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Homöopathische Fallanalyse Von Hahnemann bis zur Gegenwart - die Methoden Bearbeitet von Gerhard Bleul 1. Auflage 2011. Buch. 272 S. Hardcover ISBN 978 3 8304 7320 6 Format (B x L): 24 x 17 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Komplementäre Medizin, Asiatische Medizin (TCM), Heilpraktiker > Homöopathie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.
40 3 Bönninghausens Methode der Arzneifindung Robert Goldmann 3.1 Kurzcharakteristik, Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2 Die Position der Methode in der Homöopathie . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.3 Indikationen und bevorzugte Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . 43 3.4 Praktisches Vorgehen bei der Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.5 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.1 fallsleiden, chronischen Kopfschmerzen und rheu- Kurzcharakteristik, matischen Beschwerden). Dies sollte den Blick auf Bönninghausens Arbeitsweise lenken, der mit Zusammenfassung Hahnemann in vertrautem Briefwechsel stand In den vergangenen Jahrzehnten kam es, nicht zu- und dem dieser 1833 anerkennend attestierte: letzt durch die Neuauflage der Werke Clemens von „Der Herr Regierungsrath, Freiherr von Bönning- Bönninghausens (1785–1864), zur Wiederentde- hausen in Münster hat meine homöopathische Heil- ckung seiner therapeutischen Vorgehensweise. lehre so gründlich studirt und sich so zu eigen ge- Unter der sogenannten Bönninghausen-Methode macht, daß er als ein vollkommner homöopathischer wird eine spezifische Art der Fallanalyse verstan- Heilkünstler ein so vollkommnes Vertrauen verdient, den, die anhand verstreuter Hinweise aus seinen daß, wäre ich selbst krank und könnte mir nicht Schriften rekonstruiert werden kann. Mit ihrer helfen, ich mich keinem Arzte, ausser ihm, anver- klaren Unterscheidung in Haupt- und Nebensymp- trauen würde.“ ([11], S. 88) tome sowie dem direkten Bezug zur Arzneimittel- prüfung bei der Mittelwahl entspricht sie weitge- hend der genuinen Homöopathie im Sinne Hahne- 3.2 manns. Wenn sein innerer Aufbau verstanden wurde, stellt das Therapeutische Taschenbuch für Die Position der Methode in der den Praktiker ein kaum entbehrliches Handwerks- Homöopathie zeug dar. Es eignet sich zur Behandlung eines guten Teils der in der hausärztlichen Tätigkeit auftreten- 3.2.1 Kurzbiografie des Begründers, den Beschwerden, sofern die Symptomatik ent- seine Lehrer, seine Philosophie sprechend gelagert und einer homöopathischen Der Jurist, Botaniker und Agronom war 1828 durch Therapie zugänglich ist. homöopathische Behandlung mit je einer Gabe Daher verdienen es Bönninghausens Schriften, Pulsatilla und Sulphur C 30 – verordnet von sei- aufmerksam gelesen zu werden. In seinen Zeit- nem Freund, dem Hahnemann-Schüler Carl Ernst schriftenpublikationen und Krankenjournalen August Weihe (1779–1834) – von einer Tuberku- (Letztere allein 112 Bände) finden sich Heilungs- lose genesen. Anschließend wandte sich Bönning- verläufe chronischer Erkrankungen, bei denen die hausen selbst der Homöopathie zu und bereicherte kurze Behandlungsdauer überrascht (z. B. bei An- diese unter anderem durch seine Erkenntnisse zu aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.2 – Die Position der Methode in der Homöopathie 41 den Arzneibeziehungen und den Indikationen von Auf den ersten Blick besticht Bönninghausens Folge- und Zwischenmitteln. Annette von Droste- Repertorium durch seine Handlichkeit. Die um- Hülshoff war seine erste Patientin. Ihre Kranken- fangreichen Rubriken mit ihren knappen Begriffen geschichte ist uns erhalten geblieben. Er setzte sich verwundern den Betrachter anfänglich, der an das schon früh für die Anwendung von Hochpotenzen Kent’sche Repertorium oder seine Nachfolger ge- ein, die er ab 1843 fast ausschließlich verordnete wöhnt ist. Die dem Therapeutischen Taschenbuch (C 200). Mehrere homöopathische Ärzte hospitier- innewohnende Struktur muss aber nachvollzogen ten bei Bönninghausen, darunter um das Jahr 1848 werden, um Bönninghausens Methode der Fallana- Dr. A. Chargé (1810–1890) aus Frankreich und in lyse überhaupt effektiv anwenden zu können. Bönninghausen den Jahren 1851 und 1855 der Amerikaner Carroll Im Normalfall ist eine Arzneimittelprüfung Dunham (1828–1877). Adolph Lippe (1812–1888) nicht vollständig. Genauso wenig ist die Gesamt- begleitete im Jahr 1860 über zwei Wochen Bön- heit der krankhaften Symptome eines Patienten so ninghausen bei der Arbeit. Alle waren von Bön- umfangreich, dass sie klar der Symptomenreihe ninghausens Materia-medica-Kenntnissen beein- eines einzigen Arzneimittels entspricht. Bönning- druckt und berichteten von seiner treffsicheren hausen sah die Lösung dieses Problems darin, dass Verordnungsweise. Um den Umgang mit der an- er „durch Hervorhebung des Eigenthümlichen und wachsenden Materia medica homoeopathica und Charakteristischen der Mittel [. . .] einen Weg in das ihrer zunehmenden Anzahl geprüfter Arzneien zu weite Feld der Combination eröffnete, welcher bisher bewältigen, schuf er mit dem Therapeutischen Ta- noch nicht betreten war.“ ([2], S. VIII) schenbuch ein übersichtliches Repertorium mit de- Die ursprüngliche Einheit eines Symptoms finierter Gradeinteilung. wird in seine einzelnen Elemente aufgelöst und diese können dann frei miteinander kombiniert werden. 3.2.2Aufbau des Therapeutischen Die Elemente eines (im günstigsten Falle) voll- Taschenbuchs ständigen Symptoms sind Obwohl vor Einführung des Kent’schen Reperto- 1. die Lokalisation, also der Ort der krankhaften riums in homöopathischen Kreisen verbreitet, ist Affektion, das Therapeutische Taschenbuch von 1846 [2] wohl 2. die Empfindung oder der Befund, also z. B. das am meisten missverstandene Werk in der Ho- stechende Schmerzen oder – im Falle des Be- möopathie. Umso wichtiger ist die Einsicht in das fundes – beispielsweise muskuläre Schlaffheit ihm zugrunde liegende Konzept, um hier kein oder Straffheit, die Beschaffenheit von Efflo- wertvolles Praxiswerkzeug zu verlieren. Herbert reszenzen oder Absonderungen etc., A. Roberts (1868–1950) benutzte es besonders 3. die Modalitäten, Umstände von Verschlimme- bei chronischen Fällen. Erastus E. Case (1847– rung oder Besserung der Beschwerden und 1918) bevorzugte es bei „obskuren“ Erkrankungen 4. Begleitsymptome, falls vorhanden. mit gemischten Symptomen und nahm Kents Re- pertorium erst an zweiter Stelle zu Hilfe. Julia M. An dieser Stelle sei auf die nicht immer klare Un- Green (1871–1963), von James Tyler Kent (1849– terscheidung von Begleitsymptom und Neben- 1916) als seine Schülerin bezeichnet, empfahl die symptom hingewiesen. Das Begleitsymptom tritt Beherrschung beider Repertorien. Cyrus M. Boger in engem zeitlichen Zusammenhang mit einem (1861–1935) führte in seiner Übersetzung Bön- Symptom auf (das kann ein Haupt- oder auch ein ninghausens früheres Systematisch-Alphabetisches Nebensymptom sein) als ein Element im Sinne des Repertorium in seinen beiden Teilen mit dem The- vollständigen Symptoms, z. B. kalte Füße bei jedem rapeutischen Taschenbuch zusammen, ergänzte Migräneanfall. Das Nebensymptom dagegen er- weitere Arzneien sowie Hinweise aus Bönninghau- scheint als Teil der zu behandelnden Symptomen- sens Schriften und schuf damit Boenninghausen’s gesamtheit im Zuge des Hauptsymptoms, also in Characteristics and Repertory, welches bis heute einem geweiteteren zeitlichen Geschehen: Bei- aufgrund des ihm eigenen Aufbaus bei der Arznei- spielsweise leidet ein Patient seit Beginn der Mi- mittelsuche seine Aktualität behalten hat. gräneerkrankung an kalten Füßen. aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung 42 E Tab. 3.1 Gradeinteilung in vier Schriftarten (Therapeutisches Taschenbuch). Grad Schriftart der unterschiedlichen Grade Bedeutung 0 (zweifelhaft) näherer Bestätigung bedürfend 1 sicher in der Arzneimittelprüfung aufgetreten 2 sicher, wiederholt beobachtet mit wiederholt in der Arzneimittelprüfung aufgetretener Erstwirkung 3 durch Heilung verifiziert zusätzlich in der Beobachtung am Patienten durch Heilung bestätigt oder ausschließlich am Patienten beobachtet 4 MEHRFACH VERIFIZIERT häufig durch Heilung bestätigt oder häufig ausschließlich am Patienten beobachtet [9] Die Teile eines vollständigen Symptoms wer- S. 332 f.). Unter diesem Aspekt lohnt es sich, einmal den nun in den verschiedenen Kapiteln des Thera- ein kleines Mittel anhand von Arzneimittelprüfung peutischen Taschenbuchs angegeben. So ist etwa und Aufsuchen der Rubrik im Therapeutischen Ta- eine bestimmte Art von Zahnschmerzen über schenbuch zu erarbeiten. Man erlebt dabei die mehrere Kapitel verteilt, nämlich Sorgfalt, mit der Bönninghausen vorging, und ● im 2. Kapitel (Körperteile und Organe) die Loka- seine enorme Kenntnis der damals vorhandenen lisation des Schmerzes, Arzneimittel, die bis heute den Hauptteil unserer ● im 3. Kapitel (Empfindungen und Befunde) die Verordnungen ausmachen. Art des Schmerzes und Als Quellen dienten Bönninghausen die damals ● im 6. Kapitel (Modalitäten) die Erhöhung oder vorhandenen Arzneiprüfungen – Hahnemanns Linderung der Beschwerden je nach Zeit, Lage Reine Arzneimittellehre und die Chronischen Krank- oder anderen Umständen. heiten, die Prüfungen aus Stapfs Archiv für die ho- möopathische Heilkunst – sowie beobachtete Veri- Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier einer fikationen und klinische Erfahrungen. willkürlichen Kombinatorik Tür und Tor geöffnet In den Rubriken des Therapeutischen Taschen- wird. Nach Bönninghausen muss aber „der Genius buchs sind die Arzneien in vier unterschiedlichen des Heilmittels in allen Beziehungen dem Genius der Graden vertreten, wobei der niedrigste, einge- Gesammtkrankheit, wie er sich durch seine charak- klammerte und laut Bönninghausen noch weiterer teristischen Symptome zu erkennen giebt, genau ent- Bestätigung bedürfende Grad vernachlässigt wird: sprechen“ ([1], S. 407). Die hier aufgeführte Gradeinteilung (▶ Tab. 3.1) Dieser Genius durchzieht das Arzneimittel „wie geht auf die revidierte Ausgabe des Therapeuti- der rote Faden in den Tauen der englischen Ma- schen Taschenbuchs [4] zurück, die im Folgenden rine“ in verschiedenen Bereichen: Es sind meist auch zur Repertorisation verwendet wurde. (Die Empfindungen oder Modalitäten, die von mehre- revidierte Ausgabe des Therapeutischen Taschen- ren Prüfern beobachtet wurden, sich deutlich zeig- buchs führt noch einen 5. Grad nach C. Dunhams ten und in verschiedenen Körperbereichen auftra- handschriftlichen Aufzeichnungen an.) ten ([7], S. 226). So kann eine Modalität oder Emp- Die ersten beiden Grade entsprechen damit findung, die sich bei der Prüfung eindeutig kund- Prüfungssymptomen, die beiden höchsten Grade tut, auch auf andere Lokalisationen übertragen wären idealerweise vom Konzept her klinische Be- werden. Wir kennen dies z. B. von der Bewegungs- stätigungen von Prüfungssymptomen („sowohl verschlimmerung bei Bryonia oder der Wärmever- durch die Charakteristik der Mittel, als durch die schlechterung bei Pulsatilla. Bönninghausen erläu- Praxis vorzugsweise bewährt“ [2], S. IX), wobei wir terte diesen Zusammenhang anhand der von in- allerdings auch in den höchsten Graden rein klini- nen nach außen gerichteten Stiche bei Asa foetida, sche Symptome finden, die in der Arzneimittelprü- die in der Prüfung häufig beobachtet wurden ([5], fung von ihrer Art her als Erstwirkung gar nicht aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.4 – Praktisches Vorgehen bei der Fallanalyse 43 auftreten können (etwa Beschwerden infolge von schung der Repertorisation mit mehreren Reperto- Impfungen oder Infektionskrankheiten sowie Indi- rien legitim, z. B. bei einzelnen Rubriken, die in kationen wie „Alkoholiker“, „Alte Menschen“, manchen Repertorien nicht enthalten sind, sofern „Kinder“, „Verbrennungen“, „Wöchnerinnen“ oder man den abschließenden Symptomenvergleich „Würmer“). nicht außer Acht lässt. 3.3 3.4 Indikationen und bevorzugte Praktisches Vorgehen bei der Bönninghausen Anwendungsgebiete Fallanalyse Bönninghausens Methode bietet sich bei akuten Die Analyse erfolgt nach der Fallaufnahme in fünf oder chronischen Beschwerden an, wenn deutliche Schritten, nämlich in der Anordnung der Symp- Modalitäten, konstante Empfindungen oder Lokal- tome nach folgender Einteilung und Gewichtung: befunde im Sinne eines möglichst vollständigen Symptoms vorhanden sind: so etwa bei Erkran- 1. Causa occasionalis kungen des Bewegungsapparates, z. B. Ischialgien, Gemeint ist die Ursache hinsichtlich des Haupt- oder bei lokalisierten Beschwerden mit nicht ein- symptoms bzw. der Umstand, wonach sich das deutiger Gemütssymptomatik und ohne aussage- Hauptsymptom erstmals zeigte, was rein phäno- fähige Allgemeinsymptome. Bei ausgeprägter menologisch und nicht ätiologisch zu verstehen ist. Geistes- und Gemütssymptomatik wird man So wird lediglich eine zeitliche Synchronizität, Kents Methode bevorzugen. Letztlich entscheidet nicht ein pathophysiologischer Zusammenhang aber die zur Arzneifindung verwertbare indivi- zwischen möglicher Causa und Auftreten des duelle, charakteristische Symptomatik, welche Hauptsymptoms erforderlich (Organon § 5: „Als Methode jeweils gewählt wird – ob Kent, Bönning- Beihülfe der Heilung dienen dem Arzte die Data der hausen oder eine andere. wahrscheinlichsten Veranlassung der acuten Krank- Als Vorteil dieser Repertorisationsmethode sei heit [. . .]“). das homogene Konzept mit seiner definierten Gradeinteilung hervorgehoben. Bei einem Seiten- 2. Hauptsymptom blick auf die vorhandenen aktuellen Repertorien Hierunter wird die vorrangige Beschwerde ver- wird uns dabei bewusst, dass diese in all ihrer standen, sozusagen der Anlass für die Konsulta- Symptomenfülle die Gefahr in sich bergen, Gra- tion. Es ist als möglichst vollständiges Symptom duierungen unterschiedlicher Definition miteinan- (gemäß Organon § 86) aufzunehmen. der zu vermischen und dadurch insgesamt unzu- verlässig werden. 3. Nebensymptome Als gewisser Nachteil bei der Arbeit mit dem Bei den Nebensymptomen handelt es sich um Be- Therapeutischen Taschenbuch ist die relativ kleine schwerden, die in zeitlichem Zusammenhang mit Zahl der vertretenen Arzneien zu nennen (insge- dem Hauptsymptom in anderen Körperbereichen samt nur 133 Arzneien, dem Stand der Arzneiprü- entstanden sind und andauern. Falls das Haupt- fungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts entspre- symptom im Gemütsbereich liegt, dann finden chend), außerdem das Fehlen einiger Symptombe- sich die Nebensymptome im körperlichen Bereich reiche (wie Zungenbelag, Menopause oder Husten- (Organon § 95). qualitäten). Dies ist aber nicht unbedingt als ein Mangel zu betrachten, denn die Erfahrung der Ta- 4. Stimmung schenbuch-Anwender zeigt, dass ein Großteil der Last but not least werden die Änderungen des Fälle mit diesen Arzneien gut behandelt werden Gemütszustandes, sofern sie nicht das Haupt- kann. Falls ein nicht enthaltenes Arzneimittel bes- symptom konstituieren, einbezogen. Diese psychi- ser zu passen scheint, bietet sich der Wechsel zu sche Befindensveränderung im Zuge der Erkran- einem anderen Repertorium an. Auch ist die Mi- kung ist letztlich das entscheidende Kriterium für aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung 44 die Arzneiwahl (Organon § 211–213: „Dieß geht so außer Acht gelassen, was mit der Idee des Konsti- weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmit- tutionsmittels kaum vereinbar ist. tels der Gemüthszustand des Kranken oft am meis- ten den Ausschlag giebt“). 3.5 5. Polaritäten Fallbeispiele Hierbei wird die Arzneiwahl durch den Ausschluss von Kontraindikationen, nämlich durch Rubriken, 3.5.1 Fallbeispiel 1 die das Gegenteil der Symptomatik ausdrücken, Ein Beispiel aus Bönninghausens Schriften soll noch einmal überprüft („wenn die übrigen Zeichen seine Methode veranschaulichen: keine Widersprüche enthalten“– [5], S. 699). Wider- „Ein anderes Mittel war nöthig, um die gänzliche spricht die infrage kommende Arznei in ihrem Ge- Stimmlosigkeit bei einem 20jährigen Mädchen zu nius der Symptomatik? heben, welche durch Erhitzung beim Tanzen ihre Ein Beispiel: Ist in einem Krankheitsfall eine Stimme verloren hatte. Th. G. zu D., die einzige Toch- Abendverschlimmerung, die Besserung durch Be- ter eines wohlhabenden Bauers, hatte am Fast- wegung in frischer Luft und eine Unverträglichkeit nachtssonntage 1838 übermäßig getanzt, weil sie von fetten Speisen vorliegend? Dann spräche dies hübsch und reich, mithin der Gegenstand großer für Pulsatilla. Ergibt sich Pulsatilla aber in einem Kourtoisie war. Am andern Morgen war zum Ent- anderen Fall neben mehreren anderen Arzneien in setzen ihrer Eltern die Stimme fort. Nun ging das der Repertorisation, und es findet sich dabei eine Konsultiren der Aerzte los, und es wurde 6 Wochen abendliche Besserung sowie eine Besserung in ge- lang ‚alles Erdenkliche’ gebraucht; aber die Stimm- schlossenen Räumen, eine Bewegungsverschlech- losigkeit blieb wie sie war. In der Osterwoche kam ich terung und eine Indifferenz gegenüber fetten Spei- zufällig dahin, und sogleich baten mich die beküm- sen, dann sollte Pulsatilla noch einmal überdacht merten Eltern um Hülfe für ihre Tochter. Das Aus- oder eine andere infrage kommende Arznei ge- sehen des Mädchens war blühend, wie früher, aber wählt werden. die Stimme fehlte ganz, so daß sie mit aller Anstren- Mit der inzwischen geläufigen computerge- gung kaum verständlich flüstern konnte. Von Neben- stützten Repertorisation lassen sich auch alle ver- beschwerden, die zur Wahl des richtigen Mittels nöt- wendeten Modalitätenrubriken mit entgegenge- hig waren, erfuhr ich folgende: wenn sie durch die setzter Bedeutung unter- oder nebeneinander auf- Nase Athem holt, hat sie in derselben ein empfindli- listen. So wird durch die Polaritätsanalyse als zu- ches Kältegefühl; stets verdorbenen Magen nach sätzliches Kriterium eine größere Sicherheit bei jenem Tanzabende, wo sie mehrere Gläser (sauren?) der Mittelwahl erreicht. Dieses Verfahren, das Wein getrunken; am Tage, besonders Morgens, große sich in der Praxis bewährt hat, wird im vorliegen- Neigung zu schlafen ; sie ist wegen ihres Uebels sehr den Buch in einem eigenen Kapitel (▶ Kap. 6) von besorgt. Die gebrauchten allop. Arzneien hatten Heiner Frei ausführlich erläutert [3]. nichts gebessert und nur zur Folge gehabt, daß vor 8 Tagen nun auch die Periode ausgeblieben war. – Die Wahl des Mittels war nach obigen Symptomen 3.4.1 Verlaufskontrolle leicht genug und nach einer Gabe Antimon. crud. 30/ Vorrangig berücksichtigt Bönninghausen die ge- 2 war nach 48 Stunden alles Krankhafte vollkommen genwärtige Totalität von Haupt- und Nebensymp- und dauerhaft gehoben, und wie im Triumphe führ- tomen. Im Heilungsverlauf sollte sich dann das ten die glücklichen Eltern die Genesene zu mir, um Hauptsymptom bessern und nicht nur die weniger mir zu danken.“ ([5], S. 252 f.) belastenden Nebensymptome. Dies ist ein weiterer Eine Anordnung der Symptomatik nach dem Unterschied zu Kent, der dem Hauptsymptom in oben angegebenen Schema würde so aussehen der Regel nur geringe Bedeutung zuschreibt. Bei (▶ Tab. 3.2): Bönninghausen werden außerdem die vor dem ge- Es bieten sich nun mehrere Vorgehensmöglichkei- genwärtigen Kranksein aufgetretenen Symptome ten an: 1. Das Auszählen der sich durch die einzelnen Rubriken des Therapeutischen Taschenbuchs durch- aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.5 – Fallbeispiele 45 E Tab. 3.2 Symptomgewichtung Fallbeispiel 1. Reihenfolge Art des Symptoms Symptom Rubrik der revidierten Ta- der Analyse schenbuchausgabe 2000 1 Causa Verschlimmerung Erhitzung 2063 2 Hauptsymptom Stimme, mangelnd (Stimmlosigkeit) 758 3 Nebensymptome ● Verschlimmerung Wein, saurer 2225 ● Schläfrigkeit morgens 1770 ● Nase, innere 177 Bönninghausen ● Kältegefühl innerer Teile 1869 ● Verschlimmerung Lufteinziehen 2201 4 Stimmung (sehr besorgt wegen ihrer Krankheit) ziehenden Mittel – wie bekannt recht mühsam, da ● 253: Verlust der Stimme, so oft er heiß ward. die einzelnen Rubriken durch die Trennung der ● 251: Aeusserste Schwäche der Stimme; er kann Symptomen-Elemente zur gewünschten freien nur ganz leise reden. Kombination oft umfangreicher sind als vergleich- ● 74: Die Nase schmerzt beim Athmen, wie von bare Rubriken im Kent’schen Repertorium, in wel- Einathmen kalter Luft, oder von Einziehen chem die Symptome nicht gleichermaßen zerlegt scharfer Dämpfe. angeordnet sind. ● 144: Uebelkeit nach Trinken eines Glases Wein. 2. Um das Auszählen zu erleichtern, gibt es ● 410: Vorzüglich Wein-Trinken verschlimmert Lochkarten, von denen jede einer Repertoriums- sein Befinden. rubrik entspricht. Diejenigen Arzneien, welche das ● 425: Grosse Müdigkeit früh, und Unlust zum genannte Symptom aufweisen, sind gelocht. Wer- Aufstehen. den die Karten der zu repertorisierenden Rubriken ● 427: Grosse Schläfrigkeit am Tage und früh übereinandergelegt, so zeigen sich die jeweiligen nach dem Erwachen; er kann sich gar nicht Arzneien und können anhand des Materia-me- aus dem Bette finden. dica-Vergleichs differenziert werden. Aufgrund ● 7: Aengstliche Betrachtungen, am Tage, über des Prinzips der freien Kombination kann man sich selbst, sein jetziges und künftiges Schicksal. jedoch nicht erwarten, dass ein Arzneimittel im- mer im entsprechenden Körperbereich vertreten Mit der Repertorisation nach Kent wäre das Mittel ist. Die Therapeutische Taschenkartei [8] und die eventuell verloren gegangen, da sein Repertorium Homöopathische Lochkartei [9] sind auf diesem mit dem teilweisen Erhalt der Einheit der Symp- Prinzip aufgebaut und eignen sich zu einer schnel- tome anders, nämlich synthetisch, aufgebaut ist. len Bestimmung des Kreises der möglichen Arznei- Von besonderem Interesse ist der Vergleich ei- mittel. ner der wenigen ausführlichen Kasuistiken Hahne- 3. Mit den zur Verfügung stehenden PC-Pro- manns, in denen er seine Arzneiwahl explizit be- grammen lassen sich nach Eingabe von Text oder gründete, mit der zeitlich späteren Methodik Bön- Nummer der Rubriken am elegantesten die infrage ninghausens. Wir sehen dabei, wie aufwendig kommenden Arzneien eingrenzen. Hahnemann mit seiner unmittelbaren Arzneimit- Im vorliegenden Fall sticht nun Antimonium telkenntnis bei der Fallanalyse vorging. In seiner crudum hervor (mit einer Wertigkeit von 7/21), Behandlung der 40-jährigen „Lohnwäscherin“ – gefolgt von Sepia (7/17), ausgearbeitet mit der von Anton Rohrer in Kapitel 2 erörtert – schildert Taschenbuch-Revision 2000. er im 2. Band der Reinen Arzneimittellehre Symp- Das Studium der Materia medica belegt die tom für Symptom die Differenzialdiagnose der mit Arzneiwahl. Dazu seien die entsprechenden Symp- den Beschwerden der Erkrankten ähnlichen Arz- tome mit ihrer Nummerierung aus dem 2. Band neien. der Chronischen Krankheiten hier angeführt: aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung 46 E Tab. 3.3 Repertorisation Fallbeispiel 1. Ant-c. Sep. Phos. Bell. Nux-v. Anzahl der Treffer 7 7 6 6 6 Summe der Grade 21 17 16 15 15 Polaritätsdifferenzen 0 0 0 0 0 < Erhitzung (2063) 4 3 3 2 2 Stimme, mangelnd (Stimmlosigkeit) 3 1 4 3 2 (758) < Nahrungsmittel, Wein, saurer (2225) 4 1 Schläfrigkeit morgens (1770) 1 4 3 1 4 Nase, innere (177) 4 2 2 3 1 Kältegefühl innerer Teile (1869) 1 3 2 2 3 < Lufteinziehen (2201) 4 3 1 3 3 E Tab. 3.4 Repertorisation der „Lohnwäscherin“ Bry. Bell. Nux-v. Nat-m. Calc. Anzahl der Treffer 5 5 5 5 5 Summe der Grade 20 16 15 15 14 Polaritätsdifferenzen 10 8 10 7 6 Äußerer Bauch, Epigastrium 4 3 2 4 3 (Herzgrube) (451) Stechen innerer Teile (1059) 4 3 2 2 3 < Bewegung, während (2021) 4 4 4 3 2 < Auftreten, (hartes) (2002) 4 3 3 3 3 > Liegen (2553) 4 3 4 3 3 > Bewegung, während (2493) 1 1 1 1 > Auftreten (hart) (2486) < Liegen (2189) 1 1 1 1 1 Mit dem Therapeutischen Taschenbuch ergibt die Diese Gegenüberstellung verdeutlicht die ge- Repertorisation der Elemente niale Methode Bönninghausens, die im Grunde ● Lokalität: Herzgrube (451) verblüffend einfach ist. (Das hochrangige Ergebnis ● Empfindung: Stechen (1059) für Bryonia kann natürlich auch durch Bönning- ● Modalitäten: < Bewegung (2021) hausens Einarbeitung dieser Kasuistik in das The- ● < Auftreten (2002) rapeutische Taschenbuch mitbedingt sein.) ● > Liegen (2553) ● Stimmung: < Zorn (2127) jeweils Bryonia, und zwar immer im höchsten Grad. aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.5 – Fallbeispiele 47 E Tab. 3.5 Symptomgewichtung Fallbeispiel 2. Reihenfolge der Art des Symptoms Symptom Rubrik der revidierten Analyse Taschenbuchausgabe 2000 1 Causa < Ärger 2103 < Gemütsbewegung allgemein 2102 2 Hauptsymptom Augen, Augapfel 81 Stechen äußerer Teile 1058 < Zugluft, Zugwind 2466 Bönninghausen < Augenöffnen 2005 3 Nebensymptom äußerer Kopf, Hinterkopf 69 Äußerer Hals, Nacken 787 Schweiß einzelner Teile 1889 4 Stimmung Hoffnungslosigkeit (Verzweiflung) 12 3.5.2 Fallbeispiel 2 gen kalte Luft (1446–1450) und – bei den klini- Ein aktueller Fall aus meiner Praxis möge einen schen Angaben – der charakteristische Kopf- weiteren Aspekt beleuchten. Eine 67-jährige Pa- schweiß. tientin mit einem seit mehreren Monaten rezidi- Nach einer Gabe Calcarea carbonica XM vierenden linksseitigen Herpes ophthalmicus ohne (Schmidt-Nagel) war die Patientin innerhalb weni- Linderung durch die fachärztliche lokale Behand- ger Tage dauerhaft beschwerdefrei. lung meldet sich mit Die einzelnen Teile dieses vollständigen Symp- ● stechenden Augenschmerzen (Lokalisation und toms können, wenn nötig, auch noch untereinan- Empfindung), der nach ihrer Bedeutung sortiert werden. So be- ● schlimmer schon bei geringer Zugluft und beim stimmt eine deutlich auftretende Modalität die Öffnen der Augen, Arzneiwahl mit mehr Gewicht als eine Empfin- ● besser beim Schließen der Augen (Modalitäten). dung, die wiederum schwerer wiegt als die Loka- ● Sie sei durch die Beschwerden regelrecht ver- lisation. Auch in der vorliegenden Kasuistik führen zweifelt (Stimmung). die Modalitäten, wie dies meist bei der Arzneiwahl ● Begonnen haben die Beschwerden eine Woche nach der Bönninghausen-Methode der Fall ist. Es nach einer konfliktträchtigen Situation, die sie folgt die Empfindung, die Lokalisation steht an entgegen ihrer sonstigen Art extrem verärgert letzter Stelle. Und die Gemütsverfassung ist in habe (Causa). der entsprechenden Rubrik hochgradig vertreten. ● An Nebensymptomen gibt sie Schweiß im Hin- terkopf- und Nackenbereich an. Polaritätsanalyse Substanzielle Einwände gegen die in der Reperto- risation mit weitem Abstand führende Arznei Cal- carea carbonica (Calcium carbonicum Hahne- manni) (10/37) liegen nicht vor. In Anbetracht der Causa ist natürlich auch an Ignatia zu denken (9/31), welcher aber das Nebensymptom nicht ent- spricht. Im 2. Band der Chronischen Krankheiten finden sich die stechenden Augenschmerzen (Symptom Nr. 247–253), die Ärgerlichkeit (45–54) und die Verzweiflung (29 und 35), die Empfindlichkeit ge- aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung 48 E Tab. 3.6 Repertorisation Fallbeispiel 2 Calc. Bell. Chin. Ign. Sulph. Anzahl der Treffer 10 10 10 9 9 Summe der Grade 37 30 22 31 30 Polaritätsdifferenzen 1 -2 -1 4 -1 < Gemüt, Ärger (2103) 1 5 1 5 1 < Gemütsbewegungen allg. (2102) 3 3 1 4 2 Augen, Augapfel (81) 4 4 2 2 4 Stechen äußerer Teile (1058) 4 4 3 3 4 < Zugluft, Zugwind (2466) 5 4 3 4 4 < Augenöffnen (2005) 3 1 2 5 0 Äußerer Kopf, Hinterkopf (69) 5 1 2 5 Äußerer Hals, Nacken (787) 4 3 3 3 3 Schweiß einzelner Teile (1889) 4 3 3 1 4 Hoffnungslosigkeit (Verzweiflung) (12) 4 2 2 4 3 > Augenöffnen (2488) 2 3 3 1 1 L Literatur [6] Gypser KH. Leben und Werk von C. M. F. v. Bönning- hausen. Seminar vom 3.–4. Mai 1997 auf Stevernburg, Nottuln bei Darup [1] Bönninghausen Cv. Die Aphorismen des Hippokrates nebst den Glossen eines Homöopathen. Nachdruck [7] Gypser KH. Der „Genius“ der Arznei bei Bönninghau- der Ausgabe von 1863. Göttingen: Ulrich Burgdorf; sen. ZKH 1992; 36: 224–230 1979 [8] Lieth Bvd. Therapeutische Taschenkartei. Hamburg: [2] Bönninghausen Cv. Bönninghausens Therapeutisches Bernd von der Lieth; 1989 Taschenbuch. Münster 1846. Nachdruck Hamburg: [9] Minder P, Ryffel J. Homöopathische Lochkartei. Güm- Bernd von der Lieth; o. J. ligen: Spagyros AG; 2000 [3] Frei H. Homöopathische Behandlung multimorbider [10] Minder P. Die Bedeutung der Grade in Bönninghau- Patienten. Sichere Arzneimittelwahl durch Polaritäts- sens Therapeutischem Taschenbuch. ZKH 2010; 54: analyse und Bönninghausen-Methode. Stuttgart: 23–27 Haug; 2011 [11] Stahl M. Der Briefwechsel zwischen Samuel Hahne- [4] Gypser KH, Hrsg. Bönninghausens Therapeutisches mann und Clemens von Bönninghausen. Heidelberg: Taschenbuch. Revidierte Ausgabe 2000. 3. Aufl. Stutt- Haug; 1997 gart: Sonntag; 2006 [5] Gypser KH, Hrsg. Bönninghausens Kleine Medizini- sche Schriften. Heidelberg: Arkana; 1984 aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
49 4 Die Methode nach Kent Gerhard Bleul 4.1 Kurzcharakteristik, Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.2 Die Position der Kent’schen Methode in der Homöopathie . . . . . . . 49 4.3 Indikationen und bevorzugte Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . 53 4.4 Praktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.5 Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4.1 Die Methode ist vor allem von drei Elementen Kurzcharakteristik, Zusammen- geprägt: ● von der Hierarchisierung der Symptome – am fassung höchsten stehen die Gemütssymptome, gefolgt Nachdem die Homöopathie zum Ende des 19. Jahr- von den Allgemeinsymptomen und zuletzt von hunderts in Europa kaum noch beachtet wurde den Lokalsymptomen, und in der von der Virchow’schen Zellularpatho- ● von der Repertorisation nach dem umfangrei- logie neu geprägten Medizin keine Rolle mehr chen und stark gegliederten Repertorium nach spielte, erlebte sie durch Pierre Schmidt Kent (und dessen Nachfolgern Synthesis und (1894–1987) aus Neuchatel bzw. Genf (ab 1921) Complete) und ihre Renaissance. Er wollte als junger Mann den ● von den Einmalgaben hoher und höchster Po- berühmten James Tyler Kent in den USA besuchen, tenzen, die oberhalb der C 1000 nach der Flu- aber als er dort ankam, musste er feststellen, dass xionsmethode (ohne die schrittweise Verschüt- dieser schon vor sechs Jahren gestorben war. Des- telung) hergestellt werden. sen Schüler Margaret Tyler (1857–1943), Alonzo Austin (1868–1948, New York) und Frederica Die Q-Potenzen fügten sich später, nach der Ent- Gladwin (1856–1931, Philadelphia), wurden seine deckung der 6. Auflage des Organons der Heilkunst wichtigsten Lehrer. Schmidt brachte die Homöopa- und der praktischen Umsetzung der §§ 246 ff., fast thie von den USA zurück nach Europa, war Mit- nahtlos in diese Methode ein. herausgeber der 6. Auflage des Kent’schen Reper- toriums und 1925 Mitgründer der Liga medicorum 4.2 homoeopathica internationalis. Seine schweize- rischen Zeitgenossen Adolf Voegeli (1898–1993), Die Position der Kent’schen Rudolf Flury-Lemberg (1903–1977) und seine Schüler Jost Künzli von Fimmelsberg (1915– Methode in der Homöopathie 1992), Horst Barthel, Will Klunker, Georg von Kel- Bis in die Gegenwart sind die Fallanalyse nach ler und viele andere brachten sein Anliegen voran Kent, die Repertorien in seiner Nachfolge und die und verbreiteten die Homöopathie nach der Me- Gabe höchster Potenzen unter den homöopathi- thode von Kent in ganz Mitteleuropa. schen Methoden auf der ganzen Welt am weites- ten verbreitet. Die meisten Lehrer der Homöopa- aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
4 – Die Methode nach Kent 50 thie haben diese Methode selbst gelernt und leh- gut für die Präparation eigneten und daß es allein ren sie weiter, die Curricula der meisten Fachver- auf das Potenzieren ankäme. bände sind von ihr geprägt. Zu diesem Zeitpunkt herrschte gerade eine Durchfallepidemie bei uns, auf welche in allen Punk- ten Podophyllum paßte. Aber mir fehlte total der Bezug zu den Schriften 4.2.1 Mut, nun meine 30. Potenz auszuprobieren, die mir Hahnemanns ganz lächerlich erschien. Da konnte man ja ebenso Kent lehrte die Homöopathie ab 1889 in Philadel- gut klares Wasser geben! So gab ich denn eben wei- phia auf der Grundlage von Hahnemanns Organon. ter meine Urtinkturen und Tiefpotenzen wie stets. Seine Schüler veröffentlichten die Mitschriften als Eines Tages kam eine verweinte Mutter mit ihrem Kents Lectures on Homoeopathic Philosophy im Jahr Kleinen auf dem Arm in die Sprechstunde geeilt. Ich 1900, in denen in jedem Kapitel vielfach auf das hatte sogleich den Eindruck, daß das Kind todge- Organon der Heilkunst verwiesen wird, seine Para- weiht sei, nicht mehr lange leben würde. Es war ein graphen interpretiert und mit Fallbeispielen erläu- Säugling, und wahrend er in den Armen seiner Mut- tert werden. Eine Erweiterung erfahren Hahne- ter lag, rann unversehens plötzlich ein reichlicher, manns Prinzipien in der Differenzierung und Ge- heller, gelblicher durchfälliger Stuhl auf meinen Tep- wichtung der sonderlichen Symptome (die Hierar- pich. Mir fiel sofort der Geruch auf, der mich lebhaft chisierung nach Kent), in der Dosierung (Kent’sche an das erinnerte, was ich in der Materia medica über Skala mit ultrahohen Potenzen) und in der Fall- den Geruch der Podophyllum-Stühle gelesen hatte, analyse („Prognose aus der Reaktion auf die erste diesen abstoßenden, ekelerregenden, furchtbar Gabe“). stinkenden, richtig kranken Geruch. Und der Durch- fall war so auffallend reichlich, daß die Mutter die Bemerkung machte: ‚Man fragt sich wirklich, wo 4.2.2 Theoretischer Hintergrund diese Menge herkommt.’ Kents Lehre steht vollständig auf der Basis von Das wäre nun doch wirklich genau der Fall, an Hahnemanns Schriften, vor allem dem Organon welchem ich den Wert dieser Hahnemann’schen 30. der Heilkunst und den Chronischen Krankheiten, Potenz einmal ausprobieren konnte, sagte ich mir. Band 1. Die Erweiterungen sind konsequente Fort- Ich holte – ich muß schon sagen, ohne die geringste entwicklungen eines genialen Praktikers, der das Überzeugung – ein paar Kügelchen meiner 30. Po- Wissen und die Schriften seiner Zeit zu einem tenz von Podophyllum und schüttete sie auf die umfassenden Symptomenlexikon, dem Kent’schen Zunge des Kindes, schickte Mutter und Kind dann Repertorium ausbaute, die Fallanalyse aufgrund heim, zitternd bei dem Gedanken, daß das Kleine in der eigenen großen Praxistätigkeit erweiterte Hinsicht auf die Schwere seines Zustand sicher ster- und, möglicherweise angetrieben durch die eigene ben würde. Dieses schmale Gesichtchen, die spitze, Verwunderung über die Wirkung einer C 30-Po- an einen Leichnam erinnernde Nase, dieser kranke tenz, die Herstellung noch viel höherer Potenzen Geruch, der von seinem ganzen Körper ausging. Als veranlasste. ich am anderen Tag auf meiner Hausbesuchsrunde Wie Kent von der Wirkung einer Hochpotenz an der Tür vorüber mußte, hinter der das kranke überzeugt wurde, beschreibt er anekdotisch: Kind wohnte, erwartete ich den Trauerflor um die- „Eines schönen Tages entschloß ich mich dann selbe herum, wie dies als Zeichen eines Todesfalls in aber doch, nun einmal ganz unparteiisch eine C 30 unserem Lande üblich ist. Aber nichts war da. Ich zu erproben, um zu sehen, ob so etwas wirklich noch wagte nicht hineinzugehen, gepeinigt von Angst, etwas Aktives enthalte, und da man einer Sache nur aber auch von Neugierde. sicher ist; wenn man sie selbst hergestellt hat, Nachher trieb es mich noch einmal zurück, aber machte ich mich nun dahinter, eine C 30 von Podo- auch jetzt war kein Trauerflor da. Später fuhr ich auf phyllum peltatum genau nach der Art zu präparie- dem Heimweg noch einmal dort vorbei, obwohl es ren, die Hahnemann gelehrt hat, mit Wasser, da man für mich einen großen Umweg bedeutete, aber auch uns gesagt hatte, daß Alkohol und Wasser sich gleich jetzt war keine Trauerdekoration zu sehen; hingegen stand diesmal die Großmutter unter der Tür, die mir aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
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