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25. November 2022

Good reads

     Wöchentliche Standpunkte
     Burkhard Varnholt
     CIO Credit Suisse (Schweiz) AG

1.   Die Welt von morgen: Investment      Passend zum Jahreswechsel erscheint unsere Flagship-Publikation «Investment
     Outlook 2023                         Outlook 2023». Wir fassen die dort dargelegten Erwartungen ans Anlagejahr
                                          2023 zusammen und diskutieren, was für Anleger heute zählt. Dass die neue
2.   Indonesien – der versteckte Profi-
                                          Weltordnung auch die Frage nach Gewinnern und Verlieren neu stellt, macht
     teur?
                                          anlagestrategische Weichenstellungen derzeit so weitreichend. Anlässlich
3.   «Kleine Dinge wie diese»: Starke     des jüngsten G20-Gipfels auf Bali schauen wir auf Indonesien – langfristig ein
     Stimme mit leisen Worten             attraktiver Gewinner? Und: Wir nehmen die Adventszeit zum Anlass für eine
                                          Literaturempfehlung. Viel Vergnügen beim Lesen!

                                          1. Die Welt von morgen: Investment Outlook 2023

                                          Diese Woche möchte ich auf unseren aktuellen «Investment Outlook 2023»
                                          aufmerksam machen. Für eilige Leser sei das Wichtigste im Folgenden
                                          zusammengefasst.

                                          Wir befinden uns in einer grundlegenden Neuausrichtung der Welt, was
                                          selbstverständlich auch Märkte und Zinsen, ja die gesamte Wirtschaft beeinflussen
                                          wird. Heute haben die Empfehlungen, einerseits Vorsicht walten zu lassen und
                                          anderseits investiert zu sein, gleichermassen Gewicht. Denn während Chancen
                                          und Risiken eng beieinanderliegen, bestraft Inflation Cash mit sicherem Wertverlust.
                                          Wir sehen verschiedene Weggabelungen:

                                          Während die «goldene Ära» der Globalisierung, die alte Sicherheits- und
                                          Energieordnung verblassen, zeichnen sich die Konturen einer neuen Weltordnung ab.
                                          Vieles unterscheidet sich von der Vergangenheit. Es geht nicht nur um höhere Niveaus
                                          bei Zinsen und Inflation. Der Beginn eines weltweiten Rüstungswettlaufs, eine neue
                                          regional ausgerichtete Energiearchitektur und der Zug zur Deglobalisierung schaffen
                                          einen globalen Wettlauf um knappe Ressourcen. Das wird Lieferketten, Freihandel
                                          und Börsenbewertungen verändern. Es ist eine Welt, in der Fachkräfte aus sozio-
                                          demografischen Gründen knapp und der Bedarf an Innovation, Produktivitätssteigerung,
                                          IT und Digitalisierung zugleich hoch sein wird. Eine Welt, in der die Veränderung des
                                          Weltklimas einen besseren Schutz unseres Planeten ebenso erfordert wie einen kapital-
                                          und schuldenintensiven Ausbau von Infrastruktur für Mobilität, Energieversorgung und
                                          Kommunikation. Eine Welt, in der Themen wie Inflation und nationale Industriepolitik
                                          wieder das Alltagsvokabular in Politik und Medien beherrschen. Eine Welt, deren
                                          Kapitalhunger für die einen «die Rache der Old Economy» bedeutet, während er
                                                                                                                                 1/5
für andere neue Jobs, Umsätze und Gewinne schafft. Eine Welt, in der die Schere
zwischen Arm und Reich, Alt und Jung weiter auseinanderzugehen droht und für
neue Spannungen sorgt, während Schwellenländer in Südostasien und Lateinamerika
dank ihrer strategisch wichtigen Rohstoffe neue Chancen erhalten. Wir sehen eine
Zeitenwende, deren anlagepolitisches Kondensat in unseren Supertrends zum
Ausdruck kommt. Sie bilden gerade heute ideale Leitplanken bei der Geldanlage
und der Diversifikation. Denn diese Supertrends greifen global: Über den Weg von
Zinsen, Währungen, Lieferketten, Arbeits- und Rohstoffmärkten berühren sie selbst
die entferntesten Winkel der Welt. Es tun sich dabei enorme Opportunitäten auf – aber
auch erhebliche Risiken.

Doch zunächst eine ganze Reihe von «good news», auch wenn manche ihre Schattenseiten
haben.
ȷ Weihnachten steht vor der Tür, und Christmas-Shopping belebt bekanntlich das Ge-

  schäft. Eine Kreditklemme wie nach der Finanzkrise 2009 ist heute unwahrschein-
  lich, denn die Unternehmensbilanzen und der Finanzsektor scheinen solide.
ȷ   Staatshaushalte erfreuen sich dank Inflation steigender Steuereinnahmen – nicht
    zuletzt durch Abgaben auf Energie.
ȷ   Nächstes Jahr erwarten wir rund 1.6 Prozent globales Wirtschaftswachstum. Das ist
    weniger als dieses Jahr, doch nach der COVID-19-Überstimulierung ist das mögli-
    cherweise gesund.
ȷ   Schweizer Unternehmen haben immer noch solide Auftragsbücher. Allein, es fehlen
    weiterhin Fachkräfte. Und der steigende Warenaufwand bereitet zusätzlich Kopfzer-
    brechen.
ȷ   Dank des milden Winters und voller Gaslager ist die Energiekrise bislang ausgeblie-
    ben – doch weisse Weihnachten wären besser für den Wintertourismus.
ȷ   2023 erwarten wir einen Rückgang der globalen Inflationsraten. Das sollte allen
    Finanzmärkten helfen, spätestens in der zweiten Jahreshälfte. In der Zwischenzeit
    verbessern die höheren Zinsen die Aussichten für Anleihenrenditen und bei Diversifi-
    kation substanziell.
ȷ   Schweizer Immobilien scheinen in einem weltweit schwierigen Jahr für die Branche
    resilient zu sein. Sie profitieren bei immer noch moderaten Zinsen von Zuwanderung,
    Zentrumsdruck und Angebotslücken.

Die weniger gute Nachricht:

Erst wenn die Geldpolitik dreht, erscheint der Beginn eines neuen Bullenmarkts
plausibel. Bis dahin belasten die erhöhten Kapitalkosten Unternehmensgewinne und
globale Immobilien – und mancherorts den Schuldendienst.

2. Indonesien – der versteckte Profiteur?

In der vergangenen Woche haben wir an dieser Stelle die Chancen erwähnt, die sich
derzeit für Lateinamerika auftun. Diese Woche blicken wir nach Südostasien. Denn
beide Regionen könnten in der kommenden Dekade von ihrem Ressourcenreichtum
und der Deglobalisierung profitieren.

Nachdem im majestätischen Hotel Apurva Kempinski auf Bali die zwanzig Delegationen
des jüngsten G20-Gipfels abgezogen waren, stellte sich zwar wieder eine gewisse
Normalität ein. Doch das riesige 5-Sterne-Hotel am Indischen Ozean ist weiterhin en
vogue. Denn Indonesien boomt. Selten standen die Sterne für das Land der tausenden
Inseln so günstig wie heute. Die Börse zählt zu den wenigen Gewinnern im Jahr 2022.
Doch trotz Indonesiens Chancen sind auch die Herausforderungen unübersehbar –
nicht zuletzt die geografisch-logistischen in einem Land, das sich eben über Tausende
von Inseln verteilt. Wie steht es um die wirtschaftlichen Perspektiven des mit 276 Millio-
nen Einwohnern viertgrössten Landes der Welt?

Der jüngste G20-Gipfel hat gezeigt, dass Indonesiens Präsident Joko Widodo, alias
«Jokowi», um strategische Neutralität bemüht ist. Alle Staaten Südostasiens wollen von
der Deglobalisierung Chinas profitieren, ohne den grossen Nachbarn zu brüskieren.

                                                                                       2/5
Sie müssen also diplomatisch zu den USA und zu China positive Beziehungen pflegen.
Während Indonesien bislang noch nicht mit seiner verarbeitenden Industrie punktet,
besitzt das Land drei strategische Trümpfe, die Potenzial auf globalem Level haben:

1. Es verfügt über einen Grossteil der knappen Ressourcen zur Elektrifizierung der
   Mobilität.
2. Die Attraktivität Indonesiens als Investitionsstandort gründet in wirtschaftspolitischen
   Reformen und strategischer Industriepolitik.
3. Im grossen dynamischen Binnenmarkt Indonesiens ist in den letzten Jahren eine
   kreative IT-Wirtschaft mit Unterstützung westlicher Private-Equity-Investoren
   entstanden.

Betrachten wir diese drei Aspekte ein wenig genauer.

Vorteil 1: Ressourcen
Indonesien ist das Land mit den grössten bekannten Nickelvorräten der Welt,
einem derzeit zentralen Rohstoff bei der Herstellung von Batterien. Mehr noch:
Die Industriepolitik von Präsident Jokowi will vermeiden, dass das Land seine wertvollen
Ressourcen lediglich exportiert. Stattdessen schafft die Regierung Anreize für
ausländische Investitionen, beispielsweise beim Bau von Batteriefabriken. Hier sieht
Indonesien eine strategische Opportunität. So wurden beispielsweise auf der Insel
Sulawesi zahlreiche Metallhütten angesiedelt, kumuliert sollen dort 2022 Investitionen
von mehr als 18 Milliarden US-Dollar an Land gezogen worden sein. Auch Bauxit
zählt zu den wichtigen Bodenschätzen. Für den Abbau gibt es schon grosse Minen
und Raffinerien. Auf der Insel Borneo wird gegenwärtig ein grosses Wasserkraftwerk
errichtet, mit dessen Hilfe in naher Zukunft auch CO2-neutrales Aluminium aus lokal
abgebautem Bauxit gewonnen werden soll.

Auf Java, der bevölkerungsreichsten Insel des Landes, errichten zwei südkoreanischen
Unternehmen seit 2021 gemeinsam eine der grössten Batteriefabriken der Welt –
für Batterien mit einer Kapazität von 200 Gigawattstunden. In der vergangenen Woche
kündigte der chinesische Weltmarktführer für Autobatterien an, rund zwei Milliarden
US-Dollar in einen «grünen Fonds» für integrierte Wertschöpfung (vom Nickelabbau
bis zur Herstellung von Autobatterien) zu investieren – und zwar mit finanzieller
Beteiligung der indonesischen Regierung. Vormals wollte das Unternehmen noch eine
grosse Expansion in den USA vornehmen. Doch diese Investitionspläne wurden nun
verlangsamt, da der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) Restriktionen
bezüglich der Beschaffung von Materialien für Batterien eingeführt hat. Wir sehen, wie
Indonesien von einer günstigen Kombination aus Ressourcenreichtum, konservativer
Wirtschaftspolitik und politischer Neutralität profitiert.

Abbildung 1: Auslandsinvestitionen in Indonesien wachsen rasch
Ausländische Direktinvestitionen in Indonesien, in Milliarden US-Dollar
12

 9

 6

 3

 0
       2010             2012            2014             2016             2018   2020   2022

Letzter Datenpunkt: 2022
Quelle: Indonesian Ministry of Investment, Refinitiv Datastream, The Economist

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Doch nicht nur ausländische Unternehmen beleben Indonesiens aufstrebende Wirt-
schaft. Über ein einheimisches Joint Venture ist der Bau einer riesigen Fabrik für
Elektro-Motorräder, Batterien und Ladestationen geplant. Erneut mit staatlicher Unter-
stützung.

Vorteil 2: Binnenmarkt
Ein zweiter Wachstumsfaktor für Indonesien sind der grosse Binnenmarkt und seine
kreative IT-Industrie. Die Inselwelt des Landes ist Fluch und Segen zugleich. Da das
östlichste zum westlichsten Eiland nun einmal etwa so weit entfernt ist wie Bern von
Kabul, macht Not erfinderisch. Beispielsweise sind in den letzten Jahren mehrere
heimische Start-ups entstanden (mit Finanzierung durch amerikanische Private-Equi-
ty-Investoren), um das «Uber»-Geschäftsmodell auf die professionelle Logistik zu
adaptieren. Eines der erfolgreichsten indonesischen Start-ups, ein E-Commerce-Unter-
nehmen, erwirtschaftet mittlerweile einen Jahresumsatz in Höhe von 2 Prozent des
nationalen Bruttosozialprodukts.

Vorteil 3: Wirtschaftspolitik
Schliesslich profitiert Indonesien von seiner wirtschaftsfreundlichen Politik. In diesem
Jahr führte die Regierung wieder eine Schuldenbremse und eine 3-Prozent-Defizit-
Grenze ein. Gleichwohl investierte sie in den letzten Jahren substanziell in Infrastruktur:
21 Flughäfen, 18 Häfen und 1700 Kilometer Autobahn sind in der Amtszeit von Präsi-
dent Jokowi entstanden. Wenngleich das Land im «Ease of doing business»-Index der
Weltbank erst auf Platz 73 von 190 Staaten liegt, wird derzeit ein grosses Reformpaket
zur Liberalisierung von Arbeitsmarkt, Aussenhandel und Steuern vorbereitet. Es könnte
einen grossen Unterschied machen. Denn die Weltbank rechnet vor, dass der Export
eines Containers aus Indonesien im Durchschnitt noch 111 Stunden Papierarbeit er-
fordert.1 Kein Wunder, dass Exporte nicht zu Indonesiens Stärken gehören. So hat bei-
spielsweise Apple 26 Lieferanten in Vietnam, 20 in Malaysia, 18 in Thailand, 16 in den
Philippinen und 11 in Indien – aber nur zwei in Indonesien. Mit anderen Worten: Der
Fertigungsstandort Indonesien hat noch viel Wachstumspotenzial. Es liegt in der Hand
der Regierung in Jakarta, die Opportunitäten zu ergreifen.

3. «Kleine Dinge wie diese»: Starke Stimme mit leisen Worten

Die anbrechende Adventszeit möchte ich mit einer Leseempfehlung einläuten. Claire
Keegans mehrfach ausgezeichneter Roman «Kleine Dinge wie diese» weckt Erinnerun-
gen an Charles Dickens. Wir befinden uns zur Weihnachtszeit in der irischen Kleinstadt
New Ross im Jahr 1985. Gleich zu Beginn geht es bedrohlich zu: «Es war ein Dezem-
ber der Krähen. Derartig viele hatte man noch nie gesehen. In schwarzen Schwärmen
versammelten sie sich vor der Stadt, drangen dann ins Zentrum vor, hüpften durch die
Straßen».

Die irische Autorin greift als Hintergrund für den Roman ein dunkles Kapitel der
Geschichte ihres Landes auf: Bis 1996 nahmen Nonnenklöster in Irland sogenannte
gefallene Frauen in Zwangsverwahrung – gegen deren Willen. Es ging unter anderem
um Mütter unehelicher Kinder oder Prostituierte. Oftmals verkauften die Klöster die
Kinder der jungen Frauen an ausländische Adoptivfamilien, andere Kinder starben ver-
wahrlost in den sogenannten Magdalenenheimen. Doch ohne jeden Anflug von Pathos
oder Polemik erhebt sich in diesem Roman in leisen Worten eine starke Stimme der
Menschlichkeit. Genau das macht dieses Buch so universell.

Es geht um den Kohlenhändler und Familienvater Billy Furlong, dessen bescheidenes
Geschäft für die Versorgung der Familie und die Schulbildung seiner fünf Töchter aus-
reicht. Doch eine unheimliche Begegnung während einer frühmorgendlichen Kohlelie-
ferung jenseits der schweigenden Mauern des Nonnenklosters erschüttert ihn. In einer
Welt, geprägt von der Komplizenschaft des Schweigens, muss er eine Entscheidung
treffen: als Familienvater, als Christ, als Mensch.

«Kleine Dinge wie diese» zeichnet auf nur hundert Seiten eine formal kleine, aber eine

 1 The World Bank | Ease of doing business in Indonesia

                                                                                        4/5
erzählerisch grosse Geschichte der Hoffnung. Mit meisterlicher Einfachheit strahlt sie
                                                          bereits als funkelnder Stern am Firmament der Gegenwartsliteratur. Ausgezeichnet
                                                          mit dem Orwell Prize for Political Fiction und dem Kerry Group Irish Novel of the Year
                                                          Award erreichte das Buch (Originaltitel: Small Things Like These) dieses Jahr die
                                                          Shortlist des Booker Prize. Sorgfältig übersetzt von Hans-Christian Oeser und ebenso
                                                          verlegt beim Steidl-Verlag, Göttingen 2022 (ISBN 978-3-96999-065-0).

                                                          Freundliche Grüsse

                                                          Ihr Burkhard Varnholt

                                                                                     Burkhard Varnholt
                                                                                     CIO Credit Suisse (Schweiz) AG
                                                                                     burkhard.varnholt@credit-suisse.com
                                                                                     +41 44 333 67 63

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