AUS "UNTER GLUTROTER SONNE" - Leseprobe zu Diana Palmer: Justin

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                            Diana Palmer: Justin
                     AUS „UNTER GLUTROTER SONNE“
                       MIRA Taschenbuch Band 20024
                            © 1988 Diana Palmer
                             Originaltitel: Justin
                        Übersetzung: Astrid Pohlmann

                                      1. KAPITEL

Es war ein warmer Vormittag. Temperaturen bis zu dreißig Grad waren
vorausgesagt. Doch das Wetter schien den Bietern auf der Veranda des weißen
Landhauses nicht zuzusetzen. Der monotone Redefluss des Auktionators riss
jedenfalls keinen Moment lang ab. Nur gelegentlich wischte der Mann mit den
Hängewangen sich den Schweiß vom Gesicht.
        Justin Ballenger beobachtete die Auktion aus der Entfernung, während er
seinen teuren Stetson tiefer ins Gesicht zog. Er kaufte nichts. Nicht heute. Aber er
hatte ein persönliches Interesse an dieser Auktion. Dass das elegante Jacobs-Haus
und Bass Jacobs Vermächtnis unter den Hammer kamen, hätte ihn mit einem Gefühl
von Triumph erfüllen müssen. Doch seltsamerweise fand Justin die ganze Prozedur
eher beunruhigend. Es war, als schaue er Raubtieren zu, wie sie ein hilfloses Opfer
bis auf die Knochen abnagten.
        Er hielt Ausschau nach Shelby Jacobs, konnte sie jedoch nirgends entdecken.
Vielleicht waren sie und ihr Bruder Tyler im Haus, um Möbel und andere Antiquitäten
zu sichten.
        Aus dem Augenwinkel sah er Abby Ballenger auf sich zukommen. Seit sechs
Wochen war sie seine Schwägerin.
        "Ich hätte dich hier nicht vermutet", bemerkte sie lächelnd. Sie hatte mit Justin
und Calhoun, ihren Beinah-Stiefbrüdern, jahrelang zusammengelebt. Abbys Mutter
und Calhouns Vater hatten heiraten wollen. Nach deren tragischem Tod hatten die
beiden Brüder Abby bei sich aufgenommen. Und vor wenigen Wochen erst hatten sie
und Calhoun geheiratet.
        "Ich versäume nie eine Auktion", erwiderte Justin. Er sah zum Auktionator
hinüber. "Die Jacobs habe ich noch gar nicht gesehen."
        "Ty ist in Arizona." Abby seufzte. Der plötzliche Zorn in Justins dunklen Augen
entging ihr nicht. "Er hatte keine andere Wahl", erklärte sie entschuldigend. "Auf
dieser Ranch, die er jetzt führt, gab es irgendwelche Schwierigkeiten."
        "Dann ist Shelby allein?", brachte Justin hervor.
        "Ich fürchte, ja." Abby blickte kurz zu ihm auf und unterdrückte ein Lächeln.
"Sie ist in der Wohnung, die sie in der Stadt gemietet hat." Sie hielt inne und strich
ihren grauen Rock glatt. "Über dem Anwaltsbüro, wo sie arbeitet …"
        Justins herbe Gesichtszüge wurden noch kantiger, als er sich nun zu Abby
umwandte. "Das ist keine Wohnung, um Himmels willen! Es ist ein altes Lager."
        "Barry Holman hat ihr erlaubt, den Raum zu bewohnen", erklärte Abby mit
unschuldiger Miene. "Was soll sie machen, Justin? Von dem, was sie verdient, kann
sie sich keine Wohnung leisten. Shelby und ihr Bruder hatten gehofft, wenigstens
das Haus behalten zu können. Aber um die Schulden des Vaters bezahlen zu
können, müssen sie nun doch verkaufen."
        Justin murmelte etwas Unverständliches, während er zu dem eleganten Haus
hinüberschaute, das alles verkörperte, was er an den Jacobs in den letzten sechs
Jahren gehasst hatte, seit Shelby ihre Verlobung mit ihm gelöst und ihn betrogen
hatte.
        "Bist du nicht zufrieden?", provozierte Abby ihn geschickt. "Schließlich hasst
du sie. Es sollte dir gefallen, dass sie nun in aller Öffentlichkeit auf die Knie
gezwungen wird."
        Er erwiderte nichts. Stattdessen wandte er sich mit versteinerter Miene um
und ging zu seinem schwarzen Thunderbird zurück. Auf diese Reaktion hatte sie
gehofft. Abby lächelte insgeheim. Offenbar war es ihr gelungen, ihm zu zeigen, wie
sehr Shelby unter der ganzen Sache litt. All die Jahre hatte Justin jeden Kontakt mit
den Jacobs vermieden. Nicht einmal ihr Name wurde zu Hause erwähnt. Doch in den
letzten Monaten hinterließ die Anspannung bei ihm allmählich ihre Spuren. Abby war
sich sicher, dass er immer noch etwas für die Frau empfand, mit der er einmal verlobt
gewesen war. Und sie wusste auch, dass Shelby etwas für Justin empfand. Vielleicht
konnte sie zwei unglücklichen Menschen zum Glück verhelfen, wenn sie Justin die
richtige Richtung wies.
        Da Justin geschäftlich unterwegs gewesen war, hatte er von der
Versteigerung erst an diesem Morgen erfahren, als Calhoun im Büro ihres
gemeinsamen Rindermastbetriebs davon gesprochen hatte.
        Es überraschte ihn nicht, dass Shelby sich von der Auktion fernhielt. Von
Geburt an hatte sie in diesem Haus gelebt. Shelbys Großvater hatte die kleine
texanische Stadt Jacobsville gegründet. Die Jacobs waren eine alte, reiche Familie.
In den Augen von Mrs Jacobs stellten die wilden Ballenger-Jungen von der
abgewirtschafteten Rinderfarm am Ende der Straße nicht den geeigneten Umgang
für ihre Kinder Tyler und Shelby dar. Doch nach dem Tod von Mrs Jacobs war Mr
Jacobs den Ballengers freundlicher begegnet, besonders nachdem Justin und
Calhoun ihren Mastbetrieb eröffnet hatten. Als Bass Jacobs erfuhr, dass Shelby die
Absicht hatte, Justin zu heiraten, hatte er Justin wissen lassen, dass er mit der Wahl
seiner Tochter äußerst zufrieden war.
        Justin hatte versucht, den Abend zu vergessen, als Bass mit Tom Wheelor zu
ihm gekommen war. Nun fiel ihm alles wieder ein. Bass Jacobs war aufgeregt
gewesen. Er hatte Justin ohne Umschweife erklärt, dass Shelby in Tom verliebt sei.
Mehr noch, dass sie schon seit einiger Zeit ein intimes Verhältnis mit ihm habe. Er
schäme sich deswegen, hatte Bass gesagt. Durch die Verlobung mit Justin habe
Shelby ihren zögernden Liebhaber unter Druck setzen wollen. Justin habe seinen
Zweck erfüllt, und Shelby brauche ihn nun nicht mehr. Dann hatte Bass ihm den
Verlobungsring zurückgegeben. Tom Wheelor hatte eine verlegene Entschuldigung
gemurmelt. Zum Schluss versprach Bass noch eine Finanzspritze für Justins neu
gegründetes Geschäft. Einzige Bedingung: Shelby sollte nie erfahren, woher das
Geld stammte. Dann war er gegangen.
        Da Justin nie jemanden ohne Beweise verurteilte, rief er Shelby an, noch ehe
Bass seinen Wagen gestartet hatte. Shelby leugnete nichts. Im Gegenteil, sie
bestätigte jede Einzelheit, sogar dass sie mit Tom Wheelor geschlafen hatte. Und sie
sagte, sie habe Tom eifersüchtig machen wollen, damit er ihr einen Antrag mache.
Sie sei es gewöhnt, das zu bekommen, was sie wolle, und Justin sei nicht reich
genug, um ihre Wünsche erfüllen zu können. Aber Tom sei reich genug …
        Justin hatte ihr geglaubt, zumal sie ihn das eine Mal, als er versucht hatte, mit
ihr zu schlafen, abgewiesen hatte. Danach hatte er sich bis zur Besinnungslosigkeit
betrunken. Und in den letzten sechs Jahren war ihm keine Frau nahe genug
gekommen, um ihn zu verletzen. Angebote hatte es genug gegeben, obwohl er nicht
besonders gut aussehend war. Sein Gesicht war zu rau, seine Züge zu uneben und
seine ernste Art zu abschreckend. Aber er war stark und energisch, und das zog die
Frauen an. Doch seine Verbitterung machte ihn für diese Art der Aufmerksamkeit
unzugänglich. Shelby hatte ihn verletzt wie niemand zuvor in seinem Leben.
Jahrelang hatte er nur einen Gedanken gehabt: Rache.
       Jetzt allerdings, da er sie finanziell ruiniert sah, empfand er keine
Befriedigung. Er dachte nur an die Qualen, die sie erleiden musste. Und sie hatte
keine Familie oder Freunde, die sie trösten konnten.

Die Wohnung über dem Anwaltsbüro war winzig. Es gefiel Justin auch nicht, dass
Shelby in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrem gut aussehenden Chef wohnte.
Holman stand in dem Ruf, schöne Frauen nicht zu verschmähen. Mit ihrem langen
schwarzen Haar, ihrer schlanken Figur und den strahlend grünen Augen würde sie
ihm sicher gefallen. Sie war inzwischen siebenundzwanzig, wirkte aber kaum älter
als damals, als sie sich mit Justin verlobt hatte. Und immer noch umgab sie ein
Hauch von Unschuld, wie Justin mit Verbitterung feststellte. Es war ein falscher
Eindruck. Das hatte sie selbst zugegeben.
       Er blieb vor der Wohnungstür stehen. Als er klopfen wollte, hörte er ein
gedämpftes Geräusch von drinnen. Es war kein Lachen. Tränen vielleicht?
       Nun klopfte er energisch.
       Das Geräusch verstummte augenblicklich. Dann vernahm er ein Scharren, als
ob ein Stuhl beiseite geschoben wurde, danach leise Schritte, so schnell wie sein
Herzschlag.
       Die Tür öffnete sich. Shelby stand vor ihm, in eng anliegender, verwaschener
Jeans und einem blauen T-Shirt. Das zerzauste Haar umrahmte ihr Gesicht. Die
feuchten Augen wiesen rote Ränder auf.
       "Bist du gekommen, um dich an diesem Anblick zu weiden, Justin?", fragte sie
verbittert.
       "Es macht mir keine Freude, dich so zu sehen", entgegnete er stolz. "Abby
sagte, dass du allein bist."
       Seufzend blickte sie auf ihre staubigen Stiefel. "Ich bin seit Langem allein. Und
ich habe gelernt, damit zu leben." Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen.
"Sind viele Leute auf der Auktion?"
       "Der Garten ist voll." Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch
das dichte schwarze Haar.
       Als Shelby zu ihm aufschaute, blieb ihr Blick unweigerlich an den Lippen
haften, die sie vor sechs Jahren so begierig geküsst hatte. Damals war sie bis über
beide Ohren in ihn verliebt gewesen. Und sie hatte sich viel mehr gewünscht, als sie
bekommen hatte. Seine stürmische Art hatte sie so geängstigt, dass sie ihn
abgewehrt hatte. Shelby hatte mehr Grund als die meisten Frauen, sich vor Intimität
zu fürchten. Davon wusste Justin aber nichts, und sie war zu schüchtern gewesen,
um es ihm zu erklären.
       Mit einem gequälten Seufzer wandte sie sich ab. "Wenn du meine
Gesellschaft ertragen kannst, mache ich uns einen Eistee."
       Er zögerte nur kurz. "Das ist eine gute Idee", sagte er. "Es ist wieder
unerträglich heiß."
       Dann folgte er ihr in die Wohnung. Die Behelfswohnung bestand aus zwei
Zimmern, die nur mit einem zerschlissenen Sofa, einem Stuhl, einem zerkratzten
Kaffeetisch und einem kleinen Fernsehgerät ausgestattet waren. In der Küche gab
es eine Herdplatte und einen kleinen Kühlschrank. Dabei war Shelby an
Hausangestellte und Seidenkleider, an Tafelsilber und Chippendale-Möbel gewöhnt.
        "Meine Güte", bemerkte er entsetzt.
        Sie zuckte zusammen, als sie das Mitgefühl in seiner Stimme hörte. "Ich
brauche kein Mitleid, vielen Dank", erwiderte sie kühl. "Es ist nicht meine Schuld,
dass wir alles verloren haben. Dafür war mein Vater verantwortlich. Und es war sein
Vermögen. Ich werde meinen eigenen Weg gehen."
        "Aber doch nicht so!" Er warf seinen Hut auf den Tisch. Dann nahm er ihr den
Teekrug ab und stellte ihn beiseite. Entschlossen umfasste er ihre Handgelenke und
blickte sie an. "Ich werde nicht zuschauen, wie du in dieser Hundehütte hier dein
Dasein fristest. Barry Holman soll sich zum Teufel scheren!"
        Mit einer solch heftigen Reaktion hatte Shelby nicht gerechnet. "Es ist keine
Hundehütte", widersprach sie zögernd.
        "Du bist Besseres gewöhnt." Er seufzte verärgert. "Für's Erste kannst du bei
mir bleiben."
        Sie wurde rot. "In deinem Haus, mit dir allein?"
        "In meinem Haus", bestätigte er. "Nicht in meinem Bett. Du brauchst für ein
Dach über dem Kopf nichts zu bezahlen. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern,
wie sehr es dir missfällt, wenn ich dich berühre."
        Die bittere Ironie dieser Bemerkung verletzte sie. Aber wie hätte sie ihm
widersprechen sollen, ohne sie beide in Verlegenheit zu bringen? Nun, die Sache lag
so lange zurück, dass es heute keine Rolle mehr spielte.
        Sie wich seinem Blick aus und schaute auf seine Brust. Unter dem weißen
Seidenhemd schimmerte die dichte Behaarung durch. Dort hatte sie ihn einmal
berühren dürfen. In ihrer Verlobungsnacht hatte er sein Hemd aufgeknöpft und sich
von ihr streicheln lassen. Er hatte sie geküsst, leidenschaftlich und hungrig, doch
seine Küsse waren so weit gegangen, dass sie Angst bekommen hatte.
        Bis zu jener Nacht hatte noch niemand versucht, sie zu berühren, auch Justin
nicht. Seine Zurückhaltung hatte sie anfangs irritiert und dann neugierig gemacht. Sie
hatte vermutet, dass ihm ihre unterschiedliche Herkunft Probleme bereitete. Justin
zählte damals kaum zur Mittelschicht, während Shelbys Familie wohlhabend war.
Dieser Unterschied machte Shelby nichts aus, aber sie sah, dass Justin seine
Schwierigkeiten damit hatte. Besonders nachdem sie ihn unter dem Zwang ihres
Vaters verlassen hatte.
        Bass Jacobs hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie Tom Wheelor heiraten
sollte, aus finanziellen Gründen. Dann war Justin aufgetaucht und hatte diese Pläne
durchkreuzt. Schließlich blieb Shelby nichts anderes übrig, als ihre Verlobung mit
Justin zu lösen. Allerdings weigerte sie sich, den reichen jungen Freund ihres Vaters
zu heiraten. Erst kurz vor seinem Tod erkannte Bass Jacobs, wie sehr seine Tochter
Justin liebte, und es tat ihm aufrichtig leid, dass er sich auf diese Weise in ihr Leben
eingemischt hatte. Er hatte sich bei ihr entschuldigt, ohne ihr jedoch zu erzählen,
dass er aus Schuldgefühlen Justins Mastbetrieb finanziell unterstützt hatte.
        Shelby blickte zu Justin auf und schaute in seine dunklen Augen. Ihre Träume
von einem Leben mit ihm und gemeinsamen Kindern hatte sie vor langer Zeit
begraben, aber immer noch bereitete es ihr die größte Freude, ihn anzuschauen.
Seine Hände auf ihren Armen zu spüren ließ verbotene Sehnsüchte in ihr aufsteigen.
Wenn sich ihr Vater nur nicht eingemischt hätte. Irgendwann wäre sie in der Lage
gewesen, Justin ihre Ängste zu erklären und ihn zu bitten, behutsam und geduldig
mit ihr zu sein. Doch nun war es zu spät.
"Ich weiß, dass du mich nicht mehr willst, Justin", sagte sie sanft. "Und ich
verstehe dich sogar. Du brauchst dich nicht für mich verantwortlich zu fühlen. Ich
kann allein für mich sorgen."
        Immer noch hielt er ihre Handgelenke umfasst und spürte ihre samtweiche
Haut. Unwillkürlich begann er sie zu streicheln. "Ich weiß", sagte er. "Aber du gehörst
nicht hierher."
        "Eine bessere Wohnung kann ich mir im Moment nicht leisten. In zwei
Monaten bekomme ich eine Gehaltserhöhung. Vielleicht kann ich dann ein Zimmer
bei Mrs Simpson mieten."
        "Das kannst du sofort tun. Ich leihe dir das Geld."
        Sie schlug die Augen nieder. "Nein. Es wäre mir unangenehm."
        "Außer uns beiden würde es niemand erfahren."
        Shelby zögerte. Sollte sie sein Angebot annehmen? Barry Holman war ein
netter Chef, aber auch ein unverbesserlicher Schürzenjäger. Gern wohnte sie nicht
über seinem Büro.
        Bevor sie etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Justin ließ ihre Hände
los und schaute ihr nach, als sie zur Tür ging.
        Es war Barry Holman. In Jeans und Sweatshirt stand er da, blond und
blauäugig und voller Optimismus. "Hallo, Shelby", sagte er freundlich. "Ich dachte, du
könntest beim Einzug etwas Hilfe …" Er hielt inne, als er Justin bemerkte.
        "Nicht nötig", sagte Justin mit einem kühlen Lächeln. "Sie ist auf dem Weg zu
Mrs Simpson. Ich helfe ihr beim Umzug, obwohl sie das Angebot, hier bei Ihnen
einzuziehen …", er sah sich angewidert im Zimmer um, "… sicher zu schätzen weiß."
        Barry Holman schluckte. Er kannte Justin seit vielen Jahren, und er war in
diesem Moment absolut davon überzeugt, dass die Gerüchte um Justin der Wahrheit
entsprachen. Justin stand in dem Ruf, immer dann aufzutauchen, wenn ein anderer
Mann versuchte, sich Shelby zu nähern.
        "Nun", sagte Barry immer noch lächelnd, "dann gehe ich besser wieder
hinunter ins Büro. Es war nett, dich wieder einmal zu sehen, Justin. Bis Montag,
Shelby."
        "Trotzdem vielen Dank, Mr Holman", sagte sie. "Nicht dass Sie mich für
undankbar halten, aber Mrs Simpson bietet auch warmes Essen an. Außerdem ist es
dort sehr ruhig. Ich bin das Leben in der Stadt nicht gewöhnt." Sie lächelte
entschuldigend.
        "Kein Problem", versicherte Barry mit einem breiten Grinsen. "Bis dann."
        Justin blickte ihm wütend nach. "Schürzenjäger", murmelte er. "Der hat dir
gerade noch gefehlt."
        Shelby drehte sich zu ihm um. "Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt", sagte sie.
"Ich möchte heiraten und irgendwann Kinder haben. Mr Holman ist sehr nett, und er
hat keine schlechten Angewohnheiten."
        "Außer dass er mit allem schläft, was einen Rock trägt", bemerkte Justin
knapp. Der Gedanke, dass Shelby mit einem anderen Mann Kinder haben könnte,
gefiel ihm nicht. Er musterte sie nachdenklich. Ja, sie wurde älter, auch wenn man es
ihr nicht ansah. In acht oder zehn Jahren würde eine Schwangerschaft für sie schon
ein Risiko darstellen.
        Die Art, wie Justin sie musterte, brachte Shelby in Verlegenheit. "Er hat nie
etwas Anzügliches zu mir gesagt", verteidigte sie ihren Chef.
        "Das ist nur eine Frage der Zeit." Er seufzte. "Ich werde dir das Geld für das
Zimmer bei Mrs Simpson leihen. Wenn du unbedingt willst, kannst du es mir bei
Gelegenheit zurückgeben."
Sie wusste, wie verbittert Justin über die Vergangenheit war. Dennoch kehrte
er ihr nun nicht den Rücken zu, sondern bot ihr seine Hilfe an. Bei dem Gedanken an
all die Lügen, die sie ihm hatte erzählen müssen und die ihn tief verletzt hatten,
stiegen ihr Tränen in die Augen.
        "Es tut mir so leid", sagte sie unvermittelt. Sie biss sich auf die Lippen und
wandte sich ab.
        Dieser Gefühlsausbruch kam für Justin völlig überraschend. War es möglich,
dass sie ihr Verhalten von damals bereute? Oder spielte sie ihm nur etwas vor, um
seine Sympathie zu gewinnen? Er konnte ihr nicht trauen.
        Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, strich sie sich das Haar aus dem
Gesicht und schenkte zwei Gläser Tee auf Eis ein. "Ich bin einverstanden. Du kannst
mir das Geld leihen, wenn es dir nichts ausmacht", sagte sie, während sie ihm sein
Glas reichte. "Ich möchte nicht gern allein leben."
        "Ich auch nicht, Shelby. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran", sagte er
leise. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, trank er einen Schluck Tee. "Wie fühlt
man sich, wenn man für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss?"
        Sie ignorierte seinen Spott und lächelte. "Mir gefällt es", erklärte sie, während
sie zu ihm aufblickte. "Weißt du, es sind meist unglückliche Menschen, die zum
Rechtsanwalt kommen. Wenn ich ihnen helfen kann, vergesse ich meine eigenen
Probleme."
        Nachdenklich zog er die dunklen Augenbrauen zusammen, während er seinen
Tee trank.
        Shelby suchte seinen Blick. "Du glaubst mir nicht, Justin, oder?", fragte sie.
"Für dich bin ich die verwöhnte Tochter aus gutem Haus, eine recht attraktive Frau
mit Geld und guter Bildung. Aber dieses Bild stimmt nicht. Du hast mich nie richtig
kennengelernt."
        "Ich hätte dich gern kennengelernt", erwiderte er. "Aber du wolltest mich nicht,
Darling. Jedenfalls nicht meinen Körper."
        "Du hast mich bedrängt!", gab sie zurück. Bei der Erinnerung an jenen Abend
stieg ihr das Blut in die Wangen.
        "Bedrängt? Bis zu diesem Abend habe ich dich höchstens ein paarmal
geküsst." Seine Augen funkelten, als er sich daran erinnerte, wie sie ihn abgewiesen
hatte, für ihn der Beweis, dass sie ihn nicht liebte. "Ich hatte dich bis dahin auf ein
Podest gehoben, während du die ganze Zeit mit diesem Millionärssohn geschlafen
hast."
        "Ich habe nie mit Tom Wheelor geschlafen", brachte sie hervor.
        "Du hast es aber gesagt", erinnerte er sie mit einem kühlen Lächeln. "Du hast
es sogar geschworen."
        Voller Reue schloss sie die Augen. "Ja, ich habe es gesagt", gab sie zu,
während sie sich abwandte. "Das hatte ich fast vergessen."
        "Was nützen diese Diskussionen?" Er stellte das Glas auf den Tisch und
zündete sich eine Zigarette an. "Es spielt keine Rolle mehr. Lass uns gehen. Ich
fahre dich zu Mrs Simpson hinüber."
        Shelby wusste, dass er nicht einlenken würde. Er hatte nichts vergessen, und
er verachtete sie immer noch.
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