Heinrich-Böll-Stiftung/ nachtkritik.de/weltuebergang.net (Hg.): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen.
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Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 Rezension zu Heinrich-Böll-Stiftung/ nachtkritik.de/weltuebergang.net (Hg.): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Red. Sophie Diesselhorst/Christiane Hütter/Christian Rakow/Christian Römer. 2020. ISBN: 978-3-86928-222-0. Print/digital. 126 S., Preis: kostenlos. von Stefanie Schmitt Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020 die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz", einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich- Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangs- beschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theater- geschehen in die digitale Experimentierstube. Im Oktober erschien nun der Band Netztheater[1], der in 21 Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vor- Monate reflektiert – fundiert durch die Expertise der stellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Ausei- gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen nandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird Medien profitieren können: Like, share, comment, nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines retweet sind schließlich nichts anderes als digitale "Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapa- Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen, ziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitra- basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und genden verbindet die gemeinsame Sache und so Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch ver- kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theore- mehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen tischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt Theaterhäusern zu erwarten? die Publikation praktisch verwertbares und weiterent- wickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit. Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digi- Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht talen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst chronologisch, sondern führt einander ergänzende daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzie- Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie, rungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig Community, Interaktion etc. kommentierend zusam- verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das men: Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "mo- Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungswei- dular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegs- sen" (S. 16) im Theater angekommen sei. Das Theater möglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblie- wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21). ben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue The- Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das aterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeit- 'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer raum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner prägend für die Organisation einer exklusiven Auf- in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum merksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemein- Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbei- schaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun: medium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont, Die Community ist das Herzstück des Theaters, ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen, gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publi- dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass seri- kums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten elle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zu- aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie, schauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfin- Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien den: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformatio- der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für nen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehr- Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse, wert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22) sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergan- allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Kompo- genheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein' nenten sind neben 'der Story an sich' an der Architek- Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die tur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch 'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten und so womöglich die ein oder andere Erschütterung der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment mar- abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwär- kiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende tig persönlich und als Gemeinschaft erleben. noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in "Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispiels- erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale weise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten. Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit" zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performa- (ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im tive Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf, Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu ge- welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social- stalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Ge- Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um gensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe ha- auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit ben, meistens überraschend und lustig, und damit Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextuali- Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren. sierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffäl- Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit lig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater, digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behan- das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu deln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende- finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert, denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen mi- manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man griert und bilden hier den kulturkritischen Versamm- stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne lungsort einer recht spezifischen Theaterklientel. eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenie- wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung rungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkre- Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher ten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge, Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84). weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so diver- auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Ver- gente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei ständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die entsprechend komplex im Herstellungsprozess und Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionie- Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg ren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfin- Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines det, während ich analog zuschaue und davon "Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt. ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie ange- Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit messen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele, das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film mit einem übergeordneten World-building-Frame- machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, work, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Auf- die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch gabe des Theaters könnte es sein, positive Gegen- wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?" angebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach (S. 21) Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzäh- 'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungs- lung entsprechen. geschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisa- Wie aber können solche Dialog und Austausch beför- tion. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine dernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter, könnte ein System der jahrhundertelangen Professio- aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und nalisierung von Theater neu in Bewegung bringen, zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form, in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch bereit für künstlerische Formate mit offenem "Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmet- Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von rische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemie- Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der bedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch ja gerade im deutschen Sprachraum besondere Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definie- Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 ren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am sche Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu anti- fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser zipieren; die Interventionen von Trollen und Bots Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschul- brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein. det war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen sind häufig von externen Zusatzförderungen abhän- von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter gig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszuden- Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktions- ken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien modelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es des Unvorhergesehen reagiert werden kann. gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen: 'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren. Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme "Hybride Räume, digitale und interaktive Formate" birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen, hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und immer wieder "unrealistische Annahmen über das, wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre, was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61). Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische" Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches "Postpandemisches Theater"[2] vorgeschlagen wurde, Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelban- im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche des zurückgeht. Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung. Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbio- schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum graphien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurück- etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt" führen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen (ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen. Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart" Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch technischen, inhaltlichen und Projektmanagement- darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projekt- Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu management zu machen, Herstellungsleitung für erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S. 45) beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater. eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist, Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerd- dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz kultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt. Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials, Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digi- Talks und Wikis zugänglich dokumentieren. talität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksich- In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des tigt man die zeitliche Dimension – "in naher Zukunft ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Band- wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird redakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolge- Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter" rung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache techni- auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 gestalten, damit demselben Personenkreis zugespro- down" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform chen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich – weit mehr Touring Companies als feste Ensemble- bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infra- theater – ein gewisses Training in innovativer Raum- struktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit, gestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copen- gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social hagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden Media oder – neudeutsch – Community Management "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands, an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der ge- "Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt; lungenen Kooperation von Theaterhäusern und das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Ver- Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo hältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten Raddatz, ins Boot. Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden, Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staats- um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen theater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugäng- Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Techno- lich zu machen. logien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen – und sogar der ökologische Fußabdruck – können anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispiels- beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D- weise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejourna- Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR) lismus und die mühsame Etablierung von Paywalls, wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßi- ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle gen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär, Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die kon- Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter krete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations- der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maß- macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir nahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwi- von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren, ckeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen, darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sol- soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionie- len. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte ren." (S. 102) Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf Netztheaterexperimente nachgerade innovations- Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch feindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit machen und dann aber straight die Copyright-Gepflo- weniger privilegiert beschaffen sind als im deutsch- genheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93), sprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview "Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an. "Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lock- Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend Best Practices leben – schließlich werden die neuen sein: Als "Transfererleichterung für das Denken Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens, immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt – Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for versammelt die Publikation in einem eigenen "Pro- Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i duktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehr- analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreund- heitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größe- lich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für ren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen: "Pragmatismus" (S. 109). Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missver- Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online- ständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" – verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" – Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließ- Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu lich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita. verabschieden. Netztheater will niemandem etwas Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammen- wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs spiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspiel- abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung schulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach noch einmal davongekommen der Münchner Theater- technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktions- akademie August Everding, die sich das Artifizielle formaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in und vermittels kluger Discord-Regie die Videokäst- seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die chen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw. uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrie- prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter ben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind. ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert. "Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahr- Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit heiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mit- beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie. tels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse, die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künst- möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu lerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad- erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Labora- 3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen torium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegen- in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne, wart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berli- Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die ner Volksbühne entschied sich etwa für eine Maga- Institution mit dem ältesten Wissen über die gesell- zinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals schaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
Stefanie Schmitt [rezens.tfm] 2020/2 Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren Die Printausgabe von Netztheater kann kostenlos bei der [1] virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen Heinrich–Böll–Stiftung angefordert werden. Die PDF- Version ist als Download verfügbar: Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirt- https://www.boell.de/de/netztheater. schaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind. Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes Nach der Pandemie? Vom Theater der Zukunft. Mit [2] Matthias Lilienthal, Tina Lorenz und Frank Hentschker, Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen Moderation Christian Rakow, Literaturforum im Brecht- einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen Haus, 13.11.2020, Online-Nachschau: wir den Umgang damit und finden heraus, welche https://youtu.be/wQC0qbgC8t0. Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer be- finden muss. Autor/innen-Biografie Stefanie Schmitt Studium in Wien (tfm) und Glasgow (Scottish Literature), Abschluss über Medizin, Malerei und Menschendarstellung im 18. Jahrhundert ("Von der Oberfläche des Leibes zum Inneren der Seele"). Derzeit tätig als Redakteurin und Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Inspizientin am Burgtheater. Sie forscht und publiziert u. a. zu Dramaturgien des Digitalen, Ausdrucksformen des Gegenwartstheaters und den Zusammenhängen von Schauspieltheorie und Neurowissenschaft. Die Virtual Theatre Experience "Inside Lieutenant Gustl" entwickelte sie als Dramaturgin mit. Dieser Rezensionstext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten. [rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869. https://rezenstfm.univie.ac.at Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2020/2 | Veröffentlichungsdatum: 2020-11-18 https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2020-2 | doi:10.25365/rezens-2020-2-03
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