs unterstützen                            bedürfnisse. Ein systematisches Informationsma-
                                                           nagement für Menschen mit chronischer Erkran-
Chronische Krankheiten gehen nicht nur mit einem           kung sollte dem entsprechen und unterschiedliche
hohen, sondern sich immer wieder verändernden              Inhalte zu unterschiedlichen Zeiten bereithalten. Es
Bedarf an Information und Kommunikation einher.            sollte zudem – wie nochmals zu betonen ist – nicht
Auch die Informationspräferenzen verändern sich            einzig auf die Krankheit ausgerichtet sein, sondern
im Verlauf der Krankheit, denn das Krankheitsge-           dem ganzen Spektrum an Anforderungen entspre-
schehen verläuft in einem unkalkulierbaren Wech-           chen, die das Leben mit chronischer Erkrankung im
sel von krisenhaften, instabilen und stabilen Phasen,      Alltagsleben, in der Familie und Zuhause, in
wobei eine jede Phase neue Fragen und andere               Schule, Ausbildung und Arbeitswelt, im Sozial- und
Herausforderungen aufwirft. Deshalb ist es wichtig,        Freizeitleben aufwirft.

7Dierks, M.L., Kofahl, C.: Die Rolle der gemeinschaftli-   8 Hurrelmann, K., Schmidt-Kaehler, S, von Hirschhau-
chen Selbsthilfe in der Weiterentwicklung der Gesund-      sen, E., Betsch, C., Schaeffer, D.: Strategiepapier #3 zu
heitskompetenz der Bevölkerung. Bundesgesundheitsblatt     den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans. Den
2019, 62 (1), 17-25.                                       Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien
                                                           erleichtern. Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheits-
                                                           kompetenz 2019.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                              7

Beachtet werden muss auch, dass Menschen mit                       Weiterbildung der Gesundheitsprofessionen Beach-
chronischer Krankheit einerseits im Lauf der Zeit                  tung finden.
immer versierter im Umgang mit Information wer-
den, andererseits aber die empfundenen Schwierig-
keiten im Umgang mit Information nicht abneh-                      4. Aneignung von Information und Wissen als
men. Denn zunehmendes Wissen führt dazu, dass                      Lernprozess begreifen und in eine didaktisch
die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit der                   fundierte Vermittlungsstrategie einbetten
Information stärker hinterfragt und differenziertere
Fragen gestellt werden. Ein systematisches Informa-                Komplexe und anspruchsvolle Informationen lassen
tionsmanagement sollte deshalb konsequent den                      sich nicht wirkungsvoll durch bloße Bereitstellung
Fragen, der Problemsicht und den Präferenzen der                   und Weitergabe von Information vermitteln. Damit
Erkrankten folgen und ihren Umgang mit Gesund-                     Informationen subjektiv aufgenommen und ange-
heits- und Krankheitsinformation so fördern, wie                   eignet werden können, und erst recht, damit sie ein-
sie es für erforderlich halten und nicht nur, wie es               geschätzt und zur Problemlösung genutzt werden
aus Expertensicht für notwendig erachtet wird.                     können, sind zahlreiche Lernschritte nötig. Infor-
                                                                   mation zielt faktisch auf Erweiterung und teilweise
Ein so aufgestelltes, systematisches Informationsma-               auch auf Anpassung und Korrektur des individuel-
nagement erfordert einen grundlegenden Perspek-                    len Wissensrepertoires, weshalb die Aneignung von
tivwechsel: Punktuelle Informationen wie beispiels-                Information aus lerntheoretischer Sicht einem kog-
weise die einmalige Aushändigung von Aufklä-                       nitiven Lernprozess gleichkommt.
rungs- und Patienteninformationsbroschüren, die
aktuell noch die Alltagspraxis bestimmen, werden                   Doch sind die Bereitstellung und Vermittlung von
dem Informationsbedarf von Menschen mit chroni-                    Information in der Regel vornehmlich auf die
scher Erkrankung in keiner Weise gerecht. Viel-                    Sammlung, Überprüfung der Richtigkeit, Evidenz
mehr müssen die Vermittlung und Aneignung von                      und Form der Weitergabe von Information kon-
Informationen als fortlaufender Prozess verstanden                 zentriert. Sie schenken dem Adressaten oder der
und verwirklicht werden. Ziel muss es dabei sein,                  Aneignungsseite, also der Rezeption und Verarbei-
die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt                   tung von Information, meist nur wenig Aufmerk-
und individuell passgenaue, präferenzsensible Infor-               samkeit.
mation zu vermitteln.
                                                                   Zudem orientiert sich die Vermittlung gesundheits-
Ein systematisches Informationsmanagement sollte                   und krankheitsrelevanter Informationen häufig an
zudem darauf zielen, die kritische Urteilsfähigkeit                einem einfachen Sender-Empfänger-Modell, das
zu fördern, aber auch für eine hohe Qualität von                   der Komplexität solcher Aneignungs- und Lernpro-
Informationen Sorge tragen. Ausgangspunkt bildet                   zesse nicht gerecht wird. Erforderlich ist stattdessen
deshalb die von einem kontinuierlichen Vertrauens-                 ein systematischer, didaktisch reflektierter Vermitt-
verhältnis gestützte, persönliche Kommunikation.                   lungsprozess, der den spezifischen Lernvorausset-
Die angebotenen Informationen sollten dabei für                    zungen und Aneignungsbedingungen unterschiedli-
Menschen mit chronischen Erkrankungen relevant,                    cher Adressatengruppen entspricht und auch die
verständlich und vertrauenswürdig sein. Sie sollten                spezielle psychosoziale Situation von Menschen mit
aufeinander aufbauen, in unterschiedlicher Tiefe                   chronischer Erkrankung nicht außer Acht lässt.
strukturiert und qualitätsgesichert sein.                          Denn sie sind permanent mit neuen Fragen und
                                                                   Herausforderungen bei der Bewältigung ihrer Situ-
Die Umsetzung eines systematischen Informations-                   ation konfrontiert, denen sie krankheits- und res-
managements muss auf verschiedenen Ebenen an-                      sourcenbedingt mal besser und mal schlechter be-
setzen, stets mit Beteiligung der Zielgruppen erfol-               gegnen können. Nichtsdestotrotz müssen sie ihnen
gen und sich auch auf regionale Angebote erstre-                   begegnen und sich dazu immer wieder neu mit In-
cken. Sie erfordert eine gute Organisation, Koope-                 formationen befassen. Gewissermaßen lernen sie
ration und Koordination der beteiligten Einrichtun-                also unter Ausnahmebedingungen9.
gen und Akteure und sollte in der Aus-, Fort- und

9Nittel, D., Seltrecht, A. (Hrsg.): Krankheit: Lernen im Ausnah-
mezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinärer
Perspektive. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag 2013.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #2                                                                8

Auch daraus erwachsen Konsequenzen für die Ver-       Deshalb sollten sie flächendeckend ausgeweitet und
mittlung von Information: Sie bedingt hohe Sensi-     eng mit dem Versorgungssystem vernetzt werden.
bilität und gute Vermittlungskompetenz, die bei       Dabei ist sicherzustellen, dass Beratung explizit für
den Gesundheitsprofessionen nicht ohne weiteres       die Belange der Patienten eintritt und inhaltlich wie
vorausgesetzt werden können. Deshalb ist eine ge-     strukturell unabhängig von den Akteuren des Ge-
zielte methodisch-didaktische Qualifikation auf dem   sundheitssystems erfolgt. Ebenso ist zu beachten,
Weg der Aus-, Fort- und Weiterbildung notwendig.      dass sie der kulturellen Diversität der Zielgruppen
                                                      gerecht wird und einfach auffindbar und zugänglich
                                                      ist.
5. Anwaltschaftliche Unterstützung ausbauen
                                                      Darüber hinaus sind langfristige einrichtungs- bzw.
Gerade im Zeitalter der Digitalisierung und der In-   sektorenübergreifende anwaltschaftliche Formen
formations- und Wissensgesellschaft sind Menschen     der Unterstützung wie Coaching, Case-Manage-
mit chronischer Erkrankung mit einem täglich un-      ment oder Lotsendienste erforderlich. Sie sollten
übersichtlicher werdenden Angebot an Information      insbesondere für Menschen in komplexem Krank-
konfrontiert. Allein geeignete Information zu fin-    heitssituationen und ebensolchen Behandlungs- und
den, erfordert daher eine ganze Reihe an Kompe-       Versorgungsverläufen zu einem selbstverständli-
tenzen, die nicht bei allen Bevölkerungsgruppen vo-   chen Bestandteil der Versorgung werden.
rausgesetzt werden können. Ähnlich ist es bei dem
Verständnis und der Einschätzung von Informa-
tion, wie die vorliegenden empirischen Befunde zur
Gesundheitskompetenz bestätigen.

Sie zeigen außerdem, dass Gesundheitskompetenz
ungleich verteilt ist und sich bestimmte Bevölke-
rungsgruppen im Umgang mit Information und in-
formierter Entscheidungsfindung überfordert füh-
len. Nicht immer sind sie in der Lage, das Informa-
tionsmanagement eigenständig zu bewältigen und
benötigen anwaltschaftliche Unterstützung. Dazu
gehören Strategien wie Beratung und Patientenedu-
kation. Sie unterstützen die Informationsvermitt-
lung wie auch die Aneignung von Wissen; helfen,
Komplexität zu reduzieren und fördern die Prob-
lemlösungsfähigkeit und Kompetenzentwicklung.
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