Heinrich-Böll-Stiftung/ nachtkritik.de/weltuebergang.net (Hg.): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen.

 
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Heinrich-Böll-Stiftung/ nachtkritik.de/weltuebergang.net (Hg.): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen.
Stefanie Schmitt                                                                                        [rezens.tfm] 2020/2

Rezension zu

Heinrich-Böll-Stiftung/
nachtkritik.de/weltuebergang.net
(Hg.): Netztheater. Positionen,
Praxis, Produktionen.
Red. Sophie Diesselhorst/Christiane
Hütter/Christian Rakow/Christian Römer.
2020. ISBN: 978-3-86928-222-0.
Print/digital. 126 S., Preis: kostenlos.
von Stefanie Schmitt

Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020
die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz",
einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich-
Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für
Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum
reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und
Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangs-
beschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theater-
geschehen in die digitale Experimentierstube. Im
Oktober erschien nun der Band Netztheater[1], der in 21           Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des
Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs                   geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vor-
Monate reflektiert – fundiert durch die Expertise der             stellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen
im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten                auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte
Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen             wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich
Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus                im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme
Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Ausei-              gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen
nandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird              Medien profitieren können: Like, share, comment,
nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines               retweet sind schließlich nichts anderes als digitale
"Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapa-             Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen,
ziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitra-            basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und
genden verbindet die gemeinsame Sache und so                      Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch ver-
kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theore-                mehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen
tischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt             Theaterhäusern zu erwarten?
die Publikation praktisch verwertbares und weiterent-
wickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit.               Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digi-
Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht               talen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst
chronologisch, sondern führt einander ergänzende                  daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzie-
Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie,               rungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig
Community, Interaktion etc. kommentierend zusam-                  verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das
men:                                                              Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen
                                                                  Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                        [rezens.tfm] 2020/2

Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und                  vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In
Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in            diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "mo-
Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungswei-                  dular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegs-
sen" (S. 16) im Theater angekommen sei. Das Theater               möglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer
ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblie-          wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21).
ben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die
                                                                  Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue The-
Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das
                                                                  aterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch
betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des
                                                                  gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeit-
'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer
                                                                  raum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie
Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang
                                                                  mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit
war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne
                                                                  Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner
prägend für die Organisation einer exklusiven Auf-
                                                                  in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum
merksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue
                                                                  pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemein-
Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbei-
                                                                  schaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun:
medium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont,
                                                                  Die Community ist das Herzstück des Theaters,
ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit
                                                                  weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem
im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und
                                                                  darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen,
gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publi-
                                                                  dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass seri-
kums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten
                                                                  elle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community
Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zu-
                                                                  aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie,
schauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in
                                                                  Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian
einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfin-
                                                                  Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien
den: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformatio-
                                                                  der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für
nen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion –
                                                                  ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser
zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum
                                                                  Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine
Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehr-
                                                                  Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse,
wert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22)
                                                                  sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im
Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles                Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergan-
allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Kompo-           genheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein'
nenten sind neben 'der Story an sich' an der Architek-            Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die
tur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des                  "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch
'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch             nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken
für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten               und so womöglich die ein oder andere Erschütterung
der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment mar-                abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwär-
kiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende             tig persönlich und als Gemeinschaft erleben.
noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf
                                                                  Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in
"Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu
                                                                  Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispiels-
erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale
                                                                  weise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten.
Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur
                                                                  Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert
Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit"
                                                                  zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performa-
(ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im
                                                                  tive Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf,
Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu ge-
                                                                  welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social-
stalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Ge-
                                                                  Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um
gensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter
                                                                  erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe ha-
auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit
                                                                  ben, meistens überraschend und lustig, und damit

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                         [rezens.tfm] 2020/2

grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise               Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die
regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextuali-               Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren.
sierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffäl-             Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit
lig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon              dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den
in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater,                digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behan-
das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu              deln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende-
finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert,            denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher
kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber                   sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen mi-
manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man              griert und bilden hier den kulturkritischen Versamm-
stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne             lungsort einer recht spezifischen Theaterklientel.
eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend
                                                                  Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenie-
wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung
                                                                  rungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride
auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkre-
                                                                  Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher
ten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen
                                                                  Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge,
Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84).
                                                                  weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des
Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen              anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so diver-
auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Ver-             gente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei
ständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die             entsprechend komplex im Herstellungsprozess und
Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine                müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionie-
Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg                  ren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfin-
Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines                 det, während ich analog zuschaue und davon
"Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt.                ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist
Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von                     es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf
Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale                die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie ange-
Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit              messen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die
kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen                berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen
mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele,           das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film
mit einem übergeordneten World-building-Frame-                    machen, sondern dass sie mit Personen interagieren,
work, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Auf-              die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch
gabe des Theaters könnte es sein, positive Gegen-                 wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?"
angebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach                  (S. 21)
Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzäh-
                                                                  'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungs-
lung entsprechen.
                                                                  geschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisa-
Wie aber können solche Dialog und Austausch beför-                tion. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine
dernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre                   Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater
Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter,                 könnte ein System der jahrhundertelangen Professio-
aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und               nalisierung von Theater neu in Bewegung bringen,
zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck                 weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz
eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und                bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing
Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form,              in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich
denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch               bereit für künstlerische Formate mit offenem
"Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmet-                Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von
rische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemie-             Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der
bedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch                   ja gerade im deutschen Sprachraum besondere
Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten           Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definie-

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                          [rezens.tfm] 2020/2

ren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am                   sche Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats
Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu anti-               fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser
zipieren; die Interventionen von Trollen und Bots                 Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschul-
brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein.                   det war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern
Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen             sind häufig von externen Zusatzförderungen abhän-
von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter               gig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszuden-
Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktions-                     ken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien
modelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch                  Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es
des Unvorhergesehen reagiert werden kann.                         gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen:
                                                                  'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas
Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht
                                                                  ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin
Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren.
                                                                  Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme
"Hybride Räume, digitale und interaktive Formate"
                                                                  birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen,
hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es
                                                                  wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und
immer wieder "unrealistische Annahmen über das,
                                                                  wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre,
was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61).
                                                                  Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische"
Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte
                                                                  zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung
Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches
                                                                  "Postpandemisches Theater"[2] vorgeschlagen wurde,
Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch
                                                                  die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelban-
im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche
                                                                  des zurückgeht.
Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß
Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung.               Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche
Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer              steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbio-
schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum                 graphien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige
dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei                denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurück-
etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt"                 führen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen
(ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht                 besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane
Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen.           Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart"
Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des              ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der
ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von               Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch
technischen, inhaltlichen und Projektmanagement-                  darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projekt-
Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu                 management zu machen, Herstellungsleitung für
erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten                     Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S. 45)
beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete
                                                                  Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für
Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater.
                                                                  eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist,
Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerd-
                                                                  dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz
kultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die
                                                                  vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt.
Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials,
                                                                  Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digi-
Talks und Wikis zugänglich dokumentieren.
                                                                  talität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksich-
In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des                tigt man die zeitliche Dimension – "in naher Zukunft
ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Band-                     wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird
redakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian                 rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolge-
Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter"                  rung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung
hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf              verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen
Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich            Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal
ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache techni-             auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                         [rezens.tfm] 2020/2

gestalten, damit demselben Personenkreis zugespro-                down" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform
chen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich                – weit mehr Touring Companies als feste Ensemble-
bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infra-              theater – ein gewisses Training in innovativer Raum-
struktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit,                gestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter
Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt                Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit
werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte                der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copen-
gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social              hagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden
Media oder – neudeutsch – Community Management                    "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte
nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater                   zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams
Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen               digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und
als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan                 Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands,
an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat              bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der
mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als                  jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der ge-
"Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt;            lungenen Kooperation von Theaterhäusern und
das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie                Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Ver-
Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo              hältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten
Raddatz, ins Boot.                                                Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband
                                                                  vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die
Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena
                                                                  Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden,
Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staats-
                                                                  um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen
theater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case
                                                                  Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugäng-
Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Techno-
                                                                  lich zu machen.
logien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf
die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch               Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss
ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge                     das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen
– und sogar der ökologische Fußabdruck – können                   anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispiels-
beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D-                   weise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejourna-
Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR)                 lismus und die mühsame Etablierung von Paywalls,
wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßi-               ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle
gen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue               bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu
Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große            prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär,
Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die kon-             Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter
krete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits             die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations-
der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller                und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maß-
macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir                 nahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext
müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwi-              von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren,
ckeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder                    wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen,
darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und                        die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sol-
soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionie-                 len. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte
ren." (S. 102)                                                    Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf
                                                                  Netztheaterexperimente nachgerade innovations-
Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch
                                                                  feindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet
Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit
                                                                  machen und dann aber straight die Copyright-Gepflo-
weniger privilegiert beschaffen sind als im deutsch-
                                                                  genheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93),
sprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag
                                                                  spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview
"Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus
                                                                  ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an.
"Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lock-

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https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                         [rezens.tfm] 2020/2

Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen                Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend
Best Practices leben – schließlich werden die neuen               sein: Als "Transfererleichterung für das Denken
Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens,                immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple
Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt –                    Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for
versammelt die Publikation in einem eigenen "Pro-                 Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i
duktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner                bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der
Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehr-                 analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreund-
heitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größe-             lich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für
ren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen:              "Pragmatismus" (S. 109).
Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena
                                                                  Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missver-
Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online-
                                                                  ständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut
Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem
                                                                  für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch
Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" –
                                                                  verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer
beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" –
                                                                  Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die
auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden
                                                                  Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene
müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließ-
                                                                  Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu
lich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita.
                                                                  verabschieden. Netztheater will niemandem etwas
Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammen-                wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs
spiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspiel-                abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung
schulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind             zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach
noch einmal davongekommen der Münchner Theater-                  technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktions-
akademie August Everding, die sich das Artifizielle               formaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls
des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte                   möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in
und vermittels kluger Discord-Regie die Videokäst-                seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die
chen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten               Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir
Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw.                     uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich
verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der                in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrie-
prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter             ben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf
Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp                  Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft
einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits               oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information
der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind.          ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben
                                                                  unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert.
"Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther
                                                                  Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahr-
Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit
                                                                  heiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist
seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mit-
                                                                  beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie.
tels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse,
die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind,                  Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium
mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet                  gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln
teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künst-            möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu
lerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad-                   erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Labora-
3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen                torium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegen-
in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne,              wart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie
Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden                  unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich
konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berli-              Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die
ner Volksbühne entschied sich etwa für eine Maga-                 Institution mit dem ältesten Wissen über die gesell-
zinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals                    schaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt                                                                                          [rezens.tfm] 2020/2

Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage
unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren                 Die Printausgabe von Netztheater kann kostenlos bei der
                                                                  [1]

virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen               Heinrich–Böll–Stiftung angefordert werden. Die PDF-
                                                                  Version ist als Download verfügbar:
Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirt-
                                                                  https://www.boell.de/de/netztheater.
schaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind.
Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes                   Nach der Pandemie? Vom Theater der Zukunft. Mit
                                                                  [2]

                                                                  Matthias Lilienthal, Tina Lorenz und Frank Hentschker,
Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen
                                                                  Moderation Christian Rakow, Literaturforum im Brecht-
einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen            Haus, 13.11.2020, Online-Nachschau:
wir den Umgang damit und finden heraus, welche                    https://youtu.be/wQC0qbgC8t0.
Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der
Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene
Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen
Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei
Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer be-
finden muss.

Autor/innen-Biografie
Stefanie Schmitt
Studium in Wien (tfm) und Glasgow (Scottish Literature), Abschluss über Medizin, Malerei und
Menschendarstellung im 18. Jahrhundert ("Von der Oberfläche des Leibes zum Inneren der Seele"). Derzeit
tätig als Redakteurin und Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie
Inspizientin am Burgtheater. Sie forscht und publiziert u. a. zu Dramaturgien des Digitalen, Ausdrucksformen
des Gegenwartstheaters und den Zusammenhängen von Schauspieltheorie und Neurowissenschaft. Die
Virtual Theatre Experience "Inside Lieutenant Gustl" entwickelte sie als Dramaturgin mit.

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[rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen
fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869.

https://rezenstfm.univie.ac.at

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
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