"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
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Markus Götz: »Hier ist Krieg!« © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Bundeswehr im Einsatz Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Band 4 © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Markus Götz »Hier ist Krieg!« Afghanistan-Tagebuch 2010 Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegeben von Christian Hartmann Vandenhoeck & Ruprecht © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninkli ke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston, MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninkli ke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Ni hoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Umschlagabbildung: Hauptfeldwebel Markus Götz auf dem Turm des Polizei- hauptquartiers Chahar Dara, 24.3.2010. (M. Götz) Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0407-01) Koordination, Lektorat, Bildrechte: Michael Thomae Korrektorat: Stefan Kahlau, Potsdam Satz: Carola Klinke Grafiken: Bernd Nogli Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2702-4890 ISBN 978-3-647-31136-4 © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Inhalt 7 Vorwort Markus Götz 9 Noch ein Vorwort – oder: Warum ich dieses Tagebuch geschrieben habe Christian Hartmann 13 Warum Afghanistan? Eine Einleitung 14 Strategie. Warum Afghanistan? 31 Politik. Die Bundesrepublik als Bundesgenosse 46 Raum und Zeit. Zum deutschen Einsatz in Afghanistan 2002‑2009 73 Organisation. Zum 22. Einsatzkontingent ISAF 85 Einsatz. Das Tagebuch von Markus Götz als historische Quelle 103 Autor. Zur Biografie von Markus Götz 109 Quelle. Genese, Charakter, Bedeutung 113 Publikation. Editionsrichtlinien Markus Götz 119 Afghanistan-Tagebuch 2010 120 März 180 April 230 Mai 285 Juni 348 Juli Christian Hartmann 361 Militärische Kräfte PRT Kunduz 366 Der Luftangriff von Kunduz, 3./4. September 2009 371 Das Karfreitagsgefecht, 2. April 2010 © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 6 Inhalt Christian Hartmann 377 Was bleibt. Eine Bilanz Anhang 395 Militärische Stäbe und Führungsgrundgebiete 396 Ausrüstung im Einsatz 397 Waffen und Waffensysteme 435 Biogramme 443 Abkürzungen 448 Quellen und Literatur 479 Danksagung 482 Personenregister 485 Ortsregister Verzeichnis der Karten, Grafiken und Übersichten Afghanistan, International Security Assistance Force, 2010 [Vorsatz vorne] 26 Ethnien 2003 (vereinfacht) 30 Fremde Interessen in Afghanistan 37 Fünf-Punkte-Plan (Stufenplan) des Petersberger Abkommens 2001 56 ISAF-Ausdehnung von Januar 2004 bis Oktober 2006 65 Gefährdungsstufen in Afghanistan Ende 2008 67 Vorkommnisse in den Provinzen Kunduz und Takhar 2007 bis 2012 73 Truppenstärke der deutschen ISAF-Kontingente 2004 bis 2013 74 Gesamttruppenstärke der ISAF-Kontingente 2007 bis 2014 81 22. Kontingent ISAF, Dienstgradgruppen 82 22. Kontingent ISAF, Altersgruppen 363 Operationsgebiet des 22./23. Kontingents ISAF 364 PRT Kunduz, Juni 2010 367 Von der Bundeswehr in Afghanistan angeforderte Luftunterstützung 2006 bis 2010 373 Einsatzraum westlich von Kunduz 374 Gefecht bei Isa Khel am 2. April 2010 384 Opferzahlen in Afghanistan Oktober 2001 bis November 2019 385 Getötete afghanische Zivilisten 2009 bis 2018 387 Militärische Verluste der westlichen Koalition in Afghanistan Oktober 2001 bis Mai 2020 395 Militärische Stäbe und Führungsgrundgebiete 396 Ausrüstung im Einsatz Afghanistan, AOR Regional Command North, 2010 [Vorsatz hinten] © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Vorwort Memoiren, persönliche Aufzeichnungen Dieser Fülle an Einsatzorten, Eindrücken, sowie mehr oder weniger sorgsam edier- Erfahrungen und Ergebnissen lässt sich te Briefe oder Tagebücher deutscher unmöglich mit einigen wenigen Schriften Soldatinnen und Soldaten über ihre Teil Rechnung tragen. »Den« Auslandseinsatz nahme an Auslandseinsätzen der Bun der Bundeswehr gibt es nicht, und eben- deswehr gibt es inzwischen mehr, als man so wenig gibt es »den« Bericht oder zunächst vermuten würde. Entsprechend »den« Autor, der alles und alle repräsen- vielfältig sind die Eindrücke, die sich tiert und der quasi für alle spricht – oder aus diesen Quellen ergeben: Vielfältig schreibt. Vor allem aber erlauben Bücher sind die Einsatzgebiete, vielfältig sind wie dieses einen noch immer seltenen Rang und Funktion dieser Zeitzeugen, unmittelbaren Blick in das Geschehen die vom Mannschaftssoldaten bis zum in den Einsatzgebieten und auf die Auf General reichen, und vielfältig sind da- gaben der Bundeswehr jenseits der durch die Perspektiven. Das kann die Medienberichterstattung. Sicht eines Fallschirmjägers sein, eines Ganz besonders gilt das für den Einsatz Kompaniechefs, eines Sanitäters oder in Afghanistan – nicht nur wegen seiner die eines hohen Stabsoffiziers. Auch das Bedeutung und Größe oder wegen des Urteil dieser Zeitzeugen über Sinn und hohen Stellenwerts, den das Land inzwi- Bedeutung ihrer Zeit im Einsatz lässt sich schen für die Geschichte der Bundeswehr kaum auf einen Nenner bringen. Die ein- besitzt. Zum Zeitpunkt, als dieses Buch schlägige Literatur wächst jedenfalls, wie für den Druck vorbereitet wurde, war die könnte es auch anders sein. Bundeswehr dabei, ihren Afghanistan- Vor dem Hintergrund all der Publika Einsatz zu beenden. Die Frage nach seiner tionen stellt sich zwangsläufig die Frage, Geschichte ist daher von einer denkbar ob Wissenschaft und Öffentlichkeit tat- großen Aktualität. sächlich Bedarf an einem weiteren »Ein Es gibt nur wenige Aufzeichnungen, satztagebuch« haben. Ein Zuviel kann es die dem Kern des militärischen Ge jedoch nicht geben. Zu unterschiedlich schehens in Afghanistan so nahekommen sind die Einsätze der Bundeswehr. Selbst wie die Aufzeichnungen von Markus in einem einzigen Einsatzgebiet können Götz. Sie vermitteln ein realistisches Bild sich politische Konstellationen, militäri- von den schwierigen und gefährlichen sche Ziele, Verfahren, Ressourcen oder Bedingungen, unter denen deutsche die Sicherheitslage ständig ändern. Hinzu Soldaten im Ausland jene Aufträge erfül- kommt: Die Ergebnisse der Einsätze sind len, welche die Politik ihnen erteilt. Doch am Ende alles andere als einheitlich. auch für Wissenschaft und Öffentlichkeit © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 8 Vorwort ist das Einsatztagebuch von Markus Götz gen konnte, seinen Text dem Zentrum eine historische Quelle ersten Ranges. Im für Militärgeschichte und Sozialwissen Unterschied zu vielen anderen Berichten, schaften der Bundeswehr anzuvertrauen die in der Regel erst mit einem gewis- und ihn dort veröffentlichen zu lassen. sen zeitlichen Abstand, außerhalb des Jochen Maurer hat sich lange mit dieser Einsatzlands im Stil eines Essays oder Quelle beschäftigt und viele Vorarbeiten von Memoiren verfasst wurden, schrieb geleistet. Schließlich hat Christian Hart Markus Götz über seine Erlebnisse und mann dieses Projekt im Juni 2019 über Erfahrungen täglich, kontinuierlich und nommen, dafür ein völlig neues Editions oft nur in einem Abstand von wenigen konzept entwickelt und es bis Frühjahr Stunden. Auf diese Weise entstand ein 2021 fertiggestellt. Ganz besonders aber Tagebuch von hoher Authentizität, das danke ich Markus Götz für sein Ver den Leser direkt in das Geschehen hin- trauen, sein Durchhaltevermögen, sein einversetzt. Es gewährt einen unmittel- historisches und sein dokumentarisches baren Einblick in den Einsatz mit all sei- Interesse, vor allem aber für seinen Dienst nen Herausforderungen, Entbehrungen in Afghanistan. und Belastungen. Dass zudem gerade Dem Buch wünsche ich zahlreiche Le sein Kontingent, das 22. Kontingent ISAF, ser und eine positive Aufnahme bei allen, sozialwissenschaftlich sehr genau unter- die die jüngste Entwicklung der deut- sucht wurde, ist ein weiterer Glücksfall.1 schen Streitkräfte und ihr unverzichtbares Auch das eröffnet die Möglichkeit, die wie schwieriges Engagement im Ausland »Lebenswelt Einsatz« einem großen Pu mit Anteilnahme begleiten und Interesse blikum aus interessierter Öffentlichkeit, an den dort eingesetzten Soldatinnen und Wissenschaft und nicht zuletzt auch der Soldaten haben. Bundeswehr zugänglich zu machen. Für das Zustandekommen dieses Pro Dr. Sven Lange jekts ist vielen zu danken – angefan- Oberst i.G. und Kommandeur des gen mit Bernhard Chiari, der bereits im Zentrums für Militärgeschichte und April 2013 Markus Götz davon überzeu- Sozialwissenschaften der Bundeswehr 1 Vgl. die 2020 vom ZMSBw herausgegebene Studie von Seiffert/Heß, Leben nach Afghanistan. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Markus Götz Noch ein Vorwort – oder: Warum ich dieses Buch geschrieben habe Nach meinem ersten Einsatz in Afgha taktische Inhalte für mich von Bedeutung. nistan im Jahr 2008 zeigte es sich, wie Trotzdem ist es unmöglich, die genau- schnell viele Erinnerungen nach meiner en Abläufe und Fakten exakt mit Orten, Rückkehr zu verblassen begannen. Übrig Zeiten, Koordinaten im Kopf zu behalten blieb nur Weniges: das Gute und das für eine spätere Diskussion, Auswertung Schlechte, die besonders positiven oder und Verwendung – etwa im Rahmen ei- die besonders negativen Geschichten, ner Ausbildung. auch das Dramatische oder Witzige, das, Im März 2010 begann ich daher bereits was eben anders war als unser Alltag. Es während des Fluges in meinen Einsatz zu waren Anekdoten, die man sich dann in schreiben und nahm mir vor, dies bis zum geselliger Runde wieder und wieder er- Ende meiner Zeit in Afghanistan konse- zählte; sie standen zunehmend für die ge- quent fortzusetzen. Ich gewöhnte mir an, samte Zeit in Afghanistan. Das Schlechte jeden Abend die Ereignisse des Tages, und Schwierige aber verdrängte und ver- manchmal auch meine Gefühle und schwieg ich. Bei mir war das zumindest Gedanken niederzuschreiben. Anfangs so. Vieles konnte ich mir ins Gedächtnis hatte ich nur ein kleines Buch in meiner rufen, wenn ich die vielen Bilder betrach- Beintasche. Ich nahm an, es würde für tete, die ich aus meinem Einsatz mitge- vier Monate reichen. Bald zeigte sich, dass bracht hatte. Jedoch konnten sie nur im es ereignisreiche vier Monate werden Ansatz meine damaligen Gefühle, meine würden. Als das kleine Buch vollgeschrie- Hoffnungen und Wünsche, meine Ängste ben war, musste ich auf kleine Oktavhefte und Sorgen wiederbeleben. Mit zuneh- zurückgreifen. Zum Schluss habe ich mendem zeitlichem Abstand wurde es Din-A4-Seiten aus einem Heft heraus- immer schwerer sich vorzustellen, wie gerissen und auf das passende Format hart und fordernd dieser Einsatz gewe- zusammengefaltet. sen sein soll. Das Land, die Menschen, Gerade an Tagen, an denen uns die die Gerüche, der Staub, die Hitze, der Ereignisse förmlich überrollten, machte Dreck – all das verschwamm im Laufe ich oft mehrmals Eintragungen, nicht sel- der Zeit. So entschloss ich mich, beim ten noch auf meinem Fahrzeug oder in ei- nächsten Einsatz diese Eindrücke genau- ner Gefechtspause. So hielt ich beispiels- er festzuhalten, in Form eines Tagebuchs. weise die ersten Stunden des Gefechts Ein weiteres Motiv dafür war: Als militä- am Karfreitag 2010 direkt fest, da ich rischer Führer und Ausbilder sind auch in der Anfangsphase die dramatischen © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 10 Noch ein Vorwort Geschehnisse nur über Funk mitverfolg- das leisten. Die Ereignisse erscheinen te, ohne eingreifen zu können. Oft schrieb dann in einem ganz anderen Licht. ich noch, total übermüdet, nach einer Auch deshalb ist dieses Buch zu einem Patrouille oder nach einer Schicht auf dem sehr persönlichen Projekt geworden. Es Turm im Police Head Quarter (PHQ), auf ermöglichte mir auch eine psychologi- meinem Feldbett bei Rotlicht im Schein sche Verarbeitung meines viermonati- meiner Stirnlampe einige Zeilen. Es gab gen Einsatzes, die wohl außergewöhn- nur wenige Tage, meist die ereignislose- lichste und erlebnisreichste Zeit meines ren im Feldlager, an denen ich mir erst bisherigen Lebens. Ich habe mit meinen später Notizen machte. Nachträglich stell- Kameraden viel gesehen und durch- te ich immer wieder fest, dass bereits an gestanden. In den 122 Tagen meines meiner Schrift, an meiner Wortwahl sowie Einsatzes in Afghanistan waren wir an am Satzbau deutlich zu erkennen war, ob 57 Tagen außerhalb des Feldlagers, davon ich unter extremer Anspannung gestan- an 35 Tagen durchgehend Tag und Nacht. den hatte, verärgert oder einfach nur völ- Auch an den restlichen 65 Tagen waren lig übermüdet gewesen war. Geschrieben unsere Freizeit und unsere Ruhezeit be- habe ich in der Sprache eines Soldaten grenzt. Fahrzeuge, Waffen und Material – mit all unseren Abkürzungen, Rede mussten wieder für den nächsten Auftrag wendungen und Begriffen. Vorschriften vorbereitet werden. Die Einteilung meines konform ist das nicht, es ist die Sprache, Zugs als Immediate Reaction Force (IRF) die wir sprechen. an insgesamt 19 Tagen war eine zusätzli- Die von mir geschilderten Ereignisse che Belastung. Als IRF waren wir in stän- habe ich alle selbst erlebt. Informationen, diger Alarmbereitschaft; ein Entspannen die ich unvollständig bekommen habe war, gerade für mich als militärischem oder deren Vollständigkeit oder Quelle Führer, eigentlich nie wirklich mög- mir zweifelhaft schienen, sind nur unter lich. Zur größten Belastung wurden die Vorbehalt aufgeführt. Mein Tagebuch do- ständigen TICs (Troops in Contact), die kumentiert meine damaligen Gedanken Gefechte, Scharmützel und Hinterhalte. und Gefühle. Über manches denke ich So musste sich unsere Kompanie in drei- heute, etwa zehn Jahre danach und mit zehn Auseinandersetzungen mit dem zunehmender Distanz zu den Ereignissen, Gegner behaupten; weitere 26 Gefechte etwas anders. Doch bin ich der Meinung, spielten sich in unserer Umgebung ab. dass kritische Überlegungen, Vorbehalte Belastend war auch die ständige und der Hinweis auf damalige Missstände Bedrohung durch Sprengfallen (Impro durchaus begründet waren. Grundsätzlich vised Explosive Devices, IEDs). Während stehe ich bis heute zu dem, was ich da- meines Einsatzes kam es im Bereich mals, 2010, aufgeschrieben habe. Daran Kunduz zu mindestens neun erfolgrei- ändert auch die Tatsache nichts, dass ich chen IED-Anschlägen gegen ISAF-Trup die ein oder andere Situation heute et- pen. Nur viermal erlebte ich, dass IEDs was weniger kritisch sehe. Das liegt in entschärft werden konnten. Selbst im der Natur der Sache. Weit entfernt vom Feldlager waren wir nach der Rückkehr Einsatzgebiet und seinen Gefahren, ent- von draußen nicht sicher. Zwar kam bei spannt, ohne Bedrohung und ohne wo- den zehn Raketenangriffen während mei- chenlange Anspannung kann man sich nes Einsatzes niemand zu Schaden. Jedoch © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Noch ein Vorwort 11 empfanden wir auch sie als Angriff auf schon längst in eine Mission verwandelt Leib und Leben. hatte, in welcher der Friede erst erzwun- Außerhalb des Lagers aber muss- gen werden musste. Um es noch deutli- ten wir schwere Verluste hinnehmen. In cher zu sagen: Phasenweise handelte es den vier Monaten erreichten uns Mel sich um einen Guerillakrieg! Aus unserer dungen von mindestens 15 gefallenen Sicht hatte die Verharmlosung unseres und 20 verwundeten Soldaten der Afghan Einsatzes zur Folge, dass uns aus politi- National Army oder der ISAF. Vermut schen Gründen die notwendigen Waffen lich waren die tatsächlichen Verluste im wie Schützen- und Kampfpanzer sowie Verantwortungsbereich des Provincial Mörser und Artillerie lange Zeit verwehrt Reconstruction Team noch höher. Und blieben. höher waren auch die damaligen Verluste Wir, die wir fast täglich außerhalb des der ISAF-Truppen im Süden und Osten relativ sicheren Feldlagers unterwegs wa- Afghanistans. Am schwersten wiegen ren, hatten mitunter das Gefühl, dass uns für uns jedoch unsere sieben gefallenen als Soldaten die Hände gebunden waren. deutschen Kameraden; drei kamen aus Wir wurden in den Kampf gegen einen unserer Kompanie. Von den 28 deut- Feind geschickt, den wir gewöhnlich nicht schen Verwundeten waren zwei aus mei- sehen konnten, der uns immer wieder an- nem Zug. Diese Zahlen konnte ich mit- griff und der uns Stück für Stück Schaden hilfe meines Tagebuchs rekonstruieren. zufügte, wann und wo es ihm beliebte. Über die Zahl der zivilen Opfer oder die Wir konnten die eigenen Möglichkeiten Verluste des Gegners kann ich nur spe- nicht voll ausnutzen, um diesen Gegner kulieren. Doch gab es für uns noch mehr zu schlagen. Dabei hätten wir die ent- Herausforderungen – die Natur, die frem- sprechenden militärischen Fähigkeiten de Kultur, das Klima und unser Leben un- besessen und auch die Mittel, zumindest ter einfachsten Bedingungen, fern von all in Deutschland. Wir waren uns 2010 be- den gewohnten Annehmlichkeiten. Hinzu wusst, dass unser »robustes Vorgehen«, traten persönliche Ängste und Sorgen, das uns tagtäglich der Feind aufzwang, auch um die anvertrauten Kameraden, die Situation vor Ort nicht immer verbes- das Leben auf engstem Raum mit stark serte – besonders dann nicht, wenn Un eingeschränkter Privatsphäre und die beteiligte getötet oder verwundet wur- zwischenmenschlichen Spannungen wäh- den und wir damit rechnen mussten, rend der langen Monate. Wir litten unter dass angesichts des Paschtunwali, des der zeitlichen und räumlichen Trennung Rechts- und Ehrenkodexes der Pasch von unseren Familien und unter deren tunen, die Gewalt weitergehen würde. Ängsten um uns. Und schließlich stellte Für uns war es frustrierend, dass den sich immer wieder die Frage nach dem im Raum Kunduz beteiligten deutschen Sinn unseres Auftrags. Organisationen gemeinsame, nachhalti- Obwohl wir mit der ständigen Angst ge und vor allem sinnvolle Projekte nicht vor Tod und Verwundung leben mussten, immer gelangen. Ich denke etwa an die galt der ISAF-Einsatz in Deutschland wei- Versuche, die Situation in Chahar Dara zu terhin als friedenserhaltende Mission. Wir verbessern und damit die Einwohner dem hingegen erfuhren, dass unser Einsatz, Einfluss der Taliban zu entziehen. Manche zumindest im Raum um Kunduz, sich deutschen Politiker mussten – teilweise © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 12 Noch ein Vorwort sichtlich zerknirscht – einräumen, in der Erfahrungen. Viele Kameraden haben Provinz Kunduz sei lange aneinander vor- damals in Afghanistan Ähnliches erlebt, beigearbeitet worden. 2010 traten an die manche auch Schlimmeres. Stelle der viel beschworenen Schul- und Dieses Tagebuch ist nicht mehr als eine Brunnenbauprojekte phasenweise mili- Momentaufnahme aus der »Graswur tärische Counterinsurgency-Operationen zelperspektive« eines Hauptfeldwebels, mit toten Zivilisten und gefallenen ISAF- eines Gruppenführers in einem Panzer Soldaten. Diese Realität wollte niemand grenadierzug. Ich bin heute froh, damit wahrhaben, bis sie uns dann einholte. meinen Einsatz nachvollziehen und ins Für uns, die wir diese Widersprüche Gedächtnis rufen zu können. Dabei war es buchstäblich am eigenen Leib zu spüren für mich nicht leicht, regelmäßig zu schrei- bekamen, war das deprimierend. Viele ben. Manchmal hatte ich kaum noch Lust von uns waren Anfang 2008 schon ein- und Kraft, alles so akribisch wie möglich mal in Kunduz gewesen; damals sind festzuhalten. Dennoch hat sich für mich wir noch mit ungepanzerten »Wölfen« diese Mühe gelohnt. Viele haben sich für in Chahar Dara Patrouille gefahren, um meine Gedanken und Aufzeichnungen die Sicherheit gegen die wiedererstar interessiert. Auch dies war für mich ein kenden Taliban zu gewährleisten. 2010 Ansporn, meinen Text in einer möglichst haben dann Teile der afghanischen Bevöl ansprechenden Form zu publizieren. Für kerung ebenfalls, oft aus Not oder unter mich selbst war die Arbeit am und mit Zwang, gegen uns gekämpft. Es war uns meinem Manuskript eine große Freude. nicht mehr möglich, uns ohne Inkauf Ich hoffe, dass meine Leser dies auch so nahme größerer Verluste mit unseren sehen. Panzern im Distrikt Chahar Dara zu be- wegen. Auch das dokumentiert mein Tagebuch. Dennoch ist es nur ein kleiner Markus Götz Ausschnitt der damaligen Ereignisse und Hauptfeldwebel, 5./Panzerbataillon 104 © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Christian Hartmann Warum Afghanistan? Eine Einleitung »If you didn‘t go through it, there are no words that can adequately describe it; if you were there, then no words are necessary.« John H. McGoran, Matrose auf der USS California im Rückblick auf seine Erlebnisse am 7.12.1941* © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 14Einleitung Strategie. lautete das Urteil von Friedrich Engels, Warum Afghanistan? den man aufgrund seiner militärischen Expertise den »General« nannte.2 Das war Warum kommt man aus der Oberpfalz 1857. Warum aber war eine Armee wie die nach Nordafghanistan, warum kommt Bundeswehr 150 Jahre später dann ausge- man von Oberviechtach nach Kunduz? rechnet dort im Einsatz? Warum musste Der Weg ist weit – in der Luft sind es sie gerade in diesem Land kämpfen, im genau 4678, zu Lande sogar 6004 Kilo Grunde genommen zum ersten Mal seit meter. Doch das ist bloße Geografie. Die ihrem Bestehen? Distanz zwischen diesen beiden Orten Erste Antworten finden sich schnell, an- und Regionen, der Abstand zwischen all gefangen mit der Chiffre 9/11, der Attacke dem, was eine Gesellschaft und deren des islamistischen Terrornetzwerks al- Kultur, Politik und Wirtschaft eigentlich Qaida auf die USA. Die Angriffe auf New ausmacht, ist ungleich größer. Warum York und Washington am Morgen des Afghanistan? Wie kam die Bundeswehr 11. September 2001 kamen buchstäblich gerade dorthin? aus heiterem Himmel;3 innerhalb weni- Im Falle von Markus Götz könnte ger Stunden starben fast 3000 Zivilisten, man es sich leicht machen und auf das beileibe nicht nur Amerikaner.4 Solche Prinzip von Befehl und Gehorsam ver- Dimensionen lassen die vielen anderen weisen. Aber das erklärt nichts. Mit ei- Massaker und Verbrechen dieser selbst- ner solch simplen Antwort stellt sich ernannten Gotteskrieger zuweilen in den die Ausgangsfrage nur erneut und noch Hintergrund treten. Aber das wäre falsch schärfer: Warum schickt ausgerechnet und ungerecht. Über hundert größere Deutschland, mittlerweile eine der zi- Terroranschläge hat man seit 1991 regis- vilsten Nationen der Welt, seine Soldaten triert, viele in muslimischen Ländern, die und Soldatinnen in ein Land, das von al- zumindest im Namen von al-Qaida be- ters her als »Graveyard of Empires« gilt?1 gangen worden sind – sei es von al-Qaida Afghanistan ist dafür bekannt, dass man selbst oder von Gruppen, Kleinstzellen, es durchqueren, vielleicht auch besetzen, Einzeltätern, die mit al-Qaida kooperier- aber nie lange halten kann. »Ein tapfe- ten oder sich einfach nur auf sie berie- res, zähes und freiheitsliebendes Volk«, fen.5 Andere Anschläge, teilweise aber- * Zitat auf dem Zwischenblatt nach Zuckoff, Fall and Rise, S. 7 1 So der Titel des Buches von Jones, In the Graveyard of Empires. 2 In einem Aufsatz, geschrieben »um den 10. August 1857«, in: Marx/Engels, Werke, Bd 14, S. 73‑82, Zitat S. 74. Zur Entstehungsgeschichte ebd., S. VI f., XIII. Vgl. Pöcher, »General« Friedrich Engels; Münkler, Der gesellschaftliche Fortschritt. 3 An Hinweisen auf den geplanten Angriff fehlte es im Vorfeld nicht. Ein Kernproblem waren die Differenzen zwischen FBI und CIA, die dafür sorgten, dass aus diesen Hinweisen keine Kon sequenzen gezogen wurden. Vgl. Wright, The Looming Tower. 4 Vgl. The 9/11 Commission Report; Schnibben/Aust, 11. September; Zuckoff, Fall and Rise. The Story of 9/11 (dt. Übers.: 9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb). Den Anschlägen fielen 2977 Menschen zum Opfer. 372 von ihnen (12 %) waren keine Bürger der USA, sondern stamm- ten aus 77 verschiedenen Ländern. Vgl. Zuckoff, 9/11, S. 561‑601; ; . 5 Noch wirkungsvoller als die Organisation dieses Terrornetzwerks waren die Ideen, die es verbrei- tete. Thomas J. Moser hat zu Recht hervorgehoben, al-Qaida sei »eine Art Markenname, der nach © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Strategie 15 witzige Unterfangen, konnten noch in religiöses Sendungsbewusstsein, Men letzter Minute vereitelt werden.6 Aber schenverachtung, Kapital, Zynismus, Pro das blieben Ausnahmen. Viel zu oft fand fessionalität, Opferbereitschaft, Intelligenz der Tod seine Ziele. Dabei war 9/11 kein und gleichzeitig eine stupende intellektu- Endpunkt, kein »Tag, an dem die Welt ste- elle Reduktion im Weltanschaulichen. hen blieb«7 – im Gegenteil: Dieser einen Ihr Refugium besaß al-Qaida seit 1996 Attacke folgte eine wahre Kaskade wei- im »Islamischen Emirat Afghanistan«, terer Anschläge, so als ginge es darum, zumindest bis zur Zäsur von 9/11. Hier, im die alte These vom Terrorismus als einer Herrschaftsbereich der Taliban, hatten die »Kommunikationsstrategie« erneut zu be- Terroristen »ein sicheres Rückzugsgebiet« weisen.8 Schon das illustriert, wie inspirie- gefunden, »wo alles Notwendige zur Ver rend und gefährlich gerade diese Spielart fügung stand: Trainingslager, finanzielle des islamistischen Terrorismus nach wie Unterstützung, Kommunikationsmittel vor ist, eines »jihadistischen Salafismus«,9 und Ermutigung«.10 Hier hatte man den bei dem viele, auch gegensätzliche Aspek »2500 bis 3000 Kämpfern« dieses islamis te eine gut funktionierende, buchstäb- tischen Terrornetzwerks, »die aus min- lich explosive Verbindung miteinander destens dreizehn arabischen Ländern eingehen: Fanatismus, Weltläufigkeit, stammten«, neben anderen islamistischen außen Einheitlichkeit suggeriert und eine gemeinsame ›Vermarktung‹ der ğihādistischen Ideologie und des Terrors« ermöglicht habe. Allerdings habe al-Qaida »einen großen Mobilisierungseffekt auf potenzielle gewaltbereite Islamisten auf der ganzen Welt« gehabt. Vgl. Moser, Politik auf dem Pfad Gottes, Zitat S. 140. Unter dem Stichwort »al-Qaida« finden sich in der »Global Terrorism Database« bis Ende 2018 insgesamt 2337 Anschläge, wobei hier auch sehr entfernte Gruppen wie AQIM (al-Qaida in Maghreb) oder AQAP (al-Qaida in the Arabian Peninsula) zu al-Qaida ge- rechnet werden. Dennoch vermittelt diese Stichprobe – der Höhepunkt liegt erst 2012 mit fast 540 Anschlägen, die allein in diesem Jahr im Namen von al-Qaida begangen wurden – eine Vorstellung von der Wirkung dieses Netzwerks: . Eine detaillierte Liste zudem bei . Ferner: Schröm, Al Qaida, S. 206‑209. 6 Verwiesen sei auf »Projekte« wie den »Bojinka Plot«, eine von Ramzi Ahmed Yousef und Khalid Scheich Mohammed für den Januar 1995 geplante Attentatsserie: 12 US-Verkehrsflugzeuge mit ca. 4000 Passagieren sollten über dem Pazifischen Ozean in die Luft gesprengt werden; diesen Anschlägen sollte die Ermordung von Papst Johannes Paul II. und/oder von US-Präsident Bill Clinton auf den Philippinen folgen. Nach zwei »erfolgreichen« Probesprengungen, u.a. in einem Verkehrsflugzeug, konnte der Attentäter nur deshalb verhaftet werden, weil es in seiner Wohnung in Manila gebrannt hatte. Ein anderes aberwitziges Vorhaben war die versuchte Kaperung der pakistanischen Fregatte PNS »Zulfiqar« durch Angehörige von AQIS (al-Qaida in the Indian Subcontinent), offenbar um damit die U.S Navy zu bekämpfen. Danach stellte sich heraus, dass AQIS durch einige Angehörige der pakistanischen Marine, darunter auch höhere Offiziere, unter- stützt worden war. Vgl. U.S. Conflicts in the 21st Century: Afghanistan War, vol. 1, S. 171 f.; Said, Geschichte al-Qaidas, S. 70 f., 137 f. 7 So der Untertitel der großartigen Darstellung von Zuckoff, 9/11. 8 Zit. bei Münkler, Die Neuen Kriege, S. 177. 9 Seidensticker, Islamismus, S. 91; Moser, Politik auf dem Pfad Gottes; generell: Wichmann, Al-Qaida und der globale Djihad; Schröm, Al Qaida; Riedel, The Search for Al Qaeda. 10 Bin Laden und seine Entourage waren am 18.5.1996 auf dem Flughafen in Jalalabad gelandet. Bereits im Februar 1999 hatten die USA die Auslieferung bin Ladens gefordert. Dies hatten die Taliban abgelehnt, aber »Beschränkungen« in Aussicht gestellt. Bin Laden war dann »in den Untergrund« gegangen, während die Taliban behauptet hatten, »nichts über seinen Verbleib zu wissen«. Vgl. Rashid, Taliban, S. 329, 409, dort auch die folgenden Zitate. Ferner Said, Geschichte al-Qaidas, S. 57-64; Stenersen, Al-Qaida in Afghanistan. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 16Einleitung In den Trümmern des zerstörten World Trade Center in New York, 11.9.2001. picture-alliance/dpa/epa afp Doug Kanter Fotos von Vermissten an einer Hauswand in der Nähe des zerstörten World Trade Center, 18.9.2001. Bei den Anschlägen eine Woche zuvor kamen rund 3000 Menschen ums Leben. picture alliance/dpa/Tannen Maury © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Strategie 17 Gruppen großzügiges Gastrecht einge nur annähernd als solche hätte bezeich- räumt. Und hier, »fernab jeder Zivilisa nen können.13 Das Ultimatum der US- tion«,11 hatte al-Qaida den Angriff auf Regierung ließ man verstreichen. Dabei die USA über Jahre hinweg geplant und waren die amerikanischen Forderungen vorbereitet – minutiös, ungestört und maßvoll und angemessen. »More than ohne jede Rücksicht auf die Gesetze und two weeks ago, I gave Taliban leaders a Regeln des Krieges. Das geschah nicht series of clear and specific demands: Close nur im Verborgenen. Einen Angriff hat- terrorist training camps; hand over lead- te Osama bin Laden schon früh ange- ers of the al Qaeda network; and return all kündigt. Von Afghanistan aus hatte er foreign nationals, including American cit- sich als Gründer, Inspirator und unbe- izens, unjustly detained in your country. strittenes Zentrum dieses terroristischen None of these demands were met. And Netzwerks in zwei flammenden Appellen now the Taliban will pay a price«,14 lau- »an alle Muslime der ganzen Welt« ge- tete die öffentliche Begründung des ame- wandt – am 23. August 1996 in Form ei- rikanischen Präsidenten George W. Bush, ner zornigen »Kriegserklärung gegen die als erst einen knappen Monat später, am US-Soldaten« und am 23. Februar 1998 7. Oktober 2001, amerikanische und briti- mit einer Gründungserklärung für eine sche Streitkräfte die Operation Enduring »Internationale Islamische Front für den Freedom (OEF) in Afghanistan offiziell15 Dschihad gegen Juden und Kreuzritter«:12 eröffneten. »Die Amerikaner und ihre Verbündeten Diese Operation hatte, das dürfte deut- zu töten, ob Zivilisten oder Soldaten, ist lich geworden sein, ihre unmittelbare die Pflicht jedes Muslims«, hieß es im Vorgeschichte, ihren Anlass. Hier han- zweiten Appell. Drastischer konnte man delte es sich nicht um einen leichtfertig es kaum formulieren. vom Zaun gebrochenen Konflikt, um die Aber selbst nach 9/11 war die afghani- Überreaktion eines beleidigten Hege sche Regierung um Mullah Omar nicht mons. Und erst recht handelte es sich nicht bereit, mit einer Weltmacht wie den USA um einen Angriffskrieg zur Ausweitung Verhandlungen zu führen, die man auch der amerikanischen Macht. Welches Inte 11 Said, Geschichte al-Qaidas, S. 59. 12 Vgl. Die Reden des Osama bin Laden, S. 58‑71, 72‑78; das Zitat auf S. 76. 13 Zuweilen wird suggeriert, die Taliban seien nach dem 11.9.2001 verhandlungsbereit gewesen – eine Behauptung ohne jede Substanz, erst recht vor dem Hintergrund der Radikalisierung ihrer Politik nach dem Tod des Vorsitzenden der Taliban-Schura, Mullah Mohammed Rabbani, am 16.4.2001. Vgl. Rashid, Taliban, S. 333‑335. 14 Address to the Nation on Operations in Afghanistan vom 7.10.2001, in: Selected Speeches of Presi dent George W. Bush, S. 75‑77, Zitat S. 75; . Generell: Teitler, US Policy towards Afghanistan, S. 85‑124. 15 Bereits am 26.9.2001 war ein erstes Aufklärungsteam der CIA in Afghanistan gelandet. In der Nacht vom 6.10. auf den 7.10.2001 begann mit der Operation Crescent Wind der amerikanische Luftkrieg gegen die Training Camps und die Luftabwehrstellungen der Taliban. Am 10.10.2001 formierte sich die aus U.S. Special Forces bestehende Task Force Dagger, die neun Tage später mit der »Infiltration« von Afghanistan begann. Insgesamt waren damals 110 CIA-Agenten und 316 Angehörige der Special Forces in Afghanistan eingesetzt. Vgl. Neville, Special Forces, S. 22‑25; Lamb/Tucker, United States Special Operations Forces, S. 98; Bierling, Geschichte des Irakkriegs, S. 35. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 18Einleitung resse hätten denn ausgerechnet die USA hinterlassen. Kolonie war Afghanistan nie an der Okkupation oder auch nur an der wirklich gewesen. Stattdessen hatte sich »Penetration« eines ihr fremden, weit hier eine eigene, ursprünglichere Welt er- entfernten und noch dazu völlig zerstör- halten – ein patriarchalisches wie parti ten Landes haben sollen? Die Operation kulares Klientelsystem mit zahllosen ri Enduring Freedom war zunächst ein Akt valisierenden Stämmen, Clans und Groß der Selbstverteidigung, völkerrechtlich familien. »Nur ihr unbezwinglicher Hass legitimiert,16 eine unmittelbare Reaktion auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für auf einen in seiner Symbolik massiven persönliche Unabhängigkeit verhindern, Angriff auf die USA – den ersten seit 1941, dass sie eine mächtige Nation werden; den ersten auf das amerikanische Festland aber gerade diese Ziellosigkeit und Un seit 1812. beständigkeit machen sie zu gefährli- Doch haben Kriege bekannterma- chen Nachbarn«, so nochmals Friedrich ßen nicht nur Anlässe, sie besitzen auch Engels.17 Urgrund dafür war eine »auf die Ursachen. Meist reichen diese zeitlich individuelle männliche Autonomie abzie- weiter zurück. Das ist in diesem Fall nicht lende Stammeskultur«, die wiederum zur anders. Nichts wäre abwegiger, als diese Folge hatte, »dass sich Stammesbündnisse Ursachen ausschließlich in der Geschichte und Stammesrivalitäten in ständiger Afghanistans zu suchen. Das Land, das Bewegung befanden«.18 Auch in dieser erst spät den Anspruch eines Staates für Hinsicht änderte sich nur wenig. Die da- sich reklamiert hatte, war gewöhnlich eher raus resultierende, fast schon archaische Schauplatz als Akteur gewesen. Aber von Rückständigkeit des Landes sorgte in der all den Ursachen, die schließlich in einem westlichen Welt des 20. Jahrhunderts ge- Ereignis wie 9/11 kulminierten, erscheint wöhnlich für Unverständnis, Distanz so- am Ende doch das als ausschlaggebend, wie pures Desinteresse, zuweilen aber was im 20. Jahrhundert in Afghanistan auch für gegenteilige Reaktionen: für Fas passiert war. zination, Enthusiasmus, mitunter gar Ver Dieses »Land der Afghanen«, dessen klärung. Auch diese zweite Perspektive Grenzen erst zwischen 1887 und 1895 von besaß bei einigen kleineren Gruppen und einer russisch-britischen Kommission ge Experten – anfangs Forscher, Gesandte, zogen worden waren, ragte lange Zeit wie Soldaten, dann Touristen, Backpacker ein Relikt längst vergangener Jahrhunderte und Aussteiger, und noch später Politiker, in die Gegenwart. In den politischen, wirt- Militärs und Strategen des »Westens« schaftlichen und kulturellen Verhältnissen – eine lange Tradition, die mancherorts einer Region, die damals erst langsam und noch heute lebendig ist.19 stockend zu einer politischen Einheit fand, Wie weit dieses Interesse, ja diese hatten die tiefgreifenden Veränderungen Passion für die dortigen Verhältnisse der des 18. und 19. Jahrhunderts kaum Spuren Wahrnehmung und Zustimmung der 16 Vgl. S. 38‑40 im Einleitungsteil. 17 Vgl. Marx/Engels, Werke, Bd 14, S. 73‑82, Zitat S. 75. 18 Schetter, Wer sind die Taliban?, S. 307‑320. 19 Vgl. etwa aus deutscher Perspektive: Mark, Krieg an fernen Fronten, S. 110‑128; Deutschland und Afghanistan. Verwobene Geschichte(n). Ein weiteres Beispiel für diese Perspektive auf Afghanistan sind Bücher wie »Drachenläufer« und »Tausend strahlende Sonnen« des afghanisch-amerikani- schen Schriftstellers Khaled Husseini (geb. 1965 in Kabul) – zwei Weltbestseller, von denen sich in © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Strategie 19 vor Ort lebenden Menschen entsprach, Dieses Kommende begann sich schon ist eine ganz andere Frage. Es fällt je- damals abzuzeichnen, wenn auch noch denfalls auf, wie stark sich der Wunsch vorsichtig und verhalten. So sorgten nach Reform, Erneuerung und Moder die fast schon provokative Modernisie nisierung durch die afghanische Ge rung und Propagierung eines westlichen schichte des 20. Jahrhunderts zieht. Etwas Lebensstils in einem Land wie Afghanis zugespitzt ließe sich sagen, darauf zielte, tan für ein zunehmendes Auseinander wenn auch unter unterschiedlichen Vor driften, für eine Entfremdung von Stadt zeichen, die Politik aller afghanischen Re und Land: auf der einen Seite eine städti- gierungen und Machthaber zumindest sche Gesellschaft mit einer kleinen, über- bis in die beginnenden 1990er Jahre – des schaubaren Elite, wirtschaftlich erfolg- Königreichs Afghanistan (1926‑1973), der reich und international vernetzt; auf der Republik Afghanistan (1973‑1978), der anderen Seite die übrigen 85 % der afgha- Demokratischen Republik Afghanistan nischen Gesellschaft,21 die große Masse (1978‑1992) bzw. in der Phase der sow- der Landbevölkerung, bei der man oft jetischen Intervention und Okkupation nicht so recht wusste, ob sie nun wie vor (1979‑1989). hundert oder wie vor tausend Jahren lebte. Diese Politik eines mehr oder weni- Durch diese disparate Entwicklung trafen ger forcierten Fortschritts, die vor, erst die Propagandisten und Anhänger von recht aber nach 1945 ohne ausländische so viel Fortschritt anfangs auf Befremden Finanzhilfe kaum möglich gewesen wäre, und Distanz – und bald schon auf offene hatte partiell durchaus Erfolg. Vor allem Feindschaft. Zu den Wortführern dieser in den urbanen Zentren war das zu sehen Opposition entwickelte sich die traditio- oder in Projekten wie der »Ring Road«, nelle islamische Elite, die sich immer ent- dem Salang-Tunnel, der Kultivierung schiedener von dem distanzierte, was da der Böden in Provinzen wie Helmand, so alles aus Kabul oder von noch weiter Kunduz und Baghlan, im Bau der mo- herkam. Nach dem Ende der Monarchie numentalen Stauseen und der ausgeklü- gewann diese Auseinandersetzung eine gelten Bewässerungsanlagen, die wie neue Dimension; allein das kommu- Lebensadern die fruchtbaren Teile des nistische Regime exekutierte während Landes durchzogen. Vielleicht ist das der kurzen Zeit seiner Alleinherrschaft Diktum, die 1960er und 1970er Jahre seien (April 1978 bis Dezember 1979) etwa Afghanistans »Goldenes Zeitalter« gewe- 27 000 politische Gefangene, die Zahl sen,20 immer auch ein bisschen Verklärung der Todesopfer auf dem Land wird auf und Nostalgie. Vor dem Hintergrund fast 100 000 geschätzt.22 Dagegen for- des Kommenden scheint eine solche mierte sich Widerstand: Mit dem sowje Einschätzung aber durchaus berechtigt. tischen Einmarsch begann nicht nur ein Partisanenkrieg zwischen Besatzern und den USA zusammen 10 Millionen, weltweit 38 Millionen Exemplare verkauft haben. . 20 So Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 88‑96. 21 Vgl. Sliwinski, Afghanistan, S. 54. 22 Vgl. Kaplan, Soldiers of God, S. 115; Boulouque, Der Kommunismus in Afghanistan, S. 778‑781. Zum Symbol dieses Terrors wurde das Dorf Kerala, wo am 20.4.1979 etwa 1200 Menschen umge- bracht wurden. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 20Einleitung Besetzten, es begann auch ein erbitterter »Stellvertreterkriegs«. Auf der einen Seite Bürgerkrieg zwischen den Vertretern von stand die Sowjetunion, die Milliarden von Tradition und Fortschritt, den Anhängern Rubel in Afghanistan investiert hatte und einer weltlich und einer islamisch gepräg- den Bündnispartner an ihrer Südflanke ten Herrschaft. unter allen Umständen halten wollte; auf Dieser Einmarsch in den trüben letz- der anderen Seite standen die USA, Saudi- ten Dezembertagen des Jahres 1979 er- Arabien, Pakistan und einige andere öffnete mehr als nur ein weiteres Kapitel Staaten, die den afghanischen Widerstand in der verworrenen, unübersichtlichen auch in der Hoffnung unterstützten, dass Geschichte dieses Landes.23 Der Hand nun gleichfalls der sowjetische Gegner streich des mächtigen Nachbarn brach- »sein« Vietnam erleben würde.25 te Afghanistan von einem Augenblick Die Wirklichkeit sollte diese Erwartung zum andern zurück in die große Politik. noch übertreffen.26 Zwar war es den an- Dass sich die Welt für »ein eher unbe- fangs 80 000 sowjetischen Invasoren27 deutendes und wenig bekanntes Land«24 rasch gelungen, Afghanistans Hauptstadt wie Afghanistan interessierte, war schon sowie einige weitere Zentren und Ver lange her. An der Wende vom 19. zum bindungslinien zu besetzen, doch waren 20. Jahrhundert war das der Fall gewesen, das kaum mehr als 20 % eines Landes, als die Region im Zentrum des »Great das »für den Guerilla-Kampf geradezu Game« gestanden hatte. Diesem Konflikt geschaffen«28 war. In den übrigen Teilen zwischen den imperialistischen Interessen Afghanistans trafen die Okkupanten, des Russischen Reichs und des Britischen die Fortschritt und Atheismus predigten, Weltreichs hatte Afghanistan überhaupt auf erbitterten Widerstand. Träger wa- seine staatliche Existenz zu verdanken – ren jene, die den Dschihad führen – auf ein Puffer, in gewisser Weise auch eine Arabisch: Mudschaheddin. Anfangs wa- No-go-Area, zu mehr schien dieser un- ren es nicht mehr als einige Zehntausend gebärdige Teil der Welt nicht einmal im Mann. Ihre Todesverachtung, ihre An Zeitalter des Imperialismus zu taugen. spruchslosigkeit, ihre religiöse Hingabe Zwischen 1979 und 1989 wiederhol- und ihre Ausdauer schienen grenzen te sich das ansatzweise, allerdings un- los, aber ohne die kontinuierliche finan ter einer anderen Frontstellung: der des zielle wie militärische Unterstützung des 23 Vgl. Rais, War without Winners, S. 66‑91; Gibbs, Die Hintergründe der sowjetischen Invasion; Chiari, Kabul 1979; Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und Ideologie. Dort (S. 200‑241) eine aus- führliche Darstellung der Invasion. 24 Bösch, Zeitenwende 1979, S. 230. 25 So der amerikanische Politikberater Zbigniew Brzeziński am 26.12.1979 – wenn auch zunächst noch mit einer gewissen Skepsis – gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter. Vgl. Teitler, US Policy towards Afghanistan, S. 55 f.; Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. 307‑310. Generell hierzu Borer, Superpowers Defeated; Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan. 26 Vgl. Hauner, The Soviet War in Afghanistan. 27 Im Dezember waren 30 000‑40 000 sowjetische Soldaten in Afghanistan, im Januar 1980, dann ca. 80 000 Mann. Bis zum Ende des Jahres 1984 stieg ihre Zahl auf 115 000, bis 1986 auf 200 000 Mann. Vgl. Amstutz, The First Five Years of Soviet Occupation, S. 168; Boulouque, Der Kommunismus in Afghanistan, S. 782. 28 So die bemerkenswerte Prognose des deutschen Botschafters in Kabul Franz Josef Hoffmann in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 9.5.1978, in: AAPD 1978, Bd 1, Dok. 145, Zitat S. 705. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Strategie 21 Westens, besonders der USA,29 und ihre Anderes war schlimmer. Die sowjeti- Basen in Pakistan hätten diese miteinan- schen »Verbündeten«, die Afghanistan ur- der rivalisierenden und vor allem nicht sprünglich aufbauen, modernisieren und koordinierten Guerillagruppen wohl nie für sich gewinnen wollten,33 hinterließen durchgehalten.30 einen Trümmerhaufen – ein entvölkertes Mit dem sowjetischen Scheitern in Land, in sich zerstritten, von dem weite Afghanistan allein den Zerfall von Sowjet Teile in Schutt und Asche lagen. union und Warschauer Pakt zu erklä- Die Zahl der Opfer in einem Krieg, in ren, würde indes zu kurz greifen. Dieser dem es für beide Seiten »kein Recht« gab,34 Zerfall hatte viele Ursachen, die zum Teil lassen sich nur schätzen: Von 1979 bis 1988 ebenfalls weit zurückreichten. Richtig ist schrumpfte die afghanische Bevölkerung aber auch: Afghanistan wirkte in dieser von 13,41 Millionen auf 11,60 Millionen Hinsicht wie ein Katalysator. Die will- Menschen.35 In einer Welt, die damals kürliche Okkupation eines souveränen kontinuierlich wuchs, war so etwas nicht Landes, das die sowjetische Führung ohne gerade häufig. Man schätzt, dass zwi- jedes Recht zu ihrem Machtbereich zählte, schen 875 000 und 1,5 Millionen afghani- und das grausame Scheitern dieses Ziels sche Zivilisten diesem Krieg zum Opfer haben den Untergang des sowjetischen gefallen sind,36 weitere 1,5 Millionen Machtbereichs erheblich beschleunigt.31 Zivilisten, darunter 300 000 Kinder, ließ Afghanistan überlebte indes die har- er als Versehrte zurück.37 Dass die zivi- ten Jahre der sowjetischen Okkupation. len Opferzahlen deutlich höher liegen Aber wie? Seine ohnehin schwach aus- als die der Kombattanten, veranschau- geprägte staatliche Einheit hatte das licht einmal mehr den Charakter dieses Land endgültig verloren. Seit 1978, seit »Krieges«. Aber auch die militärischen dem Beginn der kommunistischen Herr Auseinandersetzungen waren extrem blu- schaft in Afghanistan, ist es bislang kei- tig, und auch hier war es die afghanische nem Machthaber in Kabul mehr gelun- Seite, die es härter traf: 75 000 bis 90 000 ge- gen, das gesamte Land politisch oder tötete Aufständische, 18 000 Tote bei den wenigstens militärisch zu beherrschen.32 afghanischen Sicherheitskräften, 13 828 29 Vgl. Teitler, US Policy towards Afghanistan, S. 52‑84. 30 Vgl. mit der militärischen Kritik am Kampf der Mudschaheddin durch Johnson, Konterrevolution oder Volkskrieg? Generell: Kaplan, Soldiers of God; Rais, War without Winners, S. 165‑219. 31 In diesem Sinne etwa Arnold, The Fateful Pebble. 32 Die Aufstände gegen die kommunistische Regierung in Kabul setzten bereits im Juli 1978 im Osten von Afghanistan ein. Im Dezember 1978 begann die Bergregion Hazaristan im Zentrum Afghanistans unruhig zu werden, im März 1979 der Westen. »By autumn the whole of the cen- tre, from Ghazni to Maymana, from Farah to Darrah-yi Souf, was free.« Vgl. Rais, War without Winners, S. 92‑117; Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, S. 99‑106, Zitat S. 100. 33 Vgl. Robinson/Dixon, Aiding Afghanistan. 34 So rückblickend ein sowjetischer Veteran, zit. in: Behrends, Afghanistan als Gewaltraum, S. 152. 35 Lag die Bevölkerungsentwicklung 1979 noch bei 1,31 %, so sank sie bis 1983 auf – 2,86 %. Vgl. . 36 Sliwinski, Afghanistan, S. 39, errechnet eine Todesrate von 9 % bei den afghanischen Zivilisten, die damit höher läge als bei der sowjetischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs, bei der man von 8,6 % ausgeht. 37 . © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 22Einleitung Afghanische Widerstandskämpfer mit erbeuteten sowjetischen Waffen, 1980.picture-alliance/dpa/EPU Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan: Eine Schützeneinheit auf der Verbindungsstraße Dschalalabad–Kabul bewegt sich Richtung sowjetischer Grenze, 1988.picture-alliance/dpa/AFP © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« Strategie 23 Zerstörungen durch den Bürgerkrieg in Kabul: Kinder verkaufen Brot in den Ruinen einer Einkaufsstraße im Osten der Stadt, Februar 1995. picture-alliance/dpa Zwei Frauen im Gespräch, Kabul, 2009. Bundeswehr/Dieter Baumann © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!« 24Einleitung getötete sowjetische Soldaten.38 Begleitet 65 % beim Reis, 80 % beim Weizen.45 Von wurde das vom »größten Massenexodus der ohnehin bescheidenen Infrastruktur seit dem Zweiten Weltkrieg«:39 Bis 1988 wie Straßen, Flugplätzen und den un- flohen 3,1 Millionen Afghanen nach ersetzlichen Bewässerungssystemen war Pakistan, 1,7 bis 2,2 Millionen in den Iran, nur noch wenig übrig; ausländische In weitere 1,5 bis 2 Millionen Menschen gal- vestoren oder Entwicklungshelfer, die ten als Binnenflüchtlinge – Entwurzelte, sowjetischen ausgenommen, hatten sich die von der Hand in den Mund lebten.40 zurückgezogen, das Land war mit Minen Allein diese Zahlen belegen, dass es wohl verseucht,46 mit Tonnen von Kriegsschrott kaum eine afghanische Familie gab, für übersät, während es finanziell völlig von die der sowjetische Einmarsch nicht auch der Sowjetunion abhängig geworden zu einer persönlichen Katastrophe wurde. war:47 75 % aller staatlichen Einnahmen Die materiellen Verluste standen dem waren sowjetische »Wirtschaftshilfe« oder in nichts nach. Da die Rote Armee zeitwei- Erlöse aus dem Erdgas-Geschäft, für das se sogar eine Strategie der »verbrannten man Afghanistan 300 Millionen $ gutge Erde« eingesetzt hatte, waren 1989 über schrieben hatte. 11 400 Ortschaften zerstört;41 das war jede Immerhin, es gab auch Wachstum – fünfte. Gerade Gebiete abseits der Städte, bei der sowjetischen Militärhilfe, die da- wo vor 1978 die meisten Afghanen ge- mals von 267 Millionen Rubel (1980) auf lebt hatten, waren nun oft menschenleer.42 3972 Millionen Rubel (1989) stieg.48 An Aber auch größere Zentren wie Kandahar, den Folgen dieser Überschwemmung mit mit ursprünglich 200 000 Einwohnern Tonnen an sowjetischen Rüstungsgütern zweitgrößte Stadt Afghanistans, waren leidet das Land noch heute. Mehr hatten verwüstet; 1988 lebten hier noch 25 000 die sowjetischen Okkupanten kaum hin- Menschen.43 terlassen. 1987 gehörte Afghanistan zu den Das hochfliegende Programm einer Schlusslichtern in den Staatenrankings. Kollektivierung der afghanischen Land Was diese Schlusslichter einte, war die wirtschaft hatte in einem völligen Fiasko höchste Kindersterblichkeit, die höchs- geendet.44 Entsprechend rückläufig wa- te Auswanderungs- und nichtnatürliche ren die Ernten: 30 % bei der Baumwolle, Sterbequote, eine sehr kleine Gruppe der 38 Vgl. Arnold, The Fateful Pebble, S. 188-191; Giustozzi, War, Politics and Society in Afghanistan, S. 115; Isby, Russia’s War in Afghanistan. Bei den gefallenen sowjetischen Soldaten handelt es sich um die offiziell angegebene Zahl; inoffizielle Schätzungen belaufen sich auf 25 000 bis maximal 50 000 Gefallene sowie 50 000 Verwundete. Vgl. Kalinovsky, A Long Goodbye, S. 42; New York Times vom 26.5.1988, »Soviet Lists Afghan War Toll«. 39 Schetter, Wer sind die Taliban?, S. 307‑320, Zitat S. 311. 40 Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 105. 41 Vgl. Noorzoy, The Afghan Economy, S. 9. 42 Vgl. Sliwinski, Afghanistan, hier S. 53. 43 Kaplan, Soldiers of God, S. 188. 44 Allen Anstrengungen zum Trotz wurde 1989 nur noch ein Prozent der Ernteerträge Afghanistans durch landwirtschaftliche Kooperativen erwirtschaftet. 45 Vgl. Noorzoy, The Afghan Economy; Minkov/Smolynec, Economic Development, S. 12. 46 Seit 1997 wurden 400 000 Afghanen durch Minen getötet, weitere 400 000 durch Minenexplosionen verletzt. Vgl. Rashid, Taliban, S. 199. 47 Vgl. Robinson/Dixon, Aiding Afghanistan, S. 167‑169. 48 Minkov/Smolynec, Economic Development, Zahlen S. 4. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
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