84 HOCHSCHULPOLITIK - ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN - HANNS-SEIDEL-STIFTUNG

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Christa Jansohn / Reinhard Meier-Walser (Hrsg.)

­Hochschulpolitik
­Deutsch­land und G
                  ­ roß­britannien im ­Vergleich

 84               Argumente und Materialien
                  zum Zeitgeschehen

   www.hss.de
Christa Jansohn / Reinhard Meier-Walser (Hrsg.)

HOCHSCHULPOLITIK
Deutschland und Großbritannien im Vergleich
Impressum

ISBN                             978-3-88795-414-7
Herausgeber                      Copyright 2013, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München
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Politik und Zeitgeschehen
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Redaktion                        Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.)
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                                 Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol (Redakteurin)
                                 Anna Pomian M.A. (Redakteurin)
                                 Marion Steib (Redaktionsassistentin)
Druck                            Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

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INHALT

05 Einführung
   Christa Jansohn / Reinhard Meier-Walser

07 Europäisierungsprozess der nationalen Hochschulsysteme –
   Deutschland und Großbritannien im Vergleich
   Barbara M. Kehm

13   Voneinander Lernen oder Einübungen ins Trennendvereinende?
     Bemerkungen zur britisch-deutschen Hochschulsituation
     Rüdiger Görner

19 Die Autonomie der deutschen Universitäten
   Winfried Schulze

23 Modernization of UK Higher Education
   Jack Grove

29 Autonomy: the View from the UK
   Greg Wade

35 Markets in Mind:
   Economic Tensions in British Higher Education
   Seán Hand

     ERFAHRUNGSBERICHTE

45 Erfahrungsbericht Edinburgh
   Richard Stöckle-Schobel

47 Erfahrungsbericht Cambridge
   Karina Urbach

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4       ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84
EINFÜHRUNG
   CHRISTA JANSOHN / REINHARD MEIER-WALSER |||

    Ein interdisziplinärer Ansatz und eine multi-   und Politik zur bislang jüngsten deutsch-briti-
perspektivische, analytische Vorgehensweise         schen Expertentagung der Hanns-Seidel-Stiftung
kennzeichnen sowohl die Arbeit der Akademie         und des Centre for British Studies. Als dritter
für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-     Kooperationspartner konnte wiederum das Bri-
Stiftung als auch des Centre for British Studies    tish Council gewonnen werden. Unter dem Motto
der Universität Bamberg. Dieses Charakteristi-      „Hochschulpolitik: Deutschland und Großbritan-
kum stellt insofern auch den „Roten Faden“ meh-     nien im Vergleich“ wurden im Verlauf der Tagung
rerer Kooperationstagungen der beiden Einrich-      die bedeutendsten gegenwärtigen Entwicklungen
tungen dar, in deren Mittelpunkt jeweils Themen     und Herausforderungen in den beiden Hoch-
standen, die für die deutschen wie britischen       schulsystemen umfassend erörtert. Die Frage
Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissen-          nach den Gestaltungsmöglichkeiten erfolgreicher
schaft und Politik jeweils gleichermaßen bedeut-    Hochschulpolitik in Zeiten der Finanzkrise und im
sam waren, wenngleich sie diesseits wie jenseits    Angesicht staatlicher Sparmaßnahmen dominierte
des Ärmelkanals nicht in gleicher Weise akzentu-    dabei die von Impulsvorträgen eingeleiteten Dis-
iert und interpretiert wurden.                      kussionsrunden zu den Themen „Hochschulauto-
    Die Auftaktveranstaltung der Kooperationsrei-   nomie“, „Ökonomisierung“ und „Europäisierung
he im Januar 2007 in Kloster Banz bei Bamberg       der nationalen Hochschulsysteme“. Im Mittel-
problematisierte die Rolle des Vereinigten König-   punkt standen sowohl der vergleichende Blick
reiches im Spannungsfeld zwischen Amerika und       auf die deutschen und britischen Hochschulen
Europa, zwischen Nostalgie und Zukunft – eine       als auch das Desiderat, einen fruchtbaren Dialog
nach Premierminister David Camerons umstrit-        zwischen den beiden traditionsreichen Bildungs-
tener Europa-Rede im Januar 2013 nach wie vor       systemen zu befördern. Ausgewählte Beiträge
höchst aktuelle Thematik.                           der Konferenz wurden zur Publikation für den
    Im Juli 2010 nahmen die Kooperationspartner     vorliegenden Band überarbeitet.
und ihre britischen und deutschen Gäste in Wild-
bad Kreuth eine Analyse der Unterhauswahlen         |||   PROF. DR. CHRISTA JANSOHN
und des Regierungswechsels in London mit der              Lehrstuhl für Britische Kultur, Centre for British
Frage nach den Konsequenzen für Großbritannien,           Studies (CBS), Universität Bamberg
Deutschland und Europa vor.
    Die sicherheitspolitische Herausforderung       |||   PROF. DR. REINHARD MEIER-WALSER
der irregulären Migration wurde im Rahmen von             Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen,
Risikoszenarien, wissenschaftlichen Analysen und          Hanns-Seidel-Stiftung, München
politischen Lösungsstrategien im Mai 2012 wie-
derum in Kloster Banz erörtert.
    Vor dem Hintergrund der aktuellen Reformen
im britischen Hochschulwesen versammelten sich
im Mai 2012 in Wildbad Kreuth schließlich rund
drei Dutzend Experten aus Wissenschaft, Medien

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6       ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84
EUROPÄISIERUNGSPROZESS DER
NATIONALEN HOCHSCHULSYSTEME
Deutschland und Großbritannien im Vergleich

   BARBARA M. KEHM ||| Der Beitrag diskutiert die nationalen Besonderheiten und Probleme bei
der Einführung der Bologna-Reformen in Deutschland und England. Für Deutschland wird herausge-
arbeitet, dass Akkreditierung und eine allzu rigide Umsetzung zu Problemen und Protesten führten,
während in England die Bologna-Reform als eine Reform der „Anderen“ angesehen wurde, da man
zunächst davon ausging, dass sich Europa dem englischen Hochschulmodell annähern würde. Der
Beitrag vertritt die These, dass die Probleme bei der deutschen Umsetzung als „Kinderkrankheiten“
einer großen und ehrgeizigen Reform interpretiert werden können, während England weiterhin
eher darauf beharrt, das eigene Modell zu exportieren oder darauf zu achten, dass die Besonder-
heiten des eigenen Systems als mögliche Normvarianten gelten. Insgesamt werden Ansätze zur
europäischen Konvergenz auf der Makroebene gesehen. Demgegenüber herrscht weiterhin große
Vielfalt auf der Meso- und der Mikroebene. Dies muss nicht negativ sein, da Europa wesentlich auf
der Vielfalt der Kulturen, auch der akademischen, beruht.

EINLEITUNG                                         beiden Ländern völlig unterschiedlich. Während
    Sowohl Deutschland als auch Großbritannien     man in Großbritannien lange davon ausging, dass
gehörten zu den Unterzeichnern der Sorbonne-       die Bologna-Reformen das Hochschulsystem nicht
Erklärung 1998, die der Bologna-Erklärung um ein   substanziell tangieren würden, und man eher er-
Jahr vorausging und in welcher noch von einer      wartete, dass sich die übrigen Unterzeichnerlän-
„Harmonisierung der Architektur der europäi-       der (deren Zahl von Ministertreffen zu Minister-
schen Hochschulbildung“ die Rede war, also der     treffen anstieg) dem britischen System annähern
Erklärung über eine Studienstrukturreform. Und     würden, wartete man in Deutschland auf Leit-
während in Deutschland nach der 4. Novelle des     linien der KMK zur Umsetzung der Reformen, die
Hochschulrahmengesetzes 1998 erstmals Bache-       erst 2004 kamen und Deutschland zu einem
lor- und Master-Studiengänge an einzelnen Uni-     Nachzügler in der Umsetzung der Reformen wer-
versitäten erprobt werden konnten und wurden,      den ließen.
ging man in Großbritannien davon aus, dass die         Im Folgenden soll kurz die Einführung der Bo-
Einführung von gestuften Studiengängen und -ab-    logna-Reformagenda in beiden Ländern getrennt
schlüssen im Rahmen einer solchen europäischen     skizziert werden (zunächst in Deutschland, dann
Strukturreform mehr oder weniger das britische     in Großbritannien), um dann in einem abschlie-
Modell kopieren würde. Einzige Sorge der Briten    ßenden Teil Unterschiede, Parallelen und Her-
zu diesem Zeitpunkt war, dass die einjährige       ausforderungen zu diskutieren. Hervorzuheben
Länge der meisten britischen Master-Studiengän-    ist, dass im Unterschied zu Deutschland in Groß-
ge nicht in Frage gestellt werden würde.1 Aber     britannien kein nationaler Regelungsrahmen be-
trotz der gemeinsamen Startphase entwickelte       steht, der etwa den Hochschulen eine nationale
sich die Umsetzung des Bologna-Prozesses in        Struktur von Studiengängen und Abschlüssen vor-

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BARBARA M. KEHM

schreiben würde. Der Beitrag konzentriert sich         gehen sollten. Dies wurde von den meisten
daher auf die Entwicklungen in England und geht        Universitäten als kurzsichtige Reduzierung
nicht auf Schottland, Wales und Nordirland ein.        des allgemeinen Bildungs- und Qualifikations-
Kommen wir also zunächst zu den Entwicklungen          stands gesehen. Diese Vorgabe musste dann
in Deutschland.                                        auch schnell zurückgenommen werden und
                                                       die Universitäten gingen dazu über, ihre Stu-
                                                       dierenden von Beginn an dahingehend zu be-
DER BOLOGNA-PROZESS IN DEUTSCHLAND                     raten, gleich den Master-Abschluss anzustre-
    Politisch gesehen gab es wichtige Gründe da-       ben. Nach drei Jahren Studium könne unmög-
für, dass die Bologna-Erklärung von Deutschland        lich jemand ein voll ausgebildeter Ingenieur
als Mitinitiator des Reformprozesses unterzeich-       oder Physiker sein, so das Argument.
net wurde. Man erhoffte sich von der Umstellung    Ein weiteres Problem wurde sehr schnell sichtbar.
auf die gestuften Studiengänge und -abschlüsse     Typischerweise machen die Deutschen ja immer
weitgehende Effizienz- und Effektivitätsgewinne.   alles sehr gründlich. Mit der Umstellung auf die
Es sollten mehr Studierende in kürzerer Zeit zu    gestufte Studienstruktur war klar, dass die neuen
einem berufsbefähigenden Abschluss gebracht        Studiengänge nicht mehr wie zuvor durch die zu-
werden. Doch während andere europäische Län-       ständigen Landesministerien genehmigt werden
der relativ schnell und pragmatisch sowie ohne     konnten. Zudem war bereits mit der Bologna-
größere Widerstände die gestufte Struktur auf      Erklärung beschlossen worden, auf europäischer
der formalen Ebene einführten und sich erst spä-   Ebene bei der Qualitätssicherung zusammenzu-
ter um die inhaltlichen (curricularen) Reformen    arbeiten. Es wurde also zunächst ein Akkreditie-
kümmerten, warteten die Hochschulen in Deutsch-    rungsrat etabliert, der die sich neu gründenden
land zunächst auf Richtlinien bzw. Vorgaben der    Akkreditierungsagenturen genehmigen sollte und
KMK, was die Umsetzung anbetraf. Diese kamen       in den ersten Jahren auch selber Akkreditierun-
dann erst 2004 und lösten sofort Proteste aus.     gen durchführte. Allerdings war Akkreditierung
Universitäre Bachelor-Abschlüsse galten als        als Verfahren für die Prüfung von Qualitätsstan-
„halbe“ Studiengänge, mit denen keine Berufsbe-    dards und Genehmigung von Studiengängen in
fähigung zu erreichen war. In den Debatten stan-   Deutschland unbekannt, und es mussten sowohl
den folgende Punkte in der Kritik:                 Verfahren als auch Standards neu entwickelt
− Die größten technischen Universitäten Deutsch-   werden. Zusätzlich führte der deutsche Födera-
    lands schlossen sich zur TU-9-Gruppe zu-       lismus dazu, dass nicht eine nationale Agentur
    sammen, um gegen den Verlust des weltweit      entstand, sondern gleich mehrere (heute sind es
    anerkannten Abschlusses Diplomingenieur zu     insgesamt sieben), darunter einige, die nur re-
    protestieren.                                  gional akkreditierten, und andere, die fachspezi-
− Dass Fachhochschulen zukünftig Master-           fisch, aber bundesweit akkreditierten. Die neu
    Abschlüsse ohne den traditionellen FH-Zusatz   entwickelten Verfahren der Akkreditierung be-
    anbieten durften, wurde von vielen Universi-   ruhten maßgeblich auf Peer Review und liefen
    täten ebenfalls nicht goutiert.                nur schleppend an. Als sich die Geschwindigkeit
− Die staatlich regulierten Staatsexamens-Ab-      der Etablierung neuer Studiengänge nach dem
    schlüsse wurden erst einmal von der Umstel-    Bachelor- / Master-Modell ab 2004 erhöhte, ka-
    lung ausgenommen.                              men die Akkreditierungsagenturen nicht mehr
− Potenzielle Beschäftiger von Hochschulab-        nach. Nicht nur waren die meisten Professorin-
    solventen waren nicht vertraut mit dem Qua-    nen und Professoren an ihren Hochschulen durch
    lifikationsstand der neuen Absolventen und     die Konzeption und curriculare Entwicklung der
    zögerten bei der Einstellung von Bachelor-     neuen Studiengänge zeitlich stark absorbiert, son-
    Absolventen.                                   dern sie wurden auch laufend angefragt, in den
− Zusätzlich geriet die KMK unter massiven         fachbezogenen Kommissionen an der Akkreditie-
    Druck bei der Vorgabe, dass maximal zwischen   rung anderer Studiengänge als Peers mitzuwirken.
    20 und 40 % der Bachelor-Absolventen nach      Auf die Schnelle und in den benötigten Zahlen
    Abschluss in einen Master-Studiengang über-    ließen sich kaum genügend Professor/Innen fin-

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EUROPÄISIERUNGSPROZESS DER NATIONALEN HOCHSCHULSYSTEME

den, die bereit waren, dies zu machen. So kam es         Über zwei weitere Punkte der Umsetzung der
auch hier – zumindest vereinzelt – zu massiven       Bologna-Reformen in Deutschland soll an dieser
Problemen; etwa wenn Fachhochschulprofesso-          Stelle noch berichtet werden: erstens die Protes-
ren Studiengänge an einer deutschen Traditions-      te der Studierenden gegen die Bologna-Reformen
universität akkreditieren sollten und dies zum       im Wintersemester 2009/10 und zweitens die
Anlass nahmen, der Universität zu zeigen, wie es     kaum oder noch nicht umgesetzten Reformele-
funktionieren sollte.                                mente.
    Der schleppende Anlauf der Akkreditierung            Im Wintersemester 2009/10 begannen die
führte zu weiteren Verzögerungen; viele neue         Studierenden gegen die Bologna-Reformen bzw.
Studiengänge begannen ohne Akkreditierung.           genauer gegen die Art und Weise ihrer Umset-
Die Hochschulen, die für die Kosten der Akkredi-     zung zu protestieren. Wesentliche Punkte der
tierung keine staatlichen Zuschüsse erhielten,       Kritik waren die Stofffülle der Curricula, der Prü-
versuchten bei den Agenturen Rabatte zu erhal-       fungsdruck, die Hürden beim Übergang in ein
ten, etwa durch die sogenannte Cluster-Akkre-        Master-Studium und die fehlenden Zeitfenster
ditierung, also die Akkreditierung aller neuen       für Mobilität. Insgesamt schien es so, dass die
Studiengänge einer Fakultät oder eines Fach-         Reformen zu bürokratisch und rigide umgesetzt
bereichs im Rahmen eines Vor-Ort-Besuchs der         worden waren, die Module zu kleinteilig struktu-
Kommission.                                          riert und damit die Prüfungslast zu groß. Zudem
    Zudem erforderte das korrekte, also erfolg-      bewiesen die Mobilitätsstatistiken, dass aufgrund
versprechende Verfassen des Akkreditierungs-         der curricularen Dichte die temporäre Mobilität
antrags zusätzliche Zeit. Es mussten Daten und       der Studierenden deutlich zurückgegangen war.
Informationen zusammengestellt werden, die in        Auch die Politik stimmte vielen der studentischen
der verlangten Form noch nie gesammelt worden        Kritikpunkte zu und forderte Nachbesserungen.
waren. Zum Teil sollten die Akkreditierungsanträ-    Mit der zweiten Welle der Re-Akkreditierung nach
ge neuer und innovativer oder interdisziplinärer     fünf Jahren wurden viele der neuen Studiengänge
Studiengänge Marktanalysen über den potenzi-         flexibler gestaltet, die Modularisierung erfolgte
ellen Arbeitsmarkt der Absolventen enthalten.        großteiliger und der Zahl der Prüfungen sank. In-
Nehmen wir das Beispiel eines Bachelor-Studien-      zwischen ist die Mobilität deutscher Studieren-
gangs Philosophie an einer Universität, so war       der wieder gestiegen. Wir können sogar sagen,
ein sehr kreativer Umgang mit den Akkreditie-        dass neueste Untersuchungen, die am INCHER-
rungsrichtlinien erforderlich.                       Kassel durchgeführt wurden, gezeigt haben, dass
    Zusammenfassend kann an dieser Stelle ge-        die studentische Mobilität in Deutschland die
sagt werden, dass ab 2004 die Umstellung auf         20-%-Schwelle, die die Europäische Kommission
die gestufte Studienstruktur in Deutschland rasant   für 2020 anstrebt, bereits überschritten hat.
anstieg, die Akkreditierung aber einen, wenn             Was die Umsetzung der Bologna-Reformen in
auch vorübergehenden Reformstau hervorrief.          Deutschland angeht, würde ich heute sagen, dass
Im gleichen Jahr berichteten die ersten europäi-     ein Teil der „Kinderkrankheiten“ eines solch gro-
schen Unterzeichnerstaaten (etwa die Niederlan-      ßen Reformvorhabens überwunden ist. Auch die
de und Schweden), die Umstellung durchgeführt        Bachelor-Absolventen haben inzwischen gute bis
und abgeschlossen zu haben. Im Februar 2012          sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eine
berichtete das BMBF, dass zum Wintersemes-           am INCHER-Kassel Ende 2008 durchgeführte
ter 2010/11 rund 85 % aller Studiengänge in          Befragung von 35.000 Absolvent/Innen von
Deutschland auf die gestufte Struktur umgestellt     48 Universitäten und Fachhochschulen des Prü-
seien. Die Umstellung sei an Fachhochschulen so      fungsjahrgangs 2007 hat gezeigt, dass andert-
gut wie abgeschlossen und der Großteil der nicht     halb Jahre nach dem Bachelor-Abschluss nur 3 %
umgestellten Studiengänge führe zu staatlichen       der Absolvent/Innen arbeitslos sind. Allerdings
oder kirchlichen Abschlüssen. Allerdings beträgt     nehmen drei Viertel der universitären Bachelor-
der Anteil der Studierenden, die im selben Se-       Absolvent/Innen unmittelbar nach dem Abschluss
mester in den neuen Studiengängen studierten,        ein Master-Studium auf. Die Einstiegsgehälter
erst 60 %.2                                          der Bachelor-Absolvent/Innen liegen etwa 20 %

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BARBARA M. KEHM

unter denen der Master-, Magister- und Diplom-       der externen Evaluation und überhaupt gegen
absolvent/Innen und es gibt in den ersten Jahren     ein pan-europäisches Qualitätssystem. Studien-
auch mehr Befristungen. Allerdings ist die Berufs-   gangsakkreditierung, wie sie in den meisten kon-
zufriedenheit von Bachelor-Absolvent/Innen etwa      tinentaleuropäischen Ländern im Zuge der Bo-
gleich hoch wie diejenige von Absolvent/Innen        logna-Reformen eingeführt worden war, wurde
mit anderen Abschlüssen.3                            abgelehnt und als Sache der Universitäten selbst
    Noch nicht gelöst ist dagegen der Wechsel zur    angesehen. Stattdessen wurde die Empfehlung
studentenzentrierten Lehre. Nur eine Minderheit      ausgesprochen, den britischen Ansatz der Quali-
der Lehrenden hat sich intensiv mit dem Konzept      tätssicherung in ganz Europa einzuführen.
der „learning outcomes“ auseinandergesetzt oder          2. Hinsichtlich der gestuften Studienstruktur
weiß, wie diese geprüft und bewertet werden          bestand die Sorge, dass angesichts des sich ent-
können. Auch die Schlüsselkompetenzen werden         wickelnden europäischen Mainstream von zwei-
eher in gesonderten Veranstaltungen erworben,        jährigen Master-Studiengängen die für England
als dass sie integrierter Bestandteil der fachspe-   typischen einjährigen Master-Studiengänge ins
zifischen Curricula wären. Zudem tut man sich in     Hintertreffen geraten könnten. Die zweistufige
Deutschland sehr schwer mit dem nationalen           Struktur wurde unterstützt, man setzte sich aber
Qualifikationsrahmen. Durch die strikte Trennung     dafür ein, sowohl einjährige Master-Studiengän-
zwischen beruflicher Bildung und Ausbildung          ge als auch die integrierten einstufigen Master-
einerseits und Hochschulbildung andererseits         Studiengänge in England als akzeptierte Variante
wurden zunächst zwei nationale Qualifikations-       anzusehen und nicht als Abweichung von der
rahmen geschaffen. Allerdings sind die Öffnung       Norm.
der Hochschulen für Berufserfahrene und die An-          3. Zum Thema Kreditpunkte und Qualifikati-
erkennung von außerhalb von Schule und Hoch-         onsrahmen wies das Positionspapier darauf hin,
schule erworbenen Qualifikationen und Kompe-         dass die Briten ihr eigenes Kreditpunktesystem
tenzen auf der Tagesordnung.                         hätten. Außerdem bestehe eine Präferenz für die
                                                     outcome-basierte Berechnung statt wie beim
                                                     ECTS einer Berechnung zu folgen, die auf Länge
DER BOLOGNA-PROZESS IN GROßBRITANNIEN                und Workload beruhte. Auch hier galt es zu ver-
    Trotz Unterzeichnung sowohl der Sorbonne-        hindern, dass das auf 1.200 Stunden basierende
als auch der Bologna-Erklärung erfolgte eine ge-     akademische Jahr in England gegenüber dem auf
nauere Wahrnehmung des Bologna-Prozesses in          1.600 Stunden basierenden akademischen Jahr
Großbritannien erst ab 2003. Bis dahin waren         in Kontinentaleuropa als Abweichung von der
verschiedene Reformmaßnahmen überwiegend             Norm gesehen wurde.4
von nationalen Debatten dominiert, z. B. der             Im Jahr 2004 wurde der UK Higher Education
Debatte über erweiterte Teilhabe an Hochschul-       Europe Unit gegründet, um die britische Beteili-
bildung mit Einführung eines zweijährigen Foun-      gung an den europäischen Initiativen und Policies
dation Degree oder Qualitätssicherungsmaß-           zu koordinieren und gemeinsame britische Positi-
nahmen im Kontext eines nationalen Qualifikati-      onen zu formulieren. Bereits 2005 hat Teichler5
onsrahmens und institutioneller Qualitätsaudits.     gemeint, dass Großbritannien zu den Außen-
Anlässlich des Ministertreffens in Berlin im Jahr    seitern des Bologna-Prozesses gehöre, aber zu-
2003 formulierte ein neu gegründetes High Level      nächst durch die Strukturreformen nicht zu gro-
Policy Forum ein britisches Positionspapier vis-     ßen Veränderungen herausgefordert war. Dennoch
à-vis des Bologna-Prozesses. In diesem Positions-    zeigt die Etablierung des UK Higher Education
papier wurde der Bologna-Prozess zwar unter-         Europe Unit, dass sich im Laufe der Zeit die briti-
stützt, es wurden aber auch drei wichtige Beden-     sche Wahrnehmung des Bologna-Prozesses ver-
ken geäußert:                                        änderte. Drei Prozesse haben dazu beigetragen:
    1. Im Bereich der Qualitätssicherung sollte      − die Wahrnehmung, dass die Umsetzung der
jeglicher Einfluss der Europäischen Kommission           Bologna-Reformen in Kontinentaleuropa auf
verhindert werden. Die Briten wandten sich ge-           einen Mainstream hinauslief, der nicht dem
gen die Einführung eines europäischen Systems            englischen Modell entsprach,

10     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84
EUROPÄISIERUNGSPROZESS DER NATIONALEN HOCHSCHULSYSTEME

− die Erkenntnis, dass angesichts dieser Ent-        vermehrt Gebühren zahlende europäische Stu-
    wicklung britische Traditionen und Reform-       dierende zu gewinnen.
    dynamiken neu positioniert werden mussten,           Das größte britische Engagement wird im
− und die Erkenntnis, dass die wachsende             Bereich der curricularen und evaluativen Koordi-
    weltweite Attraktivität der Hochschulen in       nierung des Bologna-Prozesses sichtbar und hat
    Kontinentaleuropa (mit gestufter Struktur        dabei drei Akzente:
    und einer immer größeren Zahl englischspra-      − die curriculare und evaluative Begleitung der
    chiger Studienangebote) eine zunehmende              formalen Elemente des Bologna-Prozesses
    Konkurrenz für britische Hochschulen bedeu-          zwecks Verhinderung von Scheinäquivalen-
    tete, die schon lange auf Gebühren zahlende          zen,
    außereuropäische Studierende gesetzt hat-        − die Verhinderung gesamteuropäischer Ver-
    ten.                                                 bindlichkeiten in der curricularen Gestaltung
Hinzu kommt, dass in Großbritannien die Ein-             und Qualitätssicherung,
schätzung weit verbreitet ist, dass man in vielen    − und die Empfehlung, ähnliche Systeme der
Fragen von Lehre, Forschung und Hochschul-               curricularen Koordination und Qualitätssiche-
organisation bessere Lösungen zu bieten hat als          rung einzuführen wie in Großbritannien.
andere europäische Länder. Daher steht die Op-       Insgesamt stoßen die meisten europäischen
tion für den Export der eigenen Lösungen stärker     Hochschulinitiativen auf britischer Seite über-
im Vordergrund als gleichberechtigte Kooperati-      wiegend auf Skepsis oder geringes Interesse und
on auf europäischer Ebene. Interessanterweise        werden eher unter dem Gesichtspunkt einer po-
gehören aber die Lehrenden und Forschenden an        tenziellen Einschränkung nationaler Souveränität
den britischen Universitäten zu den Unzufrie-        interpretiert.
densten in ganz Europa.                                  Das einzige, von den Briten weitgehend ak-
    Sin6 hat in einer Befragung englischer Lehren-   zeptierte Element des Bologna-Prozesses ist die
der zum Bologna-Prozess deren Wahrnehmung            Einführung des Diploma Supplements.
als „disconnected and missing leadership“ cha-
rakterisiert. Im Wesentlichen haben die Bologna-     UNTERSCHIEDE, PARALLELEN,
Reformen nichts mit dem Alltagsgeschäft in der       HERAUSFORDERUNGEN
Lehre zu tun und werden, wenn überhaupt, als            Es gibt meiner Meinung nach mehr Unter-
rein strukturelle Reform verstanden, für deren       schiede als Parallelen in dem Vergleich zwischen
Umsetzung andere verantwortlich sind. Diese          Deutschland und Großbritannien im Hinblick auf
potenziellen Anderen verweisen aber auf die in       den Bologna-Prozess. Aber vielleicht könnte man
Großbritannien vorherrschende Form der institu-      sagen, dass es eine gewisse Parallele in der
tionellen Autonomie, die eine Umsetzung der Bo-      Skepsis gegenüber und der Kritik an den Bologna-
logna-Reformen per Gesetzgebung (wie in den          Reformen gibt. Allerdings muss dabei festgehal-
meisten anderen europäischen Ländern üblich)         ten werden, dass in Großbritannien diese Skep-
ausschließt. Von diesem Paradox ist die Haltung      sis vorrangig von Seiten der Politik geäußert
Englands zu den Bologna-Reformen stark ge-           wird, während die akademische Profession glaubt,
prägt.                                               die Reforminitiative würde sie nicht tangieren. In
    Bologna ist in Großbritannien eher eine Re-      Deutschland dagegen hat die Politik den Bologna-
formbewegung der Anderen. Allerdings wird diese      Reformprozess von Beginn an unterstützt, wäh-
Reformbewegung sehr genau beobachtet und es          rend die Skepsis eher von der akademischen Pro-
erfolgt eine aktive Mitwirkung an der Normbil-       fession und später dann von den Studierenden
dung, damit die britischen Akzente und Traditio-     geäußert wurde.
nen nicht in eine Außenseiterrolle geraten. Und         Das Communiqué der Bologna-Ministerkonfe-
trotz eher weltweiter Orientierung möchte man        renz Ende April 2012 in Bukarest hat eine Anzahl
nicht, dass Europa als Bezugspartner wegbricht.7     konkreter Prioritäten für die nächsten drei Jahre
Zum einen hat Großbritannien sehr stark von den      benannt, die zum Teil auf nationaler, zum Teil
europäischen Forschungsförderprogrammen pro-         auf europäischer Ebene verfolgt werden sollen.
fitiert. Zum anderen sieht man auch die Chance,      Dazu zählen folgende Bereiche:

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84                     11
BARBARA M. KEHM

−   Abschlüsse und Qualifikationen,                  fallen. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass uns
−   Qualitätssicherung,                              der mit der Bologna-Erklärung von 1999 begon-
−   die soziale Dimension,                           nene Reformprozess noch eine Weile begleiten
−   effektive Lernergebnisse und Beschäftigungs-     wird und wir zwischendurch immer einmal wieder
    fähigkeit,                                       Bilanz ziehen werden, was der Prozess gebracht
− lebenslanges Lernen,                               hat, wo Korrekturen erforderlich sind, welche
− Mobilität.                                         Schwerpunkte gesetzt werden sollen und welche
Es bleibt abzuwarten, wie sich der europäische       Ziele bereits erreicht wurden. In diesem Sinne
Hochschulraum weiter entwickeln wird. Experten       können wir sagen: Nach der Reform ist vor der
schätzen, dass erste valide empirische Ergebnisse    Reform.
ab 2015 möglich sein werden.
    In einem von 2009 erschienenen Band zu           |||   PROF. DR. BARBARA M. KEHM
den Perspektiven der Hochschulforschung auf die            Internationales Zentrum für Hochschulforschung,
Bologna-Reformen8 ist der Bologna-Prozess als              Kassel
„bewegliches Ziel“ (als „moving target“) be-
zeichnet worden. Nicht nur, dass in den ersten
Jahren immer wieder neue Reformziele formu-          LITERATUR
liert und hinzugefügt wurden, die Koordination       CHEPS, INCHER, ECOTEC: The Bologna Process Indepen-
des Prozesses auf europäischer wie nationaler           dent Assessment. The first decade of working on the
Ebene hat eine solche Komplexität angenommen,           European higher education area, 2 Volumes, 2010,
                                                        www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/20
dass es immer schwieriger wird, das Zustande-
                                                        10_conference/documents/IndependentAssessment_1
kommen von Veränderungen nachzuvollziehen.              _DetailedRept.pdf
Hinzu kommt, dass bei der Umsetzung der Refor-
men nationale Reformagenden an die Bologna-
Ziele angehängt wurden und so zu Verzerrungen
bei der Implementation geführt haben.
    In diesem Beitrag habe ich versucht deutlich     ANMERKUNGEN
zu machen, was die Motive in Deutschland und         1     Witte, Johanna: Change of Degrees and Degrees of
Großbritannien waren, die Bologna-Erklärung zu             Change. Comparing Adaptations of European Higher
                                                           Education Systems in the Context of the Bologna Pro-
unterzeichnen und welche Faktoren die jeweils              cess, PhD Dissertation, Twente: CHEPS, University of
nationale Umsetzung wesentlich beeinflusst ha-             Twente 2006, S. 329.
ben. In vielen Analysen des Bologna-Prozesses        2     BMBF Pressemeldung: Die Umsetzung der Bologna-
der letzten Jahre ist immer wieder betont wor-             Reformen in Deutschland vom 1.2.2012, https://www.
den, dass auf der Makro-Ebene ein gewisses Maß             bmbf.de/de/7222.php
                                                     3     Schomburg, Harald (Hrsg.): Generation Vielfalt. Bil-
an Konvergenz hergestellt werden konnte. Blickt
                                                           dungs- und Berufswege der Absolventen von Hoch-
man aber auf die Meso-Ebene der Hochschulen                schulen in Deutschland 2007-2008, Werkstattbe-
und die Mikro-Ebene der Studiengänge wird eine             richt 71, Kassel 2012.
weiterhin bestehende große Heterogenität sicht-      4     Witte: Change of Degrees and Degrees of Change,
bar. Ich bin davon überzeugt, dass die gemein-             S. 346 ff.
same Arbeit am europäischen Hochschulraum in
                                                     5     Alesi, Bettina / Bürger, Sandra / Kehm, Barbara M. /
                                                           Teichler, Ulrich: Stand der Einführung von Bachelor-
den nächsten Jahren weitere Fortschritte machen
                                                           und Master-Studiengängen im Bologna-Prozess in aus-
wird und dass man sich sukzessive auf weitere              gewählten Ländern Europas im Vergleich zu Deutsch-
Elemente der Konvergenz einigen wird. Anerken-             land, Projektbericht an das BMBF, Kassel 2005.
nung (recognition) von Qualifikationen und           6     Sin, C.: Academic Understandings and Responses to
Kompetenzen ist ein solcher Bereich, Qualifikati-          Bologna: A Three-Country Perspective, unpublished
onsrahmen ein weiterer.                                    Manuscript submitted to EJE 2012.
                                                     7     Alesi / Bürger / Kehm / Teichler: Stand der Einfüh-
    Aber es ist auch wichtig, dass Unterschiede in
                                                           rung von Bachelor- und Master-Studiengängen.
den akademischen Kulturen Europas, in den            8     Kehm, Barbara M. / Huisman, Jeroen / Stensaker, Bjørn
Lehr- und Lernstilen aufrechterhalten bleiben,             (Hrsg.): The European Higher Education Area: Perspec-
sonst würden wichtige Gründe für Mobilität weg-            tives on a Moving Target, Rotterdam / Taipei 2009.

12     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84
VONEINANDER LERNEN ODER
EINÜBUNGEN INS TRENNENDVEREINENDE?
Bemerkungen zur britisch-deutschen Hochschulsituation*

    RÜDIGER GÖRNER ||| Wechselseitige Wahrnehmungen führen zu Vergleichen in zumeist pädago-
gischer Absicht. Handelt es sich bei den Objekten solcher Wahrnehmungen und Vergleiche um ver-
schiedene Kultursysteme und als deren Bestandteil um Wissenschaftskulturen, dann stellen sich
oft auch (gesellschafts-)politische Wertfragen. Von einer solchen ist nachfolgend die Rede: Was ist
uns die Hochschule in Britannien und Deutschland inhaltlich wert? Wie ist es bestellt um die aka-
demische Kultur zwischen Themse und Tweed, Rhein und Oder? Was will man vom anderen lernen
und aus welchen Gründen?

    Manche Wege bestehen nur aus Gabelungen.          sitäre Leben in einem Seminar lernen kann, das
Ein Scheideweg folgt auf den anderen und das          sich, sagen wir, mit der Geschichte des Aphoris-
schon nach wenigen Schritten. So entstehen Laby-      mus beschäftigt.
rinthe, Muster einer Richtungslosigkeit, die sich         Die zunächst intendierte europaweite Angli-
selbst mit Zielvereinbarungen verbrämt. Je mehr       sierung des universitären Betriebs gab sich irre-
Scheidewege und Selbstverunsicherung über den         führenderweise den Namen „Bologna“. „White-
Sinn einer Institution, je hektischer werden Ziel-    hall“ wäre damals ehrlicher gewesen, ging doch
vorgaben produziert. Universitäre Ausschüsse          Britannien anfangs davon aus, selbst von diesem
befassen sich unaufhörlich mit strategischen Ini-     Reformprozess nicht tangiert zu sein, dafür aber
tiativen, Fünfjahresplänen (die spätestens nach       dessen Modell geliefert zu haben. Mit dieser Angli-
einem Jahr wieder zu revidieren sind), strategi-      sierung hatte man zunächst offenbar geglaubt, in
schen Partnerschaften, Ausarbeitung von „aims         Sachen „knowledge community“ (was eigentlich
and objectives“, die dann in sogenannten „task-       stört am Begriff Wissensgemeinschaft?) punkten
and-finish-groups“ verhackstückt werden: will-        zu können, ohne zu bemerken, dass man damit
kommen in der Kommandozentrale der „Global            allenfalls das Mark einer generativen Wissenskul-
University Ltd.“                                      tur – gerade in den Geisteswissenschaften – nur
    Das Universale ist der Universität ursprünglich   punktiert. Im Entstehen begriffen sind seither
eingeschrieben gewesen, weniger das Strategi-         Kompetenzanstalten ohne tieferen Bildungsan-
sche, denn Orte des Wissens neigen zum Explo-         spruch oder allenfalls mit beschränkter geistiger
rativen, Experimentellen. Ihre Ausrichtung galt       Haftung.
im Zweifelsfall eher des „Himmels unverhofftem
Blau“, um ein Wort Stefan Georges zu gebrauchen.      DIE ENGLISCHEN VORGABEN
Inzwischen jedoch fordert das Mikromanagement            Ein Wort also zu den englischen Vergleichs-
in Forschung und Lehre, zumal in England, das         vorgaben. Eine der schwerwiegendsten Fehlent-
genau geplante Modul, das vorab anzugeben hat,        wicklungen in Britannien war die vermeintliche
was die Studenten wann und warum lernen. Hin-         Aufwertung der vormaligen Polytechnics zu Uni-
zu kommt die Angabe der „transferable skills“,        versitäten, die insgesamt zu einer Nivellierung des
also Angaben dazu, was man für das nachuniver-        Lehrbetriebs geführt hat. Es gehört zu den Gro-

                                  ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84                      13
RÜDIGER GÖRNER

tesken britischer Hochschulpolitik, dass gerade      (noch) Vereinigten Königreich die Arbeitslosen-
jene Institution, die nachweislich berufsbezogene    zahlen unter Studienabsolventen im europäischen
Ausbildung auf hohem Niveau betreiben konnte         Vergleichsmaßstab ausgesprochen niedrig ge-
und sollte, die Polytechnics eben, in Universitä-    wesen sind. Das trifft übrigens vor allem für Ab-
ten transformiert worden sind, die traditionell      solventen eines neuphilologischen Studiums zu.
weitaus mehr mit der Entwicklung der Wissens-        (Die höchste Beschäftigungsquote nach Medizin
kultur und der Wissensproduktion befasst sind als    ist jene für Absolventen eines Studiums in Ger-
mit berufsbezogenen Studiengängen. In Britan-        man.) Doch gerade diese Studiengänge wurden
nien ist seit 1992 bekanntlich alles „university“,   nun auf Finanzierung durch Gebühren umgestellt.
was Diplomstudiengänge und Masters-Programme         Es handelt sich dabei um eine jener Perversionen
anbieten kann, sei es in „golf course manage-        in der englischen Hochschulpolitik, die landesweit
ment“ oder „software design“. Dass die Bundes-       zu – freilich fruchtlos gebliebenen – Protesten
republik Deutschland auch auf der Hochschul-         geführt hat. Zumindest eines hat sich dadurch
ebene das duale System beibehalten hat, zeugt        ergeben: Selten zuvor konnten die Universitäten
dagegen von wirklichkeitsorientiertem Weitblick.     in England ein breiteres Medienecho verbuchen
    Im Zeitalter der modulhäppchengerechten          als derzeit.
Wissensvermittlung bietet man Wissensprodukte            Was haben wir nicht alles gelernt: modulab-
auf dem globalen Marktplatz an, die das Prädikat     gepackte Wissensportionen, „ranking“-Obsession,
„cutting-edge“ für sich beanspruchen, vornehm-       wie aus Marktforschung marktgerechte Forschung
lich von Lehrenden vermittelt, die sich „world       wurde, „spin“ durch „newspeak“ zur Verschleie-
leading“ nennen. Statt englischem „understate-       rung der Sachverhalte. Ein besonders apartes
ment“, das längst aus der Mode gekommen ist,         Beispiel ist die Verschiebung von „Research
autosuggestive Broschürenrhetorik. Dergleichen       Assessment Exercise“ (bis 2008) zu „Research
legitimiert dann, etwa auf der Ebene der Mas-        Excellence Framework“ (seither) als Instrumen-
ters-Programme, zum Erheben von sogenannten          tarium zur landesweiten und alle Disziplinen be-
„premium fees“, Gebühren also, die über dem ge-      treffenden Evaluierung der Forschung, die man
wöhnlichen Satz liegen, was im Falle der Business    sich im Vierjahresrhythmus leistet, wobei 2014
Studies etwa der zwei- bis dreifache Gebühren-       immerhin 20 % auf die Auswertung der Wirkung
satz bedeuten kann, von der durch nichts zu recht-   von Forschung abfällt, erfasst durch die sogenann-
fertigenden Tatsache, dass sogenannten „overseas     ten „Impact Case Studies“. Forschungsprojekte
students“ ein Mehrfaches an Gebühren abverlangt      ohne vorab beschreibbare Wirkungsfaktoren, die
wird, zu schweigen. England und Schottland ope-      über den akademischen Rahmen hinausgehen,
rieren inzwischen universitätspolitisch in einer     wird es daher auf absehbare Zeit in England
Weise, die zur Entflechtung des United Kingdom       kaum noch geben. Dieses dem Erkunden, freien
zumindest beiträgt.                                  Denken, Experimentellen geradezu Hohn spre-
    Aus gesamtbritischer Sicht gesehen hat es        chende System führt dazu, dass Projekte nicht
mehr als nur symbolischen Wert, dass die Hoch-       nur ihre Ergebnisse beim Einreichen der Vorha-
schulpolitik dem Ministerium für „Business, In-      ben anzugeben haben, sondern auch die voraus-
novation and Skills“ untersteht und der Wissen-      sichtliche (gesellschaftliche) Wirkungsweise. Der
schaftspolitik folglich nur einen Staatssekretär     proselytischen Projektemacherei ist dabei Tür und
zubilligt. Es sei einem jeden überlassen, die        Tor geöffnet, dem damit einhergehenden geisti-
Nachahmungswürdigkeit dieses Bubenstücks zu          gen Bankrott allzu vieler publikumswirksamer
prüfen. Besagte Politik gründet im Wesentlichen      Projektmitteljäger ohnehin.
auf dem „Browne Report on Higher Education“
(2010) und einem Weißbuch, die beide behaup-         GEMEINSAMKEITEN IN BEIDEN SYSTEMEN
tet haben, die Universitäten hätten bislang ihre        Unbedingt vergleichbar in beiden Systemen ist
Aufgaben nur unzureichend erfüllt, was unbewie-      die hemmungslose Jargonbildung, die zwar von
sen blieb. Diese „Aufgaben“ betreffen vor allem      Anglizismen beherrscht wird, aber auch die deut-
die berufsbildungsgerechte Ausrichtung der Lehr-     sche Terminologie fällt nicht unbedingt dadurch
inhalte. Tatsache ist jedoch, dass bislang im        auf, dass sie sich sprach- und damit bewusst-

14     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84
VONEINANDER LERNEN ODER EINÜBUNGEN INS TRENNENDVEREINENDE?

seinskritischer Einsichten verdankt. Ich denke       wirkungsvolle Abhilfe schaffen. Allein der eher
dabei an Wortungetüme wie „Kompetenzkompe-           hilflose Umgang mit der Studiengebührenfrage
tenz“ (eben das lässt sich mit einem reflektierten   hierzulande hat gezeigt, wie traditionsverhaftet
Bildungsbegriff nicht machen!) oder englischer-      bestimmte Verhaltensweisen im akademischen
seits „enabling ability“ als Gradmesser für dozen-   Bereich nun einmal sind. Statt die Mittel für
tische Leistungen. Ein weiteres Beispiel liefert     Planstellen zu verwenden, wurden meist nur zeit-
im deutschen hochschulpolitischen Diskurs der        lich befristete Lehrkräfte für Tutorien eingestellt.
Begriff der „Nachhaltigkeit“. Keine universitäre     Hochschulstrukturpolitisch sollte es sich die deut-
Presseverlautbarung ohne Hinweis auf die „nach-      sche Bundesrepublik leisten können, das Ver-
haltige“ Wirkung dieser oder jener Konzeption.       hältnis zwischen akademischem Mittelbau und
Es ist soweit: Inzwischen findet sich sogar ein      der Professorenschaft durchlässiger zu gestalten,
Studiengang in Nachhaltigkeit, angeboten von         Privatdozenten (wenn man denn diese Bezeich-
einer norddeutschen Hochschule. Man sollte lie-      nung beibehalten möchte) Zukunftsperspektiven
ber aus Max Webers Schrift „Wissenschaft als         zu bieten und diese Reform durch Mindeststu-
Beruf“ (1917) zitieren, etwa jene Passage, in der    diengebühren zumindest zum Teil zu finanzieren.
Weber davor warnt, Begriffe wie ideologische         Diese Annäherung an das englische, in diesem
Hülsen zu verwenden. Vielmehr seien sie als          Falle gesamtbritische System wäre mittelfristig
sprachlich-gedankliche Experimente zu verstehen,     sinnvoll. Denn die Staffelung des Dozentenwesens
deren Bedeutung im Fluss bleibe und nur durch        in Lecturer, Senior Lecturer, Reader, Professor
„schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit“ wie-    hat sich seit Langem ausgesprochen bewährt.
der und wieder gedeutet werden könne.                    Vergegenwärtigen wir uns ein Gegenbeispiel.
    Was die deutsch-englischen Erfahrungen im        Es ist selten genug: Ein englischer Staatssekretär
Bereich der Hochschulpolitik verbindet und trennt,   für die Universitäten und Wissenschaft interes-
lässt sich durch Schwerpunkte benennen, und          siert sich für ein deutsches Modell und drängt
ich wiederhole: Im Sinne der politischen Infra-      auf Umsetzung. So geschehen in Gestalt von David
struktur hat sich – praktisch wie symbolisch – als   Willetts, der nachdrücklich Gefallen am Modell
verheerend ausgewirkt, die Universitäten dem         der Fraunhofer-Institute gefunden hat. Durch ihre
Wirtschaftsministerium zu unterstellen. Das United   Adaption versucht die britische Regierung über
Kingdom steht vor einem hochschulpolitischen         den „Technological Strategy Board“ die institutio-
Schisma – Stichwort: die englisch-schottische        nellen Voraussetzungen für einen nachhaltigen
Antinomie in Sachen Selbstverständnis ihrer          Innovationsschub in Britannien zu schaffen, und
Wissenschaftskultur. Deutscherseits besteht ein      zwar in den Bereichen Satellitentechnologie,
Hauptproblem in der durch die an sich staunens-      qualitative Steigerung der Herstellungsindustrie,
werte Exzelleninitiative möglicherweise entste-      Zelltherapie, digitale Ökonomie und erneuerbare
henden universitären Zwei-Klassen-Struktur, wie-     Energien. Bezeichnenderweise heißen diese Insti-
derum „newspeak“-haft ausgedrückt: Ausdiffe-         tute in Britannien „Catapults“. Was ihnen fehlt,
renzierung durch eine (freilich verspätet wirkende   ist langfristige Finanzierung, Verbindung von
und traditionsferne) Elitebildung, mit der Britan-   Grundlagen- und Spitzenforschung und ein er-
nien zumindest nach außen hin keine gesell-          kennbares integriertes Entwicklungskonzept, also
schaftspsychologischen Probleme hat.                 alles das, was die Fraunhofer-Institute in ihrem
                                                     Wesenskern auszeichnet. Man setzt stattdessen
VONEINANDER LERNEN                                   auf kurzatmiges Katapultieren, wobei man auf
    So anglisierfreudig sich das deutsche System     das im Bereich von Forschung ungefähr bizarrste
immer wieder gezeigt hat, in einem Bereich hätte     Wort verfallen ist, um deren Prinzipien zu be-
dieses Verhalten Vorteile, nämlich in den Anstel-    schreiben. Verfehlter ist selten vom anderen ge-
lungsverfahren für Hochschullehrer, die in der       lernt worden. Da fügt es sich ins Bild eigenartiger
deutschen Praxis viel zu schleppend vor sich         Selbstverblendung, wenn der Finanzminister des
geht und in der Gestalt des Privatdozenten die       Landes behauptet, Britannien werde Europas
Verelendung eines akademischen Standes perpe-        Technologiezentrum werden, was pikanterweise
tuiert. Maßvolle Studiengebühren könnten hier        von tags darauf veröffentlichten Statistiken des

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 84                      15
RÜDIGER GÖRNER

Europäischen Patentamts konterkariert wurde,          unberücksichtigt, weil sie zahlenmäßig nicht oder
die unter den fünfzig Spitzenpatentanmeldungen        nicht mehr ins Gewicht fallen. Anders gesagt:
nur eine zur Hälfte britisch zu nennende Korpo-       Quantität gibt sich auch hier den Anschein von
ration aufführt (Unilever).                           Qualität.
                                                          Ein gemeinsames Problemfeld erscheint mir
GEMEINSAME PROBLEMFELDER                              schwerwiegender: Die Frage der Beurteilungs-
    Wiederum enger auf die Hochschulen bezo-          und Entscheidungskompetenz innerhalb des uni-
gen stellt sich freilich ein Problem, das jenseits    versitären Betriebs. Da in zunehmendem, wenn
der Finanzierungsmodelle angesiedelt ist, aber        nicht erschreckendem Maße Verwaltungsaufga-
zu oft ausgeblendet wird – ein Problem, das           ben und Wissenschaftsmanagement von Hoch-
deutsche wie britische Hochschulen teilen, weil       schullehrern übernommen werden müssen, die
es ein globales Phänomen geworden ist: die fort-      Leitungsfunktion haben in innerhalb von Groß-
schreitende Virtualisierung der Lehr-und Lern-        fakultäten als Schools organisierten Instituten,
bedingungen. Das Stichwort „Virtual Learning          Fachschaften oder Departments, können sach-
Environment“ gehört zu den größten Herausfor-         kompetente Entscheidungen längst nicht mehr
derungen für den herkömmlichen Hochschulbe-           garantiert werden. Der Zielkonflikt ist im Rahmen
trieb, die gemeinhin eher verdrängt denn thema-       der prinzipiell wertvollen universitären Selbst-
tisiert werden. Zwar figurieren Hinweise auf VLE      verwaltung offensichtlich: Einerseits soll es nicht
in Modulbeschreibungen und gelegentlich findet        zu einer Entkoppelung von Forschung, Lehre und
sich in einschlägigen Studien der Hinweis, die        Verwaltung kommen, da sonst fach- und lehrpra-
Fernuniversität oder Open University, früher die      xisfremde bürokratische Entscheidungen drohen.
Funkkollegs, seien Sonderphänomene. Aber wer-         Andererseits haben die arbeitsrechtlichen, finanz-
den sie nicht mehr und mehr zum Modellfall, aus       technischen und planungstechnischen Probleme
dem eine Norm für die Restrukturierung der            Komplexitätsgrade erreicht, die Verwaltungsfach-
Hochschulen werden kann? Zu denken ist hier           leute erfordern. Ob wir es uns eingestehen oder
an die Khan Academy oder das Experiment, das          nicht, viele von uns arbeiten im akademischen
im Herbst 2011 in Stanford lief, und zwar mit ei-     Getriebe am Rande des vom System generierten
nem Studienprogramm „Introduction to Artificial       Dilettantismus, der Überforderung oder Selbst-
Intelligence“, das weltweit gebührenfrei über         überschätzung.
160.000 Studenten belegten. Nebenbei bemerkt:             Ein entscheidender gemeinsamer, freilich nicht
Einer der virtuell Lehrenden, Peter Norvig, ist       nur britisch-deutscher Problemnenner ist jedoch,
gleichzeitig Director of Research bei Google. Die-    welchen gesamtgesellschaftlichen Stellenwert wir
ses Szenarium gilt es künftig in den Blick zu         Bildung und Forschung einräumen, wie sich die
nehmen, selbst dann wenn vermeintlich nur bila-       Hochschulen organisieren und wie sich Wissen-
terale hochschulpolitische Transferfragen in Rede     schaft strukturiert. Insbesondere in England ha-
stehen. Ist inzwischen das Interesse an Lehr-und      ben wir uns über Jahre auf eine Scheinautonomie
Lerntechnologien größer als jenes an Inhalten?        der Universitäten zubewegt, die kaum von inhalt-
Gilt auch hier, dass das Medium der Inhalt ist?       lichen Wertsetzungen getragen worden ist, son-
    Bei „Vergleichen“ der vorliegenden Art liegt      dern von Ressourcenzuteilung oder deren Entzug.
es nahe, sich in Einzelbeispielen zu verlieren –      Diese Scheinautonomie hat jedoch zu einem ex-
von der Problematisierung der Habilitation bis        ponentiellen Anwachsen der internen Kontroll-
zur Art studentischer Mitwirkung an der Gestal-       mechanismen geführt, ganz gleich nach welchem
tung der Curricula. Die britische Skala etwa reicht   Strukturmodell sich die Universitäten richten, ob
von deutscherseits unbekannten systematisierten,      sie sich in Großfakultäten oder kleinen bewegli-
anonym-elektronisch ausgewerteten Qualitäts-          cheren Einheiten organisieren. Darin drückt sich
rückmeldeverfahren für die Lehre in den einzel-       ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Dozen-
nen Modulen, auch „feedback“ genannt, bis zum         tenschaft aus, die sich ihrerseits nicht selten
„National Student Survey“, dessen methodologi-        hoffnungslos überfordert sieht durch zusätzliche
sche Fragwürdigkeit schwer zu überbieten ist,         verwaltungstechnische Aufgaben, deren Zeitauf-
bleiben dabei doch ganze Fachgruppen einfach          wand in keinem Verhältnis zum Ertrag steht und

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VONEINANDER LERNEN ODER EINÜBUNGEN INS TRENNENDVEREINENDE?

entsprechende Energien von Forschung und Lehre        genaue Gegenteil fordern oder zu erwarten schei-
abzieht. Wer heute nach einem äußerlich liberal       nen. Zu erwähnen ist hier die Tendenz vieler
wirkenden, nach innen jedoch überbürokratisier-       Wissenschaftsstiftungen, operativ vorzugehen und
ten System sucht, wird es in den englischen           nur noch Anträge zu berücksichtigen, die sich
Hochschulen finden. Verlorengegangen ist dabei        diesen operativen Vorgaben unterordnen. So
das Ethos, sofern man von werbewirksamen Pa-          nachvollziehbar dies aus der Sicht des stiftungs-
rolen eitler Selbstüberbietung absieht, die sich      politischen Planungsrationalismus auch sein mag,
für Hochglanzbroschüren und Website-Auftritte         es hemmt die Vielfalt in der Forschung. Gleich-
eignet, das akademische Selbstverständnis als         zeitig leistet sich der Staat ein Evaluierungssys-
einer fundamental kritisch-produktiven Tätigkeit      tem, in Deutschland auf die Exzellenzinitiative
jedoch bestenfalls parodiert.                         bezogen, in Britannien auf die Mechanismen des
    Wenn es etwas gibt, was beide Systeme ge-         „Research Excellence Framework“, dessen Kos-
meinsam neu lernen müssen, dann das Schaffen          tenaufwand – gerade in Britannien – in keinem
von akademischen Freiräumen, in denen for-            Verhältnis zu dem steht, was damit an konkreter
schend gelehrt und lehrend geforscht werden           Forschung oder an Graduiertenstipendien finan-
kann und in denen Wissenschaftler sich ihrem          ziert werden könnte.
Eigentlichen widmen können und nicht auf Dritt-
mitteljagd ganze Forschungssemester damit ver-        ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN
bringen, Anträge auszufüllen. Wünschenswert               Abschließend sei noch einmal das Stichwort
wäre eine fortschreitende Kollaboration unserer       „föderale Struktur der Wissenschaftskultur“ er-
Forschungsförderungsinstitute. Das von der Deut-      wogen. Wissenschaften sind in sich plural. Eine
schen Forschungsgemeinschaft und dem „Arts            pluralistische Struktur wird ihnen institutionell,
and Humanities Research Council“ aufgelegte,          also verwaltungstechnisch, und in ihrer politi-
dann wieder unterbrochene, schließlich neu aus-       schen Kontextualisierung am angemessensten
geschriebene gemeinsame Programm bedeutet             gerecht. Im britisch-deutschen Verhältnis ergibt
einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung.     sich hierbei einmal mehr eine paradoxe Situation:
Gleiches gilt für die Zusammenarbeit der Wissen-      Während deutscherseits zunehmend ein Über-
schafts- und Kunstakademien. Eine erfolgreiche,       druss an den vermeintlich ineffizienten, Entwick-
erprobte Bilateralität kann eine sehr gute Grund-     lungsprozesse verlangsamenden Auswirkungen
lage sein, um erweiterte Projekte im EU-Rahmen        des föderalistischen Bildungs- und Hochschul-
und darüber hinaus glaubhaft zu entwickeln. Zu        systems spürbar ist, beginnt man in Britannien
oft wird immer noch versucht, eine sogenannte         Chancen einer dezentralisierten Hochschulpolitik
internationale Forschergruppe zusammenzubrin-         zu erkennen. Dass Wissenschaftspolitik – gerade
gen, die aber nicht aus tragfähigen, bereits bila-    auch wenn sie mit Standortfragen verbunden ist –
teral bewährten Komponenten besteht.                  regionale Förderungspolitik betreibt, hat man in
    Was wir voneinander lernen sollten: den Eva-      Wales, Nordirland und Schottland erkannt und
luationswahn zu therapieren, die Groteske namens      begreift sie nun, dort zumindest, als Teil einer
„impact“ zu kontern und damit ein System, das         wertorientierten Entflechtung des englischen
Forscherinnen und Forscher dazu zwingt, ihre ei-      Zentralismus. Dazu gehört auch ein von der Uni-
genen Wirkungsanalysen zu betreiben, und ihre         versity of Warwick und meinem College, Queen
Institutionen dazu verleitet, „ghost-writer“ einzu-   Mary, University of London, entwickeltes Modell
stellen, um überzeugende „narratives“ in Sachen       einer „strategic partnership“, die den Zentralis-
gesamtgesellschaftlicher Wirkung von Forschung        mus relativiert und ganz neue Perspektiven inter-
zu erstellen. Wollen oder können wir ihn wirklich     regionaler Wissenschaftskooperation eröffnet
beseitigen, den produktiven Leerlauf in der For-      (Grafschaft Warwickshire und Ost-London) und
schung? Verdanken wir ihm nicht einige der            auf die Kompatibilität beziehungsweise wechsel-
größten wissenschaftlichen Errungenschaften? Es       seitige Ergänzungen ihrer Studien- und For-
soll ja noch vorkommen, dass die Forschungs-          schungsprogramme baut, wobei diese Institutio-
ergebnisse nicht längst vor Beginn der Arbeit         nen ihre globalen Verflechtungen mit in diese
feststehen, obzwar die Drittmittelgewährer das        Partnerschaft einbringen.

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