"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage

 
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"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Markus Götz

»Hier ist Krieg«
 Afghanistan-Tagebuch 2010
"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

  © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

Bundeswehr im Einsatz
Herausgegeben vom
Zentrum für Militärgeschichte
und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Band 4

               © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
             ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

 Markus Götz

 »Hier ist Krieg!«
 Afghanistan-Tagebuch 2010

 Im Auftrag des
 Zentrums für Militärgeschichte und
 Sozialwissenschaften der Bundeswehr
 herausgegeben von

 Christian Hartmann

Vandenhoeck & Ruprecht

              © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
            ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen,
ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninkli ke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill
USA Inc., Boston, MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland
GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
Koninkli ke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Ni hoff, Brill Hotei,
Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau,
Verlag Antike und V&R unipress.

Umschlagabbildung: Hauptfeldwebel Markus Götz auf dem Turm des Polizei-
hauptquartiers Chahar Dara, 24.3.2010. (M. Götz)

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr,
Fachbereich Publikationen (0407-01)
Koordination, Lektorat, Bildrechte: Michael Thomae
Korrektorat: Stefan Kahlau, Potsdam
Satz: Carola Klinke
Grafiken: Bernd Nogli

Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2702-4890
ISBN 978-3-647-31136-4

                       © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
                     ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
"Hier ist Krieg" Afghanistan-Tagebuch 2010 - Markus Götz - Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

      Inhalt

 7    Vorwort

      Markus Götz
 9    Noch ein Vorwort – oder: Warum ich dieses
      Tagebuch geschrieben habe

      Christian Hartmann
 13   Warum Afghanistan? Eine Einleitung
 14   Strategie. Warum Afghanistan?
 31   Politik. Die Bundesrepublik als Bundesgenosse
 46   Raum und Zeit. Zum deutschen Einsatz in Afghanistan 2002‑2009
 73   Organisation. Zum 22. Einsatzkontingent ISAF
 85   Einsatz. Das Tagebuch von Markus Götz als historische Quelle
103   Autor. Zur Biografie von Markus Götz
109   Quelle. Genese, Charakter, Bedeutung
113   Publikation. Editionsrichtlinien

      Markus Götz
119   Afghanistan-Tagebuch 2010
120   März
180   April
230   Mai
285   Juni
348   Juli

      Christian Hartmann
361   Militärische Kräfte PRT Kunduz
366   Der Luftangriff von Kunduz, 3./4. September 2009
371   Das Karfreitagsgefecht, 2. April 2010

                       © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
                     ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

6 Inhalt

       Christian Hartmann
377    Was bleibt. Eine Bilanz

  		   Anhang
395    Militärische Stäbe und Führungsgrundgebiete
396    Ausrüstung im Einsatz
397    Waffen und Waffensysteme
435    Biogramme
443    Abkürzungen
448    Quellen und Literatur
479    Danksagung
482    Personenregister
485    Ortsregister

  		   Verzeichnis der Karten, Grafiken und Übersichten
		     Afghanistan, International Security Assistance Force, 2010 [Vorsatz vorne]
 26    Ethnien 2003 (vereinfacht)
 30    Fremde Interessen in Afghanistan
 37    Fünf-Punkte-Plan (Stufenplan) des Petersberger Abkommens 2001
 56    ISAF-Ausdehnung von Januar 2004 bis Oktober 2006
 65    Gefährdungsstufen in Afghanistan Ende 2008
 67    Vorkommnisse in den Provinzen Kunduz und Takhar 2007 bis 2012
 73    Truppenstärke der deutschen ISAF-Kontingente 2004 bis 2013
 74    Gesamttruppenstärke der ISAF-Kontingente 2007 bis 2014
 81    22. Kontingent ISAF, Dienstgradgruppen
 82    22. Kontingent ISAF, Altersgruppen
363    Operationsgebiet des 22./23. Kontingents ISAF
364    PRT Kunduz, Juni 2010
367    Von der Bundeswehr in Afghanistan angeforderte Luftunterstützung
       2006 bis 2010
373    Einsatzraum westlich von Kunduz
374    Gefecht bei Isa Khel am 2. April 2010
384    Opferzahlen in Afghanistan Oktober 2001 bis November 2019
385    Getötete afghanische Zivilisten 2009 bis 2018
387    Militärische Verluste der westlichen Koalition in Afghanistan Oktober 2001
       bis Mai 2020
395    Militärische Stäbe und Führungsgrundgebiete
396    Ausrüstung im Einsatz
		     Afghanistan, AOR Regional Command North, 2010 [Vorsatz hinten]

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

      Vorwort

Memoiren, persönliche Aufzeichnungen                  Dieser Fülle an Einsatzorten, Eindrücken,
sowie mehr oder weniger sorgsam edier-                Erfahrungen und Ergebnissen lässt sich
te Briefe oder Tagebücher deutscher                   unmöglich mit einigen wenigen Schriften
Soldatinnen und Soldaten über ihre Teil­              Rechnung tragen. »Den« Auslandseinsatz
nahme an Auslandseinsätzen der Bun­                   der Bundeswehr gibt es nicht, und eben-
des­wehr gibt es inzwischen mehr, als man             so wenig gibt es »den« Bericht oder
zunächst vermuten würde. Entsprechend                 »den« Autor, der alles und alle repräsen-
vielfältig sind die Ein­drücke, die sich              tiert und der quasi für alle spricht – oder
aus diesen Quellen ergeben: Vielfältig                schreibt. Vor allem aber erlauben Bücher
sind die Einsatzgebiete, vielfältig sind              wie dieses einen noch immer seltenen
Rang und Funktion dieser Zeitzeugen,                  unmittelbaren Blick in das Geschehen
die vom Mannschaftssoldaten bis zum                   in den Einsatzgebieten und auf die Auf­
General reichen, und vielfältig sind da-              ga­ben der Bundeswehr jenseits der
durch die Perspektiven. Das kann die                  Me­dien­be­richt­erstattung.
Sicht eines Fallschirmjägers sein, eines                 Ganz besonders gilt das für den Einsatz
Kompaniechefs, eines Sanitäters oder                  in Afghanistan – nicht nur wegen seiner
die eines hohen Stabsoffiziers. Auch das              Bedeutung und Größe oder wegen des
Urteil dieser Zeitzeugen über Sinn und                hohen Stellenwerts, den das Land inzwi-
Bedeutung ihrer Zeit im Einsatz lässt sich            schen für die Geschichte der Bundeswehr
kaum auf einen Nenner bringen. Die ein-               besitzt. Zum Zeitpunkt, als dieses Buch
schlägige Literatur wächst jedenfalls, wie            für den Druck vorbereitet wurde, war die
könnte es auch anders sein.                           Bundeswehr dabei, ihren Afghanistan-
   Vor dem Hintergrund all der Publi­ka­              Einsatz zu beenden. Die Frage nach seiner
tionen stellt sich zwangsläufig die Frage,            Geschichte ist daher von einer denkbar
ob Wissenschaft und Öffentlichkeit tat-               großen Aktualität.
sächlich Bedarf an einem weiteren »Ein­                  Es gibt nur wenige Aufzeichnungen,
satz­tagebuch« haben. Ein Zuviel kann es              die dem Kern des militärischen Ge­
jedoch nicht geben. Zu unterschiedlich                schehens in Afghanistan so nahekommen
sind die Einsätze der Bundeswehr. Selbst              wie die Aufzeichnungen von Markus
in einem einzigen Einsatzgebiet können                Götz. Sie vermitteln ein realistisches Bild
sich politische Konstellationen, militäri-            von den schwierigen und gefährlichen
sche Ziele, Verfahren, Ressourcen oder                Bedingungen, unter denen deutsche
die Sicherheitslage ständig ändern. Hinzu             Soldaten im Ausland jene Aufträge erfül-
kommt: Die Ergebnisse der Einsätze sind               len, welche die Politik ihnen erteilt. Doch
am Ende alles andere als einheitlich.                 auch für Wissenschaft und Öffentlichkeit

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

8 Vorwort

ist das Einsatztagebuch von Markus Götz                 gen konnte, seinen Text dem Zentrum
eine historische Quelle ersten Ranges. Im               für Militärgeschichte und Sozial­wis­sen­
Unterschied zu vielen anderen Berichten,                schaften der Bundeswehr anzuvertrauen
die in der Regel erst mit einem gewis-                  und ihn dort veröffentlichen zu lassen.
sen zeitlichen Abstand, außerhalb des                   Jochen Maurer hat sich lange mit dieser
Einsatzlands im Stil eines Essays oder                  Quelle beschäftigt und viele Vorarbeiten
von Memoiren verfasst wurden, schrieb                   geleistet. Schließlich hat Christian Hart­
Markus Götz über seine Erlebnisse und                   mann dieses Projekt im Juni 2019 über­
Erfahrungen täglich, kontinuierlich und                 nommen, dafür ein völlig neues Editions­
oft nur in einem Abstand von wenigen                    konzept entwickelt und es bis Frühjahr
Stunden. Auf diese Weise entstand ein                   2021 fertiggestellt. Ganz besonders aber
Tagebuch von hoher Authentizität, das                   danke ich Markus Götz für sein Ver­
den Leser direkt in das Geschehen hin-                  trauen, sein Durchhaltevermögen, sein
einversetzt. Es gewährt einen unmittel-                 historisches und sein dokumentarisches
baren Einblick in den Einsatz mit all sei-              Interesse, vor allem aber für seinen Dienst
nen Herausforderungen, Entbehrungen                     in Afghanistan.
und Belastungen. Dass zudem gerade                         Dem Buch wünsche ich zahlreiche Le­
sein Kontingent, das 22. Kontingent ISAF,               ser und eine positive Aufnahme bei allen,
sozialwissenschaftlich sehr genau unter-                die die jüngste Entwicklung der deut-
sucht wurde, ist ein weiterer Glücksfall.1              schen Streitkräfte und ihr unverzichtbares
Auch das eröffnet die Möglichkeit, die                  wie schwieriges Engagement im Ausland
»Lebenswelt Einsatz« einem großen Pu­                   mit Anteilnahme begleiten und Interesse
blikum aus interessierter Öffentlichkeit,               an den dort eingesetzten Soldatinnen und
Wis­sen­schaft und nicht zuletzt auch der               Soldaten haben.
Bundeswehr zugänglich zu machen.
   Für das Zustandekommen dieses Pro­                   Dr. Sven Lange
jekts ist vielen zu danken – angefan-                   Oberst i.G. und Kommandeur des
gen mit Bernhard Chiari, der bereits im                 Zentrums für Militärgeschichte und
April 2013 Markus Götz davon überzeu-                   Sozialwissenschaften der Bundeswehr

1   Vgl. die 2020 vom ZMSBw herausgegebene Studie von Seiffert/Heß, Leben nach Afghanistan.

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

      Markus Götz

      Noch ein Vorwort – oder:
      Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Nach meinem ersten Einsatz in Afgha­                  taktische Inhalte für mich von Bedeutung.
nistan im Jahr 2008 zeigte es sich, wie               Trotzdem ist es unmöglich, die genau-
schnell viele Erinnerungen nach meiner                en Abläufe und Fakten exakt mit Orten,
Rückkehr zu verblassen begannen. Übrig                Zeiten, Koordinaten im Kopf zu behalten
blieb nur Weniges: das Gute und das                   für eine spätere Diskussion, Auswertung
Schlechte, die besonders positiven oder               und Verwendung – etwa im Rahmen ei-
die besonders negativen Geschichten,                  ner Ausbildung.
auch das Dramatische oder Witzige, das,                  Im März 2010 begann ich daher bereits
was eben anders war als unser Alltag. Es              während des Fluges in meinen Einsatz zu
waren Anekdoten, die man sich dann in                 schreiben und nahm mir vor, dies bis zum
geselliger Runde wieder und wieder er-                Ende meiner Zeit in Afghanistan konse-
zählte; sie standen zunehmend für die ge-             quent fortzusetzen. Ich gewöhnte mir an,
samte Zeit in Afghanistan. Das Schlechte              jeden Abend die Ereignisse des Tages,
und Schwierige aber verdrängte und ver-               manchmal auch meine Gefühle und
schwieg ich. Bei mir war das zumindest                Gedanken niederzuschreiben. Anfangs
so. Vieles konnte ich mir ins Gedächtnis              hatte ich nur ein kleines Buch in meiner
rufen, wenn ich die vielen Bilder betrach-            Beintasche. Ich nahm an, es würde für
tete, die ich aus meinem Einsatz mitge-               vier Monate reichen. Bald zeigte sich, dass
bracht hatte. Jedoch konnten sie nur im               es ereignisreiche vier Monate werden
Ansatz meine damaligen Gefühle, meine                 würden. Als das kleine Buch vollgeschrie-
Hoffnungen und Wünsche, meine Ängste                  ben war, musste ich auf kleine Oktavhefte
und Sorgen wiederbeleben. Mit zuneh-                  zurückgreifen. Zum Schluss habe ich
mendem zeitlichem Abstand wurde es                    Din-A4-Seiten aus einem Heft heraus-
immer schwerer sich vorzustellen, wie                 gerissen und auf das passende Format
hart und fordernd dieser Einsatz gewe-                zusammengefaltet.
sen sein soll. Das Land, die Menschen,                   Gerade an Tagen, an denen uns die
die Gerüche, der Staub, die Hitze, der                Ereignisse förmlich überrollten, machte
Dreck – all das verschwamm im Laufe                   ich oft mehr­mals Eintragungen, nicht sel-
der Zeit. So entschloss ich mich, beim                ten noch auf meinem Fahrzeug oder in ei-
nächsten Einsatz diese Eindrücke genau-               ner Gefechtspause. So hielt ich beispiels-
er festzuhalten, in Form eines Tagebuchs.             weise die ersten Stunden des Gefechts
Ein weiteres Motiv dafür war: Als militä-             am Karfreitag 2010 direkt fest, da ich
rischer Führer und Ausbilder sind auch                in der Anfangsphase die dramatischen

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

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Geschehnisse nur über Funk mitverfolg-                das leisten. Die Ereignisse erscheinen
te, ohne eingreifen zu können. Oft schrieb            dann in einem ganz anderen Licht.
ich noch, total übermüdet, nach einer                    Auch deshalb ist dieses Buch zu einem
Patrouille oder nach einer Schicht auf dem            sehr persönlichen Projekt geworden. Es
Turm im Police Head Quarter (PHQ), auf                ermöglichte mir auch eine psychologi-
meinem Feldbett bei Rotlicht im Schein                sche Verarbeitung meines viermonati-
meiner Stirnlampe einige Zeilen. Es gab               gen Einsatzes, die wohl außergewöhn-
nur wenige Tage, meist die ereignislose-              lichste und erlebnisreichste Zeit meines
ren im Feldlager, an denen ich mir erst               bisherigen Lebens. Ich habe mit meinen
später Notizen machte. Nachträglich stell-            Kameraden viel gesehen und durch-
te ich immer wieder fest, dass bereits an             gestanden. In den 122 Tagen meines
meiner Schrift, an meiner Wortwahl sowie              Einsatzes in Afghanistan waren wir an
am Satzbau deutlich zu erkennen war, ob               57 Tagen außerhalb des Feldlagers, davon
ich unter extremer Anspannung gestan-                 an 35 Tagen durchgehend Tag und Nacht.
den hatte, verärgert oder einfach nur völ-            Auch an den restlichen 65 Tagen waren
lig übermüdet gewesen war. Geschrieben                unsere Freizeit und unsere Ruhezeit be-
habe ich in der Sprache eines Soldaten                grenzt. Fahrzeuge, Waffen und Material
– mit all unseren Abkürzungen, Rede­                  mussten wieder für den nächsten Auftrag
wendungen und Begriffen. Vor­schrif­ten­              vorbereitet werden. Die Einteilung meines
konform ist das nicht, es ist die Sprache,            Zugs als Immediate Reaction Force (IRF)
die wir sprechen.                                     an insgesamt 19 Tagen war eine zusätzli-
   Die von mir geschilderten Ereignisse               che Belastung. Als IRF waren wir in stän-
habe ich alle selbst erlebt. Informationen,           diger Alarmbereitschaft; ein Ent­spannen
die ich unvollständig bekommen habe                   war, gerade für mich als militärischem
oder deren Vollständigkeit oder Quelle                Führer, eigentlich nie wirklich mög-
mir zweifelhaft schienen, sind nur unter              lich. Zur größten Belastung wurden die
Vorbehalt aufgeführt. Mein Tagebuch do-               ständigen TICs (Troops in Contact), die
kumentiert meine damaligen Gedanken                   Gefechte, Scharmützel und Hinterhalte.
und Gefühle. Über manches denke ich                   So musste sich unsere Kompanie in drei-
heute, etwa zehn Jahre danach und mit                 zehn Auseinandersetzungen mit dem
zunehmender Distanz zu den Ereignissen,               Gegner behaupten; weitere 26 Gefechte
etwas anders. Doch bin ich der Meinung,               spielten sich in unserer Umgebung ab.
dass kritische Überlegungen, Vorbehalte                  Belastend war auch die ständige
und der Hinweis auf damalige Missstände               Bedrohung durch Sprengfallen (Impro­
durchaus begründet waren. Grundsätzlich               vised Explosive Devices, IEDs). Während
stehe ich bis heute zu dem, was ich da-               meines Einsatzes kam es im Bereich
mals, 2010, aufgeschrieben habe. Daran                Kun­duz zu mindestens neun erfolgrei-
ändert auch die Tatsache nichts, dass ich             chen IED-Anschlägen gegen ISAF-Trup­
die ein oder andere Situation heute et-               pen. Nur viermal erlebte ich, dass IEDs
was weniger kritisch sehe. Das liegt in               entschärft werden konnten. Selbst im
der Natur der Sache. Weit entfernt vom                Feldlager waren wir nach der Rückkehr
Einsatzgebiet und seinen Gefahren, ent-               von draußen nicht sicher. Zwar kam bei
spannt, ohne Bedrohung und ohne wo-                   den zehn Raketenangriffen während mei-
chenlange Anspannung kann man sich                    nes Einsatzes niemand zu Schaden. Jedoch

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

Noch ein Vorwort                                                                             11

empfanden wir auch sie als Angriff auf                schon längst in eine Mission verwandelt
Leib und Leben.                                       hatte, in welcher der Friede erst erzwun-
   Außerhalb des Lagers aber muss-                    gen werden musste. Um es noch deutli-
ten wir schwere Verluste hinnehmen. In                cher zu sagen: Phasenweise handelte es
den vier Monaten erreichten uns Mel­                  sich um einen Guerillakrieg! Aus unserer
dungen von mindestens 15 gefallenen                   Sicht hatte die Verharmlosung unseres
und 20 verwundeten Soldaten der Afghan                Ein­satzes zur Folge, dass uns aus politi-
National Army oder der ISAF. Ver­mut­                 schen Gründen die notwendigen Waffen
lich waren die tatsächlichen Ver­luste im             wie Schützen- und Kampfpanzer sowie
Verantwortungsbereich des Provincial                  Mörser und Artillerie lange Zeit verwehrt
Re­­construction Team noch höher. Und                 blieben.
höher waren auch die damaligen Verluste                  Wir, die wir fast täglich außerhalb des
der ISAF-Truppen im Süden und Osten                   relativ sicheren Feldlagers unterwegs wa-
Afghanistans. Am schwersten wiegen                    ren, hatten mitunter das Gefühl, dass uns
für uns jedoch unsere sieben gefallenen               als Soldaten die Hände gebunden waren.
deutschen Kameraden; drei kamen aus                   Wir wurden in den Kampf gegen einen
unserer Kompanie. Von den 28 deut-                    Feind geschickt, den wir gewöhnlich nicht
schen Verwundeten waren zwei aus mei-                 sehen konnten, der uns immer wieder an-
nem Zug. Diese Zahlen konnte ich mit-                 griff und der uns Stück für Stück Schaden
hilfe meines Tagebuchs rekonstruieren.                zufügte, wann und wo es ihm beliebte.
Über die Zahl der zivilen Opfer oder die              Wir konnten die eigenen Möglichkeiten
Verluste des Gegners kann ich nur spe-                nicht voll ausnutzen, um diesen Gegner
kulieren. Doch gab es für uns noch mehr               zu schlagen. Dabei hätten wir die ent-
Herausforderungen – die Natur, die frem-              sprechenden militärischen Fähigkeiten
de Kultur, das Klima und unser Leben un-              besessen und auch die Mittel, zumindest
ter einfachsten Bedingungen, fern von all             in Deutschland. Wir waren uns 2010 be-
den gewohnten Annehmlichkeiten. Hinzu                 wusst, dass unser »robustes Vorgehen«,
traten persönliche Ängste und Sorgen,                 das uns tagtäglich der Feind aufzwang,
auch um die anvertrauten Kameraden,                   die Situation vor Ort nicht immer verbes-
das Leben auf engstem Raum mit stark                  serte – besonders dann nicht, wenn Un­
eingeschränkter Privatsphäre und die                  beteiligte getötet oder verwundet wur-
zwischenmenschlichen Spannungen wäh-                  den und wir damit rechnen mussten,
rend der langen Monate. Wir litten unter              dass angesichts des Paschtunwali, des
der zeitlichen und räumlichen Trennung                Rechts- und Ehrenkodexes der Pasch­
von unseren Familien und unter deren                  tunen, die Gewalt weitergehen würde.
Ängsten um uns. Und schließlich stellte               Für uns war es frustrierend, dass den
sich immer wieder die Frage nach dem                  im Raum Kunduz beteiligten deutschen
Sinn unseres Auftrags.                                Organisationen gemeinsame, nachhalti-
   Obwohl wir mit der ständigen Angst                 ge und vor allem sinnvolle Projekte nicht
vor Tod und Verwundung leben mussten,                 immer gelangen. Ich denke etwa an die
galt der ISAF-Einsatz in Deutschland wei-             Versuche, die Situation in Chahar Dara zu
terhin als friedenserhaltende Mission. Wir            verbessern und damit die Einwohner dem
hingegen erfuhren, dass unser Einsatz,                Einfluss der Taliban zu entziehen. Manche
zumindest im Raum um Kunduz, sich                     deutschen Politiker mussten – teilweise

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

12                                                                               Noch ein Vorwort

sichtlich zerknirscht – einräumen, in der           Erfahrungen. Viele Kameraden haben
Provinz Kunduz sei lange aneinander vor-            damals in Afghanistan Ähnliches erlebt,
beigearbeitet worden. 2010 traten an die            manche auch Schlimmeres.
Stelle der viel beschworenen Schul- und                Dieses Tagebuch ist nicht mehr als eine
Brunnenbauprojekte phasenweise mili-                Momentaufnahme aus der »Gras­wur­
tärische Counterinsurgency-Ope­ra­tio­nen           zel­perspektive« eines Hauptfeldwebels,
mit toten Zivilisten und gefallenen ISAF-           eines Gruppenführers in einem Panzer­
Soldaten. Diese Realität wollte niemand             grenadierzug. Ich bin heute froh, damit
wahrhaben, bis sie uns dann einholte.               meinen Einsatz nachvollziehen und ins
   Für uns, die wir diese Widersprüche              Gedächtnis rufen zu können. Dabei war es
buchstäblich am eigenen Leib zu spüren              für mich nicht leicht, regelmäßig zu schrei-
bekamen, war das deprimierend. Viele                ben. Manchmal hatte ich kaum noch Lust
von uns waren Anfang 2008 schon ein-                und Kraft, alles so akribisch wie möglich
mal in Kunduz gewesen; damals sind                  festzuhalten. Dennoch hat sich für mich
wir noch mit ungepanzerten »Wölfen«                 diese Mühe gelohnt. Viele haben sich für
in Chahar Dara Patrouille gefahren, um              meine Gedanken und Aufzeichnungen
die Sicherheit gegen die wiederer­star­             interessiert. Auch dies war für mich ein
kenden Taliban zu gewährleisten. 2010               Ansporn, meinen Text in einer möglichst
haben dann Teile der afghanischen Bevöl­            ansprechenden Form zu publizieren. Für
kerung ebenfalls, oft aus Not oder unter            mich selbst war die Arbeit am und mit
Zwang, gegen uns gekämpft. Es war uns               meinem Manuskript eine große Freude.
nicht mehr möglich, uns ohne Inkauf­                Ich hoffe, dass meine Leser dies auch so
nahme größerer Verluste mit unseren                 sehen.
Panzern im Distrikt Chahar Dara zu be-
wegen. Auch das dokumentiert mein
Tagebuch. Dennoch ist es nur ein kleiner             Markus Götz
Ausschnitt der damaligen Ereignisse und              Hauptfeldwebel, 5./Panzerbataillon 104

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

Christian Hartmann

Warum Afghanistan? Eine Einleitung

»If you didn‘t go through it, there are no words
that can adequately describe it; if you were there,
then no words are necessary.«

John H. McGoran, Matrose auf der USS California im
Rückblick auf seine Erlebnisse am 7.12.1941*

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14Einleitung

Strategie.                                                 lautete das Urteil von Friedrich Engels,
Warum Afghanistan?                                         den man aufgrund seiner militärischen
                                                           Expertise den »General« nannte.2 Das war
Warum kommt man aus der Oberpfalz                          1857. Warum aber war eine Armee wie die
nach Nordafghanistan, warum kommt                          Bundeswehr 150 Jahre später dann ausge-
man von Oberviechtach nach Kunduz?                         rechnet dort im Einsatz? Warum musste
Der Weg ist weit – in der Luft sind es                     sie gerade in diesem Land kämpfen, im
genau 4678, zu Lande sogar 6004 Kilo­                      Grunde genommen zum ersten Mal seit
meter. Doch das ist bloße Geografie. Die                   ihrem Bestehen?
Distanz zwischen diesen beiden Orten                          Erste Antworten finden sich schnell, an-
und Regionen, der Abstand zwischen all                     gefangen mit der Chiffre 9/11, der Attacke
dem, was eine Gesellschaft und deren                       des islamistischen Terrornetzwerks al-
Kultur, Politik und Wirtschaft eigentlich                  Qaida auf die USA. Die Angriffe auf New
ausmacht, ist ungleich größer. Warum                       York und Washington am Morgen des
Afghanistan? Wie kam die Bundeswehr                        11. Sept­emb­er 2001 kamen buchstäblich
gerade dorthin?                                            aus heiterem Himmel;3 innerhalb weni-
   Im Falle von Markus Götz könnte                         ger Stunden starben fast 3000 Zivilisten,
man es sich leicht machen und auf das                      beileibe nicht nur Amerikaner.4 Solche
Prinzip von Befehl und Gehorsam ver-                       Dimensionen lassen die vielen anderen
weisen. Aber das erklärt nichts. Mit ei-                   Massaker und Verbrechen dieser selbst-
ner solch simplen Antwort stellt sich                      ernannten Gotteskrieger zuweilen in den
die Ausgangsfrage nur erneut und noch                      Hintergrund treten. Aber das wäre falsch
schärfer: Warum schickt ausgerechnet                       und ungerecht. Über hundert größere
Deutsch­­land, mittlerweile eine der zi-                   Terroranschläge hat man seit 1991 regis-
vilsten Nationen der Welt, seine Soldaten                  triert, viele in muslimischen Ländern, die
und Soldatinnen in ein Land, das von al-                   zumindest im Namen von al-Qaida be-
ters her als »Graveyard of Empires« gilt?1                 gangen worden sind – sei es von al-Qaida
Afghanistan ist dafür bekannt, dass man                    selbst oder von Gruppen, Kleinstzellen,
es durchqueren, vielleicht auch besetzen,                  Einzeltätern, die mit al-Qaida kooperier-
aber nie lange halten kann. »Ein tapfe-                    ten oder sich einfach nur auf sie berie-
res, zähes und freiheitsliebendes Volk«,                   fen.5 Andere Anschläge, teilweise aber-

*   Zitat auf dem Zwischenblatt nach Zuckoff, Fall and Rise, S. 7
1   So der Titel des Buches von Jones, In the Graveyard of Empires.
2   In einem Aufsatz, geschrieben »um den 10. August 1857«, in: Marx/Engels, Werke, Bd 14, S. 73‑82,
    Zitat S. 74. Zur Entstehungsgeschichte ebd., S. VI f., XIII. Vgl. Pöcher, »General« Friedrich Engels;
    Münkler, Der gesellschaftliche Fortschritt.
3   An Hinweisen auf den geplanten Angriff fehlte es im Vorfeld nicht. Ein Kernproblem waren die
    Differenzen zwischen FBI und CIA, die dafür sorgten, dass aus diesen Hinweisen keine Kon­
    sequenzen gezogen wurden. Vgl. Wright, The Looming Tower.
4   Vgl. The 9/11 Commission Report; Schnibben/Aust, 11. September; Zuckoff, Fall and Rise. The
    Story of 9/11 (dt. Übers.: 9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb). Den Anschlägen fielen
    2977 Menschen zum Opfer. 372 von ihnen (12 %) waren keine Bürger der USA, sondern stamm-
    ten aus 77 verschiedenen Ländern. Vgl. Zuckoff, 9/11, S. 561‑601; ; .
5   Noch wirkungsvoller als die Organisation dieses Terrornetzwerks waren die Ideen, die es verbrei-
    tete. Thomas J. Moser hat zu Recht hervorgehoben, al-Qaida sei »eine Art Markenname, der nach

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Strategie                                                                                                   15

witzige Unterfangen, konnten noch in                        re­li­­giö­­ses Sendungsbewusstsein, Men­
letzter Minute vereitelt werden.6 Aber                      schen­ver­achtung, Kapital, Zynismus, Pro­
das blieben Ausnahmen. Viel zu oft fand                     fes­sio­na­li­tät, Opferbereitschaft, In­tel­li­genz
der Tod seine Ziele. Dabei war 9/11 kein                    und gleich­zeitig eine stupende intellektu-
Endpunkt, kein »Tag, an dem die Welt ste-                   elle Reduktion im Welt­an­schau­lichen.
hen blieb«7 – im Gegenteil: Dieser einen                        Ihr Refugium besaß al-Qaida seit 1996
Attacke folgte eine wahre Kaskade wei-                      im »Islamischen Emirat Afghanistan«,
terer Anschläge, so als ginge es darum,                     zu­mindest bis zur Zäsur von 9/11. Hier, im
die alte These vom Terrorismus als einer                    Herr­schaftsbereich der Taliban, hatten die
»Kommunikationsstrategie« erneut zu be-                     Terroristen »ein sicheres Rückzugsgebiet«
weisen.8 Schon das illustriert, wie inspirie-               gefunden, »wo alles Notwendige zur Ver­
rend und gefährlich gerade diese Spielart                   fügung stand: Trainingslager, finanzielle
des islamistischen Terrorismus nach wie                     Unterstützung, Kommunikationsmittel
vor ist, eines »jihadistischen Salafismus«,9                und Ermutigung«.10 Hier hatte man den
bei dem viele, auch gegensätzliche Aspek­                   »2500 bis 3000 Kämpfern« dieses is­la­mis­
te eine gut funktionierende, buchstäb-                      ti­schen Terrornetzwerks, »die aus min-
lich explosive Verbindung miteinander                       destens dreizehn arabischen Ländern
ein­­gehen: Fanatismus, Weltläufigkeit,                     stammten«, neben anderen islamistischen

     außen Einheitlichkeit suggeriert und eine gemeinsame ›Vermarktung‹ der ğihādistischen Ideologie
     und des Terrors« ermöglicht habe. Allerdings habe al-Qaida »einen großen Mobilisierungseffekt
     auf potenzielle gewaltbereite Islamisten auf der ganzen Welt« gehabt. Vgl. Moser, Politik auf dem
     Pfad Gottes, Zitat S. 140. Unter dem Stichwort »al-Qaida« finden sich in der »Global Terrorism
     Database« bis Ende 2018 insgesamt 2337 Anschläge, wobei hier auch sehr entfernte Gruppen wie
     AQIM (al-Qaida in Maghreb) oder AQAP (al-Qaida in the Arabian Peninsula) zu al-Qaida ge-
     rechnet werden. Dennoch vermittelt diese Stichprobe – der Höhepunkt liegt erst 2012 mit fast 540
     Anschlägen, die allein in diesem Jahr im Namen von al-Qaida begangen wurden – eine Vorstellung
     von der Wirkung dieses Netzwerks: . Eine detaillierte Liste zudem bei . Ferner: Schröm, Al Qaida, S. 206‑209.
6    Verwiesen sei auf »Projekte« wie den »Bojinka Plot«, eine von Ramzi Ahmed Yousef und Khalid
     Scheich Mohammed für den Januar 1995 geplante Attentatsserie: 12 US-Ver­kehrsflugzeuge mit
     ca. 4000 Passagieren sollten über dem Pazifischen Ozean in die Luft gesprengt werden; diesen
     Anschlägen sollte die Ermordung von Papst Johannes Paul II. und/oder von US-Präsident Bill
     Clinton auf den Philippinen folgen. Nach zwei »erfolgreichen« Probesprengungen, u.a. in einem
     Verkehrsflugzeug, konnte der Attentäter nur deshalb verhaftet werden, weil es in seiner Wohnung
     in Manila gebrannt hatte. Ein anderes aberwitziges Vorhaben war die versuchte Kaperung der
     pakistanischen Fregatte PNS »Zulfiqar« durch Angehörige von AQIS (al-Qaida in the Indian
     Subcontinent), offenbar um damit die U.S Navy zu bekämpfen. Danach stellte sich heraus, dass
     AQIS durch einige Angehörige der pakistanischen Marine, darunter auch höhere Offiziere, unter-
     stützt worden war. Vgl. U.S. Conflicts in the 21st Century: Afghanistan War, vol. 1, S. 171 f.; Said,
     Geschichte al-Qaidas, S. 70 f., 137 f.
7    So der Untertitel der großartigen Darstellung von Zuckoff, 9/11.
8    Zit. bei Münkler, Die Neuen Kriege, S. 177.
9    Seidensticker, Islamismus, S. 91; Moser, Politik auf dem Pfad Gottes; generell: Wichmann, Al-Qaida
     und der globale Djihad; Schröm, Al Qaida; Riedel, The Search for Al Qaeda.
10   Bin Laden und seine Entourage waren am 18.5.1996 auf dem Flughafen in Jalalabad gelandet.
     Bereits im Februar 1999 hatten die USA die Auslieferung bin Ladens gefordert. Dies hatten die
     Taliban abgelehnt, aber »Beschränkungen« in Aussicht gestellt. Bin Laden war dann »in den
     Untergrund« gegangen, während die Taliban behauptet hatten, »nichts über seinen Verbleib zu
     wissen«. Vgl. Rashid, Taliban, S. 329, 409, dort auch die folgenden Zitate. Ferner Said, Geschichte
     al-Qaidas, S. 57-64; Stenersen, Al-Qaida in Afghanistan.

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16Einleitung

                                             In den Trümmern des zerstörten World Trade Center in
                                             New York, 11.9.2001.
                                                        picture-alliance/dpa/epa afp Doug Kanter

                                             Fotos von Vermissten an einer Hauswand
                                             in der Nähe des zerstörten World Trade Center,
                                             18.9.2001. Bei den Anschlägen eine Woche
                                             zuvor kamen rund 3000 Menschen ums Leben.
                                                                picture alliance/dpa/Tannen Maury

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Grup­pen großzügiges Gastrecht ein­ge­                     nur annähernd als solche hätte bezeich-
räumt. Und hier, »fernab jeder Zivi­li­sa­                 nen können.13 Das Ultimatum der US-
tion«,11 hatte al-Qaida den Angriff auf                    Regierung ließ man verstreichen. Dabei
die USA über Jahre hinweg geplant und                      waren die amerikanischen Forderungen
vorbereitet – minutiös, ungestört und                      maßvoll und angemessen. »More than
ohne jede Rücksicht auf die Gesetze und                    two weeks ago, I gave Taliban leaders a
Regeln des Krieges. Das geschah nicht                      series of clear and specific demands: Close
nur im Verborgenen. Einen Angriff hat-                     terrorist training camps; hand over lead-
te Osama bin Laden schon früh ange-                        ers of the al Qaeda network; and return all
kündigt. Von Afghanistan aus hatte er                      foreign nationals, including American cit-
sich als Gründer, Inspirator und unbe-                     izens, unjustly detained in your country.
strittenes Zentrum dieses terroristischen                  None of these demands were met. And
Netzwerks in zwei flammenden Appellen                      now the Taliban will pay a price«,14 lau-
»an alle Muslime der ganzen Welt« ge-                      tete die öffentliche Begründung des ame-
wandt – am 23. August 1996 in Form ei-                     rikanischen Präsidenten George W. Bush,
ner zornigen »Kriegserklärung gegen die                    als erst einen knappen Monat später, am
US-Soldaten« und am 23. Februar 1998                       7. Oktober 2001, amerikanische und briti-
mit einer Gründungserklärung für eine                      sche Streitkräfte die Operation Enduring
»Internationale Islamische Front für den                   Freedom (OEF) in Afghanistan offiziell15
Dschihad gegen Juden und Kreuzritter«:12                   eröffneten.
»Die Amerikaner und ihre Verbündeten                          Diese Operation hatte, das dürfte deut-
zu töten, ob Zivilisten oder Soldaten, ist                 lich geworden sein, ihre unmittelbare
die Pflicht jedes Muslims«, hieß es im                     Vorgeschichte, ihren Anlass. Hier han-
zweiten Appell. Drastischer konnte man                     delte es sich nicht um einen leichtfertig
es kaum formulieren.                                       vom Zaun gebrochenen Konflikt, um die
   Aber selbst nach 9/11 war die afghani-                  Überreaktion eines beleidigten Hege­
sche Regierung um Mullah Omar nicht                        mons. Und erst recht handelte es sich nicht
bereit, mit einer Welt­macht wie den USA                   um einen Angriffskrieg zur Ausweitung
Verhandlungen zu führen, die man auch                      der amerikanischen Macht. Welches Inte­

11   Said, Geschichte al-Qaidas, S. 59.
12   Vgl. Die Reden des Osama bin Laden, S. 58‑71, 72‑78; das Zitat auf S. 76.
13   Zuweilen wird suggeriert, die Taliban seien nach dem 11.9.2001 verhandlungsbereit gewesen – eine
     Behauptung ohne jede Substanz, erst recht vor dem Hintergrund der Radikalisierung ihrer Politik
     nach dem Tod des Vorsitzenden der Taliban-Schura, Mullah Mohammed Rabbani, am 16.4.2001.
     Vgl. Rashid, Taliban, S. 333‑335.
14   Address to the Nation on Operations in Afghanistan vom 7.10.2001, in: Selected Speeches of Presi­
     dent George W. Bush, S. 75‑77, Zitat S. 75; . Generell: Teitler, US Policy
     towards Afghanistan, S. 85‑124.
15   Bereits am 26.9.2001 war ein erstes Aufklärungsteam der CIA in Afghanistan gelandet. In der
     Nacht vom 6.10. auf den 7.10.2001 begann mit der Operation Crescent Wind der amerikanische
     Luftkrieg gegen die Training Camps und die Luftabwehrstellungen der Taliban. Am 10.10.2001
     formierte sich die aus U.S. Special Forces bestehende Task Force Dagger, die neun Tage später mit
     der »Infiltration« von Afghanistan begann. Insgesamt waren damals 110 CIA-Agenten und 316
     Angehörige der Special Forces in Afghanistan eingesetzt. Vgl. Neville, Special Forces, S. 22‑25;
     Lamb/Tucker, United States Special Operations Forces, S. 98; Bierling, Geschichte des Irakkriegs,
     S. 35.

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

18Einleitung

res­se hätten denn ausgerechnet die USA                    hin­ter­lassen. Kolonie war Afghanistan nie
an der Okkupation oder auch nur an der                     wirklich gewesen. Statt­dessen hatte sich
»Penetration« eines ihr fremden, weit                      hier eine eigene, ursprünglichere Welt er­-
entfernten und noch dazu völlig zerstör-                   halten – ein pa­triarchalisches wie parti­
ten Landes haben sollen? Die Operation                     kulares Klientelsystem mit zahllosen ri­
Enduring Freedom war zunächst ein Akt                      valisierenden Stämmen, Clans und Groß­
der Selbstverteidigung, völkerrechtlich                    familien. »Nur ihr unbezwinglicher Hass
legitimiert,16 eine unmittelbare Reaktion                  auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für
auf einen in seiner Symbolik massiven                      persönliche Unabhängigkeit verhindern,
Angriff auf die USA – den ersten seit 1941,                dass sie eine mächtige Nation werden;
den ersten auf das amerikanische Festland                  aber gerade diese Ziellosigkeit und Un­
seit 1812.                                                 beständigkeit machen sie zu gefährli-
   Doch haben Kriege bekannterma-                          chen Nachbarn«, so nochmals Friedrich
ßen nicht nur Anlässe, sie besitzen auch                   Engels.17 Urgrund dafür war eine »auf die
Ursachen. Meist reichen diese zeitlich                     individuelle männliche Autonomie abzie-
weiter zurück. Das ist in diesem Fall nicht                lende Stammeskultur«, die wiederum zur
anders. Nichts wäre abwegiger, als diese                   Folge hatte, »dass sich Stammesbündnisse
Ursachen ausschließlich in der Geschichte                  und Stammesrivalitäten in ständiger
Afghanistans zu suchen. Das Land, das                      Bewegung befanden«.18 Auch in dieser
erst spät den Anspruch eines Staates für                   Hinsicht änderte sich nur wenig. Die da-
sich reklamiert hatte, war gewöhnlich eher                 raus resultierende, fast schon archaische
Schauplatz als Akteur gewesen. Aber von                    Rückständigkeit des Landes sorgte in der
all den Ursachen, die schließlich in einem                 westlichen Welt des 20. Jahrhunderts ge-
Ereignis wie 9/11 kulminierten, erscheint                  wöhnlich für Unverständnis, Distanz so-
am Ende doch das als ausschlaggebend,                      wie pures Desinteresse, zuweilen aber
was im 20. Jahrhundert in Afghanistan                      auch für gegenteilige Reaktionen: für Fas­
passiert war.                                              z­ination, Enthusiasmus, mitunter gar Ver­
   Dieses »Land der Afghanen«, dessen                      klärung. Auch diese zweite Perspektive
Grenzen erst zwischen 1887 und 1895 von                    be­saß bei einigen kleineren Gruppen und
einer russisch-britischen Kommission ge­                   Ex­­perten – anfangs Forscher, Gesandte,
zogen worden waren, ragte lange Zeit wie                   Sol­daten, dann Touristen, Backpacker
ein Relikt längst vergangener Jahr­hun­derte               und Aussteiger, und noch später Politiker,
in die Gegenwart. In den politischen, wirt-                Militärs und Strategen des »Westens«
schaftlichen und kul­tu­rellen Ver­hältnissen              – eine lange Tra­di­tion, die mancherorts
einer Region, die da­mals erst langsam und                 noch heute lebendig ist.19
stockend zu einer politischen Einheit fand,                    Wie weit dieses Interesse, ja diese
hatten die tief­greifenden Veränderungen                   Passion für die dortigen Verhältnisse der
des 18. und 19. Jahrhunderts kaum Spuren                   Wahrnehmung und Zustimmung der

16   Vgl. S. 38‑40 im Einleitungsteil.
17   Vgl. Marx/Engels, Werke, Bd 14, S. 73‑82, Zitat S. 75.
18   Schetter, Wer sind die Taliban?, S. 307‑320.
19   Vgl. etwa aus deutscher Perspektive: Mark, Krieg an fernen Fronten, S. 110‑128; Deutschland und
     Afghanistan. Verwobene Geschichte(n). Ein weiteres Beispiel für diese Perspektive auf Afghanistan
     sind Bücher wie »Drachenläufer« und »Tausend strahlende Sonnen« des afghanisch-amerikani-
     schen Schriftstellers Khaled Husseini (geb. 1965 in Kabul) – zwei Weltbestseller, von denen sich in

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Strategie                                                                                         19

vor Ort lebenden Menschen entsprach,                         Dieses Kommende begann sich schon
ist eine ganz andere Frage. Es fällt je-                  damals abzuzeichnen, wenn auch noch
denfalls auf, wie stark sich der Wunsch                   vorsichtig und verhalten. So sorgten
nach Reform, Erneuerung und Mo­der­                       die fast schon provokative Moder­ni­sie­
nisierung durch die afghanische Ge­                       rung und Propagierung eines westlichen
schichte des 20. Jahrhunderts zieht. Etwas                Lebens­stils in einem Land wie Afghanis­
zugespitzt ließe sich sagen, darauf zielte,               tan für ein zunehmendes Aus­einan­der­
wenn auch unter unterschiedlichen Vor­                    driften, für eine Entfremdung von Stadt
zeichen, die Politik aller afghanischen Re­               und Land: auf der einen Seite eine städti-
gie­rungen und Machthaber zumindest                       sche Gesellschaft mit einer kleinen, über-
bis in die beginnenden 1990er Jahre – des                 schaubaren Elite, wirtschaftlich erfolg-
Königreichs Afghanistan (1926‑1973), der                  reich und international vernetzt; auf der
Republik Afghanistan (1973‑1978), der                     anderen Seite die übrigen 85 % der afgha-
Demokratischen Republik Afghanistan                       nischen Gesellschaft,21 die große Masse
(1978‑1992) bzw. in der Phase der sow-                    der Landbevölkerung, bei der man oft
jetischen Intervention und Okkupation                     nicht so recht wusste, ob sie nun wie vor
(1979‑1989).                                              hundert oder wie vor tausend Jahren lebte.
   Diese Politik eines mehr oder weni-                    Durch diese disparate Entwicklung trafen
ger forcierten Fort­schritts, die vor, erst               die Propagandisten und Anhänger von
recht aber nach 1945 ohne ausländische                    so viel Fortschritt anfangs auf Befremden
Finanzhilfe kaum möglich gewesen wäre,                    und Distanz – und bald schon auf offene
hatte partiell durchaus Erfolg. Vor allem                 Feindschaft. Zu den Wortführern dieser
in den urbanen Zentren war das zu sehen                   Opposition entwickelte sich die traditio-
oder in Projekten wie der »Ring Road«,                    nelle islamische Elite, die sich immer ent-
dem Salang-Tunnel, der Kultivierung                       schiedener von dem distanzierte, was da
der Böden in Provinzen wie Helmand,                       so alles aus Kabul oder von noch weiter
Kunduz und Baghlan, im Bau der mo-                        herkam. Nach dem Ende der Monarchie
numentalen Stauseen und der ausgeklü-                     gewann diese Aus­einandersetzung eine
gelten Bewässerungsanlagen, die wie                       neue Dimen­sion; allein das kommu-
Lebensadern die fruchtbaren Teile des                     nistische Regime exekutierte während
Landes durchzogen. Vielleicht ist das                     der kurzen Zeit seiner Alleinherrschaft
Diktum, die 1960er und 1970er Jahre seien                 (April 1978 bis Dezember 1979) etwa
Afghanistans »Goldenes Zeitalter« gewe-                   27 000 politische Gefangene, die Zahl
sen,20 immer auch ein bisschen Verklärung                 der Todesopfer auf dem Land wird auf
und Nostalgie. Vor dem Hintergrund                        fast 100 000 geschätzt.22 Dagegen for-
des Kommenden scheint eine solche                         mierte sich Widerstand: Mit dem sowje­
Einschätzung aber durchaus berechtigt.                    tischen Einmarsch begann nicht nur ein
                                                          Partisanenkrieg zwischen Besatzern und

     den USA zusammen 10 Millionen, weltweit 38 Millionen Exemplare verkauft haben. .
20   So Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 88‑96.
21   Vgl. Sliwinski, Afghanistan, S. 54.
22   Vgl. Kaplan, Soldiers of God, S. 115; Boulouque, Der Kommunismus in Afghanistan, S. 778‑781.
     Zum Symbol dieses Terrors wurde das Dorf Kerala, wo am 20.4.1979 etwa 1200 Menschen umge-
     bracht wurden.

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20Einleitung

Besetzten, es begann auch ein erbitterter                  »Stellvertreterkriegs«. Auf der einen Seite
Bürgerkrieg zwischen den Vertretern von                    stand die Sowjetunion, die Milliarden von
Tradition und Fortschritt, den Anhängern                   Rubel in Afghanistan investiert hatte und
einer weltlich und einer islamisch gepräg-                 den Bündnispartner an ihrer Südflanke
ten Herrschaft.                                            unter allen Umständen halten wollte; auf
   Dieser Einmarsch in den trüben letz-                    der anderen Seite standen die USA, Saudi-
ten Dezem­bertagen des Jahres 1979 er-                     Arabien, Pakistan und einige andere
öffnete mehr als nur ein weiteres Kapitel                  Staaten, die den afghanischen Widerstand
in der verworrenen, unübersichtlichen                      auch in der Hoff­nung unterstützten, dass
Geschichte dieses Landes.23 Der Hand­                      nun gleichfalls der sowjetische Gegner
streich des mächtigen Nachbarn brach-                      »sein« Vietnam erleben würde.25
te Afghanistan von einem Augen­blick                          Die Wirklichkeit sollte diese Erwartung
zum andern zurück in die große Politik.                    noch übertreffen.26 Zwar war es den an-
Dass sich die Welt für »ein eher unbe-                     fangs 80 000 sowjetischen Inva­soren27
deutendes und wenig bekanntes Land«24                      rasch gelungen, Afghanistans Haupt­stadt
wie Afghanistan interessierte, war schon                   sowie einige weitere Zentren und Ver­
lange her. An der Wende vom 19. zum                        bin­dungslinien zu besetzen, doch waren
20. Jahrhundert war das der Fall gewesen,                  das kaum mehr als 20 % eines Landes,
als die Region im Zentrum des »Great                       das »für den Guerilla-Kampf geradezu
Game« gestanden hatte. Diesem Konflikt                     geschaffen«28 war. In den übrigen Teilen
zwischen den imperia­lis­ti­schen Interessen               Afghanistans trafen die Okkupanten,
des Russischen Reichs und des Britischen                   die Fortschritt und Atheismus predigten,
Weltreichs hatte Afgha­nis­tan überhaupt                   auf erbitterten Widerstand. Träger wa-
seine staatliche Exis­tenz zu verdanken –                  ren jene, die den Dschihad führen – auf
ein Puffer, in gewisser Weise auch eine                    Arabisch: Mudschaheddin. Anfangs wa-
No-go-Area, zu mehr schien dieser un-                      ren es nicht mehr als einige Zehntausend
gebärdige Teil der Welt nicht einmal im                    Mann. Ihre Todesverachtung, ihre An­
Zeitalter des Im­per­ia­lis­mus zu taugen.                 spruchs­losigkeit, ihre religiöse Hin­gabe
   Zwischen 1979 und 1989 wiederhol-                       und ihre Ausdauer schienen gren­zen­
te sich das ansatzweise, allerdings un-                    los, aber ohne die kontinuierliche finan­
ter einer anderen Frontstellung: der des                   zielle wie militärische Unterstützung des

23   Vgl. Rais, War without Winners, S. 66‑91; Gibbs, Die Hintergründe der sowjetischen Invasion;
     Chiari, Kabul 1979; Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und Ideologie. Dort (S. 200‑241) eine aus-
     führliche Darstellung der Invasion.
24   Bösch, Zeitenwende 1979, S. 230.
25   So der amerikanische Politikberater Zbigniew Brzeziński am 26.12.1979 – wenn auch zunächst noch
     mit einer gewissen Skepsis – gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter. Vgl. Teitler,
     US Policy towards Afghanistan, S. 55 f.; Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. 307‑310. Generell hierzu
     Borer, Superpowers Defeated; Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan.
26   Vgl. Hauner, The Soviet War in Afghanistan.
27   Im Dezember waren 30 000‑40 000 sowjetische Soldaten in Afghanistan, im Januar 1980, dann ca.
     80 000 Mann. Bis zum Ende des Jahres 1984 stieg ihre Zahl auf 115 000, bis 1986 auf 200 000 Mann.
     Vgl. Amstutz, The First Five Years of Soviet Occupation, S. 168; Boulouque, Der Kommunismus in
     Afghanistan, S. 782.
28   So die bemerkenswerte Prognose des deutschen Botschafters in Kabul Franz Josef Hoffmann in
     seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 9.5.1978, in: AAPD 1978, Bd 1, Dok. 145, Zitat S. 705.

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

Strategie                                                                                                21

Westens, besonders der USA,29 und ihre                      Anderes war schlimmer. Die sowjeti-
Basen in Pakistan hätten diese miteinan-                    schen »Verbündeten«, die Afghanistan ur-
der rivalisierenden und vor allem nicht                     sprünglich aufbauen, modernisieren und
koordinierten Guerillagruppen wohl nie                      für sich gewinnen wollten,33 hinterließen
durchgehalten.30                                            einen Trümmerhaufen – ein entvölkertes
   Mit dem sowjetischen Scheitern in                        Land, in sich zerstritten, von dem weite
Afghanistan allein den Zerfall von Sowjet­                  Teile in Schutt und Asche lagen.
union und Warschauer Pakt zu erklä-                            Die Zahl der Opfer in einem Krieg, in
ren, würde indes zu kurz greifen. Dieser                    dem es für beide Seiten »kein Recht« gab,34
Zerfall hatte viele Ursachen, die zum Teil                  lassen sich nur schätzen: Von 1979 bis 1988
ebenfalls weit zurückreichten. Richtig ist                  schrumpfte die afghanische Bevölkerung
aber auch: Afghanistan wirkte in dieser                     von 13,41 Millionen auf 11,60 Millionen
Hinsicht wie ein Katalysator. Die will-                     Menschen.35 In einer Welt, die damals
kürliche Okkupation eines souveränen                        kontinuierlich wuchs, war so etwas nicht
Landes, das die sowjetische Führung ohne                    gerade häufig. Man schätzt, dass zwi-
jedes Recht zu ihrem Machtbereich zählte,                   schen 875 000 und 1,5 Millionen afghani-
und das grausame Scheitern dieses Ziels                     sche Zivilisten diesem Krieg zum Opfer
haben den Untergang des sowjetischen                        gefallen sind,36 weitere 1,5 Millionen
Machtbereichs erheblich beschleunigt.31                     Zivilisten, darunter 300 000 Kinder, ließ
   Afghanistan überlebte indes die har-                     er als Versehrte zurück.37 Dass die zivi-
ten Jahre der sowjetischen Okkupation.                      len Opferzahlen deutlich höher liegen
Aber wie? Seine ohnehin schwach aus-                        als die der Kombattanten, veranschau-
geprägte staatliche Einheit hatte das                       licht einmal mehr den Charakter dieses
Land endgültig verloren. Seit 1978, seit                    »Krieges«. Aber auch die militärischen
dem Beginn der kommunistischen Herr­                        Auseinandersetzungen waren extrem blu-
schaft in Afghanistan, ist es bislang kei-                  tig, und auch hier war es die afghanische
nem Machthaber in Kabul mehr gelun-                         Seite, die es härter traf: 75 000 bis 90 000 ge-
gen, das gesamte Land politisch oder                        tötete Aufständische, 18 000 Tote bei den
wenigstens militärisch zu beherrschen.32                    afghanischen Sicherheitskräften, 13 828

29   Vgl. Teitler, US Policy towards Afghanistan, S. 52‑84.
30   Vgl. mit der militärischen Kritik am Kampf der Mudschaheddin durch Johnson, Konterrevolution
     oder Volkskrieg? Generell: Kaplan, Soldiers of God; Rais, War without Winners, S. 165‑219.
31   In diesem Sinne etwa Arnold, The Fateful Pebble.
32   Die Aufstände gegen die kommunistische Regierung in Kabul setzten bereits im Juli 1978 im
     Osten von Afghanistan ein. Im Dezember 1978 begann die Bergregion Hazaristan im Zentrum
     Afghanistans unruhig zu werden, im März 1979 der Westen. »By autumn the whole of the cen-
     tre, from Ghazni to Maymana, from Farah to Darrah-yi Souf, was free.« Vgl. Rais, War without
     Winners, S. 92‑117; Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, S. 99‑106, Zitat S. 100.
33   Vgl. Robinson/Dixon, Aiding Afghanistan.
34   So rückblickend ein sowjetischer Veteran, zit. in: Behrends, Afghanistan als Gewaltraum, S. 152.
35   Lag die Bevölkerungsentwicklung 1979 noch bei 1,31 %, so sank sie bis 1983 auf – 2,86 %. Vgl.
     .
36   Sliwinski, Afghanistan, S. 39, errechnet eine Todesrate von 9 % bei den afghanischen Zivilisten, die
     damit höher läge als bei der sowjetischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs, bei der
     man von 8,6 % ausgeht.
37   .

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                            ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

22Einleitung

Afghanische Widerstandskämpfer mit erbeuteten sowjetischen Waffen, 1980.picture-alliance/dpa/EPU

Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan: Eine Schützeneinheit auf der Verbindungsstraße Dschalalabad–Kabul bewegt sich
Richtung sowjetischer Grenze, 1988.picture-alliance/dpa/AFP

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Zerstörungen durch den Bürgerkrieg in Kabul: Kinder verkaufen Brot in den Ruinen einer Einkaufsstraße im Osten der Stadt, Februar 1995.
picture-alliance/dpa

Zwei Frauen im Gespräch, Kabul, 2009.                                                                    Bundeswehr/Dieter Baumann

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Markus Götz: »Hier ist Krieg!«

24Einleitung

ge­tötete sowjetische Soldaten.38 Begleitet                65 % beim Reis, 80 % beim Weizen.45 Von
wurde das vom »größten Massenexodus                        der ohnehin bescheidenen Infrastruktur
seit dem Zweiten Weltkrieg«:39 Bis 1988                    wie Straßen, Flugplätzen und den un-
flohen 3,1 Millionen Afghanen nach                         ersetzlichen Bewässerungssystemen war
Pakistan, 1,7 bis 2,2 Millionen in den Iran,               nur noch wenig übrig; ausländische In­
weitere 1,5 bis 2 Millionen Menschen gal-                  vestoren oder Entwicklungshelfer, die
ten als Binnenflüchtlinge – Entwurzelte,                   sowjetischen ausgenommen, hatten sich
die von der Hand in den Mund lebten.40                     zurückgezogen, das Land war mit Minen
Allein diese Zahlen belegen, dass es wohl                  verseucht,46 mit Tonnen von Kriegsschrott
kaum eine afghanische Familie gab, für                     übersät, während es finanziell völlig von
die der sowjetische Einmarsch nicht auch                   der Sowjetunion abhängig geworden
zu einer persönlichen Katastrophe wurde.                   war:47 75 % aller staatlichen Einnahmen
   Die materiellen Verluste standen dem                    waren sowjetische »Wirtschaftshilfe« oder
in nichts nach. Da die Rote Armee zeitwei-                 Erlöse aus dem Erdgas-Geschäft, für das
se sogar eine Strategie der »verbrannten                   man Afghanistan 300 Millionen $ gut­ge­
Erde« eingesetzt hatte, waren 1989 über                    schrieben hatte.
11 400 Ortschaften zerstört;41 das war jede                   Immerhin, es gab auch Wachstum –
fünfte. Gerade Gebiete abseits der Städte,                 bei der sowjetischen Militärhilfe, die da-
wo vor 1978 die meisten Afghanen ge-                       mals von 267 Millio­nen Rubel (1980) auf
lebt hatten, waren nun oft menschenleer.42                 3972 Millionen Rubel (1989) stieg.48 An
Aber auch größere Zentren wie Kandahar,                    den Folgen dieser Überschwemmung mit
mit ursprünglich 200 000 Einwohnern                        Tonnen an sowje­ti­schen Rüstungsgütern
zweitgrößte Stadt Afghanistans, waren                      leidet das Land noch heute. Mehr hatten
verwüstet; 1988 lebten hier noch 25 000                    die so­wjetischen Okkupanten kaum hin-
Menschen.43                                                terlassen. 1987 gehörte Afghanistan zu den
   Das hochfliegende Pro­­gramm einer                      Schluss­lichtern in den Staatenrankings.
Kol­lektivierung der afghanischen Land­                    Was diese Schlusslichter einte, war die
wirtschaft hatte in einem völligen Fiasko                  höchste Kindersterblichkeit, die höchs-
geendet.44 Entsprechend rückläufig wa-                     te Auswanderungs- und nichtnatürliche
ren die Ernten: 30 % bei der Baumwolle,                    Sterbequote, eine sehr kleine Gruppe der

38   Vgl. Arnold, The Fateful Pebble, S. 188-191; Giustozzi, War, Politics and Society in Afghanistan,
     S. 115; Isby, Russia’s War in Afghanistan. Bei den gefallenen sowjetischen Soldaten handelt es sich
     um die offiziell angegebene Zahl; inoffizielle Schätzungen belaufen sich auf 25 000 bis maximal
     50 000 Gefallene sowie 50 000 Verwundete. Vgl. Kalinovsky, A Long Goodbye, S. 42; New York
     Times vom 26.5.1988, »Soviet Lists Afghan War Toll«.
39   Schetter, Wer sind die Taliban?, S. 307‑320, Zitat S. 311.
40   Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 105.
41   Vgl. Noorzoy, The Afghan Economy, S. 9.
42   Vgl. Sliwinski, Afghanistan, hier S. 53.
43   Kaplan, Soldiers of God, S. 188.
44   Allen Anstrengungen zum Trotz wurde 1989 nur noch ein Prozent der Ernteerträge Afghanistans
     durch landwirtschaftliche Kooperativen erwirtschaftet.
45   Vgl. Noorzoy, The Afghan Economy; Minkov/Smolynec, Economic Development, S. 12.
46   Seit 1997 wurden 400 000 Afghanen durch Minen getötet, weitere 400 000 durch Minenexplosionen
     verletzt. Vgl. Rashid, Taliban, S. 199.
47   Vgl. Robinson/Dixon, Aiding Afghanistan, S. 167‑169.
48   Minkov/Smolynec, Economic Development, Zahlen S. 4.

                               © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH
                             ISBN Print: 9783525311363 — ISBN E-Book: 9783647311364
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