Heidi Rösch Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

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Heidi Rösch
                   Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs
                              Der Text basiert auf dem Vortrag
          zu der Tagung Wanderer - Auswanderer - Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden.

Zur Annäherung an eine Gattungsbestimmung              teratur zu sprechen, was ich - aus gesell-
sind die Begriffe Migrantenliteratur, Migrationsli-    schaftspolitischen Gründen zumal in der Per-
teratur und Interkulturelle Literatur hilfreich.       spektive auf bereits in Deutschland geborene
Diese drei Begriffe lassen sich nicht trennscharf      oder aufgewachsene, einer Minderheit angehö-
voneinander unterscheiden, sondern weisen -            rende AutorInnen - begrüßen würde.
vorgestellt als drei Kreise - deutliche Schnitt-       Doch Ausländer-, (Im-) Migranten- oder Min-
mengen auf. Sie stellen Arbeitsbegriffe für die        derheitenliteratur läuft als Genrebezeichnung
Annäherung an Texte und AutorInnen, die sich           meines Erachtens Gefahr, alles, was immigrier-
nicht so einfach in bereits vorhandene Katego-         te oder minderheitenangehörige AutorInnen
rien einordnen lassen, und geben den Kontext           produzieren, Migrantenliteratur zu nennen, das
und die Fragestellung an, mit der die ausge-           heißt einen sehr offenen Literaturbegriff zu e-
wählte Literatur analysiert und auch didaktisiert      tablieren, der meines Erachtens die Biographie,
wird. Das schließt natürlich nicht aus, dass es        Lebenssituation und den gesellschaftlichen Sta-
auch andere interessante Fragen gibt, die sich         tus des Autors bzw. der Autorin betont und die
an diese Literatur stellen lässt. Gemeinsam ist        literarische Komponente vernachlässigt, was in
diesen Begriffen, dass sie sich mehr oder weni-        manchen Fällen zu einem ausgesprochen prob-
ger ausschließlich auf AutorInnen beziehen, die        lematischen Bonus führt, der Texte aufgrund
seit den 50er-Jahren aus verschiedenen Teilen          außerliterarischer Kriterien zu Literatur erklärt.
der Welt in die Bundesrepublik, die DDR, die           Immer wieder gibt es immigrierte oder minder-
Schweiz und nach Österreich eingewandert               heitenangehörige AutorInnen, die sich nicht
sind, manche auf der Suche nach Arbeit oder            zuletzt deshalb vehement gegen eine solche
nach Asyl, andere zum Zwecke des Studiums              Zuordnung wehren.
oder auf der Suche nach besseren Lebensbe-
                                                       In der Migrantenliteraturforschung stellt das
dingungen. Betont wird im Gegensatz zum Beg-
                                                       Herkunftsland bzw. die -region eine wichtige
riff der Exilliteratur, der emigrierte AutorInnen in
                                                       Zugangskategorie dar. Neben Studien „zur Lite-
die Herkunftsliteratur einordnet, die Orientie-
                                                       ratur italienischer Autoren in der Bundesrepu-
rung an der Einwanderungsgesellschaft als Ort
                                                       blik“ (vgl. Chiellino 1985), liegen Untersuchun-
der Literaturproduktion und -rezeption.
                                                       gen zur „griechischen Migrantenliteratur“ (Mi-
                                                       chel 1992) und zur Literatur „arabischer Auto-
Migrantenliteratur
                                                       ren in Deutschland“ (vgl. Khalil 1997, Al-
Migrantenliteratur meint die Literatur von             Slaiman 1997) vor. Im Zentrum des Interesses
Migranten und ist eng verwandt mit dem Begriff         steht allerdings die „Literatur türkischer Migran-
der Ausländerliteratur (vgl. Ackermann / Wein-         ten in der Bundesrepublik Deutschland“, für die
rich 1986), der bis heute Verwendung findet,           die These vom „Schreiben gegen Vorurteile“
obwohl es politisch ausgesprochen fragwürdig           (Frederking 1985) aufgestellt und bezogen auf
ist, AutorInnen, die mittlerweile den größten Teil     Autorinnen durch die These vom „Schreiben als
ihres Lebens in Deutschland verbracht haben,           Selbstbehauptung“ (vgl. Wierschke 1994) er-
hier geboren oder aufgewachsen sind, als Aus-          gänzt worden ist. Neben einheimischen For-
länder oder Migranten zu bezeichnen. Konse-            scherinnen melden sich nun auch bezogen auf
quenterweise sollte stattdessen von Immigran-          diese Gruppe verstärkt Forscherinnen mit bio-
tenliteratur gesprochen werden, allerdings hat         graphischem Bezug zur Türkei und - was ent-
sich dieser Begriff in der Forschung bislang           scheidender ist - mit türkischen Sprach- und
nicht durchgesetzt. Heidrun Suhr (vgl. 1989)           turkologischen Kompetenzen zu Wort (vgl. z.B.
überträgt den Terminus „Ausländerliteratur“ als        Göktürk 1994, Kurayazici 1997, Yesilada 1997).
„Minority Literature“ ins Englische, geht aber         Dadurch wird - wie auch in den Studien von
nicht so weit im Deutschen von Minderheitenli-         Carmine Chiellino über die italienischen, sowie
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

die von Iman Khalil und Mustafa Al-Slaiman                  oder als Studierende nach Deutschland immig-
über die arabischen Autoren in Deutschland -                riert sind, werden genau wie diejenigen Auto-
ein komparatistischer Zugang unterstützt, der               rInnen, die als Kinder von Arbeitsmigranten in
die AutorInnen biographisch und nun auch phi-               Deutschland aufgewachsen oder auch hier ge-
lologisch verstärkt vor dem Hintergrund ihrer               boren sind, im Kontext der Arbeitsmigration und
(sprachlichen, kulturellen und literarischen)               den damit verbundenen gesellschaftlichen Ver-
Herkunft und weniger vor dem der Einwande-                  änderungen gelesen. Entsprechend der sozio-
rungsgesellschaft untersucht. Dieser Ansatz                 logischen und pädagogischen Terminologie
findet - nicht zufällig - vor allem Anwendung auf           wird zwischen der ersten und der zweiten Ge-
aktiv immigrierte und nicht auf in Deutschland              neration unterschieden, wobei vor allem bei der
sozialisierte, Minderheiten angehörende Auto-               letztgenannten Gruppe „wider die tribalistische
rInnen.                                                     Einfalt“ (Meç 1995), das heißt gegen die Fest-
                                                            legung auf die Herkunftsgesellschaft (der El-
Migrationsliteratur                                         tern), argumentiert wird. Das entspricht dem
                                                            Terminus der Migrationsliteratur, der sehr viel
Die Vordenker des Begriffs der Migrationslitera-
                                                            deutlicher als der der Migrantenliteratur auf die
tur Franco Biondi und Rafik Schami (vgl. 1981,
                                                            bundesdeutsche          Gesellschaft        nach
1984) gingen einen anderen Weg und konzent-
                                                            1955fokussiert ist.
rierten sich auf die Arbeitsmigration1 als Ent-
stehungskontext, was zunächst zum Begriff der               Der Begriff Migrationsliteratur grenzt das Feld
Gastarbeiterliteratur führte (vgl. neben den Ge-            der Migrantenliteratur deutlich ein und zeigt,
nannten auch Hamm 1988). Sie bemühten sich                  dass es auch immigrierte oder minderheitenan-
um eine politisch motivierte Eingrenzung des                gehörige AutorInnen gibt, die keine Migrationsli-
Genres der aktuell entstehenden Migrantenlite-              teratur schreiben. Auch wenn sich die derzeiti-
ratur und brachten zunächst die Bearbeitung                 ge Forschung auf die Schnittmenge aus
eines bestimmten Gegenstands sowie die Ü-                   Migranten- und Migrationsliteratur konzentriert,
bernahme einer bestimmten Perspektive als                   intendiert der Begriff Migrationsliteratur eine
zusätzliche Kriterien in die Debatte um Migran-             Öffnung zu einheimischen AutorInnen, die sich
tenliteratur. Dabei schließt der Gegenstand Ar-             diesem Stoff zuwenden (und zum Teil im Laufe
beitsmigration auch die Folgen für die bundes-              ihres Lebens selbst migriert sind). Gegner einer
deutsche Gesellschaft, die sich faktisch zu ei-             solchen Öffnung verweisen auf den Aspekt der
ner Einwanderungsgesellschaft bzw. multieth-                politischen Korrektheit und halten daran fest,
nischen Gesellschaft entwickelt und Probleme                dass die „Literatur der Fremde“ (Biondi 1991)
des strukturellen und alltäglichen Rassismus zu             sowie die „Kinderliteratur in der Fremde“
bewältigen hat, ein. Die Perspektive der in die-            (Schami / Torossi 1985) eine eigenständige,
sem Kontext entstehenden Literatur ist die von              von einheimischen Autoren getrennt zu sehen-
Eingewanderten und Minderheitenangehörigen                  de Literatur ist. Diese politische Position wird
auf eben diese Gesellschaft.                                allerdings nicht von allen Migrationsautoren
                                                            mitgetragen: Günay Dal lehnte zum Beispiel bei
Auch AutorInnen, die nicht als ‚Gastarbeiter',
                                                            einer gemeinsamen Lesung mit Sten Nadolny
sondern als Angehörige anderer Berufsgruppen
                                                            (im Haus der Kulturen der Welt in Berlin Anfang
                                                            der 90er-Jahre) eine solche Trennung ab. Auch
1 Die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland    innerhalb der Migrationsliteraturforschung fin-
  begann 1955 mit dem Anwerbevertrag mit Italien, ge-
  folgt von Anwerbeverträgen mit Spanien und Griechen-
                                                            den sich Versuche, die Autorenbiographiefi-
  land (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portu-    xiertheit zu überwinden und diesen Begriff in
  gal und Korea (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien     einer thematisch orientierten (vgl. Picardi-
  (1968) und wurde 1973 durch den Anwerbestopp been-
  det. Doch mittlerweile hatte sich die demographische
                                                            Montesardo 1985, Sölçün 1992, Chiellino 1995)
  Struktur in Bundesdeutschland durch Niederlassungs-       und im Kontext einer europäischen Migrationsli-
  prozesse der angeworbenen Arbeitskräfte und ihrer         teraturforschung (vgl. Ehnert 1988) auch für
  Familien nachhaltig verändert. Da es eine vergleichbare
  Entwicklung in der DDR nicht gegeben hat, muss dieses
                                                            einheimische Autoren zu öffnen. Allerdings mit
  Phänomen als bundesdeutsches bezeichnet und über-         nur mäßigem Erfolg, denn erstens gibt es nur
  prüft werden, inwieweit es im vereinten Deutschland       sehr wenige einheimische Autoren, die sich
  wirksam wird.
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

diesem Themenkomplex nicht nur einmalig,                 nicht im Zentrum der Migrationsliteratur.
sondern grundsätzlich zuwenden und zweitens
sind ihre Beiträge inhaltlicher, sprachlicher und        Interkulturelle Literatur
formaler Art häufig sehr viel weniger innovativ
                                                         Literarisch bearbeitet werden allerdings bereits
als die ihrer immigrierten Kollegen, was ich an
                                                         Migrationen zwischen Orient und Okzident, zwi-
anderer Stelle am Beispiel eines Vergleichs von
                                                         schen islamischer und christlicher Tradition,
kinderliterarischen Texten von Klaus Kordon
                                                         zwischen Europa und Asien, Afrika oder La-
und Eleni Torossi gezeigt habe (vgl. Rösch
                                                         teinamerika. Galsan Tschinag, der aus der
1997, S. 135ff). Dennoch ist das Konzept der
                                                         Mongolei in die DDR kam, hat auf der Tagung
Migrationsliteratur prinzipiell losgelöst von der
                                                         auf seine literarisch verarbeitete Migration zwi-
Autorenbiographie zu sehen und durch ihren
                                                         schen den Zeiten einer Nomaden- und einer
Bezug zur deutschen Gesellschaft offen für alle
                                                         sesshaften Kultur hingewiesen. Insofern ist der
AutorInnen, die sich - wie Carmine Chiellino es
                                                         Begriff Migration kein Synonym für Arbeitsmig-
auf der Tagung formuliert hat - daran beteiligen
                                                         ration, sondern sehr viel weiter zu fassen als
wollen.
                                                         Migration zwischen Systemen, Zeiten, Kulturen,
Im Unterschied zur Migrantenliteraturforschung           Religionen und Kontinenten. Gemeint ist nicht
hat sich die Migrationsliteraturforschung hin-           mehr eine Literatur von Migranten bzw. Minder-
sichtlich der Literaturauswahl multinational ent-        heiten oder über Arbeits-, System- und andere
wickelt und das „Schreiben in der Fremde“                Migrationen, sondern eine Literatur des - wie
(Reeg 1988) oder „Am Ufer der Fremde“ (Chiel-            Rolf Ehnert (1988, S. 102) es formuliert hat -
lino 1995) am Beispiel verschiedener nationaler          „Dialogs, Austauschs, der Verschmelzung, die
Minderheiten in der Bundesrepublik Deutsch-              selbst auf der Wanderschaft ist“.
land untersucht. Dabei wurden und werden zum
                                                         Um dieses ‚Zwischen' zu betonen habe ich in
Teil dieselben AutorInnen und Werke analysiert
                                                         meinem Schema einen dritten Kreis ergänzt,
wie im Kontext der Migrantenliteraturforschung,
                                                         den der interkulturellen und interlingualen Lite-
wobei versucht wird, außertextuelle Komponen-
                                                         ratur, die Schnittmengen mit der Migranten- und
ten durch innertextuelle Analysekriterien zu
                                                         der Migrationsliteratur auf- und gleichzeitig dar-
ersetzen. Konkret: Über die Zugehörigkeit zur
                                                         über hinausweist. Denn es gibt sicher auch Li-
Migrationsliteratur entscheiden nicht die
                                                         teratur von nicht-migrierten AutorInnen und sol-
Autorenbiographie, sondern das Thema und die
                                                         che, die sich nicht direkt mit dem Gegenstand
Erzählperspektive.
                                                         der Migration befasst und dennoch ein interkul-
Nun ist es gesellschaftspolitisch und literarisch        turelles und interlinguales Potential enthält.
problematisch, den Begriff Migration auf Ar-             Konzentrieren werde ich mich hier allerdings
beitsmigration zu begrenzen. Gesellschaftspoli-          genau auf diese Schnittmenge, das heißt auf
tisch bietet die Systemmigration als Wanderung           die Literatur von migrierten AutorInnen, die Mig-
zwischen den politischen und wirtschaftlichen            ration(en) nicht nur thematisieren, sondern lite-
Systemen Ost- und Westeuropas eine ähnliche              rarisch gestalten.
Herausforderung. Dazu gehört(e) im Prinzip
                                                         Literatur im interkulturellen Diskurs meint einer-
auch die Migration zwischen den beiden deut-
                                                         seits, dass sich Literatur im interkulturellen Dis-
schen Staaten, auch wenn daraus seit der
                                                         kurs befindet, was die Interkulturalität in der
deutschen Einheit eine Binnenmigration gewor-
                                                         Literatur, konkret in den Texten verortet. Ande-
den ist. Es stellt sich die Frage, welche Auswir-
                                                         rerseits verweist der Titel darauf, dass mittels
kungen das Jahr 1989 auf die deutsche Litera-
                                                         Literatur ein interkultureller Diskurs angeregt
tur hat, wie sich die europäische Literatur in
                                                         wird. Auch wenn in dieser zweiten Deutung die
postsozialistischer Zeit verhält und ob daraus
                                                         Gefahr der Funktionalisierung liegt, bekenne ich
eine Literatur entsteht, die diesen Gegenstand
                                                         mich als Literaturdidaktikerin dazu, und verwei-
annimmt und ihn aus der Perspektive Betroffe-
                                                         se gleichzeitig darauf, dass beide Sichtweisen
ner bearbeitet - ähnlich wie es die Migrationsli-
                                                         eng miteinander verbunden sind. Denn - so hat
teratur mit der Arbeitsmigration getan hat. Doch
                                                         es Lutz Tantow bereits 1987 für die Literatur
darüber lässt sich derzeit nur spekulieren. Noch
                                                         aus der ‚Dritten Welt' formuliert: „Sie muss Kon-
steht die Bearbeitung der Systemmigration
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

takte im Auge haben, wenn sie interkulturell             werden.
sein will“ und „leistet - sofern sie nur über sich       Aras Ören zeichnet in seiner Literatur, die er
und für sich schreibt - auch dann noch keinen            übrigens nach wie vor in türkischer Sprache
Beitrag zur interkulturellen Kommunikation,              verfasst und übersetzen lässt, ein differenzier-
wenn sie hierzulande in dieser Form gelesen              tes und kritisches Bild nicht nur vom türkischen
wird“ (S. 35). Das gilt selbstverständlich auch          Leben in der „Naunynstraße“ (1973) oder sei-
für - so möchte ich im Blick auf die interkulturel-      nem „Privatexil“ (1977). In seinen Gedichten
le Germanistik ergänzen - deutsche Literatur,            gestaltet er das intellektuelle und emotionale
die im Ausland von so genannten fremdkulturel-           Leben in zwei Welten als „Dazwischen“ (1987),
len Lesern rezipiert werden soll, um die fremde          was nicht nur als Verlust, sondern immer auch
Sprache, Literatur und Kultur kennen und ver-            als Gewinn konstruiert wird. Sein Briefwechsel
stehen zu lernen. Literatur wird nicht durch den         „Wie die Spree in den Bosporus fließt“ (1991)
Rezeptions- und Vermittlungskontext zur inter-           mit Peter Schneider demonstriert nicht nur sei-
kulturell interessanten Literatur, sondern durch         ne Verankerung in der einheimischen Literatur-
ihren Gehalt und durch ihre Form.                        szene, sondern macht Unterschiede und Ge-
                                                         meinsamkeiten im Schreiben eines türkisch-
Kulturvermittlung versus Vermittlung                     deutschen und eines nur deutschen Autors
zwischen Kulturen                                        transparent. In der Kriminalerzählung „Bitte nix
Saliha Scheinhardts Reportagenerzählungen                Polizei“, erstmals 1981 erschienen und 1983
aus den 80er-Jahren vermitteln - wie kompetent           als Hörspiel bearbeitet, inszeniert er die alltägli-
und treffend auch immer - die Lebens-, Denk-             che Trennung zwischen türkischer und deut-
und Handlungsweisen und damit im Sinne ei-               scher Bevölkerung in Berlin-Kreuzberg durch
nes pragmatischen Kulturbegriffs2 die Kultur             die literarische Form: Zwei Handlungsstränge -
der türkischen Bevölkerung einem deutschen               ein türkischer und ein deutscher - laufen paral-
Lesepublikum. Ähnliches gilt für die Berichte,           lel nebeneinander her und weisen zwei kurze,
die Feridun Zaimoğlu 1995 unter dem Begriff              konflikthafte und folgenschwere Berührungs-
„Kanak Sprak“ publiziert hat: Stilistisch arbeitet       punkte auf. Der Autor arbeitet dagegen auf in-
der Autor ähnlich wie Saliha Scheinhardt mit             haltlicher Ebene psychosoziale, soziokulturelle
den Mitteln der inhaltlichen und - hier noch viel        und pragmalinguistische Gemeinsamkeiten
stärker - sprachlichen Authentizität, wobei die          heraus, die der These von der je 'anderen Kul-
„24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft“ - so            tur' völlig entgegenstehen und dazu beitragen
der Untertitel - weniger vermittelnd als vielmehr        müssten, bei Rezipienten die getrennte Wahr-
provokativ eine gesellschaftliche Entwicklung            nehmung der beiden Bevölkerungsgruppen zu
offen legt, die sich längst nicht mehr durch ir-         überwinden.
gendwelche, noch so fundierten Hinweise auf              Tatsächlich wird aber gerade dieser Text, wie
die Kultur und Gesellschaft des Herkunftslan-            meine Erfahrungen mit einheimischen Studie-
des erklären oder gar beheben lassen. Die                renden belegen, in der Erstrezeption vollkom-
Minderheitenkultur wird hier zum konstitutiven           men anders rezipiert. Einige blenden den ge-
Element der deutschen Gesellschaft.                      samten Handlungsstrang über die deutsche
Allerdings leisten auch diese Texte nur insofern         Gruppe schlicht aus und konzentrieren sich auf
einen Beitrag zur interkulturellen Kommunikati-          die türkische Gruppe, anstatt die im Text ange-
on, als sie sich durch Themen- und Sprachwahl            legte Leserolle als Kriminalistin zu besetzen,
(auch) an die Mehrheit wenden, ohne diesen so            die zu klären hat, warum sich Türken und Deut-
etwas wie „kulturelle Selbstreflexion“ (Nestvogel        sche im Kreuzberg der 80er-Jahre entweder
1987) abzuverlangen. Damit unterstützen sie              nicht begegnen oder in einem Konflikt aufein-
eine entlastende, manchmal schon voyeuris-               ander prallen. Dazu gehört auch, dass nur die
tisch geprägte Lesart für Mehrheitsangehörige,           Verbrechen, die deutschen Figuren, nicht aber
da diese nicht in den Text eingebunden sind,             die die dem türkischen Protagonisten passiert
sondern nur als Rezipienten angesprochen                 sind, wahrgenommen werden.
                                                         Diese Rezeptionsweise lässt sich - in Anleh-
2 vgl. ausführlicher Rösch 1992, S. 64 ff.               nung an Norbert Groeben und Peter Vorderer
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

(vgl. 1986)3 als trivial bezeichnen, das heißt,          japanisch schreibt, ihre im Japanischen ver-
dass die Rezipierenden ihr Vorwissen über                fassten Texte allerdings professionell ins Deut-
Türken durch den Text bestätigt finden. Den              sche übersetzen lässt. Aysel Özakin hat ihren
Text utopisch zu lesen, würde bedeuten, dass             Roman „mavi mask“ (1988) - „Die blaue Maske“
die Rezipierenden nach Aspekten suchen, die              (1989) zunächst in türkischer, dann in deut-
diesem vorhandenen Bild entgegenstehen. Ei-              scher Sprache publiziert. Im deutschen Text,
ne didaktische Konsequenz ist, diesen Redukti-           der als Literaturübersetzung gekennzeichnet
onsstrategien entgegenzutreten und die triviale          ist, sind gravierende inhaltliche Änderungen
Erstrezeption durch eine intensive und kreative          vorgenommen worden, die sicher nicht ohne
Beschäftigung mit dem Text in eine utopische             Mitwirkung der Autorin zustande gekommen
überzuführen. Das Ziel ist, eine Verbindung              sind, zumal diese nach eigenen Angaben, den
herzustellen zwischen der parallelen Hand-               Roman in deutscher Sprache zu schreiben be-
lungskonstruktion und inhaltlichen Komponente.           gonnen hatte. Sie hat - so meine Deutung (vgl.
Dazu gehört die Besetzung der intendierte Le-            Rösch 1992, S. 132 ff) - zwei Texte verfasst
serolle als Kriminalist, der sich mit allen Fällen       und dabei unterschiedliche kulturelle Orientie-
(Vergewaltigungen, unterlassene Hilfeleistung,           rungen der durch die Sprachwahl angespro-
ausländerfeindliche Verleumdungen, Leben als             chenen Lesepublika dezidiert berücksichtigt.
Illegaler, (Selbst-) Mord) zu befassen hat. Au-          Während Aysel Özakin die Sprachen in zwei
ßerdem gilt es, die Stereotypenbildungen auf             Fassungen getrennt präsentiert, setzt Emine
beiden Seiten durch mehrfachen Perspektiv-               Sevgi Özdamar in ihren Romanen „Mutterzun-
wechsel (von der deutschen zur türkischen                ge“ (1990) und dem mit dem Ingeborg-
Gruppe und umgekehrt) zu reflektieren. Aras              Bachmann-Preis ausgezeichneten „Das Leben
Ören selbst kommt in mehreren seiner späteren            ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer
Texte auf das Leben und Sterben Ali Itirs zu-            kam ich rein aus der anderen ging ich raus“
rück. In seinem Roman „Berlin Savignyplatz“              (1992) nicht nur die türkisch-deutsche Misch-
taucht der Protagonist aus dem genannten Kri-            sprache der Arbeitsmigranten als Stilmittel ein,
mi wieder auf; sein Leben und Sterben steht              sondern übersetzt wie schon Saliha Schein-
hier nicht mehr so sehr neben dem der einhei-            hardt in ihren Reportagenerzählungen Begriffe
mischen Bevölkerung, sondern wird zum inte-              und idiomatische Wendungen aus dem Türki-
grativen Bestandteil des multikulturellen (Knei-         schen ins Deutsche und überträgt Koranstellen
pen-)Lebens in der mittlerweile ehemaligen               in die deutsche Sprache, was sich nur turkolo-
Mauerstadt. Hierin zeigt sich eine Entwicklung           gisch kompetenten Rezipienten erschließt und
vom Nebeneinander zum Miteinander, die es                von diesen angemessen beurteilt werden kann
gegebenenfalls an der Berliner Realität zu ü-            (vgl. deshalb Deniz Göktürk 1994).
berprüfen gilt.
                                                         In einem meiner letzten Seminare zur Migrati-
                                                         onsliteratur hielt eine Türkischkompetente Stu-
Vom Schreiben in zwei Sprachen zum
                                                         dentin ein Referat über Emine Sevgi Özdamars
interlingualen Schreiben                                 Literatur. Als sie Textpassagen vorlas, entstand
Einige der immigrierten Autoren und Autorinnen           die Situation, dass die Türkischkompetenten
schreiben sowohl in ihrer Erst- als auch in ihrer        lachten und sich köstlich amüsierten, während
Zweitsprache wie Yüksel Pazarkaya, Adel Ka-              die anderen verunsichert, frustriert oder auch
rasholi oder Yoko Tawada, die in Deutsch und             wütend wurden, weil sie nicht folgen konnten.
                                                         Reflektiert wurde im Seminar unter anderem
                                                         der Rollentausch von Mehrheit- und Minderhei-
3 Norbert Groeben und Peter Vorderer untersuchten        tenangehörigen, der Umgang mit Mehrspra-
 den Umgang mit trivialer und utopischer Literatur
 und kamen zu dem Ergebnis: Literatur kann nicht
                                                         chigkeit im Text, in der Gesellschaft und in der
 nur aufgrund ihres Gehalts als utopisch bzw. trivial    Schule. Nachdem an ausgewählten Stellen die
 eingestuft werden, sondern erst aufgrund ihrer          Sprachproblemen eines Teil der Rezipienten
 Wirkung: Trivial ist ein Text, wenn er Vorerfahrun-     ausgeräumt waren, verständigten wir uns über
 gen und Vorannahmen bei Rezipienten bestätigt.          die Textsorte, wobei deutlich wurde, dass die
 Utopisch ist er, wenn er verändernd wirkt (vgl.
 Groeben / Vorderer 1986, S. 141).                       Türkischkompetenten den Text als Satire lasen,
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

während die anderen darin ein Dokument über              die deutsche Sprache bietet: „soy poeta / por
das Leben von türkischen Arbeitsmigranten                eso soy burro / soy europeo / por eso soy asno
sahen. Interessanter als die Lösung der Gat-             / soy peruano / por eso soy mula“ meint auf
tungsfrage ist an dieser Stelle das Reflektieren         Deutsch: Ich bin Dichter, deshalb bin ich ein
der - in diesem Fall durch sprachliche (In-)             Esel, wobei „burro“ ein Schimpfwort darstellt.
Kompetenz begründeten - unterschiedlichen                Ich bin Europäer, deshalb bin ich ein Esel, wo-
Leseweise.                                               bei „asno“ der hochsprachliche Begriff für Esel
Entstanden sind außerdem mehrsprachige Ge-               ist. Ich bin Peruaner, deshalb bin ich ein Maul-
dichte wie die von Gino Chiellino in dem Zyklus          esel. In welcher Reihenfolge man die darin ent-
„Sehnsucht nach Sprache“ (1987), die in Kalab-           haltende Hierarchie liest, bleibt der Deutung der
resisch beginnen, in der italienischen Amts-             RezipientInnen überlassen.
sprache fortfahren und schließlich in Deutsch            Diese Gedichte stoßen in meinen Seminaren
enden, ohne dass der Autor eine Überset-                 übrigens aus sehr viel größere Resonanz und
zungs- oder Verständigungshilfe bietet. Als ich          Akzeptanz als die genannten türkisch-
diese Gedichte vor kurzem bei einer Deutsch-             deutschen Texte, was nicht zuletzt mit Sprach-
lehrerfortbildung in Norditalien eingesetzte,            prestige von Spanisch und Türkisch in Deutsch-
stand - entgegen meiner Erwartung - die kalab-           land zusammenhängt. Allerdings erkennen
resischen Teile, die als „überhaupt nicht Italie-        auch Studierende, die Spanisch in der Schule
nisch“ identifiziert wurden, im Mittelpunkt des          gelernt haben, dass ihre Sprachkompetenz
Interesses. Das Lesegespräch konzentrierte               nicht ausreicht, die „nuancen der esel“ zu deu-
sich auf das Verhältnis von Regional- und                ten. Immer wenn niemand Sprachkompetentes
Amtssprache, bevor wir das Gedicht in seiner             in der Gruppe ist, schicke ich die Studierenden
vollständig betrachten konnten. In Berlin bitte          los, 'rauszufinden, was im Text steht. Das
ich die Studierenden nach der Bearbeitung sol-           schärft den Blick für die Multilingualität der ei-
cher Texte: Schreiben Sie ein ähnliches Ge-              genen Umgebung, die bislang wenig im Be-
dicht in den Sprachen Ihres Lebens, um die               wusstsein auch der Berliner Studierenden ist.
eigene Sprachsozialisation vor dem Hinter-               Auch hier scheint mir diese Vorbereitung, die
grund von Bildungspolitik, Lebens- und Migrati-          den Entstehungskontext dieser Literatur für die
onserfahrung zu reflektieren. Dabei wird man-            Rezipierenden in gewisser Weise erfahrbar
chen Einheimischen bewusst, dass sie als Ein-            macht, mindestens genauso wichtig wie die
sprachige mit fremdsprachlicher Schulbildung             anschließende traditionelle Arbeit mit den Ge-
weniger Sprachen sprechen als die Minderhei-             dichten.
ten, die mit zwei Sprachen aufwachsen. Außer-            In einem späteren Gedicht geht der Lyriker ei-
dem wird das Sozialprestige von Sprachen (und            nen Schritt weiter: Er behauptet „amarga Mar-
zum Teil auch Dialekten) reflektiert.                    garita / blütenwund la sehn-sucht / ist nicht zu
Auch José Oliver bezieht Alemannisch und                 übersetzen“ (1997, S. 71) und verschmilzt in „la
Spanisch in einige seiner Gedichte ein4[4].              sehn-sucht“ beide Sprachen miteinander. Zehra
Sein Gedichtband „Vater unser in Lima“ (1991)            beginnt schon sehr viel früher mit interlingualen
enthält verschiedene Formen zweisprachigen               Experimente, die Sprachgrenzen verwischen
Schreibens: Neben Paralleltexten (wie „la espe-          bzw. das Verhältnis zwischen Sprachen und
ranza (...) die Hoffnung“), in denen nicht alle          Sprachgemeinschaften reflektieren. Ihr Gedicht
Passagen, aber der Großteil des Textes ins               „Allianz“ (1991) beginnt folgendermaßen: „Auf
Deutsche übertragen wird, gibt es Texte, in de-          deutsch heißt die Hand Hand / auf türkisch
nen nur manche Worte in beiden Sprachen vor-             heißt sie el / so ein Handel (..)“. Am Anfang
kommen (wie in dem Gedicht „abendessen /                 verwischt sie die Grenzen zwischen den Spra-
cena“), oder aber Gedichte wie „skurrile begeg-          chen, folgt dann den Spuren der Gemeinsam-
nung“, die einen differenzierten Blick in die „nu-       keit einer deutsch-türkischen Handelskultur, um
ancen der esel“, die die spanische, nicht aber           schließlich zu erkennen, dass diese Gemein-
                                                         samkeit am hierarchischen Verhältnis scheitert.
                                                         Entsprechend trennt sie die Sprachen am Ende
4 vgl. v.a. Duende. Lyrik, deutsch-spanisch-
 alemannisch. Gutach: Drey 1997.                         des Gedichts wieder und benennt die unter-
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

schiedlichen Erfahrungen mit dem gemeinsa-               hauptung, „die Türken in Deutschland leben
men Handel einmal in Deutsch durch die Fest-             zwischen zwei Welten“ (1985, S. 51-52), indem
stellung: „der Handel reibt sich die Hände“ und          sie darauf verweist: „Wir alle leben / In zwei
einmal in Türkisch durch die Redewendung:                Welten / Die Welt der Sprache / Und die der
„eline saglîk“, die ein Lob für gute Handarbeit          Wirklichkeit. / Bald werden wir / In vielen Welten
(z.B. für Kochen) ausdrückt und somit eine               leben / Wenn die Zeit / Eine Kurve macht“. Gino
ganz andere Bedeutung zum Ausdruck bringt                Chiellino grenzt sich in dem Gedicht „Euch
als das deutsche Fazit, das den Handelsprofit            fremd fühle ich mich nicht“ (vgl. 1984, S. 37)
anspricht. Dieses Verfahren nenne ich interlin-          zum Beispiel vom einheimischen Fremdheits-
gual, weil es mit Sprachgrenzen umgeht und               begriff ab und setzt seinen eigenen Begriff vom
das hierarchische Verhältnis zwischen nationa-           „Anderssein“ dagegen.
len und sprachlichen Gruppen thematisiert.               José Oliver schreibt in seinem ersten Gedicht-
Das interlinguale Moment ergibt sich durch die           bandes von „Auf-Bruch“ (Erstausgabe 1987)
Überwindung sprachlicher, kultureller und philo-         und „auf-gebrochen“ wieder auf. Ähnlich geht er
logischer Grenzen. Da solche Texte keiner Phi-           in dem Wort „BeWEGung“ vor. Auch hier wird
lologie mehr eindeutig zuzuordnen und nur im             eine migrationsspezifische Konnotation allge-
Kontext einer allgemeinen Literaturwissenschaft          meinsprachlicher Begriffe nahe gelegt wird.
zu analysieren sind, müssen germanistisch                Sein zweiter Gedichtband „HEIMATT und ande-
Ausgebildete wie ich hier eigentlich passen o-           re FOSSILE TRÄUME“ (Erstausgabe 1989)
der sich ihrer Lücken bewusst werden und in              stellt einem eher regressiven bzw. traditionellen
Kooperation mit entsprechend ausgebildeten               Heimatbegriff in den Gedichten, in denen er von
Personen eine Arbeit mit solchen Texten wa-              national gesinnten Einheimischen und die Her-
gen. Daneben gibt es allerdings auch migrati-            kunftsgesellschaft idealisierenden Immigranten
onsliterarische Texte, die bei der deutschen             spricht,    einen   progressiven    bzw.     auf-
Sprache bleiben und die deshalb nicht weniger            brechenden Migrationsbegriff gegenüber, den
interessant sind, zumal es zum Teil dieselben            er an sein lyrisches Ich bindet und durch
AutorInnen sind.                                         Schreibung und Semantisierung verfremdet.
                                                         Neu ist daran weniger das Verfahren als viel-
Deutsch aus der Perspektive von Min-                     mehr der Kontext, in dem es angewendet wird -
derheiten                                                konkret die Aneignung und Neubesetzung
                                                         deutscher Begriffe durch ImmigrantInnen, die
Gino Chiellino setzt sich in seinen Gedichten
                                                         sich auch bei anderen AutorInnen findet:
mit der deutschen Sprache und ihren Spre-
chern kritisch auseinander und schafft mit Ge-           Während dieser Autor durch besondere Schrei-
dichten wie „Sklavenspache“ Irritationen und             bungen (Großschreibungen innerhalb eines
häufig genug auch ablehnende Distanz bei                 Wortes, Bindestrichsetzungen, ungewöhnliche
Sprachbeherrschern, wenn er ihnen (?) sagt:              Zusammensetzungen etc.) die deutsche Spra-
„mit mir willst / du reden / und / ich / soll / deine    che besonders markiert und zum Innehalten
Sprache / sprechen“ (Chiellino 1987, S. 71). In          motiviert, schafft Zehra Çirak einfach neue Wor-
diesem Gedicht arbeitet der Autor mit einer              te wie „gesellschaftet“ als Beispiel für eine ‚Ver-
Sprachprovokation, wenn er die deutsche                  bisierung von Substantiven' in dem schon ge-
Sprache zu einer Sprache erklärt, die Men-               nannten Gedicht „Allianz“. An anderer Stelle
schen zu Sklaven macht.                                  reiht die Autorin Substantive wie Heimat, Land,
                                                         Landsleute, Sprache etc. aneinander und er-
Hinzu kommen minderheitenspezifische Refle-
                                                         klärt sie durch das Possessivpronomen mein
xionen und Definitionen von in der Diskussion
                                                         wie im Deutschen und bei Deutschen üblich zu
um Einwanderung immer wieder verwendeten
                                                         ihrem (!) Eigentum. Darin liegt einerseits eine
Begriffen wie „Kulturidentität“ in einem Gedicht
                                                         Provokation, da eine Eingewanderte Begriffe
von Zehra Çirak (1991, S. 94) oder „Integration“
                                                         wie Heimat, Land etc. in deutscher Sprache
bei José Oliver (1989, S. 55). Aysel Özakin
                                                         und damit bezogen auf ihre Aufnahmegesell-
verwirft sowohl die These vom „Kulturunter-
                                                         schaft zu ihrem ‚Eigentum' erklärt. Andererseits
schied“ (vgl. 1985, S. 34-36) als auch die Be-
                                                         enttarnt sie die deutsche Sprache als eine dem
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

(Privat-) Eigentum verpflichtete. Zum dritten            Opferstatus in einer dominanzkulturellen Ein-
kritisiert sie diese Art von Besitzstanddenken           wanderungsgesellschaft befreit und zu Subjek-
und zeigt seine Folgen (Streit, Kriege, Konkur-          ten der Migration, sondern auch zu Wegberei-
renz) auf, indem sie abschließend bemerkt:               tern einer Zukunft, die von Multiethnizität, Multi-
„mein Gott steh mir bei daß mir alles bleibt / da        lingualität und Multikulturalität geprägt sein
kommt einfach ein anderer mit seinem mein /              wird. So sind auch die bereits genannten kon-
und nichts bleibt mir mehr / nichts von mir - ach        struktiv    gestalteten   sprachlichen      Vermi-
du meine Güte“ (1991, S. 86). Liest man dieses           schungsprozesse deutliche Gegenkonzepte zu
Gedicht, ohne durch den Namen einen Hinweis              homogen und geschlossen gedachten Konzep-
auf die spezifische Biographie der Autorin zu            ten sprachlicher und kultureller Identität.
bekommen, so dominiert die letztgenannte,
eher allgemeine Deutung. Die genannte Span-              Begegnung zwischen ‚Ein- und Außen-
nung zwischen Einheimischen und Eingewan-                heimischen‘
derten ergibt sich erst durch die Hinzunahme
                                                         In Franco Biondis neorealistischen Prosa und
des türkischen Namens.
                                                         Essayistik zeigt sich bereits Ende der 70er-
Eine Parole wie „Ausländer raus“, der Fruttuoso          Jahre eine Form antirassistischen Schreibens
Piccolo (1985, S. 117-118) in einem Gedicht ein          (vgl. Rösch 1992), die sich mit dem Verhältnis
„Willkommen“ gegenüberstellt, rassistische Ü-            zwischen „Außenheimischen und Einheimi-
berfälle wie „(...) H wie Hoyerswerda (...), das         schen“, wie Franco Biondi (1991, S. 14) die
José Oliver (1993, S. 61) mit Hiroshima verbin-          ansonsten als Eingewanderte und Einheimi-
det und den „dreifachen tod zu Mölln“ (S. 62-            sche bezeichneten gesellschaftlichen Gruppen
64) sind genauso Gegenstand dieser Literatur             nennt, befasst. Seine positiv konnotierte Beg-
wie die Öffnung der Mauer, die Gino Chiellino in         riffswahl soll Klischees sprengen und der
dem Gedicht „Grenzwerte der Republik“ mit                Fremde und den Fremden einen natürlichen
ironischem Blick in die Zukunft migrantenspezi-          Platz in einer neuen Sprache geben.
fisch kommentiert, denn so hält er fest: „9 / 1 / 1
                                                         Der Autor nutzt auch in seinem Roman „In
/ 1 / 9 / 8 / 9 / ein Ausländer lebt in Berlin / in
                                                         deutschen Küchen“, den er bereits Mitte der
Berlin lebt als Frauenbeauftragter ein Auslän-
                                                         70er-Jahre begonnen, aber erst 1997 veröffent-
der“ (Chiellino 1992, S. 51). Hierbei steht nicht
                                                         licht hat (vgl. Reeg 1997) die Möglichkeiten der
mehr die Sprache sondern das Verhältnis von
                                                         Literatur, gesellschaftliche und sprachliche
Mehrheit und Minderheit innerhalb einer Ge-
                                                         Herrschaftsverhältnisse, die im Kontext der In-
sellschaft im Mittelpunkt des interkulturellen
                                                         terkulturellen Pädagogik als Ausdruck einer
Diskurses. Thematisiert wird die Diskrepanz
                                                         Dominanzkultur (vgl. Rommelsbacher 1995)
zwischen Innen- und Außensicht, Selbst- und
                                                         gewertet werden, zu dekonstruieren, indem er
Fremdwahrnehmung, wobei auch bereits die
                                                         diese aus der Perspektive von Arbeitsimmigran-
(Neu-) Besetzung nicht nur der deutschen
                                                         ten bzw. Kindern von Arbeitsimmigranten als
Sprache durch Migrationsautoren und die Kon-
                                                         Angehörige der diskriminierten Kultur schreibt.
zeption einer selbstbestimmten Migrationsiden-
                                                         Seine Protagonisten sprechen „gastarbeiter-
tität intendiert ist.
                                                         deutsch“ (wie der Autor es selbst in einem Ge-
Anhand der Romane „Die blaue Maske“ von                  dicht von 1979 bezeichnet), leben unter den
Aysel Özakin, „Eine verspätete Abrechnung“               Bedingungen des Ausländerrechts und des
von Aras Ören und „Die Unversöhnlichen“ von              strukturellen wie alltäglichen Rassismus. An die
Franco Biondi weist Carmine Chiellino die Aus-           Stelle des Schreibens von Minderheiten über
bildung multipler Identitäten nach, wenn er eine         Minderheiten tritt das konsequente Schreiben
„Ich- und Orts-Vielfalt“ konstatiert, die „den Wir-      aus Minderheitenperspektive. Franco Biondis
Zwang“ ablöst und als „Grundstein für die florie-        Texte stehen deutlich in der Tradition der sozi-
rende    Interkulturalität   der     europäischen        alkritischen Literatur, geben ihr allerdings eine
Metropolen zu betrachten ist“ (Chiellino 1995,           minderheitenspezifische und damit dominanz-
S. 1415). Damit werden Migranten bzw. Minder-            kritische Komponente. Doch sie gehen auch
heitenangehörige, von denen diese Art der                darüber hinaus, was der Terminus des antiras-
Migrationsliteratur handelt, nicht nur von ihrem         sistischen Schreibens zum Ausdruck bringen
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

will, denn der Autor eröffnet Minderheitenange-          tische Konsequenz ist, Migranten als hand-
hörigen eine Perspektive, indem er diejenigen            lungstragende Figuren zu zeichnen und Nicht-
seiner Figuren als Helden konstruiert, die sich          Migrierte mit Nebenrollen abzufinden, in denen
aus dem Opferstatus befreien, Minderheiten-              ihr Handlungsspielraum - wie im vorliegenden
bewusstsein entwickeln und sich gegen diese              Text - ausgesprochen eng begrenzt wird. Mamo
Umstände zu wehren beginnen.                             erscheint als 'Kunstfigur', die es in der Realität
In „Abschied der zerschellten Jahre“ (1984)              nicht gibt, die Handlung erscheint überzogen,
geht es um die Abschiebung eines Minderhei-              unrealistisch und dramatisch zugespitzt. Diese
tenangehörigen aus dem Land, in dem er auf-              stilistischen Mittel verleihen der Novelle den
gewachsen ist. Franco Biondi bezeichnet sei-             Charakter einer Warnutopie, in der die Konse-
nen Text als Novelle, womit er eine deutlich             quenz für Betroffene und für die Gesellschaft, in
literarische Rezeption des Textes intendiert und         der sich solche Dinge ereignen (können), auf-
den Anspruch erhebt, dass die Erzählung um               gezeigt werden.
Mamo in der deutschen Literaturlandschaft eine           Die Rezeption dieses Textes führt nach meinen
Neuigkeit (italienisch: novelle) darstellt. Neu ist      Erfahrungen häufig zu Entsetzen, vor allem bei
in gewisser Weise, dass hier ein Kind von Ar-            Einheimischen. Allerdings wird diese Empfin-
beitsmigranten zum Protagonisten wird, das               dung nicht unbedingt als Wirkung des Textes
nicht durch seine Herkunftsgesellschaft definiert        reflektiert, sondern als Entsetzen über den
wird, sondern als Person, die dem Ausländer-             Handlungsverlauf artikuliert. Konkret wird Ma-
gesetz unterliegt. Damit wird der Prototyp eines         mo, der Protagonist, zum authentischen, aber
Arbeitsmigranten geschaffen, der durch seine             übertrieben und damit unrealistisch geschilder-
sozial-rechtliche Stellung in der Gesellschaft           ten Einzelfall und der Text als wenig geeignet
definiert und - so möchte ich kritisch anmerken          für den Unterricht eingeschätzt, weil er Ausweg-
- auch darauf reduziert wird. Auch die Nebenfi-          losigkeit produziert, ein negatives Bild von Im-
guren werden nicht als Individuen charakteri-            migranten zeichnet etc. Daran zeigt sich, dass
siert, sondern statisch und ausschließlich in            der Text entgegen der intendierten literarischen
ihrer besonderen Rolle im Verhältnis zum Pro-            Lesart dokumentarisch gelesen wird, was Rezi-
tagonisten gezeichnet. Neu ist auch im Ver-              pierende davon entlastet, sich mit dem sozia-
gleich zu anderen Erzählungen über Arbeits-              len, minderheitenspezifischen Sprengstoff, den
migration, dass weder die Personen noch zwi-             dieser Text bietet, auseinandersetzen zu müs-
schenmenschliche        Beziehungen,       sondern       sen und sich stattdessen auf die Frage der
migrationsspezifische Ereignisse im Vorder-              vermeintlichen Authentizität konzentrieren zu
grund stehen. Franco Biondi greift vor allem             können.
durch die Rahmenhandlung (Abschiebung) eine              Dennoch kann dieser Zugang in Seminargrup-
Situation aus dem Leben von Arbeitsmigranten             pen mit einheimischen und eingewanderten
heraus, die für Betroffene eine Schicksalswen-           Studierenden für ein Lesegespräch über die
de bedeutet. Die Abschiebung kann in Anleh-              empfundenen Irritationen genutzt werden: So
nung an die Novellendefinition Goethes als „ei-          gibt Franco Biondi im Text Freunden und
ne sich ereignete, unerhörte Begebenheit“ ge-            Freundinnen von Personen, die dem Auslän-
deutet werden. Das Gewehr, das Mamo von                  dergesetz unterliegen, wenig Handlungsspiel-
einem schwarzen US-amerikanischen Soldaten               raum. Mamo lässt sie und vor allem seine
erhält, kann als „Dingsymbol“ gelten, denn es            Freundin Dagmar auflaufen, was nicht nur bei
übernimmt eine leitmotivische Funktion für die           der genannten Studentin Unverständnis aus-
Entwicklung der Ereignisse.                              löst, da Dagmar sich ihrer Meinung nach solida-
Antirassistisches Schreiben bedeutet bei Fran-           risch gegenüber Mamo verhält und für die Liebe
co Biondi (und anderen Migrationsautoren)                zu ihm bereit ist, ihren eigenen Einheimischen-
nicht nur, Rassismus (als strukturelle Benach-           status für ihn auszunutzen oder für ihn auf-
teiligung und Alltagserfahrung) in der deutschen         zugeben, was Franco Biondis literarische Figur
Gesellschaft aufzuzeigen und Schuldige dafür             ablehnt. Eingewanderte können allerdings er-
zu finden. Es bedeutet auch, die Opfer dieses            klären, wie „demütigend es ist, sich von Deut-
Rassismus zu Subjekten zu machen. Eine stilis-           schen durch eine Heirat oder so abhängig zu
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

machen (Aussage einer Kommilitonin aus La-               sein Herkunftsland Syrien bzw. in den arabi-
teinamerika)“. Eine Kommilitonin aus der Türkei          schen Kulturraum. Ich sehe in dieser literari-
fordert von Dagmar und damit indirekt auch von           schen Remigration, die häufig nicht nur eine
ihren einheimischen KommilitonInnen „mehr                lokale, sondern auch eine historische und eben
Verständnis für die brutale Situation, in der sich       vor allem auch eine in die arabische Erzähltra-
Mamo befindet. Auch wenn er sie heiratet,                dition ist, einen anti-eurozentrischen Schach-
bleibt er doch der arbeitslose Ausländer, der in         zug, denn die Texte richten sich an ein deut-
Deutschland und zu Hause (!) keine Chance                sches Lesepublikum und erzählen - um es be-
hat. Er sollte sich eine Ausländerin als Freundin        wusst schlicht, aber nicht simplifizierd zu sagen
suchen oder sich mit anderen Gleichbetroffe-             - von einer Zukunft auch für die modernen
nen zusammentun.“ Durch ein solches Lesege-              Migrationsgesellschaften wie Deutschland, die
spräch wird das Anliegen des Textes, die Fol-            im arabischen Raum beginnt und entwickelt
gen und Konsequenzen der gesellschaftlichen              wird. Dabei entwerfen Texte wie „Eine Hand
Situation aus der Betroffenenperspektive in              voller Sterne“ (1987) eine interkulturelle Utopie,
ihrer ganzen Schwere nachzuvollziehen, auf-              die migrierende (im Sinne von den Aufbruch
gegriffen. Es basiert auf dem Diskurs zwischen           wagende) Individualität an die Stelle erstarrter
Einheimischen und Eingewanderten, den der                Ethnizität setzt. In „Erzähler der Nacht“ (1989)
Autor in diesem Text - auf der Handlungsebene            reflektiert Rafik Schami die Vielfalt und die
- verweigert, aber durch die literarische Form           Macht des Erzählens im Kontext von Migrati-
des antirassistischen Schreibens anregt.                 onsprozessen, die seine Protagonisten durch-
Ein weiterer Schritt ist diese dokumentarische           lebt haben. Das Bilderbuch „Der Wunderkas-
Lesart in eine literarische überzuführen. Wenn           ten“ (1990) problematisiert den Wandel arabi-
ich Studierende zum Beispiel auffordere, in der          scher Erzählkunst vor dem Hintergrund von
deutschen Literatur nach anderen Novellen zu             Europäisierung und Medialisierung. Das fabel-
suchen, zu überlegen, was eine Novelle über-             und märchenhafte Schreiben, das auch andere
haupt ist und sie auf „Michael Kohlhaas“ von             arabisch-deutsche (vgl. Al-Slaiman 1997) und
Heinrich Kleist stoßen, öffnet sich ihr Blick auf        mittlerweile auch türkisch-deutsche Migration-
den Text als Literatur und es ist ihnen möglich,         sautoren wie Kemal Kurt (vgl. z.B. 1995) erfolg-
ihr in der Germanistik erworbenes Analysewis-            reich einsetzen, ist ein Mittel der Verfremdung
sen auf den Text anzuwenden. Dann wird Ma-               migrationspezifischer Themen und stellt daher
mo zum „Michael Kohlhaas der Migrationslitera-           in gewisser Weise eine Entlastung für Rezipien-
tur“ (wie es eine Studentin im anschließenden            ten dar, die zum Teil so weit geht, dass gar kein
Gespräch über ihre Arbeit formuliert hat). Auch          Bezug mehr zu dieser spezifischen Problematik
er kämpft gegen die Ungerechtigkeit der Ge-              hergestellt werden muss.
sellschaft, in der er lebt. Er lehnt Kompromisse         Gerade Rafik Schamis Texte werden häufig
ab, die ihm zwar persönlich helfen, die Sache            schlicht als Kulturdokument über Syrien bzw.
der Arbeitsmigranten allerdings nicht verändern          Damaskus gelesen, anstatt ihre Bezüge zur
würden. Das macht ihn zum Einzelkämpfer und              deutschen Gesellschaft bzw. zu Europa wahr-
schließlich auch zum individuellen Verlierer. So         zunehmen und zu reflektieren. Dies lässt sich
aussichtslos Mamos Verhaltensweisen - indivi-            durch produktive Transferaufgaben unterstüt-
duell und sozial betrachtet - auch erscheinen,           zen, bei denen die Lesenden Handlungsele-
so bedeutend sind seine Motive für die struktu-          mente in ihren eigenen Erfahrungshintergrund
relle Auseinandersetzung mit der für ihn als             integrieren. Beliebte, kommerziell erfolgreiche
Arbeitsmigranten(kind) typischen Lebenserfah-            Texte wie die Märchen und Fabeln von Rafik
rung.                                                    Schami im Migrationskontext zu entschlüsseln,
                                                         stößt häufig auf Widerstände, denn es zerstört
Migrationsliteratur als Neukonzeption                    den Eindruck der positiv besetzten migrati-
                                                         onsfreien Erstrezeption. Doch das Dekonstruie-
Diese Form der Migrationsliteratur ist nicht
                                                         ren der Texte zeigt, dass die Reduktion der
mehr an Deutschland als Ort der Handlung ge-
                                                         Textaussage auf eine Mulit-Kulti-Idylle nicht
bunden. So basieren die meisten Texte Rafik
                                                         unbedingt im Text eingeschrieben ist, sondern
Schamis auf einer literarischen Remigration in
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

ihm im Sinne einer trivialen Lesart übergestülpt         tischen Rezeption, die sich bei einem Großteil
wird.                                                    seines Publikums bereits jetzt deutlich zeigt,
Die Tendenz zur ‚migrationsfreien' Rezeption             birgt.
trifft auf Akif Pirinçcis Texte in noch viel größe-      Doch darin liegt auch ein Teil ihres Reizes. Die-
rem Maße zu. Meine Studierenden (Mehrheits-              se Form der Migrationsliteratur unterstützt ei-
wie Minderheitenangehörige) versuchen mir                nen globalen - nicht universalistischen - Blick
immer wieder zu beweisen, dass Akif Pirinçci             auf die angesprochene Problemlage in multi-
eben keine Migrationsliteratur, sondern unter-           ethnischen, multilingualen und multikulturellen
haltende, gut lesbare und interessante Literatur         Gesellschaften, in denen sich nicht mehr ver-
schreibt5. Wenn ich sie dann bitte, mir den In-          schiedene ethnische Gruppen oder die Mehr-
halt irgendeines seiner Texte zu erzählen, mer-          und Minderheit als statische Gruppen gegen-
ken sie sehr schnell, wie unrecht sie haben.             über stehen. Aysel Özakin, die einige Jahre in
Denn „Felidae“ (1989) zum Beispiel beginnt mit           Deutschland gelebt und einzelne Texte in deut-
einem Umzug und erzählt von den Erkundun-                scher Sprache geschrieben hat, hat sich mitt-
gen einer Katze in einem für sie neuen Revier.           lerweile in Cornwall niedergelassen und
Er deckt rassistisch motivierte Morde einer fa-          schreibt in englischer Sprache. Trotz oder so-
natischen Sekte auf, die dem Ziel dienen, die            gar wegen dieser Weiterwanderung bleibt sie
Stadtkatzen rückzuzüchten auf ihren Ursprung.            eine Migrationsautoren, die schon in der Türkei
Der Kopf dieser Sekte ist das einzig überleben-          Fragen der Binnenmigration und interethnische
de Opfer brutaler Versuche an Katzen durch               Kommunikationsproblemen zwischen Land-
Menschen. Damit werden Fundamentalismus,                 und Stadtbevölkerung, Frauen und Männern,
Ethnozentrismus und ausgeprägte Reorientie-              Intellektuellen und weniger Gebildeten litera-
rung als Reaktion auf Missachtung, Verstüm-              risch bearbeitet hat. Sie arbeitet in ihren Bezie-
melung und Tötung erklärbar. Dass ein Zuge-              hungsromanen, die häufig retrospektiv erzählt
wanderter diese Zusammenhänge aufdeckt, ist              sind und differenzierte Einblicke in die türki-
genauso wenig zufällig wie die Tatsache, dass            sche, die deutsche und andere Migrationsge-
es sich dabei um literarisch verfremdete Erfah-          sellschaften geben, unterschiedliche kulturelle
rungen von Minderheiten in einer Einwande-               Orientierungen von Menschen gleicher Sprache
rungsgesellschaft wie der unseren handelt.               und meist auch gleicher Nationalität heraus.
Denn eine intensivere Beschäftigung mit die-             Dadurch entsteht im Text eine durchaus kon-
sem Katzenkrimi zeigt, dass er sich als Fabel            fliktreiche interkulturelle Kommunikation, die die
über das hierarchische Verhältnis von dominan-           Autorin vor allem in dem schon genannten Ro-
ten und dominierten Gruppen, über die Wech-              man „Die blaue Maske“ um die Auseinander-
selwirkung und die Umkehrung von Macht und               setzung mit Eurozentrismus und Orientalismus
Ohnmacht (in Einwanderungsgesellschaften)                erweitert.
lesen lässt, obwohl die vom Autor gewählte               Das interkulturelle Moment besteht hier nicht
Form die Gefahr einer infantilisierenden, unpoli-        mehr aus der Beziehung zwischen zwei oder
                                                         mehr national, sozial oder philologisch definier-
5 Dieser Bestseller-Autor behauptet trotz oder - so      ten Gruppen, sondern es geht um unterschied-
 meine ich - wegen seiner Biographie als Kind von        liche Denk-, Lebens- und Handlungsweisen, die
 türkischen Arbeitsmigranten in Interviews immer
                                                         sich weltweit und zum Teil auch in einzelnen
 wieder, dass seine Literatur nichts mit dieser Sozi-
 alisationserfahrung zu tun hat. Auch in der Migra-      Einwanderungsgesellschaften hierarchisch ge-
 tionsliteraturforschung wird dieser Autor ausge-        genüber stehen und deshalb auch Gegenstand
 sprochen kritisch betrachtet, weil sich - so meine      der Migrationsliteratur sind.
 ich - die Literaturwissenschaft generell immer noch
 sehr schwer damit tut, Unterhaltungsliteratur und       Ein solcher Zugang öffnet den Blick für Autoren
 kommerziell erfolgreiche Literatur überhaupt zur        und Autorinnen, die im Kontext der Systemmig-
 Kenntnis zu nehmen und sich ernsthaft damit aus-        ration aus osteuropäischen Ländern in die Bun-
 einanderzusetzen. Es wird auch in der Migrations-       desrepublik immigriert sind wie Herta Müller
 literaturforschung eine meines Erachtens völlig
                                                         aus Rumänien, Libuše Moníková und Ota Filip
 unberechtigte und außerdem leserfeindliche Dis-
 krepanz zwischen kommerziell und literaturkritisch      aus der Tschechischen Republik. Am Beispiel
 erfolgreichen Migrationsliteratur aufgebaut.            von „Reisende auf einem Bein“ von Herta Mül-
Heidi Rösch (1998): Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs

ler und unter Verweis auf den Roman „Pavane                  Metzler 1995.
für eine verstorbenen Infantin“ von Libuše Mo-            Chiellino, Carmine: Literatur und Identität in der
níková zeigt Maria Kublitz-Kramer (vgl. 1996, S.             Fremde. Zur Literatur italienischer Autoren in der
                                                             Bundesrepublik. Augsburg: Bürgerhaus
7), dass die Autorinnen für eine Perspektiven-               Kreßlesmühle 1985, Neuer Malik Verlag 1989.
verschiebung von der Bedeutung körperlicher               Frederking, Monika: Schreiben gegen Vorurteile.
Symmetrie zur Asymmetrie plädieren: Herta                    Literatur türkischer Migranten in der
Müllers Protagonistin Irene hat in dem genann-               Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Express
ten Erzähltext ihr anderes Bein nicht im ande-               Edition 1985.
ren Land gelassen, sie versucht auch nicht, um            Göktürk, Deniz: Muttikültürelle Zungenbrecher:
                                                             Literatürken aus Deutschlands Nischen. In:
auf beiden Beinen zu stehen, das andere Bein
                                                             sirene. Zeitschrift für Literatur 12-13 / 1994, S. 77-
heranzuziehen, sondern nimmt das Gehen auf                   93.
einem Bein als adäquate Lebensform an. Maria              Groeben, Norbert / Vorderer, Peter: Empirische
Kublitz-Kramer interpretiert diese Metaphorik im             Literaturpsychologie. In: Langner, Ralph (Hg.):
Rückgriff auf den Mythos der Danaiden (vgl.                  Psychologie der Literatur. Theorie, Meinungen,
Kristeva 1990) als Feminisierung des Fremd-                  Ergebnisse. Weinheim / München 1986, S. 105-
                                                             143.
seins und des Exils, zeigt aber gleichzeitig
                                                          Hamm, Horst: Fremdgegangen - Freigeschrieben.
„dass die Fremde nicht der Gegenpol zur 'Hei-                Einführung in die deutschsprachige
mat', sondern ein Raum des Übergangs, der                    Gastarbeiterliteratur. Würzburg 1988.
Schwelle, des Dazwischen darstellt“ (Kublitz-             Hein-Khatib, Simone: Sprachmigration und
Kramer 1996, S. 4). Damit wird Fremde entge-                 literarische Kreativität. Erfahrungen
gen der verbreiteten Geringschätzung auch im                 mehrsprachiger Schriftstellerinnen und
                                                             Schriftsteller bei ihren sprachlichen
Kontext des Ost-West-Dialogs positiv besetzt
                                                             Grenzüberschreitungen. Frankfurt/M u.a. 1998.
und entgegen der Erwartung Vieler nicht im
                                                          Herbert Michel: Odysseus im Wüsten Land. Eine
westlichen System aufgelöst.                                 Studie zur literarischen Verarbeitung des
Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs              Identitätsproblems in der griechischen
überwindet eine nationale, sprachliche und /                 Migrantenliteratur. Köln: Romiosini 1992.
oder regionale Begrenzung der Literatur und               Khalil, Iman O.: Zur Rezeption arabischer Autoren in
                                                             Deutschland. In: Fischer, Sabine / McGowan,
sucht nach – ich betone es erneut - innerlitera-             Moray (Hg.): Denn du tanzt auf einem Seil.
rischen Elementen, die diese Literatur von                   Positionen deutschsprachiger
nicht-migrierter, monokultureller Literatur unter-           MigrantInnenliteratur. Tübingen: Stauffenburg
scheidet. Franco Biondi (vgl. 1991, S. 14) sieht             1997b, S. 115-132.
darin die „Keime einer neuen Weltliteratur“, die          Khalil, Iman: Orient-Okzident-Stereotype im Werk
                                                             arabischer Autoren. In: Howard, Mary (Hg.):
die Fremde als lokalen und ideellen Raum kon-
                                                             Interkulturelle Konfigurationen. Zur
stituiert und ästhetisch gestaltet. Allerdings               deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren
zeigt die didaktische Arbeit mit solchen Texten,             nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicium
dass diese Keime noch sehr schwach sind und                  1997a, S. 77-94.
es dringend erforderlich ist, diese – um im Bild          Klettenhammer, Sieglinde: Brücke zwischen den
zu bleiben – im Diskurs zwischen Literatur und               Kulturen. Migrantenliteratur als Beitrag zur
                                                             Friedenserziehung. In: ide 18 / 1994, S. 64-77.
Rezeption zu hegen und zu pflegen.
                                                          Krechel, Rüdiger / Reeg, Ulrike (Hg.): Werkheft
                                                             Literatur „Franco Biondi“. München: Iudicium
Zitierte Literatur                                           1989.
Al-Slaiman, Mustafa: Literatur in Deutschland am          Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst.
   Beispiel arabischer Autoren - Zur Übertragung             Frankfurt am Main.
   und Vermittlung von Kulturrealien-Bezeichnungen        Kublitz-Kramer, Maria: GO WEST oder
   in der Migranten- und Exilliteratur. In: Amirsedghi,      Transit(t)räume. „Was man nicht erfliegen kann,
   Nasrin / Bleicher, Thomas (Hg.): Literatur der            muss man erhinken. Vortrag beim Symposion
   Migration. Mainz: Kinzelbach 1997, S.88-99.               Deutschdidaktik. Berlin 1996.
Borries, Mechthild / Retzlaff, Hartmut (Hg.):             Kurayazici, Nilüfer: Emine Sevgi Özdamars Das
   Werkheft Literatur „Gino Chiellino“. München:             Leben ist eine Karawanserei im Prozess der
   Iudicium 1992.                                            interkulturellen Kommunikation: In: Howard, Mary
Chiellino, Carmine: Am Ufer der Fremde. Literatur            (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur
   und Arbeitsemigration 1870 - 1991. Stuttgart:             deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren
                                                             nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicium
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