Lexikon des Internationalen Films
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Lexikon des Internationalen Films Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen, auf Video und DVD Redaktion Horst Peter Koll und Hans Messias Mitarbeit DVD Jörg Gerle Herausgegeben von der Zeitschrift «film-dienst» und der Katholischen Filmkommission für Deutschland Mit einen Kino-Brevier des Verbands der deutschen Filmkritik e.V.
Vorwort «Filmjahr 2004» 6 2004 – Odyssee im Cyerspace Der epochale Einbruch des Digitalen in die Filmwelt Chronik des Filmjahres 2004 7 Von Günter Jekubzik 63 FIPRESCI-Preise 2005 67 Notizen zum Kino # 01 Brevier des «Verband der deutschen Lexikon der Filme 2004 75 Filmkritik e.V.» (Deutsche Sektion der FIPRESCI) 28 Die besten Kinofilme des Jahres 2004 503 Einleitung Von der Brücke hinunter in den Fluss spucken «Sehenswert» 2004 523 oder Gesellschaftskritik von Rang? Von Josef Schnelle 28 Kinotipp der katholischen Filmkritik 525 Durchlauferhitzer Die herausragenden DVD-Editionen 2004 529 Zur Lage der Filmkritik in Deutschland Von Claudia Lenssen 29 Die Kurzfilm-DVD-Edition EUROPÄISCHE Immer auf den größten Haufen VISIONEN 556 Eine filmpolitische Wende gefährdet den Film als kulturelles Gut Preise Von Josef Schnelle 35 Festivalpreise 2004 der Internationalen katholischen Organisation SIGNIS 557 The Same Old Song, But With A Different Meaningoder: Wann sind wir denn nun Deutscher Filmpreis 2004 566 endlich wieder wer? Bayerischer Filmpreis 2004 567 Notizen zu aktuellen Tendenzen im deutschen Film Die internationalen Filmfestspiele Berlin 568 Von Ulrich Kriest 38 Die internationalen Filmfestspiele in Cannes 571 Die internationalen Filmfestspiele in Locarno 572 Die ganze Heimat Die internationalen Filmfestspiele in Überlegungen zur Heimat-Trilogie von Edgar Reitz San Sebastián 573 Von Marli Feldvoß 43 Die internationalen Filmfestspiele in Venedig 574 Super Size Reality Internationales Filmfestival Mannheim- Die schleichende Fiktionalisierung des Heidelberg 575 Dokumentarfilms Europäischer Filmpreis 2004 576 Von Silvia Hallensleben 48 Amerikanische Akademiepreise 2004 («Oscars») 577 Nachrichten vom Untergang Weitere Preise 2004 578 Aktuelle deutsche Filme über das Dritte Reich Von Marcus Stiglegger 53 Anschriften aus Film und Fernsehen 581 Unterricht mit «Shrek» & Co. «Lernort Kino», «Cinéfête» und andere Aktionen Lexikon der Originaltitel 2004 592 locken Schüler ins Kino Von Andrea Dittgen 59 Lexikon der Regisseure 2004 608
Wie immer sind die Eindrücke ei- eindruckend erfolgreich ausweisen: 7,8 Mio. nes zu Ende gegangenen Filmjah- mehr Menschen als im Vorjahr strömten in die res reichhaltig, vielfältig und hete- Kinos, insgesamt wurden 156,7 Mio. Eintritts- rogen. Wer allzu vorschnell 52 Ki- karten verkauft. Immerhin ging, statistisch ge- no-Startwochen, zahlreiche (na- sehen, jeder Deutsche 1,9 Mal im Jahr ins tionale wie internationale) Film- Kino. Doch internationalen Blockbustern à la festivals, hochkarätige Ausstellungen, Retro- Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs spektiven und diverse öffentliche Diskussio- (der bereits am 17.12.2003 startete, aber noch nen auf wenige griffige Aussagen reduzieren die ersten Wochen des folgenden Jahres präg- will, der verweigert sich vor allem auch der te) oder Harry Potter und der Gefangene «gefühlten» Wirklichkeit, die allein ein einzi- von Askaban zum Trotz: Es war das Jahr des ges Kinoerlebnis zu prägen vermag. Ob 2004 deutschen Kinofilms, das den Aufschwung be- ein filmkünstlerisch herausragender Jahr- förderte. Alles kam zusammen: kommerziell gang war, ob das Jahr wirtschaftlich als be- erfolgreiche Filme wie (T)Raumschiff Sur- deutend einzustufen ist – das mögen keine prise – Periode 1 (9,15 Mio. Besucher), unwichtige Fragen sein, aber sie verblassen 7 Zwerge – Männer allein Wald (6,5 Mio.) angesichts auf der Netzhaut und ihm Ge- oder Der Untergang (4,5 Mio.); erfolgreiche fühlshaushalt des Kinobesuchers nachwir- Kinder- und Familienfilme wie Lauras Stern kender Bilder und Szenenfolgen: Tom Cruise (1,3 Mio.), Bibi Blocksberg und das Geheim- als sterbender (Samurai-)Killer, der in Mi- nis der blauen Eule (1,2 Mio.) und Sams in chael Manns Collateral zusammengesun- Gefahr (800.000 Besucher); «junge» Filme ken auf einem U-Bahn-Sitz der Endstation wie Gegen die Wand, Die fetten Jahre sind entgegenfährt; der fürsorgliche Vater in Kim vorbei, Muxmäuschenstill und Schultze Ki-duks Samaria, der seine vermeintlich un- gets the Blues; nicht zuletzt auch wieder Do- schuldig-reine Tochter frühmorgens zärtlich kumentarfilme wie Rhythm is it! und Die Ge- mit Musik weckt, indem er ihr einen Kopfhö- schichte vom weinenden Kamel – deutsche rer aufsetzt; die Blicke und Gesten von San- Filme fanden ihr (jeweiliges) Publikum, wur- drine Bonnaire und Fabrice Luchini in Intime den also wahrgenommen und anerkannt. Hin- Feinde von Patrice Leconte, die sich abtasten zu kommen zwei «Oscar»-Nominierungen, ein und entdecken, sich herausfordern und infra- «Berlinale»-Sieger, der Europäische Film- ge stellen; die ungebremste, «wilde» Lebens- preis, neue internationale Anerkennung (auch energie von Sibel Kekilli und Birol Ünel zwi- beim Festival in Cannes). Auch Kulturpoliti- schen Glück und Trance, Wut und Buße in ker und Filmförderer erkennen, dass gerade in Fatih Akins Gegen die Wand – jeder enthu- der Vielfalt des aktuellen deutschen Kinofilms siastische Kinogänger wird die Palette sol- seine Qualität und Perspektive liegt. Und in cher Szenen und Eindrücke durch seine eige- der Tat ist es gut, wenn zu den gefühlten Ein- nen Wahrnehmungen und Empfindungen drücken eines Kinojahres eben nicht mehr nur verlängern und ergänzen können. die tänzerische Eleganz des bleichgesichtigen Und doch gibt es auch rein rechnerisch Elfen-Kämpfers Legolas aus Herr der Ringe (Zahlen-)Werte, die das Kinojahr 2004 als be- oder die großen naiven Augen des zwischen
Das Filmjahr 2004 8 Liebe und Pflicht zerrissenen Spider-Man ge- (Start: 8.1.) in die Kinos bringen. Ein in der hören – sondern eben auch die täppische Mongolei angesiedeltes «Doku-Märchen», Sprachlosigkeit von Horst Krause als Schult- das von Menschen und ihren Traditionen er- ze, der «seinen» Akkordeon-Blues bekommt, zählt, die oft im Widerspruch mit den Anfor- oder das wache, suchende Gesicht von Julia derungen der Moderne stehen. Der Doku- Jentsch in Die fetten Jahre sind vorbei. mentarfilm als Rückzugsmöglichkeit in eine wenn auch nicht heile, so doch real existie- Januar rende Wirklichkeit, die die Symbiose von Tradition und Fortschritt ausbalanciert. Die Nach jahrelangem Tauziehen gibt es ein neu- Geschichte des Kamels wird für den «Oscar» es Filmförderungsgesetz (FFG), das am 1. Ja- nominiert und öffnet ihren Regisseuren die nuar in Kraft tritt. Und schon sind dunkle Tür für ein weiteres mongolisches Projekt. Wolken am Himmel: Der Hauptverband Überhaupt scheint der Dokumentarfilm im deutscher Filmtheater (HDF) kündigt eine Vormarsch; was nicht nur mit der Sehnsucht Klage der mittelständischen Kinobesitzer ge- der Kinogänger nach Authentizität zu tun gen das Gesetz an, das Produzentenbündnis hat, sondern vor allem mit dem Engagement «Film20» warnt davor, ebenso die Staatsmi- kleiner und mittelgroßer Verleiher, die ihn nisterin für Kultur, Christina Weiss; auch die überhaupt in die Kinos bringen. Während neu gegründete Deutsche Filmakademie fin- über die «Oscar»-Träume des Kamels noch det die Klage absurd. Zu den Neuerungen schlaflose Nächte verbracht werden müssen, des Gesetzes zählt, dass endlich auch die folgt im März Aelrun Goettes erschütternder Fernsehanstalten zur Kasse gebeten werden; Film Die Kinder sind tot, der sich mit einer genau besehen, dürfen sie sich in Zukunft so- «Rabenmutter» auseinandersetzt, die im gar Werbetrailer für ihre eigenen Filme im Sommer 1999 ihre beiden Söhne in Frank- Fernsehprogramm als Filmförderung anrech- furt/Oder verdursten ließ; dabei belässt er es nen lassen. Auf dem Papier ist das zehn Mio. nicht bei oberflächlichen Schuldzuweisun- Euro wert. Die Kinobesitzer dagegen sollen gen, sondern versucht, der Struktur einer Ge- in Zukunft pro Eintrittskarte drei Cent mehr sellschaft auf den Grund zu gehen, in der sich abführen – sie werden also wirklich zur Kasse jeder nur selbst der Nächste ist. Aus Liebe gebeten, und darin sieht der HDF eine ver- zum Volk (Regie: Eyal Sivan und Audrey fassungswidrige Ungleichbehandlung. «Selt- Maurion) folgt am 22.4. Der Film blättert ein sam an dieser Angelegenheit», findet Josef wenig weiter in der deutschen Vergangenheit Schnelle, «ist, dass monatelang verhandelt zurück und setzt sich mit der Gefühlslage ei- wurde, aber immer noch keine Einigkeit nes ehemaligen Stasi-Offiziers auseinander, herrscht. Vielleicht entdecken ja noch mehr der auch heute noch davon überzeugt ist, zum Lobbyisten, welche Nachteile das Gesetz für Wohle seiner (Volks-)Genossen gehandelt sie mit sich bringt. Genau betrachtet, schielt zu haben. Dabei offenbart der klug struktu- das neue Filmförderungsgesetz (FFG) auf rierte Film das Psychogramm eines Men- drei bis vier Filme im Jahr, die an der Kino- schen, dessen institutionalisierter Sicher- kasse reüssieren, und noch auf zwei weitere, heitswahn zu paranoiden Verhaltensmustern die wenigstens bei der Kopienverteilung in geführt hat. In Gegensatz zur individuellen der ‹Oberliga› mitspielen. Doch der große Fallstudie macht Volker Koepp in Dieses Rest?» (film-dienst 5/04) Jahr in Czernowitz (Start: 17.6.) die Tragö- Für den Dokumentarfilm lässt sich das die unseres Jahrhunderts augenfällig. Dabei Jahr gut an, zumindest für die Filmstudenten verbindet er die unterschiedlichsten Lebens- Byambasuren Davaa und Luigi Falorni, die geschichten zur meisterlichen Metapher, in ihre Geschichte vom weinenden Kamel der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
9 Das Filmjahr 2004 ineinander fließen und die dem Traum von Eher dem anspruchs- einem wirklich geeinten Europa Ausdruck vollen Mainstream ver- verleiht. Weit spektakulärer ist Pepe Dan- haftet war der Dar- quarts Höllentour, eine perfekt geschnitte- steller O. W. Fischer, ne Bilanzierung der Tour de France 2003, die schon auf Grund sei- ner Physis zum Her- aus der Sicht zweier hochrangiger «Wasser- zensbrecher prädesti- träger» die «Tour der Leiden» Revue passie- niert. In den 1950er- ren lässt. Hier stehen nicht die Helden/Sieger Jahren avancierte er im Mittelpunkt, sondern jene, die ihnen zum zum bestbezahlten Sieg verhelfen. Ein weiteres dokumentari- deutschsprachigen sche Highlight, Andres Veiels Die Spielwüti- Schauspieler und ver- drehte weiblichen Co- gen, wird im Juni von sich reden machen (sie- Stars wie Ruth Leuwerick, Liselotte Pulver, Hil- he dort). degard Knef und Romy Schneider den Kopf. In Sofia Coppolas Lost in Translation Filmen wie PETER VOSS, DER MILLIONENDIEB (1958) (Start: 8.1.) sorgt für Furore: ein nuanciertes und HELDEN (1959) spielte Fischer sein komödian- Kammerspiel über die/das/den Fremde(n), in tisches Talent aus, während seine dramatischen dem zwei in Tokyo gestrandete US-Ameri- (Titel-) Rollen in HANUSSEN (1955) und LUDWIG II. – GLANZ UND ELEND EINES KÖNIGS (1954/55) Vergleichen kaner über die Flüchtigkeit ihres Daseins mit späteren Adaptionen der Stoffe durchaus nachdenken. Die nuancierte Tragikomödie standhalten. Der neunfache «Bambi»-Preisträ- lotet die Charaktere feinfühlig aus und wird ger stirbt am 29. Januar in Locarno. bei der «Oscar»-Verleihung im März zu Recht mit dem Preis fürs beste Drehbuch be- Thulin einem anspruchsvollen Filmpublikum dacht. Am selben Tag startet Kalender bekannt, in die Filmgeschichte ein ging sie Girls, eine Sozialkomödie in bester briti- durch Bergmans «Skandal»-Film Das Schwei- scher Arbeitertradition (Regie: Nigel Cole), gen (1963), in dem sie sich als Schwester einer die liebenswerte Unterhaltung rund um die an Tuberkulose erkrankten Frau bis zur Selbst- Mitglieder eines Frauenverbandes bietet, die aufgabe vor der Kamera preisgab. sich für züchtige Aktfotos ablichten lassen und den Erlös des daraus entstandenen Ka- Februar lenders für wohltätige Zwecke stiften. Von dem hübschen Film, gedreht nach tatsächli- Mit Was nützt die Liebe in Gedanken chen Ereignissen, und seinem karikativen (Start: 12.2.) setzt der aktuelle deutsche Film Beispiel geht eine beachtliche Sogwirkung früh im Jahr eine eindrucksvolle Duftmarke. aus. So lassen ostwestfälische Landfrauen in Wohin treiben wir? So fragte schon die junge der Folge ebenso die Hüllen fallen wie Feuer- Bürgersfrau Melanie in Theodor Fontanes wehrmänner, um den erzielten Reingewinn L’Adultera, als sie fiebernd vor Begehren und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. unerfüllter Liebe in einem leise schaukeln- Kino erzielt also doch die eine oder andere den Boot unter funkelnden Sternen den Wirkung außerhalb des dunklen Saales. Strom hinabtrieb. 50 Jahre später, mitten in Am 7. Januar stirbt die schwedische der Zeit der vom Aufbruch geprägten und Schauspielerin Ingrid Thulin, deren strenge doch so fragilen Ruhe der Weimarer Repub- Charaktere, die immer von einer Aura ver- lik, verbindet sich für eine sinnsuchende Ju- schatteter Intelligenz umgeben waren, einer gend existenzielles Fragen immer noch mit Reihe von Ingmar-Bergman-Filmen ihren spätromantischen Träumereien zu einer un- Stempel aufdrückten. Durch Licht im Win- gebrochen «modernen» Sehnsucht nach dem ter (1963) oder das quälerische Frauendrama «Übergroßen», nach Mythen und mächtigen Schreie und Flüstern (1972), wurde Ingrid Gesten in einer verwirrenden Zeit. Es ist dies
Brevier des «Verband der deutschen Filmkritik e.V.» (Deutsche Sektion der FIPRESCI) Einleitung Von der Brücke hinunter in den Fluss spucken oder Gesellschaftskritik von Rang? Von Josef Schnelle Als ich zum ersten Mal jeman- tisch sein? Das ist eine der Diskussionen, die den erzählte, ich sei Filmkriti- der «Verband der deutschen Filmkritik» ker, wurde ich ungläubig ge- (VdFk) – mit rund 300 Mitgliedern der größte fragt: «Und davon kann man le- nationale Zusammenschluss von Filmkriti- ben?» Die Frage ist heute aktu- kern innerhalb der internationalen Dachorga- eller denn je. Abgesehen von nisation FIPRESCI – immer wieder führt. Es einer Handvoll fest angestellter Redakteure gibt kaum eine Berufsgruppe, die so gerne ihr mit Schwerpunkt Filmkritik bei den großen Selbstverständnis diskutiert wie die Filmkriti- Zeitungen kann tatsächlich kaum jemand al- ker. Das kann man in 35 Aktenordnern unse- lein von der Filmkritik leben. Viele Filmzeit- rer Vereinsgeschichte nachlesen (lohnendes schriften und neuerdings Internetseiten mit Material für mindestens eine Magisterarbeit). Filmkritiken sind im Grunde reine Liebhaber- Der VdFk existiert unter dem Namen «Ar- projekte. Die professionellen Veröffentli- beitsgemeinschaft der Filmjournalisten» chungsmöglichkeiten bei Zeitungen, Radio- schon seit den 1950er-Jahren, vergibt seither sendern und Fernsehanstalten sind in den letz- den «Preis der deutschen Filmkritik» und setzt ten Jahren dramatisch zurückgegangen. Die sich in Seminaren mit Filmkritik und -politik, Honorare hingegen sind kaum gestiegen. Es aber auch mit dem Verhältnis zu anderen gehört also immer schon eine große Portion Film-Berufsgruppen auseinander. Leidenschaft für den Film dazu, wenn man Zwischen Berufsstandsvertretung gegen- sich der Filmkritik widmet. über Filminstitutionen und politischen Gre- Die ökonomische Seite ist weniger aufre- mien und einer quasi gewerkschaftlichen In- gend. Die meisten Filmkritiker leben von der teressenvertretung gegenüber Publikations- Hand in den Mund. Sie schreiben sich aber medien, aber auch den Kinobesitzern und nicht nur die Finger wund. Manche arbeiten Verleihern, sucht der Verband nach seinem auch noch für Filmfestivals. Sie suchen Filme Standort. Manche von uns würden den Ver- aus, leiten Podiumsdiskussionen und produ- band auch gerne als eine Art «Kampfverband zieren Festivalkataloge. Andere sind für Film- für den Autorenfilm» sehen. Ist Filmkritik museen oder im akademischen Bereich tätig. eine eigenständige literarische Gattung, reiner Schließlich gibt es noch diejenigen, die mehr Service oder gar Gesellschaftskritik von Rang, oder weniger offen für Filmverleiher Presse- wie Siegfried Kracauer sie verstanden wissen hefte schreiben. Können die dann noch kri- wollte? Ist Filmkritik mächtig? Kann sie die
29 Durchlauferhitzer Karriere eines Films tatsächlich beeinflussen, der zu veröffentlichen. Wir möchten, dass eine wie es die Filmemacher und Produzenten nach Tradition daraus wird. Es besteht nicht der schlechten Kritiken immer behaupten? Sitzen Anspruch, das vergangene Filmjahr in allen wir alle in einem Boot? Die Filmemacher und seinen Aspekten abzubilden – also kein Voll- die Kritiker? Diese und andere Fragen wer- ständigkeitsanspruch. Es handelt sich schließ- den uns weiter beschäftigen. Nicht nur deswe- lich um Autorentexte und nicht um Verlaut- gen haben wir die Anregung gerne aufgegrif- barungen. Aber es ist eine gute Gelegenheit, fen, im Lexikon des internationalen Films für Tendenzen in der Weltkinematografie, me- das Filmjahr 2004 erstmals einen eigenen ge- dienpolitische Entwicklungen und Zukunfts- schlossenen Teil mit Texten unserer Mitglie- perspektiven des Films darzustellen. Durchlauferhitzer Zur Lage der Filmkritik in Deutschland Von Claudia Lenssen Wunderbar, schon vormittags ins Kino zu ge- rer professionellen Obsession: versponnen ge- hen! Aber kann man denn davon leben? Wer nug, sich auf einen rasant verändernden Markt den Beruf des Filmkritikers in Deutschland zu spezialisieren, seit den jüngsten Entlas- ausübt, bekommt die gegensätzlichen Kom- sungswellen ohne rechte Aussicht auf Pau- mentare, die neidvollen und die abschätzig mit- schalistenverträge oder eine der seltenen Re- fühlenden, fast in einem Atemzug zu hören. dakteursstellen, die von den Medien für Film- Diese Arbeit ist von einem gewissen Nim- kritik und Filmjournalismus vorgesehen sind. bus umschmeichelt, einer Vorstellung luxu- Wenn Filmkritik keine Startpositionen für rierender Bohème. Besteht der Alltag von ruhmreiche Journalistenkarrieren bereit hält, Filmkritikern nicht aus dem Stoff, der für den meist nicht einmal die Existenzsicherung ga- Rest der Welt mit Freizeit, Unterhaltung und rantiert, dann müsste sie eigentlich im Ver- urbanem Lebensgefühl verbunden ist? In schwinden begriffen sein. Besucht man jedoch Zeiten einer neuen Klassenteilung, in der die Pressevorführungen, die von den Filmverlei- einen keine Arbeit haben und die anderen hern vor dem Start ihrer Filme organisiert zuviel, ist der Mythos der Kombination von werden, kann von aussterbenden Einzelexem- Spaß und Job von besonderem Reiz. plaren keine Rede sein. Es versammeln sich so Die Frage nach der Auskömmlichkeit aber, viele Gäste aus den Verteilern der lokalen der realistischen Kehrseite des Mythos, wird Presseagenten, dass man der Zunft eigentlich freiberuflichen Filmkritikern in den letzten gute Zukunftschancen einräumen möchte. Bei Jahren häufiger gestellt, obwohl sie zu allen Blockbustern sind die großen Säle voll, bei Zeiten auf der Tagesordnung war. Sie zeigt, schmal budgetierten, anspruchsvollen Filmen wie schlecht es um das Image dieses Fachs be- die kleinen Säle zur Hälfte. Es scheint, als gä- stellt ist, kommt jedoch meist im matten Ton ben die Adressenkarteien der Pressebüros, die resigniert klagenden Small-Talks daher. Seit Vorabvorführungen organisieren, einen Spie- viele Journalisten im Zug der Medienkrise gel für das vom Verleih und seinem Marketing kurz nach der Jahrtausendwende ihre Festan- anvisierte Zielpublikum ab. stellungen verloren haben und sich als Freibe- Immer mehr Öffentlichkeitsvertreter rufler durchschlagen, gelten Journalisten all- drängen in die Pressevorführungen, fahren zu gemein als Opfer der neoliberalen Exzesse, Festivals, legitimieren auf irgendeine Weise Filmkritiker dagegen eher als Borderliner ih- ihre Presseausweise. Medienauftritte zum
NOTIZEN ZUM KINO # 01 30 Start von (marktbeherrschenden) Filmen ha- Die alten kulturellen Rangordnungen galten ben deutlich zugenommen. Insgesamt ist die nicht mehr, die neuen wurden angefeindet. Aufmerksamkeit fürs Kino gewachsen im Der Filmkritik mangelte es an Prestige, was Vergleich zum Feuilleton alten Zuschnitts, folglich zu kompensieren war. Als jüngstes aber unter den bevorzugten journalistischen Kritikgenre besaß die Filmkritik nicht die Produkten – Programmtipps, Kurzkritiken, über hundertjährige Tradition der veröffent- Starinterviews und anderes mehr – gerät die lichten Meinungen zu Theater, Kunst, Musik Filmkritik zunehmend in die Nische. Die Be- und Literatur, borgte sich jedoch von den älte- rufsbilder, Arbeitsbedingungen, Abhängig- ren Feuilletonsparten die Perspektive und den keiten und Marktchancen verändern sich. Schreibgestus. Man inventarisierte, resümier- Um das 80 Jahre alte Diktum des großen Pa- te, beurteilte. Was zu Zeiten von Goethe und ten Siegfried Kracauer auf die neuen Ver- Schiller noch die Lieblingsbeschäftigung eines hältnisse umzumünzen: Der Filmkritiker von frei räsonierenden Kunstpublikums gewesen (materiellem) Gewicht ist heute nur als flexi- und danach mit der erkämpften bürgerlichen bler Medienarbeiter denkbar. Pressefreiheit zur Expertenfrage unter ange- sehenen Kunstrichter-Kritikern geworden Stiefkind Filmkritik – eine alte Geschichte war, wurde auf das neue Medium übertragen. Es ging zumeist ums Vorsortieren und Qualifi- Ist Filmkritik ein Fossil? Funktioniert sie nur zieren, ums Einordnen ins Raster des Bekann- noch als fremdbestimmtes Rädchen der Mar- ten. Ungeübt im Übersetzen von visuellen ketingmaschine? Verbietet sich angesichts Vorgängen in strukturierte Texte, zogen sich des beschriebenen Verdrängungswettbe- die ersten Kritiker nur zu oft aufs Herunterbe- werbs die Frage nach Positionen, Selbstver- ten der Geschichte zurück, die sie auf der ständnis und Funktion? Ein Blick zurück Leinwand zu erkennen glaubten. macht deutlich, dass viele Widersprüche Widersprüche, die heute an der Tagesord- schon seit ihren Anfängen existierten. nung sind, existierten von Beginn an: Filmkri- Filmkritik entstand zu einer Zeit, in der die tikern haftete in den Feuilletonredaktionen Printmedien als Industrie bereits hoch ausdif- und Chefetagen der Hautgoût des Trivialen ferenziert waren und ihre Macht politisch und an. Die Geringschätzung gegenüber der «Af- ideologisch einzusetzen wussten. Als die Mas- terkunst» Film übertrug sich auf die Schreiber, senerfolge des neuen Mediums nicht mehr zu die dem Dilemma im schlechten Fall mit he- übersehen waren, ging es darum, das Kino in rablassenden Beurteilungen, im guten mit lei- die eigene strategische Ausrichtung zu inte- denschaftlichen Plädoyers beizukommen ver- grieren. Filmkritik begann am Anfang der suchten. Filmkritik war von Anfang an Servi- Weimarer Republik in Deutschland sich als ce, indem sie dem lesenden Publikum (das in journalistisches Genre zu profilieren. Damals großer Zahl auch unter den Arbeitern zu fin- bauten Architekten gigantische Kinopaläste, den war und von einer starken Presse bedient verfilmten Theaterregisseure die Klassiker, wurde) überhaupt den Weg zum neuen Me- faszinierten expressionistische Formexperi- dienereignis Kino wies. Sie war von Anfang an mente im Film die Künstler und Intellektuel- Versuchen ausgesetzt, als Marketinginstru- len; kurz: neue Schichten entdeckten das ment, auch im politisch-ideologischen Sinn, Kino. manipuliert zu werden. Und ihr Schwerpunkt Die ersten Filmkritiker waren Liebhaber lag zum größten Teil in der aktuellen Tages- oder Verächter. Ihre Gegenstände hatten den kritik, die dem Vorwurf der Oberflächlichkeit Beigeschmack des «Kintopp», gehörten, woll- bzw. Verkürzung selten entkommt. te man den Vergleich ziehen, zu Trash, Pop Filmkritik entstand aus der Lokalbericht- und Avantgarde einer Republik im Umbruch. erstattung zum neuen Wunderding Kino. Früh
31 Durchlauferhitzer schon schrieb sie gegen konkurrierende Ein- tematisierende Rückschau auf die Kultur der flüsse an. Der Druck der Anzeigenkäufe von Weimarer Republik zu halten). Zum Teil fußen Kinobetreibern, Verleihern und Produzenten ihre Schriften bis in wörtliche Formulierungen lastete auf ihrem Anspruch der subjektiven hinein auf ihren einstigen Tageskritiken. Meinungsfreiheit, ein Druck, der auch andere So ist an diesen frühen Beispielen zu sehen, Kritiksparten betraf, aber in der expandieren- wie sich Filmkultur bis in die wissenschaftlich den Filmindustrie zuweilen mit Wildwestme- betriebene Filmgeschichte hinein eben auch thoden betrieben wurde. Genauso wie heute aus der Filmkritik speist. Ihr Serienprinzip standen Filmkritiker auch damals vor der spiegelt die Konjunktur von Kinoereignissen, Wahl, im Feuilleton «seriös» zu schreiben oder dokumentiert Chiffren des Zeitgeistes einer zu den vielen Illustrierten, Mode- und Gesell- Periode. schaftszeitschriften jener Zeit zu wechseln, ohne deren Fotos und Home-Stories die Ent- Die Chance nutzen, die man nicht hat stehung des Starwesens nicht zu denken wäre. Béla Balázs, einer der ersten Filmkritiker Es hilft wenig, die schwierige Situation der und -theoretiker, verlor seine Stelle bei der Filmkritik heute durch den Hinweis auf ihren Wiener Zeitung Der Tag, weil seine Kritiken möglichen künftigen Quellenwert schön zu re- dem Werbeeffekt der Anzeigen eines mächti- den. Wie sieht das Handwerk aus? Unter einer gen Filmtheaterbetreibers widersprachen. Sieg- Filmkritik versteht man im Allgemeinen einen fried Kracauer, damals Kritiker bei der Frank- Text zu einem aktuellen Film, der sich durch furter Zeitung, begriff solche populären Erleb- die namentliche Kennzeichnung als Autoren- nisangebote der 1920er-Jahre als Zeichen ei- produktion, als subjektiver Kommentar zu er- ner neuen urbanen «Angestelltenkultur». kennen gibt. Das griechische «critein», auf das Filmkritiker in der Rolle von Experten, als der Begriff Kritik zurückgeht, meint Unter- namentlich zeichnende Feuilletonautoren, er- scheiden und schließt im Deutschen so diffe- reichten eine neue Wertschätzung für das renzierte Bedeutungen wie Tadel, Beurtei- Kino, eine Würdigung als «Kunst», verbürgt lung, Bewertung, Besprechung, aber auch Ur- durch Autoritätspersonen. Mit Hilfe der Kri- teilsvermögen ein. Das aus dem Lateinischen tik hinterließ das Kino, im Alltagsgeschäft stammende Wort «Rezension» meint dassel- eine hoch entzündliche, schnell zerstörbare be. Kritiker und Rezensenten prüfen und wä- Ware, Spuren in der Geschichte. Wenn von gen ab, schätzen ihren Gegenstand zuweilen frühen Filmen weder Kopien, Fotos, Zensur- als gefährlich ein. Filmkritiker besprechen ei- dokumente erhalten sind, beweisen nachge- nen Film, indem sie ihr akustisch-visuelles Er- lassene Kritiken ihre Existenz. Sie spiegeln zu- lebnis niederschreiben, dabei das Verhältnis dem wider, woran sich die Aufmerksamkeit von Form und Inhalt würdigen und ihn in grö- damals heftete, wie Kritiker ihre Wahrneh- ßere Zusammenhänge, z. B. Genres, Filmo- mung und Erinnerung in Sprachbilder über- grafien, Kunst- und Zeitgeschichte einordnen. setzten, welche Denkmuster ihre ästhetischen Filmkritiker argumentieren, sie begründen ihr Urteile prägten. gegebenenfalls abschätziges Urteil. Und wie Kritik war die Chronik der laufenden Er- immer ihre Kritik ausfällt, sie formulieren prä- eignisse, geschrieben nach dem Besuch der zise, stilsicher und finden für jedes Längenfor- ersten Vormittagsvorstellung für die Zeitung mat den angemessenen Textaufbau und eine vom nächsten Tag. Zugleich war sie mehr: Spannungslinie. Soweit das Schema. Béla Balázs, Siegfried Kracauer, Rudolf Arn- Filmkritiken-Schreiben ist eine kreative heim, Lotte Eisner und andere verfassten film- Tätigkeit, die sich immer neu auf fremde Bil- theoretische Bücher (einige davon aus dem der und Konzeptionen einlässt und die He- Antrieb, im erzwungenen Exil später eine sys- rausforderung annimmt, dieses Formerlebnis
NOTIZEN ZUM KINO # 01 32 und seine emotionalen Wirkungen ins Medi- Fall eintreten. Ob man lange Anfahrtszeiten um Schrift zu übersetzen. So gesehen, ist zu einer Pressevorführung oder einem Inter- Filmkritik die «Fortsetzung des Films mit an- viewtermin hat, einen Film mit Überlänge be- deren Mitteln», wie die schöne Definition aus spricht, zusätzlich weitere Filme des gleichen dem Umkreis des Kölner Filmredakteurs Regisseurs anschaut, spielt bei der Honorie- Helmut Merker sagt. Um gute Kritiken rung ebenso wenig eine Rolle wie die Dauer schreiben zu können, und das professionell, des individuellen Schreibprozesses. Auch Rei- ist viel Seherfahrung im Kino notwendig. Die sen zu Filmfestivals, die Messebesuchen ver- New Yorker Kritikerin Pauline Kael fühlte gleichbar wären und überdies wichtige Schalt- sich erst in ihrem Element, nachdem sie 4.000 stellen für das professionelle «Networking» Filme als ihren persönlichen Fundus benut- darstellen, sind selbst zu finanzieren. zen konnte. Filmhistorische und -theoreti- Man muss sich Filmkritik leisten können. sche Kenntnisse gehören ebenso zum Hand- Wie zunehmend viele Berufe im tertiären Sek- werk wie zeitgeschichtliches Wissen, Offen- tor Kultur ist professionelle Filmkritik eine heit für fortlaufend erneuerbare Allgemein- Frage von Selbstausbeutung. Sieht man von bildung und nicht zuletzt ein Quantum der kleinen Zahl festangestellter Filmredak- Lebenserfahrung. Mit solchem Rüstzeug aus- teure ab, die neben der eigenen Autorentätig- gestattet, kann der – idealtypische – Filmkri- keit über die Platzierung, die Längenformate tiker Texte von eigenständigem Wert schrei- und Präsentationsform von Filmkritiken ent- ben, die sich von der simplen Servicefunktion scheiden und ihren Kritikerstamm im Einzel- emanzipieren und nicht nur Entscheidungs- nen beauftragen, dann ist Filmkritik in erster hilfe für den Kinobesuch bieten wollen, son- Linie Sache von «Freelancern» (ein Wort aus dern das mögliche Filmerlebnis um eine wei- dem mittelalterlichen Sprachschatz, das die tere Dimension, neuen Gesprächsstoff und Söldner bezeichnete, die mit eigenen Lanzen mehr Assoziationsmöglichkeiten ergänzen. in den Krieg zogen und vom Kriegsherren Es liegt auf der Hand, dass filmkritisches nicht mehr ausgerüstet werden mussten). Da Schreiben Dichte und Präzision nur mit einem keine Statistik darüber geführt wird, lässt sich bestimmten Arbeitsaufwand erreicht, mit nur spekulieren, dass von rund 80 deutschen Vorbereitung und permanentem Training des Tageszeitungen die Hälfte ein Redaktionsmit- «Schreibmuskels» zusätzlich zum «Minimal- glied für Film eingestellt hat, wozu weitere Po- aufwand», der Sichtung des zu besprechenden sitionen bei den Wochenzeitungen, der Film- Films. Man kommt nicht ohne ein Zeitbudget fach- und der Boulevardpresse kommen sowie für begleitende Lektüre aus und sollte den bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten. Aufwand an purer Textarbeit nicht unter- Diesen rund 200 Entscheidungsträgern mit ge- schätzen, wenn es gilt, im Schreiben Routine legentlicher Schreiberfahrung steht ein Heer zu vermeiden und spontane Meinungsäuße- von rund 2.000 freiberuflichen Filmkritikern rung durch Analyse zu ersetzen. Doch dieser gegenüber. Standard lässt sich bei der durchschnittlichen Auf Seiten der Auftraggeber haben in den Honorierung nicht erreichen. letzten Jahren zudem strukturelle Verände- Filmkritik wird im Stückpreis bezahlt, mit rungen die Ausgangsposition für Filmkritik Zeilenhonoraren, die je nach Längenformat einschneidend verändert. Im Zuge der Me- zwischen 40 und 300 Euro pro Artikel einbrin- dienkrise und der anschließenden «Relaun- gen. Vorkosten bei unterschiedlichen Schwie- ches» vieler Zeitungen wurden die Textmen- rigkeitsgraden zahlt der Autor. Filmkritik gen radikal reduziert, vor allem die Feuille- funktioniert im überwiegenden Fall nach dem tons verkleinert. Die neue Generation maß- Prinzip des «Outsorcings», bei dem die Auf- geblicher Designer zog mehr weiße Flächen traggeber für Mehraufwand nur im seltensten und bunte Fotografien dem traditionellen An-
33 Durchlauferhitzer gebot größerer Texte vor. Die Zeit reduzierte sich zunehmend als Event-Berichterstatter, beispielsweise die Textumfänge für Filmkriti- Tippgeber, Vorkoster. ken deutlich, während sie ihre «Alleinstel- Wird die freie Wahl der Kritiker, Filme lung» als Deutungsinstanz prägender kulturel- durch ihre Würdigung oder gegebenenfalls ler Prozesse mit einer Retro-Geste, dem deut- durch kritische Analyse zum Gesprächsstoff lichen Ausbau ihrer Literaturseiten, verteidi- zu erklären, durch die Filter redaktioneller gen wollte. Die krisengeschüttelte Frankfurter Zwänge eingeschränkt, so steht ihre Arbeit Rundschau reduzierte ihre traditionsreiche zugleich auch unter dem wachsenden Einfluss Filmkritik im Feuilleton ebenfalls, zahllose der Verleiher. Die Krisensymptome, der andere Beispiele wären zu ergänzen. Längere scharfe Verdrängungswettbewerb, wirken Essays, die über die Tageskritik hinaus zielen, sich deutlich vor allem auf die kleinen Film- sind aus den Publikumszeitungen verdrängt, verleiher aus. Im Jahr 2004 starteten 437 Filme während der systematische Ausbau von perso- in deutschen Kinos, so viele wie noch nie. nenorientierten Reportage-, Portrait- und In- Bedarf für die professionelle Beobachtung des terviewformaten die paradoxe Inszenierung laufenden Angebots besteht im Prinzip also der Sehnsucht nach Authentizität in den Mit- nicht. Dennoch wird die Arbeit der Kritiker telpunkt rückt. Analyse, gar Kritik im negati- im Überlebenskampf der kleinen, anspruchs- ven Sinn, gerät in der Kulturöffentlichkeit ins vollen Filmverleiher zum Spielball von Zwän- Hintertreffen, wenn sie nicht selbst als Pole- gen und Interessen. Der Kampf um die Auf- mik, Sensation oder Hype auf Blitzlichter merksamkeit des Publikums, d.h. der Kampf zielt. Die spielerische Variante desselben Vor- um den Starterfolg eines Films in der ersten gangs: Filme werden nicht mehr durch Bespre- Einsatzwoche, aus dem ein weiteres Abspiel chungen vorgestellt, sondern mit Gewinnspie- im kleiner werdenden deutschen Programm- len um Freikarten beworben. kinonetz folgen kann oder nicht, führt dazu, Derselbe Prozess setzt sich auch in den dass in den entscheidenden Kinostädten viel Sendestrukturen der deutschen Radioanstal- dafür getan wird, Publikum über Filmkritiken ten fort. Die Konsequenzen der breiten zu motivieren. Besprechungen in den lokalen Streuung von kommerziellen Radio- und Programmzeitschriften sind für Kinobesitzer Fernsehsendern in Konkurrenz zu den öf- wie Verleiher wichtig. Sie hängen die Texte fentlich-rechtlichen machen sich bemerkbar. sogar in den Kinofoyers aus – ein rührend an- Der Kampf um die Aufmerksamkeit eines schauliches Feedback für die Kritiker. diffusen, durch seine Macht zum Wegzappen Dennoch hat die seit den Zeiten des Neuen gefürchteten Massenpublikums soll Quote deutschen Films der 1970er-Jahre von vielen bringen. Kurzweilige, unterhaltsame Sende- Verleihern beinahe selbstverständlich voraus- formen und Textsorten wurden zur passen- gesetzte Unterstützung durch die Kritik ihre den Antwort auf diesen Zugzwang erklärt. paradoxen Seiten. So schlug die Begeisterung Spontan gesprochene Beiträge ersetzen die über Hans Weingartners Die fetten Jahre geschriebenen, Moderatoren geben sich sind vorbei als einem politischen Film und selbstbewusst als unwissende Fragensteller deutschen Beitrag zum Filmfestival Cannes und leiten unter diesem Stern die Plauderei wie eine kollektive Selbstenthebung der Kri- ein. tik durch, in der kaum jemand Spielverderber Für Filmkritiker bedeuten diese neuen sein wollte und folglich nicht darüber ge- Programmdesigns spürbare Verluste von Ar- schrieben wurde, dass der Film bei allem beitsmöglichkeiten. Für denselben Aufwand Charme erhebliche dramaturgische Schwä- an Filmsichtung lassen sich nun nur noch sel- chen hat. Hier funktionierte der Hype als Poli- ten 5 Minuten lange Beiträge verkaufen. Die tikum auf dem für Deutschland typischen Fließprogramme der Radiosender verstehen Kampfplatz, auf dem der notorische Minder-
NOTIZEN ZUM KINO # 01 34 wertigkeitskomplex als schwache Filmnation wie es der Filmjournalist Knut Elstermann die sachliche Auseinandersetzung überwog. formuliert. Kritiker und Redakteure, die sich diesem Sog Welche Lebensentwürfe, welche Arbeits- ausliefern, die Trends hoch schreiben oder formen entstehen aus dieser Entwicklung? Entdeckungen lancieren, gewinnen Prestige. Wie bewältigen Filmkritiker als Medienarbei- Sie platzieren Filme als Aufmacherthema ter ihre Rolle als Teilchen in einem beschleu- und fördern allein durch dieses Ranking ihre nigten System von Gesamt-Events? Es lässt Karriere. Besprechungen über «wichtige» sich realistisch spekulieren, dass sie angesichts Filme scheinen auch die Kritiker «wichtig» zu der unangemessenen Bezahlung auch bei ma- machen. Andererseits bot das Jahr 2004 auch ximalem Einsatz nicht auf ihre Kosten kom- fürs gegenteilige Phänomen schlagende Bei- men. Nimmt man Festivalberichte, Starinter- spiele. Der Erfolg des Films Der Untergang views und Portraits, die selteneren Retrospek- bestätigte die alte Erfahrung, dass Filmkriti- tive-Artikel, Nachrufe und Gedenktexte, per- ker schlechte Filme, die massiv beworben sönliche Kolumnen oder film- und kulturpoli- werden und einen Nerv der Zeit treffen, nicht tische Kommentare hinzu, könnten Filmjour- unsichtbar machen können. Der Nutzen gu- nalisten auch mit schierer Dauerpräsenz am ter Filmkritik liegt nicht im medialen und/ Arbeitsplatz Kino und Computer nur auf ein oder kommerziellen Erfolg eines Films, das mäßiges Einkommen rechnen, sofern sie die wissen Filmverleiher jeder Größenordnung. Hürde eingeschränkter Veröffentlichungs- Aber da langfristig die Kommunikation unter chancen gemeistert haben. Kein Wunder also, Meinungsmachern von ihr mitgeprägt wird, wenn Filmjournalisten Kritik als Teilzeitar- sieht man sie als Teil der Public Relations. beit betreiben oder viel Kraft investieren, eine Die Marktchancen eines Films drücken Rezension in allen möglichen Formaten und sich auch im Einsatz massiver Werbeetats aus, Medien in eine profitable Mehrfachverwer- an deren Ende erst die Betreuung von Kriti- tung umzusetzen. Um sich der Rolle des Spiel- kern steht. Die Pflege der Einladungslisten für balls zwischen frustrierten Redaktionen einer- Pressevorführungen oder die Bereitstellung seits und aufdringlichen PR-Agenten anderer- von Presseheften mit Hintergrundinformatio- seits zu entziehen, arbeiten sie als Dozenten, nen ist zum marginalen Rest der Kampagnen Übersetzer, Festivalberater, Programm- und geworden, in dem es primär um eine größt- Projektentwickler. Sie wechseln als zwangs- mögliche Öffentlichkeit für den Film geht. weise flexible Medienarbeiter zunehmend die Heute kommt hinzu, dass die große Zahl loka- Interessenssphären, arbeiten als PR-Agenten ler PR-Agenturen, die als «Subunternehmer» wie als Journalisten, drehen Making-of-Bei- selbst unter Leistungsdruck stehen, akusti- träge für die DVD-Auswertung von Filmen, sches Ausschnittmaterial für Radiojournalis- schreiben Pressetexte und werbende Inhalts- ten verteilt, vor allem aber auch Interviewter- angaben für Programmbroschüren. mine mit den zum PR-Einsatz verpflichteten Das heißt jedoch nicht, dass die Kultur- Regie- und Schauspielstars organisieren. Ver- technik Filmkritik ausstirbt. Als Kommunika- leihe lancieren so ihr Originalmaterial in der tionsangebot ohne die zuweilen arroganten von ihnen vorgegebenen Auswahl und Dosie- Attitüden der letzten Großkritiker entsteht rung in die Medien, bringen ihre Protagonis- sie fortlaufend im Internet neu, nicht immer ten im Talkshows im Fernsehens unter, kreie- sprachlich geschliffen, aber auf Websites wie ren Events jeder Größenordnung und eigens «filmkritik.blogspot.com» kenntnisreich, de- inszenierter Glamoureffekte. battenfreudig, theoretisch fundiert – natürlich Filmkritiker mutieren in diesem Zirkula- umsonst und gratis als Cineastenliebhaberei. tionswirbel zunehmend zum einkalkulierten Was wäre zu tun? Filmkritiker müssten of- Marktinstrument, zum «Durchlauferhitzer», fensiver auf die schleichende Abwicklung ih-
35 Immer auf den größten Haufen res Arbeitsfeldes aufmerksam machen. Sie kunftsinvestition. Nachwuchsjournalisten je- müssten – wie schon einmal in der Zeitschrift der Fachrichtung müssten sich im Genre Film- Filmkritik polemisch erprobt – die Wertschät- kritik üben, ihre Fertigkeit auch an einem se- zung ihrer Arbeit als eigenständige journalisti- kundären Gegenstand trainieren, um diese sche, wenn nicht gar literarisch-kritische Lei- Kommunikationsform später als Entschei- stung einfordern. Aus dem vorausgesagten dungsträger in den Medien angemessen ein- Paradigmenwechsel unserer schriftdominier- schätzen zu können. Die seit 20 Jahren sich ten Kultur zu einer Bilderkultur folgt zur Zeit etablierende Filmwissenschaft müsste in einen der zunehmende Verlust an Sprache, die die regen Austausch mit den journalistischen optisch-akustischen Wahrnehmungen aus der Praktikern gezogen werden. Filmkritik als suggestiven Unmittelbarkeit in die rationale Kultur des Sehens hat eine Zukunft, wenn sie wie emotionale Kommunikation überträgt. als Schlüsselkompetenz und eigenständiges Übung in Filmkritik ist eine kulturelle Zu- journalistisches Genre überwintert. Immer auf den größten Haufen Eine filmpolitische Wende gefährdet den Film als kulturelles Gut Von Josef Schnelle Glaubt man den filmpolitischen Verlautba- dotierten deutschen Kulturpreis in Eigenregie rungen der zuständigen Ministerin Christina zu vergeben. Anfangs hielt man das Ganze für Weiss, gibt es jede Menge Grund zum Jubel. einen schlechten Scherz, ausgedacht an der Der deutsche Film hatte 2004 einen Marktan- Bar des Berliner Adlon-Hotels im ersten Är- teil von über 20 Prozent. Festivalerfolge wie ger über einige Juroren des deutschen Film- der «Goldene Bär» in Berlin für Gegen die preises, die partout sperrige Filme wie Domi- Wand von Fatih Akin und das achtbare Ab- nik Grafs Der Felsen mit Preisen bedachten, schneiden von Die fetten Jahre sind vorbei anstatt ihn Bully Herbig für seinen Publikums- in Cannes nach Jahren der Abwesenheit deut- hit Der Schuh des Manitu hinterherzuwer- scher Filme im dortigen Wettbewerb begeis- fen. Bernd Eichinger – Filmproduzent mit Bü- tern die Branche. Beim Europäischen Film- ros in München und Los Angeles – ärgerte sich preis gewann nach Good Bye, Lenin! von heftig und lautstark in eigener Sache, schimpf- Wolfgang Becker mit Gegen die Wand zum te auf inkompetente Juroren und forderte zweiten Mal hintereinander ein deutscher stattdessen die Gründung einer deutschen Film. Bernd Eichingers aufwändiger Hitler- Filmakademie, aber nur, wenn sie auch den bunkerfilm Der Untergang wurde aussichts- deutschen Filmpreis vergeben dürfe. Irgend- reich für den «Oscar» nominiert. Das sieht wie ging dann alles sehr schnell. Auf einer öf- doch glatt so aus, als habe die Filmpolitik end- fentlichen Anhörung des Ausschusses für Kul- lich einen grundsätzlichen Wandel erreicht. tur und Medien im Juni 2003 durften Kritiker Zwei Projekte zeitigen Resultate. Die No- der «Initiative der Filmwirtschaft, eine Film- vellierung des Filmförderungsgesetzes (FFG) akademie einzurichten» noch einwenden, dass und die Reform des Deutschen Filmpreises. die Zielsetzung des deutschen Filmpreises ja Der wird 2005 erstmals nicht mehr von einer eigentlich die «Förderung der Filmkultur» sei Jury ausgelobt, sondern von der neugegründe- und man deshalb der Branche nicht eine der- ten Deutschen Filmakademie, in der die Film- artige Selbstbedienung gestatten dürfe. Schließ- wirtschaft sich nach dem Vorbild der «Os- lich handelt es sich bei den drei Millionen För- car»-Academy organisiert hat, um den höchst- dergeldern im Grunde um den Kern der kultu-
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