HANDREICHUNG GENDER-PERSPEKTIVEN - in den Natur- und Technikwissenschaften - Albert-Ludwigs ...

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HANDREICHUNG GENDER-PERSPEKTIVEN - in den Natur- und Technikwissenschaften - Albert-Ludwigs ...
HANDREICHUNG
                   GENDER-PERSPEKTIVEN
                   in den Natur- und
                   Technikwissenschaften

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HANDREICHUNG GENDER-PERSPEKTIVEN - in den Natur- und Technikwissenschaften - Albert-Ludwigs ...
CHRISTOPH BORNER
                                               Sprecher der Spemann Graduiertenschule
                                               für Biologie und Medizin (SGBM)
                                               Vorwort

                   Die vorliegende Handreichung ist ein hervorragendes Nachschlagewerk, welches die Gen-
                   derforschung in allen Bereichen der Natur- und Technikwissenschaften vorantreibt. Sie
                   gibt Anregungen dafür, wie der so wichtige Dialog zwischen den Fachkulturen der Geistes-,
                   Sozial- und Kulturwissenschaften sowie dem MINT Bereich aussehen kann. Während Gleich-
                   stellungspolitik ein bekanntes Thema ist, um an Universitäten Karrieremöglichkeiten für
                   Frauen, die Bedingungen für Life-Work-Balance und Kinderbetreuung zu verbessern, gleiche
                   Löhne für gleiche Arbeit zu implementieren oder gar Quotenregeln zu schaffen, um Gleich-
                   stellung voranzutreiben, ist es bei vielen Wissenschaftler_innen immer noch unbekannt,
                   dass auch der Bereich Genderforschung gefördert werden sollte.

                   Für mich als erfahrener Wissenschaftler, der sich über 30 Jahre mit zellulären Systemen
                   und Mausmodellen beschäftigt hat, ist es heute noch schwierig, genderrelevante Themen
                   konsequent in Forschungsanträge und Experimente einzubauen, geschweige denn meine
                   Mitarbeiter_innen und Professorenkollegen_innen von der Wichtigkeit solcher Themen zu
                   überzeugen. Genau hier setzt diese Handreichung an. Sie gibt Ratschläge, wie die Scientific
                   Community für Genderforschung sensibilisiert werden kann und zeigt anhand konkreter
                   Beispiele auf, in welchen Forschungsfeldern sie sich wie implementieren lässt. Dabei kom-
                   men Pionier_innen zu Wort, die bereits an diesem Unterfangen seit langer Zeit arbeiten und
                   Genderforschung im MINT-Bereich stärker verankern möchten. Eine große Herausforderung
                   stellt insbesondere dar, die junge Generation an Studierenden, Doktorierenden und Post-
                   docs zu erreichen und ihnen mit innovativen Lehrkonzepten Geschlechtsforschung näher
                   zu bringen und sie dafür zu begeistern diese in ihrer späteren Karriere auch konsequent
                   anzuwenden. Es bedarf dabei, wie hier gezeigt wird, nicht nur einer theoretischen Fundie-
                   rung, sondern auch eines didaktischen Einfallsreichtums und struktureller Ideen, damit die
                   Fachkulturen sich auf einander zu bewegen. Wie am Schluss der Handreichung ausgeführt
                   wird, ist daher eine Verzahnung von Geschlechterforschung, gendersensitive Didaktik und
                   Gleichstellungspolitik unverzichtbar.

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Die Handreichung beginnt mit einer Einleitung, in der Marion Mangelsdorf aufzeigt, welche
                   Akteur_innen an dieser mitwirkten, an wen sie sich richtet und welche Themen im Einzelnen
                   besprochen werden. Sie umreißt dann kurz die drei Themenfelder der Handreichung, die
                   anschließend genauer besprochen werden: Gender in den MINT-Fächern – Positionen
                   und Perspektiven; Gender in MINT unterrichten – Hochschuldidaktische Ansätze und
                   Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik in MINT.

                   In diesen Abschnitten werden konkrete Möglichkeiten diskutiert, auf denen aufbauend
                   nun in einem dreijährigen Verbundprojekt „Gendering MINT digital“ zwischen der
                   Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Hochschule Offenburg und Humboldt Universität
                   zu Berlin von 2017 bis 2020 Open Science Module entwickelt werden, besonders im
                   Hinblick auf Gestaltungsprozesse digitalisierter Vermittlung von Gender-Wissen in MINT.
                   Es bleibt zu hoffen, dass diese Handreichung die Diskussion über Genderforschung und
                   Gleichstellungspolitik in allen Fachkulturen und auf allen Ebenen der Lehre und Forschung
                   weiter anregt und letztlich die immer noch vorhandene Chancenungleichheit in unserer
                   Gesellschaft beendet.

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Gliederung
                   Christoph Borner: Vorwort                                     02
                   Marion Mangelsdorf: Gendering MINT. Vernetzung von
                   Gender-Perspektiven in den Natur- und Technikwissenschaften   06

                   Gender in den MINT-Fächern –
                   Positionen und Perspektiven                                   08
                         Marion Mangelsdorf, Britta Schinzel & Victoria Vonau:
                         Gender in den MINT-Fächern – Positionen und
                         Perspektiven
                         Evelyn Ferstl: Gendering MINT. Perspektiven aus der
                         Kognitionswissenschaft
                         Corinna Bath: De-Gendering informatischer Artefakte
                         "in a nutshell"
                         Sigrid Schmitz: Sex/Gender. Neue Ansätze zur
                         Verschränkung von Natur und Kultur für die Forschung
                         Kerstin Palm: Ein wissenschaftshistorisches Modul
                         für die Biologie – eine Brücke in die Gender Studies
                   Gender in MINT unterrichten –
                   Hochschuldidaktische Ansätze                                  61
                         Marion Mangelsdorf & Claude Draude

                   Gender Studies und Chancengleicheit in MINT                   82
                         Ein Gepräch zwischen Aniela Knoblich
                         und Marion Mangelsdorf

                   Gisela Riescher: Nachwort                                     94

                   Autor_innenverzeichnis                                        96
                   Impressum und Bildnachweis                                    98

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GENDER IN DEN MINT-FÄCHERN
                                               – POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN

                                               GENDER STUDIES IN MINT UNTERRICHTEN
                                               – HOCHSCHULDIDAKTISCHE ANSÄTZE

                                               GESCHLECHTERFORSCHUNG UND
                                               GLEICHSTELLUNGSPOLITIK IN MINT

                                                                                     5

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MARION MANGELSDORF

                   Gendering MINT
                   Vernetzung von Gender-Perspektiven
                   in den Natur- und Technikwissenschaften

                   Die vorliegende Handreichung wendet sich an Akteur_innen im MINT-Bereich, die sich in der
                   Forschung, Lehre und Hochschulpolitik fragen, wie sie Gender-Perspektiven in ihre Arbeit inte-
                   grieren können. Im Folgenden zeigen Expert_innen anhand exemplarischer Beispiele, was
                   es bedeutet, Genderforschung in die Natur- und Technikwissenschaften einzubeziehen,
                   die Hochschullehre durch gendersensitive Didaktik zu bereichern und welche
                   gleichstellungspolitischen Perspektiven im MINT-Bereich entwickelt werden können.
                   Dabei wird deutlich, dass die unterschiedlichen Ebenen von Forschung, Lehre und
                   Gleichstellungspolitik ineinandergreifen und sich wechselseitig bestärken. Damit plädiert
                   diese Handreichung dafür, die jeweiligen Ebenen nicht getrennt voneinander zu betrachten,
                   sondern sie zeigt auf, wie eng sie miteinander verwoben sind.

                   Mit diesem Plädoyer bilden die in dieser Handreichung vertretenen Expert_innen ihre Dis-
                   kussionen ab, die von 2015–2016 im Rahmen von drei Workshops und einer abschließen-
                   den internationalen Konferenz geführt wurden. Diese Publikation geht zurück auf das vom
                   Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt Gendering MINT (Förder-
                   kennzeichen: 01FP1453). Die Handreichung und eine Website dokumentieren zum einen
                   den derzeitigen Stand der Verankerung von Gender in MINT. Zum anderen analysieren sie
                   Hindernisse des interdisziplinären Dialogs, wodurch sowohl inhaltliche als auch institutio-
                   nelle Schwierigkeiten erörtert werden, um schlussendlich zur Weiterentwicklung sinnvoller
                   Formate und zur Stärkung von Gender in MINT anzuregen. Die Handreichung ebenso wie
                   die Webseite unterstützen den Austausch zwischen Expert_innen, tragen zur Sichtbarkeit
                   bestehender Initiativen bei und ermöglichen so die Weitergabe und kritische Reflexion beste-
                   hender Erfahrungen. Ziel ist es, den aktuellen Stand der Verankerung von Gender-Forschung
                   in MINT zu verdeutlichen, Foren zur Vernetzung zu bieten und die Ergebnisse erfolg-
                   reicher Initiativen für weitere Projekte nutzbar zu machen. Damit geht es nicht zuletzt
                   darum, einen Beitrag zur Durchsetzung von Chancengerechtigkeit zu leisten.

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Die Handreichung gliedert sich in drei aufeinander verwiesene Bereiche. Einleitend
                   geht es um Grundlagen, Schlüsselbegriffe und -konzepte. Darauf folgen anwendungs-
                   orientierte Beispiele aus unterschiedlichen (Fach-)perspektiven. Damit bietet die vorlie-
                   gende Dokumentation Impulse, sich mittels weiterführender Literatur und Materialien,
                   die sich ebenfalls in Form von Video- und Grafikdokumentationen auf der Website fin-
                   den, eingehender mit Gendering MINT zu befassen. Die jeweiligen Bereiche fokussieren:

                   Gender in den MINT-Fächern –
                   Positionen und Perspektiven
                   Gender-Perspektiven in den MINT-Fächern stehen nicht allein in spannungsreichen Verhält-
                   nissen zu kultur- und sozialwissenschaftlichen Zugängen, sie sind auch in sich heterogen.
                   Aus kognitions- und neurowissenschaftlicher, biologischer als auch ingenieurwissenschaft-
                   licher Perspektive fragen wir exemplarisch welche Anliegen und Erkenntnisinteressen sich
                   mit Gender in MINT verbinden. Wie kann Genderforschung in die jeweiligen Fächer hin-
                   eingetragen werden und die Fachperspektive ihrerseits die Genderforschung bereichern?

                   Gender in MINT unterrichten –
                   Hochschuldidaktische Ansätze
                   Lehrende, die Gender in den MINT-Fächern beziehungsweise MINT-Perspektiven in
                   den Gender Studies unterrichten, sehen sich häufig mit Studierendengruppen konfron-
                   tiert, die sehr heterogenes Vorwissen und unterschiedliche Erwartungshaltungen mit-
                   bringen. Welche Kompetenzen sollen Studierende in diesen Lehrveranstaltungen er-
                   werben? Nach welchen Kriterien wird Lernerfolg bemessen? Welche gemeinsamen Stan-
                   dards und Strategien zur Qualitätssicherung in der Lehre sind sinnvoll?

                   Geschlechterforschung und
                   Gleichstellungspolitik in MINT
                   Die Identifikation und der Abbau von Barrieren, die durch vergeschlechtlichte Fachkulturen
                   bedingt und aufrecht erhalten werden, sind sowohl für die Umsetzung von Gender & Diversity-
                   Strategien als auch für die weitere Verankerung der Geschlechterforschung in den MINT-
                   Fächern unabdingbar. Welche Synergieeffekte zwischen Gender & Diversity-Programmen
                   und Ansätzen zur Verankerung von Gender-Perspektiven in den MINT-Fächern können
                   ausgelotet, welche gemeinsamen Problemlagen identifiziert werden?

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GENDER IN DEN MINT-FÄCHERN
                                               – POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN

                   MARION MANGELSDORF, BRITTA SCHINZEL
                   UND VICTORIA VONAU

                   Mit Initiativen wie dem von der Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger an der Stanford
                   University ins Leben gerufenen Projekt Gendered Innovations sowie dem darauf aufbauenen-
                   den Advice Paper Gender Research and Innovation: Intergrating Sex and Gender Analysis into
                   Research Processes (LERU 2015) der League of European Research Universities hat die Gen-
                   derforschung in den MINT-Fächern Auftrieb erhalten. Selbst in EU-Forschungsprogrammen
                   wie Horizon 2020 findet das Thema Gendering MINT Gehör und liefert Anreiz durch entspre-
                   chende Budgetierung. Seither wird die Frage, wie die Kategorie Sex – das biologische Ge-
                   schlecht – und Gender – das soziale Geschlecht – beziehungsweise deren Wechselwirkung
                   in der Kategorie Geschlecht (sex-gender) in die Entwicklung von Forschungsvorhaben im
                   MINT-Bereich integriert werden kann, wieder intensiver gestellt. Über Gendered Innovations
                   wird seither kontrovers – vor allem auch im deutschsprachigen Raum – diskutiert (Ernst/
                   Horwath 2013; Paulitz et al. 2015 und siehe auch den Beitrag von Sigrid Schmitz in dieser
                   Handreichung).

                   Mit dieser Handreichung setzen wir uns mit diesen Diskussionen auseinander, lassen
                   einzelne Expert_innen und ihre je eigenen Positionen und Perspektiven zu Wort kommen.
                   Dabei bildet sich ein heterogenes Feld ab, das auf einer inzwischen jahrzehntelangen
                   Forschung beruht. Im Folgenden möchten wir zunächst die Grundlagen beschreiben, auf
                   der die Forschung zu Gendering MINT basiert. Zum einen gehen wir auf die Analyse-
                   ebenen und damit einhergehenden Methoden ein, die in diesem Bereich entwickelt
                   wurden. Zum anderen gehen wir der Frage nach, welches Verständnis von Sex und
                   Gender dem MINT-Bereich zugrundeliegt.

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Analyseebenen der                             Aktivität, Reproduktion/Produktion: Labor-

                   Geschlechterforschung in MINT                 forschung über Ziele, Methoden, Hilfsmit-
                                                                 tel, Ergebnisgewinnung und -darstellung
                   Von der Biologin und Wissenschaftshis-
                                                                 sowie Publikationspraxen.
                   torikerin Evelyn Fox Keller wurden folgen-
                                                                 Science and Technology of Gender
                   de Analyseebenen herausgearbeitet (Fox
                                                                 Fächer wie die Biologie, Medizin und Psy-
                   Keller 1995):
                                                                 chologie, deren explizites Ziel es ist, Defini-
                   Women in Science
                                                                 tionen von Geschlecht, Geschlechterdiffe-
                   In diesem Feld werden Sozialverhältnisse
                                                                 renzen und Geschlechterverhältnissen zu
                   und die Situation von Frauen und anderen
                                                                 liefern, werden hier beforscht. Dabei wer-
                   marginalisierten Gruppen in Studien- und
                                                                 den einer kritischen Reflexion unterworfen:
                   Berufsfeldern des MINT-Bereichs erforscht.
                                                                 Normierungen und Normierungsdiskurse
                   Methoden in diesem Feld sind: Biographie-
                                                                 (Männlichkeit als Norm–Weiblichkeit als
                   forschung, Statistik und Empirie (vgl. Fox
                                                                 Mangel und Abweichung) sowie Naturali-
                   Keller 1985; Rosser 2014; Schiebinger
                                                                 sierung von gesellschaftlichen Machtver-
                   1989; Schinzel 2017).
                                                                 hältnissen. Zu unterscheiden sind folgen-
                   Gender in Science                             de Positionen: sex–gender–Dichotomie;
                   Die Vorannahmen, Theorien, Methodolo-         Differenzansätze; nature–nurture–deba-
                   gien, Forschungspraxen und der Wissens-       te (Anlage-Umwelt-Debatte); Dekonstruk-
                   kanon im MINT-Bereich wird hier zum For-      tionsansätze; Embodyment-Theorien („Bo-
                   schungsgegenstand erhoben. Gefragt wird,      dies are simultaniously nature and culture“
                   wie Wissen im MINT-Bereich produziert         Anne Fausto Sterling 2000); Neukonstruk-
                   wird und gegenüber anderen Wissensfor-        tion von Geschlecht (Ah-King 2014; Rough-
                   men Abgrenzung erfährt. Geschlecht wird       garden 2004; Schmitz/Höppner 2014).
                   in diesem Forschungsfeld als epistemo-
                                                                 In diesen als Feminist Science and Tech-
                   logische -, als Struktur- und Analysekate-
                                                                 nology Studies oder Gender in Science and
                   gorie verstanden (vgl. Becker/Krotendiek
                                                                 Technology Studies bezeichneten Studien
                   2010; Ernst/Horwath 2013; Leicht-Schol-
                                                                 kommen auch Methoden der Gesellschafts-
                   ten 2007).
                                                                 und Kulturwissenschaften zum Einsatz,
                   Methoden in diesem Feld sind: Analyse epi-
                                                                 um die Natur- und Technikwissenschaf-
                   stemologischer Grundannahmen und Ziele
                                                                 ten zu beforschen. Hierzu gehören die
                   (z.B. Fortschritt); Analyse von Dichotomien
                                                                 Biographieforschung und Methoden der
                   wie Körper/Geist, Natur/Kultur, Passivität/
                                                                 Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und

                                                                                                                   9

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-philosophie, von denen insbesondere die        ne Subjektposition – der male bias der Wis-
                   Diskurs- und Sprachanalysen, Interviewstu-      sensproduktion – nicht reflektiert, stark,
                   dien und statistischen Erhebungen sowie         wenn sie mitbedacht wird. Marginalisierte
                   Laborstudien zu nennen sind. Es ist dies        Personen sind danach eher dazu befähigt,
                   ein dezidiert interdisziplinäres Forschung-     eine starke Objektivität voranzutreiben,
                   feld, denn ohne die Fachwissenschaften          da sie den "god-trick" (Haraway) vermeint-
                   sind weder relevante Forschungsfragen           licher Objektivität hinterfragen. Harding
                   noch adäquate Ergebnisinterpretationen          spricht in diesem Sinne von einer "strong
                   zu erwarten. Den klassischen Methoden           objectivity", Haraway von einem "situated
                   im MINT-Bereich am nächsten steht der Fe-       knowledge".
                   ministische Empirismus. Hier wird davon
                   ausgegangen, dass existierende Methoden
                                                                   Standpunkttheorien
                   (Experimente und quantitative Datenerhe-
                   bungen) fruchtbar gemacht werden kön-           verweisen demnach auf die Perspektiven

                   nen, um den eigenen Ansprüchen an mög-          und (Ohn-)Machtpositionen, die sich aus

                   licher Objektivität Genüge zu leisten, sie      einem bestimmten (historischen, kulturel-

                   beispielsweise von sexistischen und an-         len und vergeschlechtlichten) Standpunkt

                   drozentrischen Vorannahmen zu befreien          heraus ergeben. Strukturen, Verhaltens-

                   (vgl. Palm 2004).                               weisen, ein doing gender, das weiße westli-
                                                                   che Männer der Mittelklasse selbstverständ-
                                                                   lich ausgestalten, erweisen sich für Frauen,
                   Von einer starken Objektivität                  ethnische Minderheiten oder Menschen
                   sprechen Theoretiker_innen der Feminist         anderer Schichten hauptsächlich als prob-
                   Science and Technology Studies (FSTS),          lematisch. In feministischen Standpunkt-
                   wenn Forschende die vermeintliche Neu-          theorien wird darüber reflektiert, wie unter-
                   tralität, das heißt Objektivität ihres Stand-   schiedliche Menschen an der Entwicklung
                   punktes, nicht unhinterfragt behaupten.         von wissenschaftlichen Epistemologien teil-
                   Erkenntnis ist immer schon abhängig vom         haben können. Über Barrieren und mögli-
                   Subjekt, das forscht. Deswegen unter-           che Überwindungsstrategien wird nachge-
                   scheiden die beiden Naturwissenschafts-         dacht: auf struktureller, symbolischer und
                   theoretikerinnen Sandra Harding und Don-        individueller Ebene. Patricia Hill Collins sen-
                   na J. Haraway zwischen Positionen einer         sibilisiert in diesem Zusammenhang sei-
                   schwachen und einer starken Objektivität.       tens der Women of Color für Machtpolitiken
                   Schwach ist die Objektivität, wenn die eige-    in der Produktion von Wissen und ‘Wahrheit’.

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Der wissenschaftstheoretischen und philo-     schreiben. Durch diese Auftrennung des
                   sophischen Historie folgend, gehen stand-     Begriffes Geschlecht in einen biologischen
                   punkttheoretische Konzepte auf Georg          und einen psycho-sozialen Anteil wurde
                   Wilhelm Friedrich Hegel, insbesondere         immerhin eine Emanzipation von einseitig
                   sein Herrschaft und Knechtschaft-Kapi-        biologischen Erklärungen der Geschlecht-
                   tel in der Phänomenologie des Geistes von     lichkeit erreicht, welche mit der Erkenntnis
                   1807 zurück; ebenso wie auf die ökono-        eines doing gender einherging: Geschlech-
                   misch-politischen Manuskripte von 1844,       terdifferentes Verhalten wird durch ge-
                   in denen Karl Marx Hegel’s dialektische       sellschaftliche Strukturen und kulturelle
                   Antagonismen zwischen Herr und Knecht,        Normen entwickelt und verfestigt. Beispiel-
                   Bewusstsein und Selbstbewusstsein in den      haft dafür seien genannt: die geschlechter-
                   Kontext von Klassenkämpfen gestellt hat.      different strukturierte Arbeitswelt und Poli-
                   Michel Foucault wiederum zog die Epis-        tik, die Aufteilung in öffentliche und private
                   teme heran, um historische und gegenwär-      Sphäre, die juridische Fixierung und Behand-
                   tige Selbstverständlichkeiten herauszuar-     lung von Geschlecht, die Zuschreibung von
                   beiten, und verwies auf die eng miteinander   Rationalität an Maskulinität und von Emo-
                   verflochtenen Spannungsverhältnisse von       tionalität an Feminität. Jedoch beinhaltet
                   Wissen und Macht, so wie Pierre Bour-         die Einsicht in die Konstruiertheit von Gender
                   dieu mit seinem Habitus-Begriff das verin-    auch die Möglichkeit eines undoing gender,
                   nerlichte Bildungskapital, das aus dem        das heißt ein Überschreiten binärer Normen.
                   familiären Umfeld erwächst, betonte.
                                                                 Die begriffliche Trennung in Sex versus
                                                                 Gender beinhaltete allerdings eigene Prob-
                   Zum Sex-/Gender-Verständnis                   lematiken. Der Sex-Gender-Dualismus folgt
                   in der Geschlechterforschung                  einer Dichotomie von Natur versus Kultur
                   in MINT                                       mit weitreichenden Folgen. Die Analyse

                   Im Diskurs zur Kategorie Geschlecht wer-      biologisch-körperlicher Geschlechteraspek-

                   den insbesondere auch zwei Begriffe aus       te blieb lange Zeit einseitig den Naturwis-

                   dem englischen Sprachraum verwen-             senschaften zugeordnet. Mit dieser Zuord-

                   det: Sex und Gender. Sex bezeichnet das       nung behielt Sex seinen ontologischen

                   biologische Geschlecht, wohingegen            Status als etwas der Kultur Vorgängiges

                   Gender verwendet wird, um kulturelle          und dem Analysebereich der Genderfor-

                   Prägung, erlernte Rollen, Verhaltens-         schung nicht Zugängliches. Umgekehrt

                   weisen und die Identitätsbildung zu be-       wurden biologische Geschlechteraspekte

                                                                                                           11

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von der vorwiegend soziologisch orien-          Die Biologie fokussiert stark auf den Be-
tierten Genderforschung bis in die 1990er       griff Sex: Sie erforscht die Evolution und
Jahre weitestgehend ignoriert, um genau         Vererbung biologischer Geschlechtsmerk-
solchen Essenzialisierungen zu entgehen         male in ihrem gesamten Spektrum. Seit
(Fausto-Sterling, 2003). Die Angemessen-        durch das junge Forschungsfeld der Epige-
heit der Trennungskategorien Sex oder           netik bekannt geworden ist, dass Umwel-
Gender wurde seitdem zunehmend hinter-          teinflüsse sich auf Genexpressionen auswir-
fragt.                                          ken können, findet auch die Dimension
                                                von Gender Berücksichtigung. Historische
Im Deutschen gibt es diese begriffliche Tren-
                                                Analysen zur Begriffsbildung in der Biolo-
nung nicht – hier wird von ‘Geschlecht’ ge-
                                                gie haben starke Annahmen über Geschlech-
sprochen.   Der   Begriff   Geschlecht    er-
                                                terdifferenzen gezeigt, die sich nicht durch
fasst sowohl die biologischen als auch
                                                biologische     Befunde   erklären     lassen:
die kulturellen Aspekte der Begriffe Sex/
                                                So   wurden     beispielsweise   die    weibli-
Gender und drückt somit deren Verbin-
                                                chen Geschlechtsmerkmale als eine Ab-
dung und Wechselwirkung aus. Tatsäch-
                                                weichung vom männlichen Standard oder
lich wirken Sex und Gender immer zusam-
                                                gar als Mangel aufgefasst. Auch der Begriff
men. Somit ist eine strikte Trennung der
                                                des Säugetiers spiegelt - im vermeintlich
Begriffe Sex und Gender sowohl unscharf
                                                positiv das Weibliche aufwertenden Sinn
als auch theoretisch unmöglich (Kaiser
                                                - das im 18. Jahrhundert vorherrschende
2012). Beispielsweise werden Genexpres-
                                                Geschlechterrollenverständnis, die Frau sei
sionen durch Umweltfaktoren beeinflusst
                                                von Natur aus die Nährende, das heißt zur
und verweisen somit auf die bestehenden
                                                Kindererziehung und Heimarbeit qua Natur
Wechselbeziehungen zwischen biologisch-
                                                vorgesehen.
em und kulturell erlerntem Geschlecht.
                                                Die Neurowissenschaft beschäftigt sich
Wie werden nun die Begriffe Sex/Gender
                                                unter anderem mit dem Zusammenhang
beziehungsweise Geschlecht in verschie-
                                                zwischen      geschlechtsspezifischen     Aus-
denen naturwissenschaftlichen und tech-
                                                prägungen von Gehirnen und den da-
nischen Wissenschaftsdisziplinen verwen-
                                                mit korrelierenden Hirnfunktionen. Auf-
det? Was wird unter diesen Begriffen gedacht
                                                grund der Plastizität des Gehirns, das
und welchen Einfluss hat die Verwendung
                                                heißt der Formung von Hirnstrukturen und
dieser Termini auf Forschung und Ergeb-
                                                -funktionen durch soziale Erfahrungen,
nisse in den verschiedenen Disziplinen?
                                                muss auch die Kategorie Gender in der
                                                Forschung berücksichtigt werden. Mittels

12
bildgebender Verfahren können Hirnstruk-             können zusätzlich Hormonspiegel-Messun-
                   turen und ihre Aktivität dargestellt und             gen durchgeführt werden. Studien, die
                   auf Geschlechterdifferenzen beziehungs-              Geschlechtsunterschiede als primäre Vari-
                   weise Gemeinsamkeiten zwischen den                   able statt als sekundäre fassen, sind jedoch
                   Geschlechtern hin untersucht werden. Um              mit der Gefahr einer Dichotomisierung in
                   dabei Stereotypisierungen von Frauen und             “Frauen” und “Männer” behaftet. Dieser
                   Männern zu vermeiden, lassen sich Perspek-           kann durch die Verwendung statistischer
                   tiven der Gender Studies in den Neurowis-            Verfahren begegnet werden, welche auch
                   senschaften fruchtbar machen. Annahmen,              die intersektionale Unterscheidung von
                   wie sie populärwissenschaftlich noch weit            Gruppen ins Auge fassen bzw. einen gewis-
                   verbreitet sind, konnten auf diese Weise             sen Spielraum für die Heterogenität der
                   bereits widerlegt werden, so beispiels-              Gruppen zulassen oder aber indem even-
                   weise: die stärkere Aufteilung der Infor-            tuell auftretende Geschlechtsunterschiede
                   mationsverarbeitung auf die Kortexhälften            mit intersektional differenzierten Maßen
                   – also die Lateralisierung – in den männli-          korreliert werden.
                   chen Gehirnen erkläre ihre besseren räum-
                                                                        In den Informatik- und Technikwissen-
                   lichen        und        mathematischen   Leistun-
                                                                        schaften wird meistens ausschließlich von
                   gen, wohingegen eine stärkere Vernet-
                                                                        Gender gesprochen. Oft wird darauf gezielt,
                   zung und mehr Informationsaustausch dem
                                                                        mehr Frauen in die natur- und technikwis-
                   Sprachvorteil bei Frauen zugrundeliege.
                                                                        senschaftlichen Disziplinen zu bringen,
                   Die Forschung zu Kognition und Geschlecht            indem sie versuchen, die Einstellungen
                   beschäftigt sich mit dem Zusammenhang                von Frauen zur Technik zu verändern. Nur
                   von Sex und Gender beziehungsweise                   wenige Forschungsansätze in diesem Feld
                   mit Geschlechtsunterschieden in Bezug                setzen bei der Informatik beziehungsweise
                   auf kognitive Leistungen. Hierbei stehen             der Technik als in vielfacher Weise verge-
                   häufiger kulturell-soziale Fragestellungen           schlechtlichem Bereich an. Wird der Begriff
                   als biologische im Vordergrund. In Stu-              Gender im technischen Kontext verwendet,
                   dien wird das biologische Geschlecht der             so erfolgt dies häufig mit binären Verständ-
                   Proband_innen üblicherweise durch Selbst-            nissen von Frauen und Männern, die weder
                   auskunft bestimmt und ggf. deren Persön-             den Lebensrealitäten, noch dem Stand
                   lichkeitseigenschaften oder Einstellungen            der Geschlechterwissenschaften entspre-
                   zum Geschlechterverhältnis per Frage-                chen. Stereotype Annahmen über Nut-
                   bogen erhoben. In medizinisch- oder neuro-           zer_innen kommen besonders beim soge-
                   wissenschaftlich ausgerichteten Studien              nannten Gender-Marketing zum Tragen: so

                                                                                                                13

Handreichung GenderingMINT_ENdversion.indd 13                                                                          16.01.19 13:20
floss beispielsweise die Annahme der Tech-    gen und die Forschung beobachtet, begleitet
nikinkompetenz von Frauen in die Entwick-     und eingreift beziehungsweise mit ent-
lung von Rasierapparaten (Ellen van Oost,     wickelt. Der Annahme, dass Technik neutral
2003) oder in frühere Textverarbeitungspro-   und objektiv, das heißt nicht von Interessen
gramme und Benutzungsschnittstellen mit       geleitet sei, steht dem gegenüber, Wissen
ein. Aus der Verschränkung von Technik-       und Forschung im Gegenteil immer situ-
gestaltung in der Informatik mit aktueller    iert“ zu begreifen (Lucy Suchman). Das
Geschlechterforschung könnte “bessere”        bedeutet, es verwoben in den Kontingenzen
Technik entstehen, welche problematische      intersektional entstandener Bedingungen
Vergeschlechtlichungsprozesse vermeidet       zu sehen.
und die Diversität der Nutzenden berück-
                                              Mit der Aufnahme des Begriffs der Cyborg
sichtigt. Doch gibt es auch seit langem
                                              wird der technisch erweiterte Körper von
Genderforschung in der Technik, die unter
                                              den   feministischen   Science     Technolo-
anderem die Dichotomien von Entwicklung
                                              gy Studies (Donna Haraway) auch posi-
und Nutzung ebenso wie die von binärem
                                              tiv gewendet. Andererseits weisen Donna
Geschlecht infrage stellt (Crutzen et al.
                                              Haraway und Lucy Suchman auch hier
200 ). Software-Entwickelnde sind ja immer
                                              auf das situated knowledge“ hin, weshalb
die intensivsten Nutzenden von beste-
                                              ein   besser“, ein angebliches Optimum
hender Software. Umgekehrt sind Nutzende
                                              immer spezifisch situiert ist und nicht für
auch oft Um-Nutzende, die Vorfindliches
                                              alle und nicht in jeder Situation angemes-
in andere Kontexte transportieren und
                                              sen sein muss, wie Karin Harasser (201 )
anpassen, das heißt sie sind auch Ent-
                                              es für Körper-Enhancements heraugear-
wickelnde, und sie sollten als solche von
                                              beitet hat. Seit einiger Zeit wird die femi-
vornherein in Entwicklungsprozesse einge-
                                              nistisch-materialistische Theorie der Quan-
bunden werden. Des Weiteren wurden die
                                              tenphysikerin Karen Barad (2012) zur Anal-
epistemischen Annahmen der Technik unter-
                                              yse einer kontinuierlichen Rekonstruktion
sucht (Schinzel 2005), etwa die Annahme,
                                              der Welt mittels technischer       Agency“,
dass es eine technische Evolution gebe,
                                              ihrer Schnitte und materiell-semiotischen
die den Fortschritt der Menschheit vorant-
                                              Neukonfigurierungen    verstärkt   herange-
reibt, dass ein   schneller, weiter, höher“
                                              zogen.
die Menschheitsprobleme lösen könne,
während mit den Gender Studies eine sehr
viel bescheidenere Haltung des modest
witness“ (Donna Haraway) die Entwicklun-

14
Literatur                                                      Gender in Science

                                                                                  Becker, Ruth & Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010) Hand-
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                              der in Science and Technology. Interdiscipli-
                                                                                          Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS
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                                                                                          Verlag. 787–866.
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                              first person account. In: Jasanoff, Sheila et al.
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                                                                                          Reflections on gender and science. New Ha-
                              Innovation: Integrating Sex and Gender Ana-
                                                                                          ven: Yale University Press.
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                              lysis-into-the-research-process.                            genieurwissenschaften, Bielefeld: transcript.

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                              senskulturen und soziale Praxis. Geschlech-                 New York University Press.
                              terforschung zu natur-, technik- und geistes-
                                                                                  Schiebinger, Londa (1989) The Mind Has No Sex? Wo-
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                              Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 42.
                                                                                          bridge: Harvard University Press.
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                                                                                  Schinzel, Britta (2006) Informatik, Wissenschaft im
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                                                                                          Spannungsfeld zwischen (technologischer)
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                                                                                          und Peitz, Martina (Hrsg.) Mikrokosmos Wis-
                   Rosser, Sue (2014) Breaking into the Lab: Engineering
                                                                                          senschaft: Transformationen und Perspekti-
                              Progress for Women in Science. New York:
                                                                                          ven. Reihe: Zürcher Hochschulforum. Zürich:
                              New York University Press.
                                                                                          vdf Hochschulverlag ETH Zürich. 169–186.
                   Schiebinger, Londa (1989) The Mind Has No Sex? Wo-
                                                                                  Suchman, Lucy (1987) Plans and Situated Action. The
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                              bridge: Harvard University Press.
                                                                                          Cambridge: Cambridge University Press.
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                                                                                          (2000). 4–18.
                              (Hrsg.) Informatics In The Future – In The
                              Year 2025; Proceedings of the 11th European
                              Computer Science Summit (ECSS), Vienna,
                              October 2015. Springer Conference Volume.
                              87–98.

                                                                                                                                     15

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Science and Technology Studies of Gender

Ah-King, Malin (2014) Genderperspektiven in der Bio-     Harding, Sandra (2005) Rethinking Standpoint Epis-
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                                                                 Cudd, Ann E. & Andreasen, Robin O. (Hrsg.)
Barad, Karen (2012) Agentieller Realismus. Über die
                                                                 Feminist Theory. A Philosophical Anthology.
        Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken;
                                                                 Oxford: Blackwell Publishing. 49–82.
        Berlin: Suhrkamp.
                                                         Harrasser, Karin „Parahumane Konstellation von Kör-
Bourdieu, Pierre (1992) Die verborgenen Mechanismen
                                                                 per und Technik. Aktive Mimesis und tumultö-
        der Macht. Hamburg: VSA Verlag.
                                                                 se Partnerschaften“. In: FIfF-Kommunikation
Crutzen, Cecile K.M. & Kotkamp, Erna (2006) Questi-              2 (2016). 40–44.
        oning Gender through Deconstruction and
                                                         Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807) Phänomeno-
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        Gender and Information Technology. Hersh-
                                                                 kamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt
        ey/London: Idea Group Reference. 1041.
                                                                 a.M.: Suhrkamp.
Crutzen, Cecile K.M. & Kotkamp, Erna (2006) Questio-
                                                         Hill Collins, Patricia „Comment on Hekman‘s >Truth
        ning Gender, throughTransformative Critical
                                                                 and Method: Feminist Standpoint Theory Re-
        Rooms. In: Trauth, Eileen: Encyclopedia of
                                                                 visited
Auf den Spuren des Körpers in einer technoge-
                          nen Welt. Opladen: Leske + Budrich. 259– 278.

              Palm, Kerstin (2004) Was bringt die Genderforschung ei-
                          gentlich den Naturwissenschaften? In:Schmitz,
                          Sigrid & Schinzel, Britta (Hrsg.) Grenzgänge.
                          Genderforschung in Informatik und Naturwis-
                          senschaften. Königstein: Ulrike Helmer Verlag.
                          50–64.

              Palm, Kerstin (2004) Disziplinen-Trouble – Oder: Vorschlä-
                          ge der Gender Studies für eine sinnvolle Wis-
                          senschafts- und Machtkritik. In: Ernst, Thomas;
                          Bock von Wülfingen, Bettina; Borrmann, Stefan
                          & Gudehus, Christian P. (Hrsg.) Wissenschaft
                          und Macht. Münster: Westfälisches Dampfboot.
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              Roughgarden, Joan (2004) Evolution’s Rainbow: Diversi-
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              Schinzel, Britta (2005) Das unsichtbare Geschlecht der
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                          & Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Hyperkult II.
                          Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Me-
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              Schmitz, Sigrid & Höppner, Grit (Hrsg.) (2014) Gendered
                          NeuroCultures. Wien: Zaglossus.

                                                                             17

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"Die Kognitionswissenschaft und die
                                 Genderforschung haben traditionell wenig
                                 Überlappung ... Inzwischen haben sich
                                 jedoch einige Forschungsrichtungen
                                 herausgebildet, in denen geschlechts-
                                 relevante Fragestellungen untersucht
                                 werden ..."

                                                            Evelyn C. Ferstl

                   18

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EVELYN C. FERSTL

                   Gendering MINT – Perspektiven aus der
                   Kognitionswissenschaft

                   Kognitionswissenschaft ist eine interdisziplinäre Fachrichtung, die sich mit der Erforschung
                   von kognitiven Prozessen in lebenden Organismen und in künstlichen Systemen beschäftigt
                   (s. Strube/Ferstl/Konieczny/Ragni 2014). Teilbereiche sind unter anderem Wahrnehmung,
                   Aufmerksamkeit und Gedächtnis, Denken und Problemlösen, Sprache und soziale Interak-
                   tion. Die Grundannahme ist, dass Kognition aktive Informationsverarbeitung beinhaltet.
                   Statt eines Abbildes der Welt wird in kognitiven Systemen eine Repräsentation erzeugt, die
                   sowohl von den Inhalten und Eigenschaften der gerade verarbeiteten Stimuli abhängt, als
                   auch vom Vorwissen und der Zielsetzung des verarbeitenden Systems, also in der Regel
                   von Personen.

                   Als Beispiel kann die visuelle Wahrnehmung dienen. Schaut zum Beispiel eine Autofahrerin
                   auf die Strasse, wird auf der Retina ein zweidimensionales Bild erzeugt. Dennoch schätzt
                   sie die Entfernung zu vorausfahrenden Fahrzeugen oder sie erkennt überfrierende Nässe
                   anhand der Lichtreflektionen auf der Fahrbahn. Diese Interpretationen basieren auf ihrer
                   Erfahrung mit vergleichbaren Situationen, und erfordern eine komplexe Integration des
                   retinalen Bildes mit dem Wissen über den situativen Kontext.

                   Die Teildisziplinen der Kognitionswissenschaft sind die experimentelle Psychologie, Sprach-
                   wissenschaft, Informatik und Künstliche Intelligenz sowie Philosophie und Anthropologie.
                   Diese Fachbereiche interagieren und befruchten sich gegenseitig. So werden zum Beispiel
                   in der künstlichen Intelligenz Erkenntnisse über menschliche Kognition gewinnbringend
                   eingesetzt oder Befunde aus der Sprachwissenschaft verwendet, um psychologische Pro-
                   zesse beim Lernen aus Texten zu erklären.

                   Diese Interdisziplinarität wird auch in der Vielfalt der verwendeten Methoden sichtbar. Unter
                   anderem verwendet die Kognitionswissenschaft experimentalpsychologische Techniken,
                   neurowissenschaftliche Messungen, corpus-basierte Methoden aus der Linguistik oder
                   kognitive Modellierung.

                                                                                                            19

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Genderforschung und                           die noch immer vorhandene Unterrepräsen-
                                                                 tation von Frauen in diesen Bereichen er-
                   Kognitionswissenschaft
                                                                 klären können. Vermehrt werden neurowis-
                   Die Kognitionswissenschaft und die Gender-    senschaftliche Methoden verwendet, um
                   forschung haben traditionell wenig Überlap-   mögliche hirnanatomische oder biologische
                   pung (s. Ferstl/Kaiser 2013). Dies liegt an   Geschlechtsunterschiede bei kognitiven Auf-
                   den unterschiedlichen Methoden und an         gaben zu identifizieren.
                   den jeweils zugrundeliegenden Annahmen.
                                                                 Obwohl diese Forschung oft wegen ihres
                   Inzwischen haben sich jedoch einige For-
                                                                 vereinfachten Geschlechtsbegriffs kritisiert
                   schungsrichtungen herausgebildet, in de-
                                                                 wird (s. dazu den Abschnitt Sex/Gender), ist
                   nen geschlechtsrelevante Fragestellungen
                                                                 sie von hoher gesellschaftlicher Relevanz.
                   untersucht werden. Drei Richtungen möchte
                                                                 Sie dient einerseits dazu aufzuzeigen, dass
                   ich hier skizzieren.
                                                                 viele vermeintliche Unterschiede in kontrol-
                                                                 lierten Experimenten nicht nachweisbar oder
                   1. Differenzforschung                         verschwindend gering sind. Andererseits
                   Sex und Gender spielten traditionell in der   kann diese Forschung die Bedingungen und
                   Kognitionswissenschaft nur eine unterge-      Grenzen von Geschlechtsunterschieden
                   ordnete Rolle. Unter der Annahme allge-       demonstrieren. Wenn zum Beispiel gezeigt
                   meiner, domänen-übergreifender kognitiver     wird, dass die Rollenerwartung auf die Per-
                   Prozesse stellt sich die Frage nach dem       formanz in einer Prüfung Einfluss hat ("Mäd-
                   Einfluss von Geschlecht nicht unmittelbar.    chen können sowieso keine Mathe!"), wird
                   Interindividuelle Unterschiede werden zum     dadurch eine biologistisch-essenzielle In-
                   Beispiel erklärt durch Gedächtniskapazität,   terpretation entkräftet. Wenn zum Beispiel
                   Aufmerksamkeit oder Vorwissen. In experi-     nachgewiesen wird, dass die Leistung von
                   mentellen Studien wird meist darauf geach-    Männern in einem Wortschatztest nur des-
                   tet, Frauen und Männer gleichermaßen zu       halb schlechter ausfällt, weil sie weniger effi-
                   testen, ohne notwendigerweise den Einfluss    ziente Strategien einsetzen als Frauen, kann
                   von Geschlecht zu analysieren.                dies in Erziehung und Unterricht einfliessen.

                   Geschlechtsunterschiede rücken jedoch
                   mehr und mehr in den Fokus (Lamplmayr/        2. Soziale Kognition
                   Kryspin-Exner 2011). Zum Beispiel wird die    Mit ihren inzwischen elaborierten Theorien
                   Frage untersucht, ob Leistungsunterschie-     zur Informationsverarbeitung eignet sich
                   de in Mathematik und Naturwissenschaften      die Kognitionswissenschaft besonders,

                   20

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die Macht und Funktion von gesellschaft-          risierung der Welt und die in der Grammatik
                   lichen Prägungen, wie zum Beispiel von            enthaltenen Beziehungen zwischen diesen
                   Rollenklischees, zu untersuchen. Durch die        Konzepten. Und schliesslich wird ein Groß-
                   vermehrte Nutzung von neurowissenschaft-          teil der im kulturellen Umfeld transportierten
                   lichen Methoden verwischen allmählich die         Wissensinhalte schriftlich oder mündlich –
                   Grenzen zwischen Sozialpsychologie und            aber immer sprachlich – vermittelt. Daher
                   Kognitionswissenschaft. Im Unterschied zu         kann Kognition nicht verstanden werden,
                   geisteswissenschaftlichen Ansätzen – die          ohne die Berücksichtigung von Sprachpro-
                   häufig die Resultate dieser Wirkung beschrei-     duktion, Sprachverständnis und interaktio-
                   ben – stehen hier jedoch die Mechanismen          nalen Kommunikationsprozessen.
                   im Vordergrund. Die Kognitionswissenschaft        Die Forschungsthemen lassen sich wiede-
                   untersucht also, wie diese Resultate in der In-   rum in die obigen zwei Bereiche gliedern:
                   teraktion zwischen Information und Rezipie-       einerseits wird untersucht, ob sich bei-
                   renden entstehen, welche Voraussetzungen          spielsweise die Sprachnutzung und Kommu-
                   und Rahmenbedingungen dafür nötig sind.           nikationsfähigkeit von Frauen und Männern
                   Fragestellungen aus diesem Forschungsbe-          unterscheidet. Dabei ist die Grundannahme,
                   reich beinhalten die Entstehung und Wirkung       dass Frauen im allgemeinen leicht bessere
                   von Vorurteilen oder die Messung impliziter       sprachliche Leistungen zeigen. Eine genaue-
                   Einstellungen zu Geschlecht (Steffens/Ebert       re Einordnung der sprachlichen Teilprozesse,
                   2010; Ferstl/Kaiser 2013). Im Gegensatz zu        der verwendeten kognitiven Strategien sowie
                   Fragebogenstudien oder qualitativen Erhe-         der neurobiologischen Grundlagen stehen im
                   bungen gibt das experimentelle Instrumen-         Vordergrund aktueller Forschung.
                   tarium Einblick in kognitive Prozesse, die        Zum zweiten wird in der Psycholinguistik –
                   Personen nicht verbalisieren wollen oder          in Anknüpfung an den Bereich Soziale Kogni-
                   können.                                           tion – untersucht, wie Sprache Wissen über
                                                                     Geschlecht vermittelt und Rollenklischees
                   3. Sprache und Kommunikation                      erzeugt. Vor allem beschäftigt sich diese
                   Auch Kommunikation und Sprache sind Teil-         Forschungsrichtung mit der Verwendung
                   bereiche der Kognitionswissenschaft. Verba-       von generisch maskulinen Ausdrücken im
                   le Ausdrucksmöglichkeit ist das Werkzeug          Deutschen und der Wirkung von gender-
                   für viele höhere geistige Leistungen (wie         fairer Sprache. Auch die Einflüsse von ge-
                   zum Beispiel Problemlösen oder Argumenta-         schlechtsrelevanter Information auf die In-
                   tion). Sprache beeinflusst das Denken durch       terpretation von Texten wird hier untersucht.
                   die den Wörtern zugrundeliegende Katego-

                                                                                                               21

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Sex und Gender in der                             pen zulassen, zum anderen stehen eben

                   Kognitionswissenschaft                            meist nicht biologische, sondern kulturell-
                                                                     soziale Fragestellungen im Vordergrund.
                   Im angelsächsischen Raum werden zwei              Statt einer Einteilung in zwei Gruppen, kön-
                   Begriffe verwendet. Sex bezeichnet das bio-       nen auch Korrelationen berechnet werden:
                   logische Geschlecht, Gender wird verwendet,       In neurowissenschaftlichen oder medizini-
                   um kulturelle Prägung, erlernte Rollen und        schen Studien kann zum Beispiel der Hor-
                   Verhaltensweisen, also das doing gender, zu       monspiegel als zusätzliche Variable einbe-
                   beschreiben. Folglich verwenden die meis-         zogen werden, während in sozial-kognitiven
                   ten Forschenden, die sich mit Geschlechter-       Studien zum Beispiel die Einstellungen zum
                   rollen befassen, den Begriff Gender, während      Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft
                   biologisch-neurowissenschaftliche Wissen-         oder Persönlichkeitseigenschaften mit den
                   schaftler_innen auch von Sex sprechen. Wie        kognitiven Variablen korreliert werden. Die-
                   Anelis Kaiser (2012) ausführt, ist eine strikte   se differenzierteren Maße erlauben es, eine
                   Trennung dieser beiden Aspekte jedoch so-         Dichotomisierung zu vermeiden und die
                   wohl konzeptuell unscharf, als auch theore-       Ursachen von eventuell auftretenden Ge-
                   tisch unmöglich (da zum Beispiel Genexpres-       schlechtsunterschieden einzugrenzen.
                   sionen durch Umwelteinflüsse beeinflusst
                   werden). Unabhängig davon ist eine solche
                   Unterscheidung für die in der Kognitionswis-      Anwendungsbeispiele
                   senschaft untersuchten Phänomene meist            Zwei Beispiele aus aktueller Forschung zu
                   zu differenziert. Im Deutschen gibt es diese      Kognition und Geschlecht sollen diese An-
                   Kategorien ohnehin nicht, so dass der Begriff     sätze illustrieren. Das erste Beispiel zeigt auf,
                   Geschlecht die durch den Begriff Sex/Gender       wie die Berücksichtigung von Geschlecht in
                   ausgedrückte Verlinkung von biologischen          einer psycholinguistischen Studie erheblich
                   und kulturellen Aspekten sehr gut erfasst.        zum Erkenntnisgewinn beitragen kann. Das
                                                                     zweite Beispiel skizziert eine Methode, die
                   Die Definition beziehungsweise die Bestim-
                                                                     Frage nach dem Einfluss von Geschlecht auf
                   mung des Geschlechts in experimentellen
                                                                     die Sprachverarbeitung differenzierter zu un-
                   Studien folgt in der Regel der Selbstauskunft
                                                                     tersuchen, als es ein einfacher Vergleich zwi-
                   der Teilnehmenden. Dies ist für die meisten
                                                                     schen Männern und Frauen erlauben würde.
                   Fragestellungen völlig ausreichend und an-
                   gemessen. Zum einen werden statistische
                   Verfahren verwendet, die einen gewissen
                   Spielraum für die Heterogenität der Grup-

                   22

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1. Implizite Verbkausalität                        lichen, aber Frauen und Männer verwende-

                   Ein Phänomen unserer Sprache(n) ist, dass          ten unterschiedliche Antwortstrategien: die

                   manche Verben eine Erwartung darüber er-           Ergänzungen der Männer begannen häufiger

                   zeugen, wer das beschriebene Ereignis aus-         mit "er" – egal, ob der männliche Vorname

                   gelöst hat. So wird der Satz "Fritz mag Mar-       in Subjekt- oder Objektposition stand. Frau-

                   lene, weil..." eher mit einer Information über     en dagegen bezogen sich häufiger auf das

                   Marlene fortgesetzt (sie ist vielleicht klug,      Subjekt des Satzes, egal ob weiblich oder

                   hilfsbereit, oder witzig) als über Fritz. Diese    männlich.

                   sogenannte implizite Verbkausalität wird in        Diese Ergebnisse zeigen also, dass die Satz-
                   der Linguistik als Eigenschaft des Verbs be-       ergänzungen keineswegs eine gender-blinde,
                   trachtet, und damit als unabhängig davon,          linguistische Eigenschaft der Verben erfas-
                   ob das Subjekt des Satzes männlich oder            sen. Stattdessen werden repräsentative Er-
                   weiblich ist. In einer Satzergänzungsstudie        eignisse produziert, die überraschend deut-
                   (Ferstl/Garnham/Manouilidou 2011) fanden           lich stereotype, gesellschaftlich verankerte
                   wir jedoch heraus, dass sich die Antworten         Geschlechterrollen widerspiegeln. Ohne den
                   für viele Verben deutlich unterschieden, je        Faktor Geschlecht zu berücksichtigen, hätte
                   nachdem ob der Satzanfang in der Form "M           diese Schlussfolgerung nicht gezogen wer-
                   verb F" oder "F verb M" präsentiert wurde.         den können.
                   Interessanterweise korrelierte dies noch mit
                   der emotionalen Konnotation: positive Ereig-       2. Stereotype Personenbezeichnungen
                   nisse (zum Beispiel beruhigen) wurden eher         Das zweite Beispiel ist eine Studie, die im
                   der weiblichen Person zugeschrieben, nega-         Rahmen des europäischen Marie-Curie
                   tive der männlichen (zum Beispiel Sie ermor-       Trainings-Netzwerks Language, Cognition
                   det ihn, weil er sie betrogen hat; Er ermordet     and Gender entstanden ist. Canal, Garnham
                   sie, weil er verrückt ist). Weil für diese erste   und Oakhill (2015) untersuchten mittels der
                   Studie nur Psychologiestudierende rekrutiert       neurowissenschaftlichen Methode der ereig-
                   wurden, hatten jedoch fast ausschliesslich         niskorrelierten Potentiale (EKP) die Interpreta-
                   Frauen teilgenommen. Wir fragten uns da-           tion von generischen Personenbezeichnun-
                   her, ob dieser Effekt durch die Identifika-        gen im Englischen. Sie verwendeten Sätze
                   tion mit der eigenen Gruppe – in diesem Fall       mit Reflexivpronomen, um zu testen, ob die
                   Frauen – zustande gekommen war. In einer           bezeichnete Person mit einem Geschlecht
                   zweiten Runde wurden also Männer gebeten,          assoziiert wird. So sind zum Beispiel Chir-
                   die Aufgabe durchzuführen. Hier bestätigte         urgen häufiger männlich, Kosmetikerinnen
                   sich der vorher gefundene Effekt im wesent-        häufiger weiblich – aber die englischen

                                                                                                                  23

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Begriffe surgeon oder beautician nicht ge-        stellen. Nicht das Geschlecht beeinflusste
                   schlechtsmarkiert. Der Satz "The surgeon          die Sprachverarbeitung, sondern die indivi-
                   saw herself in the mirror" ist also grammati-     duelle Einstellung zu Geschlechterrollen in
                   kalisch völlig richtig, wird aber nur dann ohne   der Gesellschaft.
                   Schwierigkeiten gelesen, wenn die weibliche       Diese Studie zeigt beispielhaft, dass die
                   Interpretation von surgeon vorher aktiviert       Kognitionswissenschaft ein vielfältiges Me-
                   worden ist. Ein Vergleich mit dem Satz "The       thodeninstrumentarium bereitstellt, um dif-
                   surgeon saw himself in the mirror" erlaubt        ferenzierte Fragestellungen innerhalb eines
                   also einzuschätzen, ob die semantische            Rahmens zu untersuchen, der auch die An-
                   Rollenerwartung beim Sprachverstehen un-          liegen der Genderforschung berücksichtigt.
                   mittelbar wirkt.

                   Interessanterweise wurde hier die Analyse
                                                                     Zusammenfassung und
                   individueller Unterschiede zwischen den Ver-
                   suchspersonen nicht auf deren selbstberich-
                                                                     Empfehlungen
                   tetes Geschlecht beschränkt. Zusätzlich füll-     Kognitionswissenschaftliche Forschung ist
                   ten alle Teilnehmenden Fragebögen aus, zur        geeignet, geschlechtsrelevante Fragestel-
                   Erfassung ihrer Identifikation mit weiblichen     lungen zu untersuchen. Im Sinne der Gen-
                   beziehungsweise männlichen Geschlech-             dered Innovations (Schiebinger 2008) sollte
                   terstereotypien, sowie ihrer Einstellungen        auch in Studien, die in erster Linie allgemein-
                   zu Sexismus beziehungsweise Gleichbe-             psychologische Phänomene untersuchen,
                   rechtigung in der Gesellschaft. Schliesslich      das Geschlecht der Teilnehmenden mög-
                   wurden mit dem Implicit Association Test          lichst ausgeglichen sein und gegebenenfalls
                   (IAT) implizite Einstellungen zu Geschlecht       berücksichtigt werden. Wichtig ist, in Publi-
                   und beruflicher Karriere erfasst. Die meisten     kationen auch Nulleffekte zu veröffentlichen,
                   dieser Maße waren für Männer und Frauen           um zu zeigen, dass für die meisten kogni-
                   im Durchschnitt gleich. Jedoch beeinfluss-        tiven Prozesse Geschlecht kaum eine Rolle
                   ten sie die mittels EEG erhobenen Reaktio-        spielt. Schliesslich sollten vielfältige neue
                   nen auf die unerwarteten Reflexivpronomen.        Methoden verwendet werden, die ermögli-
                   Personen, die sich weniger mit einem weib-        chen – jenseits von Geschlecht – interin-
                   lichen Stereotyp identifizieren oder die we-      dividuelle Unterschiede auf Einstellungen,
                   niger sexistisch eingestellt waren, versuch-      Vorwissen oder demographische Faktoren
                   ten offenbar, die nicht übereinstimmenden         zurückzuführen.
                   Referenzen aufzulösen – und sich weibliche
                   Chirurgen und männliche Kosmetiker vorzu-

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Literatur
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                              gender stereotypes in language comprehen-
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                              einen Beitrag zur Geschlechterforschung
                              leisten können“. In: GENDER: Zeitschrift für
                              Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 5, 3
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                              tina: „Implicit causality bias in English: A
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                   Lamplmayr, Elisabeth & Kryspin-Exner, Ilse (2011) Gen-
                              der-Aspekte in der Neuropsychologie: Neuro-
                              nale, kognitive und emotionale Geschlechts-
                              unterschiede. In: Lehrner, Johann; Pusswald,
                              Gisela; Fertl, Elisabeth; Strubreither, Wilhelm
                              & Kryspin-Exner, Ilse (Hrsg.) Klinische Neuro-
                              psychologie. Grundlagen – Diagnostik – Re-
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                   Strube, Gerhard; Ferstl, Evelyn C.; Konieczny, Lars
                              & Ragni, Marco (2014) Kognition. In: Görz,
                              Günther; Schneeberger, Josef & Schmid, Ute
                              (Hrsg.) Handbuch der Künstlichen Intelligenz.
                              5. Auflage, München: Oldenbourg. 21–74.

                                                                                25

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"Vielversprechend für ein 'De-Gendering'
                   technischer Systeme sind Methoden
                   des Participatory Design und Design for
                   Technical Empowerment im Sinne einer
                   geschlechterkritischen Technikgestaltung."

                                                     Corinna Bath

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CORINNA BATH
                   De-Gendering informatischer Artefakte "in a nutshell"
                   Dieser Beitrag fasst den Ansatz des De-Gendering informatischer Artefakte, den ich in mei-
                   ner Dissertationsschrift (Bath 2009a) entwickelt und in (Bath 2014a) als englischen Artikel
                   veröffentlicht habe, in stark gekürzter Version zusammen. Der De-Gendering-Ansatz ist
                   in einem Kontext entstanden, in dem Geschlechterforschung in der Informatik – so wie
                   Gender Studies in MINT generell – zumeist als ein Forschungsansatz verstanden wird,
                   der darauf zielt, mehr Frauen in die natur- und technikwissenschaftlichen Disziplinen zu
                   bringen. Bis heute setzen in diesem Feld nur wenige Forschungsansätze an der Informatik
                   beziehungsweise der Technik an, sondern versuchen, die Frauen zu verändern. Und wenn
                   auf Technik fokussiert wird, so erfolgt dies häufig mit binären Verständnissen von Frauen
                   und Männern, die weder den Lebensrealitäten, noch dem Stand der Geschlechterwissen-
                   schaften entsprechen. „De-Gendering informatischer Artefakte" beansprucht, Technikge-
                   staltung in der Informatik mit aktueller Geschlechterforschung zu verschränken. Ziel ist es,
                   methodische Vorschläge für eine veränderte Technikgestaltung in der Informatik zu machen,
                   die problematische Vergeschlechtlichungsprozesse von Technik vermeidet, und damit zu
                   klären, welchen Beitrag Geschlechterforschung zu einer „besseren" Technikgestaltung in
                   der Informatik leisten kann.

                   Als theoretische und empirische Grundlagen, um problematische Vergeschlechtlichungs-
                   prozesse von Technik zu identifizieren, dienen neben der Geschlechterforschung die zahlrei-
                   chen Analysen der Science and Technology Studies, die solche Prozesse anhand detaillierter
                   Fallstudien aufgezeigt haben sowie speziell der Ansatz der Interferenz/Diffraktion als Meta-
                   pher für interdisziplinäres Arbeiten (vgl. Bath 2013), der von Haraway (1997) und Barad (2007)
                   in Diskussion gebracht worden ist. Auf dieser Basis schlage ich das folgende Vorgehen vor:

                   1. Zunächst gilt es, eine systematische Zusammenschau zu erstellen, wie informatische
                         Artefakte problematisch vergeschlechtlicht (rassifiziert etc.) sein können. Aufgrund
                         der Historizität vorliegender Studien ist dafür eine Bezugnahme auf das sich kon-
                         textabhängig ständig wandelnde Verständnis von Geschlecht und anderen Kategori-
                         en sozialer Ungleichheit, auf die kontinuierlich weiter entwickelten Technologien und
                         Methoden in der Informatik sowie auf einen sich ändernden Wissenskorpus über die
                         Geschlechter-Technik-Zusammenhänge notwendig.

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