Hans Jürgen Balmes Am Ende ist alle Poesie Übersetzung

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Hans Jürgen Balmes
    Am Ende ist alle Poesie Übersetzung
    Swetlana Geier – ein Portrait

Werden wir nicht alle durch die Bücher, die wir lesen, zu unbekannten
Freunden? Werden wir nicht alle, unabhängig von der Lotterie der Gene,
durch das geduldige Seitenumschlagen, Entziffern, Memorieren zu ent-
fernten Verwandten?
   Swetlana Geier mag zu dieser Vorstellung einer Familie aus Lesern
genickt haben, fühlte sich doch verbunden durch etwas, das sich jeder Lek-
türe mitteilt, doch sich nicht ausdrücken lässt, verbunden durch etwas, das
»hinter den Worten lebt«, wie sie einmal sagte. Verborgen, doch anwe-
send tönt es die Lektüre: Es ist wie das Blau des Wassers. Man braucht
einen ganzen Himmel für dieses Blau, doch versucht man, es zu isolieren,
wird es unsichtbar. Und das Wasser zu einer bloßen Flüssigkeit.
   Swetlana Geier kannte sich mit diesem Blau aus, sie ist eine Komplizin
des Verborgenen. »Ich habe bestimmt 40 Jahre meines Lebens Unsichtbar-
keit geübt, das ist jetzt die Rolle meines Lebens«, kommentierte sie eine
Vorführung des Filmes »Die Frau mit den 5 Elefanten« im April 2010.

*

Schon immer schien Swetlana Geier in dem verwunschenen Haus in
Günterstal im Schatten der Schwarzwaldtannen zu leben, in einem schma-
len Haus voller Öfen, russischen Holzlöffeln und geschnitzten Spielzeug-
bären. Bambus stand vor dem Fenster und auf dem Rasenfleck eine
Magnolie, die Jahr für Jahr vor allen anderen in Freiburg blühte – das
Geschenk eines Schülers, der bei ihr Russisch gelernt hatte, oder die Gabe
eines Verehrers? Bei einer kurzen Führung durch ihr Reich gab es soviel zu
entdecken, dass man sich gar nicht zu fragen traute. Und einerlei, nach
einer Stunde war jeder beides: Schüler und Verehrer. Geistesverwandter.

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Zwischen den Tausenden von Büchern, die sie umgaben, steckten zer-
lesene Manuskripte und rare Zeitschriften, die ihr russische Schriftsteller
auf dem Weg in das immer fernere Exil anvertraut hatten. In einem Koffer
ruhte die Reisebibliothek von Andrej Belyj. Ihr Haus war Asyl, das zum
Archiv wurde. In Jahresringen lagerte sich hier die russische Literatur ab,
die in die Dissidenz gedrängt wurde, und für die Swetlana Geiers Haus oft
eine erste Zuflucht war. Für sie, die in Kiew geboren war, als junge Ostar-
beiterin nach Dortmund kam und dann in Freiburg studierte, waren es
Zeichen einer verlorenen Heimat, die sie als Sprache um sich her neu
erschuf – immer im Gespräch mit ihrer Mutter, die über neunzig wurde,
und bei Bedarf rasch erklären konnte, wie Mietskasematten zu Dostojew-
skijs Zeiten in Petersburg genau aussahen. Und plötzlich war der ferne
Klassiker ganz nah – zum Greifen nah. Aber bevor man mit ihr am Tisch
an der Übersetzung weiter arbeiten durfte, wurde gegessen – und am lieb-
sten das, was gerade im Buch auf die Teller kam.
    Und wer alles an ihrer Tafel gesessen und erzählt hatte: ihr Lieblings-
autor Andrej Sinjawskij, der seine Manuskripte in mikroskopisch kleiner
Schrift verfasste und aus dem Gulag an seine Frau schmuggeln konnte.
Jeder glaubte, dem verschrobenen Professor seien die Liebesbriefe zu lang
geraten. Vielleicht ist Sinjawskij zum Zivilisationskritiker geworden, weil
er Märchenforscher war? Die kleinen geschnitzten Bären, die überall auf
den Fenstersimsen und Treppenabsätzen standen, werden genickt haben.
Alexander Solschenizyn, dessen Bücher uns erst über die Dimension und
die Existenz des Gulags aufklärten. Joseph Brodsky, als er noch Jossif
hieß… Ein geladener Gast, der aber nie erschien – Iwan Bunin, dessen Lie-
besnovellen ihr Herz hüpfen und ihre Augen leuchten ließen. Sie alle
gehörten für sie in die Partei Puschkins – die Anhänger einer Literatur, die
Fragen stellt, die unbequem ist, die der Realität ein Schnippchen schlägt
und der Politik eine lange Nase zieht. Gogol hätte sich an diesem Tisch
wohlgefühlt.
    Der letzte Autor, der sich hier niederließ, war Dostojewskij – und das
war kein Zufall. Denn inzwischen hatten sich in einem Winkel Wörterbü-
cher und Besoldungslisten zaristischer Beamten aus dem 19. Jahrhundert
angesammelt, hatte die Mutter immer häufiger von Kiew und den alten
Häusern erzählt – einem Land, das Swetlana Geier erst viel später in ihrem
Leben wieder betreten sollte. Bis dahin war Russland für sie mit einem
Bann belegt gewesen – es war das Land, in dem ihr Vater im Gefängnis
beinahe zu Tode gequält wurde und dann, als gebrochener Mann entlas-

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sen, unter ihrer Pflege starb. Nein, diese Lektion musste nicht aufgefrischt
werden. »Doch plötzlich«, so erzählte sie immer wieder, »klopfte Dosto-
jewskij an die Tür!«
   Dabei ging es nicht nur um eine Neuübersetzung, die als Desiderat
längst ausgemacht war. Zu lose waren die alten Fassungen, es fehlten Sei-
ten und Zeilen, man hatte Dostojewskij geglättet und seinen Humor ver-
bannt. Und die neueren Fassungen waren hölzern und bis zur Ungelenk-
heit unbedarft. Nein, das musste man anders machen. Aber es waren nicht
die einzelnen Bücher, die wegen einer Neuübersetzung vorstellig wurden,
sondern Dostojewskij selbst. Denn wenn man Bücher ernst nimmt, so wie
es Swetlana Geier tat, dann messen nicht nur wir sie mit der Elle unseres
Lebens, sondern sie uns mit der Spanne ihrer Kunst. Und diese Kunst war
voller Rätsel, die unbedingt gelöst werden mussten. Da kannte sie kein
Pardon.

   *

Als Swetlana Geier die ihr Lebenswerk krönende Arbeit an und für Dosto-
jewskij übernahm, war sie fünfundsechzig – andere träumen da vom Ruhe-
stand und Müßiggang -, bei der Arbeit an den letzten Bänden ihrer 5 Ele-
fanten war sie weit über achtzig. Und noch immer kam morgens eine
Dame, Frau Hagen, später Frau Linde, brachte Brötchen, machte Tee.
Dann ging man nach oben, und die Übersetzung wurde diktiert, getippt,
um später überarbeitet und laut vorgelesen zu werden. Im Filmporträt von
Vadim Jendreyko sieht man den unvergesslichen Herrn Klodt, der mit sei-
nen Verbesserungswünschen so viel Segen stiftete, aber wie jeder Lektor
bei auch so manche Abfuhr einstecken musste. So entstand langsam die
Fassung, die dann beim Lektorat auf dem Tisch lag. Swetlanas Augen
strahlten blau, sie spitzte den Bleistift, fühlte, ob die Kanne mit dem Tee
noch warm war, und los ging es.
   Denn so kommt das Blau ins Wasser: mit einem Bleistift, mit einem
Radiergummi, die sich schnell auflösten, mit Stapeln Papier und einem
untrüglichen Gespür. »Dostojewskij zeigt nicht, er versteckt.« Seine
Romane sind Experimentierfelder für Leser, und jeder Satz kann eine Fall-
treppe bergen, die zu etwas Verstecktem führt. Und diese Falltreppen und
Tapetentüren tragen oft ein »Versteckwort«. »Plötzlich«. Ein Wort, über
das man in dem dahinstürzenden Roman leicht hinweg liest, das aber ent-
gegen seiner Bedeutung eine Art Entschleunigung markiert – vor allem,

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wenn es doppelt eingesetzt wird. Bisherige Übersetzungen hatten das Wort
gern als redundant getilgt, die Sätze geglättet und den Chor aus Stimmen
in den Dialogen jeder charakteristischen Sprechweise beraubt. Draußen
regte sich der Wind im Bambus, und wir schauten zum Fenster. »Plötz-
lich.« – »Noch eine Tasse Tee?« fragte sie dann und verschwand in der
Küche...
    Oder das Wort »fast« – »deren Tür zum Treppenhaus fast immer sper-
rangelweit offen stand«. Ist dieses »fast« nicht die kleine Silbe, die Raskol-
nikow zum Mörder werden lässt? Jedes Wort ist umgeben von einem
Raum aus Möglichkeiten, einem Zwischenraum aus Bedeutungen. Es ist
wie bei einer Plastik: jede Skulptur ist nicht nur Ding, Figur, Materie,
Stoff, sondern sie ist ebenso ausgesparter Raum, die Plastik definiert das
sie Umgebende, das als Negativform sie umschließt. Es ist dieses Dazwi-
schen aus Figur und sie umgebenden Raum, aus Wort und der in der
Schwebe gelassenen Bedeutung eines Satzes, wo die Sprachen ineinander
greifen oder einander verfehlen: »plötzlich, fast«. Hier gilt nichts als das
Ohr der Übersetzerin, und das ist der Himmel für das Blau.
    Beim Übersetzen muss man diese Dimension umreißen, um sie dann
wieder zu verstecken. Wie Degas sagte: »Ich male nicht, was ich sehe, son-
dern so, dass der Betrachter entdeckt, was ich gesehen habe.« Um als
Übersetzerin so diskret zu sein, muss sie über intime Kenntnisse verfügen
– von dem, was hinter den Worten steckt, und von dem, was die verschie-
denen Sprachen hinter die Worte stecken. Nur durch geduldiges Aufspü-
ren kann man es fassen. Aber wie ihr das gelang, das blieb mir – auch nach
langen Jahren Beobachtung – oft ein Geheimnis.
    Im Freiburger Münster hängt eines ihrer Lieblingsgemälde: Hierony-
mus im Gehäus, der Heilige der Übersetzer, der die Vulgata schuf. In
Begleitung eines Löwen, der alles friedlich betrachtet, sitzt er in einem
offenen Studiolo an seinem Pult mit einigen wenigen Büchern und in einem
Frieden, der von stiller Konzentration und gesegneter Aufmerksamkeit
getragen ist. Betrachtet man das Bild, versteht man ihr Ideal, und man
glaubt zu erkennen, wie das Übersetzen vor sich geht.
    So friedlich ging es allerdings im Hause Geier nicht zu, denn ein Tag
mit ihr und den Manuskripten kannte tausend Unterbrechungen. Ein
unvergesslicher Monolog im Film: »Oh, ich arbeite viel. Ich übersetze,
dann muss ich die Wäsche waschen, dann einen Kuchen backen, und dann
sind die Kinder da, kaum ein Tag, an dem nicht Gäste kommen. Ich glaube
nicht, dass ein Mann das ertragen könnte.«

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Selbst ein Löwe hätte vor so viel Energie und Rastlosigkeit kapituliert.
Und doch schuf das Haus einen Ruhepol des Bleibens. Betrachtet man im
Film die Tapisserie mit den Drachen, die Stühle, Kissen, Hocker, auf denen
wir Besucher ausruhten, während sie uns umsorgte, die Bilder an der
Wand, die sich nie veränderten, die Möbel, das Wedgwood-Geschirr, ihre
Strickjacke, die Löffel und Gabeln, der Samowar, die vollständige Reihe
der rororo-Enzyklopädie mit ihren ersten Übersetzungen – dann scheinen
das alles Dinge von einer anderen Dauer. Es ist, als ob die Gegenwart sich
hier ihrer selbst sicherer wäre als anderswo. Und zwischen den Falten die-
ser Dinge ging das für uns Leser wichtigste unsichtbar vor sich, wenn sie
zwischen Manuskript und Wäsche plötzlich an den Tisch zurückstürzte,
sich hinsetzte, den Bleistift spitzte und einen ermahnte: »Gleich wirst du
vor Verzückung umfallen...« Und ja, so war das.
    Das Ungelöste des unerreichbaren Originals, dem galt ihr ganzes
Augenmerk, ihre ganze Sehnsucht. Dieses Ungelöste musste immer wieder
neu angegangen werden, das war die Triebfeder ihres Übersetzens. Und
jede Vermittlung verstand sie als Übersetzen, ob sie mit den Schülern
»Kabale und Liebe« aufführte – und Schiller war ihr heilig -, ob sie einer
Klasse nach der anderen die schnurrenden Vokale Puschkins beibrachte,
ob sie bei Lesungen fast eine Stunde lang über Abram Terz extemporierte
– sie machte sich zum Agens des Ungelösten eines Originals, versuchte das
Verborgene hinter den Worten im Nachfahren ihrer Kontur zu erhaschen:
mit dem Bleistift, mit der Stimme, mit der Gestik, die in den letzten Jahren,
Monaten, Wochen vielleicht reduzierter, aber um so eindrücklicher wurde.
Dass in Dostojewskij, in Schiller, in Puschkin etwas ist, dass wir nicht ein-
fach fassen, aber dem wir uns mit Geduld und Schliche nähern können, ja
nähern müssen – das war ihr Credo. Und sie nahm das ernst: »Mit Höf-
lichkeit erreicht man nichts in diesem Haus«, so lautete einer der Sätze, die
die Familie gern wiederholte – denn dieses eigensinnige Insistieren bedeu-
tete Disziplin, Phantasie und Energie, die das ganze Haus prägten und
durch die etwas aufleuchtete, das man früher das »Geistige« nannte.

   *

In den letzten Jahren hatte eines der »Versteckworte«, das »plötzlich«, sie
ungeduldig gemacht – nicht gegenüber dem Leben oder der Arbeit, aber
gegenüber dem Gerede.
   Besuchte man sie zu der Zeit, überraschte sie einen ständig mit neuen

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Einfällen und dem unvermittelten Wiederkehren ihrer Lieblingsideen,
während ihre Strickjacke immer größere Falten um sie schlug. Nachdem
der Hieronymus im Münster gereinigt worden war, schickte sie mich zum
Anschauen hin, und fragte: »Na, hast du es erkannt?« Natürlich hatte ich
das Entscheidende nicht gesehen. »Ich weiß jetzt, was das Gehäuse ist. Der
Körper, Haut und Knochen, der Leib, das ist das Gehäuse des Überset-
zers.« Und dabei zog sie mit einem Zucken wie ein Vogel die Schultern
hoch, streckte den Kopf ein wenig vor und lächelte unwiderstehlich. Ihre
blauen Augen leuchteten.
    Ihre letzte Arbeit hat dieses Gehäuse nicht mehr vollständig verlassen.
Es klingt fast wie ein Epitaph, dass sie in den letzten Monaten, ja fast in
ihrem letzten Jahr, an Dostojewskijs »Aufzeichnungen aus dem toten
Hause« – so sollte der Titel lauten – arbeitete. Das Manuskript umfasst
ganze 397 Seiten und bricht doch kurz vor dem Ende ab. Heute ist es
schwer zu entscheiden, ob die dazu nötige Disziplin sie aufzehrte oder sie
länger in dem Gehäuse festhielt. Der letzte Satz, den sie übersetzte, lautet:
»Ich? Nun ja! Noch weitere sieben Jahre, und dann bin ich an der Reihe...«
    Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, was sie bei diesem Satz gedacht
haben wird. Fast gleichzeitig sagte sie am Telefon, sie klopfe »an die letzte
Tür«. Seit sie ihren Sohn Johannes begraben hatte, schien sie sich immer
mehr in sich zurückzuziehen. Die Beglaubigung ihres Lebens und ihres
Werkes, die sie in den letzten Jahren erlebte – durch die Rezeption ihres
Dostojewskijs bei Ammann, die Übersetzerpreise, durch die Theaterauf-
führungen ihrer Übertragungen, durch die Gesprächsbücher von Taja Gut
und Lerke von Saalfeld und nicht zuletzt durch den Film von Vadim Jen-
dreyko -, dieser späte Ruhm hatte sie stolz und doch nicht weniger skep-
tisch gemacht: »Ich habe bestimmt 40 Jahre meines Lebens Unsichtbarkeit
geübt, das ist jetzt die Rolle meines Lebens.«
    Gemessen an ihrem Arbeitsrhythmus und dem eingeübten Überset-
zungsprozess mit den genau zugewiesenen Rollen fehlen »am toten
Hause« noch eineinhalb, zwei Jahre, um den Text zu dem zu machen, was
sie dann mit der zuversichtlichen und doch bescheidenen Maxime in die
Welt geschickt hätte: Man muss an einer Übersetzung so lange arbeiten,
bis man sie nicht mehr verbessern kann. Um zu dem Punkt zu gelangen,
hätte der Text länger in den Falten des Bleibens, im ihrem Gehäuse bleiben
müssen.
    In ihren letzten Monaten schien es, als habe sie die Nacktheit eines
Denkens erreicht, in der die sie tragenden Ideen unmittelbar wie Felsen aus

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der Bergwiese schauten. Kein Bedauern. Auf den unvollendeten Text kam
sie nicht zurück. Ihr Lebensmotto, das Novalis-Zitat »Am Ende ist alle
Poesie Übersetzung« schien ihr nicht mehr von der Seite zu weichen:
»Mehr braucht man nicht zum Leben.« Begeistert über diesen Gedanken
streckte sie den Finger aus, als wollte sie etwas zeigen. »Wenn du jetzt
nicht vor Verzückung umfällst...«
    Ihre letzten Tage waren eine große Lektion in Sachen Gelassenheit, es
war wie das Ablegen eines großen Schiffes, lautlos, heiter, in eine helle
Dunkelheit. Am Geburtstag Dostojewskijs, am 11. 11. 2010, wurde sie zu
Grabe getragen. Und auch das Haus legte ab. Swetlana hasste es, wenn
man etwas unter einen Glassturz stellte, sie wollte keinen Schrein. »Sie ist
so lebendig, dass ich gar nicht das Gefühl habe, zurückzuschauen«, sagte
Monika Schoeller zu ihrem vermeidlichen 90. Geburtstag am 26. 4. 2013.
Im Keller fanden sich die Manuskripte der letzten Jahrzehnte, mit Strümp-
fen gebunden, zum Teil von Schwarzwaldmäusen angenagt. Diesen Nach-
lass und ihre Bücher hat die Familie der Universitätsbibliothek in Freiburg
übergeben, wo Franz Leithold sie betreut. So bleiben ihre Bleistiftspuren
hier in der Stadt, der sie so viel verdankte und die sie so liebte. Sie würde
lächeln bei der Idee, dass man nun im Lesesaal in ihren Manuskripten blät-
tern und sich über die Kringel wundern kann, die den Lektor ermahnen:
»Was ist denn hier geschehen?« Nach zwanzig Jahren und mehr als acht
Büchern stelle ich mir diese Frage jeden Tag.

»Am Ende ist alle Poesie Übersetzung«. Als sie das beim letzten Besuch
sagte, wirkte sie in den weiten Falten ihrer Strickjacke plötzlich so unglaub-
lich gelassen, glücklich, und ihre Augen leuchteten so blau und so jung.

Ihre Magnolien blühen immer noch als erste.

   Für: »Heimat in der Sprache« –
   Eine Matinee zu Ehren von Swetlana Geier (1923 – 2010)
   Freiburg, 5. Mai 2013

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