Homöopathische Fallanalyse - NET

 
WEITER LESEN
Homöopathische Fallanalyse

                                    Von Hahnemann bis zur Gegenwart - die Methoden

                                                        Bearbeitet von
                                                        Gerhard Bleul

                                          1. Auflage 2011. Buch. 272 S. Hardcover
                                                   ISBN 978 3 8304 7320 6
                                                  Format (B x L): 24 x 17 cm

Weitere Fachgebiete > Medizin > Komplementäre Medizin, Asiatische Medizin (TCM),
                          Heilpraktiker > Homöopathie
                                               Zu Inhaltsverzeichnis

                                     schnell und portofrei erhältlich bei

     Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.
     Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm
     durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr
                                                   als 8 Millionen Produkte.
40
     3        Bönninghausens Methode
              der Arzneifindung
     Robert Goldmann

     3.1      Kurzcharakteristik, Zusammenfassung. . . . . . . . .                .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   40
     3.2      Die Position der Methode in der Homöopathie . . .                   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   40
     3.3      Indikationen und bevorzugte Anwendungsgebiete                       .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   43
     3.4      Praktisches Vorgehen bei der Fallanalyse . . . . . . .              .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   43
     3.5      Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   44

     3.1                                                              fallsleiden, chronischen Kopfschmerzen und rheu-
     Kurzcharakteristik,                                              matischen Beschwerden). Dies sollte den Blick auf
                                                                      Bönninghausens Arbeitsweise lenken, der mit
     Zusammenfassung                                                  Hahnemann in vertrautem Briefwechsel stand
     In den vergangenen Jahrzehnten kam es, nicht zu-                 und dem dieser 1833 anerkennend attestierte:
     letzt durch die Neuauflage der Werke Clemens von                      „Der Herr Regierungsrath, Freiherr von Bönning-
     Bönninghausens (1785–1864), zur Wiederentde-                     hausen in Münster hat meine homöopathische Heil-
     ckung seiner therapeutischen Vorgehensweise.                     lehre so gründlich studirt und sich so zu eigen ge-
     Unter der sogenannten Bönninghausen-Methode                      macht, daß er als ein vollkommner homöopathischer
     wird eine spezifische Art der Fallanalyse verstan-               Heilkünstler ein so vollkommnes Vertrauen verdient,
     den, die anhand verstreuter Hinweise aus seinen                  daß, wäre ich selbst krank und könnte mir nicht
     Schriften rekonstruiert werden kann. Mit ihrer                   helfen, ich mich keinem Arzte, ausser ihm, anver-
     klaren Unterscheidung in Haupt- und Nebensymp-                   trauen würde.“ ([11], S. 88)
     tome sowie dem direkten Bezug zur Arzneimittel-
     prüfung bei der Mittelwahl entspricht sie weitge-
     hend der genuinen Homöopathie im Sinne Hahne-                    3.2
     manns. Wenn sein innerer Aufbau verstanden
     wurde, stellt das Therapeutische Taschenbuch für                 Die Position der Methode in der
     den Praktiker ein kaum entbehrliches Handwerks-                  Homöopathie
     zeug dar. Es eignet sich zur Behandlung eines guten
     Teils der in der hausärztlichen Tätigkeit auftreten-
                                                                      3.2.1 Kurzbiografie des Begründers,
     den Beschwerden, sofern die Symptomatik ent-                     seine Lehrer, seine Philosophie
     sprechend gelagert und einer homöopathischen                     Der Jurist, Botaniker und Agronom war 1828 durch
     Therapie zugänglich ist.                                         homöopathische Behandlung mit je einer Gabe
         Daher verdienen es Bönninghausens Schriften,                 Pulsatilla und Sulphur C 30 – verordnet von sei-
     aufmerksam gelesen zu werden. In seinen Zeit-                    nem Freund, dem Hahnemann-Schüler Carl Ernst
     schriftenpublikationen und Krankenjournalen                      August Weihe (1779–1834) – von einer Tuberku-
     (Letztere allein 112 Bände) finden sich Heilungs-                lose genesen. Anschließend wandte sich Bönning-
     verläufe chronischer Erkrankungen, bei denen die                 hausen selbst der Homöopathie zu und bereicherte
     kurze Behandlungsdauer überrascht (z. B. bei An-                 diese unter anderem durch seine Erkenntnisse zu

            aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.2 – Die Position der Methode in der Homöopathie
                                                                                                                   41
den Arzneibeziehungen und den Indikationen von               Auf den ersten Blick besticht Bönninghausens
Folge- und Zwischenmitteln. Annette von Droste-          Repertorium durch seine Handlichkeit. Die um-
Hülshoff war seine erste Patientin. Ihre Kranken-        fangreichen Rubriken mit ihren knappen Begriffen
geschichte ist uns erhalten geblieben. Er setzte sich    verwundern den Betrachter anfänglich, der an das
schon früh für die Anwendung von Hochpotenzen            Kent’sche Repertorium oder seine Nachfolger ge-
ein, die er ab 1843 fast ausschließlich verordnete       wöhnt ist. Die dem Therapeutischen Taschenbuch
(C 200). Mehrere homöopathische Ärzte hospitier-         innewohnende Struktur muss aber nachvollzogen
ten bei Bönninghausen, darunter um das Jahr 1848         werden, um Bönninghausens Methode der Fallana-
Dr. A. Chargé (1810–1890) aus Frankreich und in          lyse überhaupt effektiv anwenden zu können.

                                                                                                                  Bönninghausen
den Jahren 1851 und 1855 der Amerikaner Carroll              Im Normalfall ist eine Arzneimittelprüfung
Dunham (1828–1877). Adolph Lippe (1812–1888)             nicht vollständig. Genauso wenig ist die Gesamt-
begleitete im Jahr 1860 über zwei Wochen Bön-            heit der krankhaften Symptome eines Patienten so
ninghausen bei der Arbeit. Alle waren von Bön-           umfangreich, dass sie klar der Symptomenreihe
ninghausens Materia-medica-Kenntnissen beein-            eines einzigen Arzneimittels entspricht. Bönning-
druckt und berichteten von seiner treffsicheren          hausen sah die Lösung dieses Problems darin, dass
Verordnungsweise. Um den Umgang mit der an-              er „durch Hervorhebung des Eigenthümlichen und
wachsenden Materia medica homoeopathica und              Charakteristischen der Mittel [. . .] einen Weg in das
ihrer zunehmenden Anzahl geprüfter Arzneien zu           weite Feld der Combination eröffnete, welcher bisher
bewältigen, schuf er mit dem Therapeutischen Ta-         noch nicht betreten war.“ ([2], S. VIII)
schenbuch ein übersichtliches Repertorium mit de-            Die ursprüngliche Einheit eines Symptoms
finierter Gradeinteilung.                                wird in seine einzelnen Elemente aufgelöst und
                                                         diese können dann frei miteinander kombiniert
                                                         werden.
3.2.2Aufbau des Therapeutischen                              Die Elemente eines (im günstigsten Falle) voll-
Taschenbuchs                                             ständigen Symptoms sind
Obwohl vor Einführung des Kent’schen Reperto-            1. die Lokalisation, also der Ort der krankhaften
riums in homöopathischen Kreisen verbreitet, ist             Affektion,
das Therapeutische Taschenbuch von 1846 [2] wohl         2. die Empfindung oder der Befund, also z. B.
das am meisten missverstandene Werk in der Ho-               stechende Schmerzen oder – im Falle des Be-
möopathie. Umso wichtiger ist die Einsicht in das            fundes – beispielsweise muskuläre Schlaffheit
ihm zugrunde liegende Konzept, um hier kein                  oder Straffheit, die Beschaffenheit von Efflo-
wertvolles Praxiswerkzeug zu verlieren. Herbert              reszenzen oder Absonderungen etc.,
A. Roberts (1868–1950) benutzte es besonders             3. die Modalitäten, Umstände von Verschlimme-
bei chronischen Fällen. Erastus E. Case (1847–               rung oder Besserung der Beschwerden und
1918) bevorzugte es bei „obskuren“ Erkrankungen          4. Begleitsymptome, falls vorhanden.
mit gemischten Symptomen und nahm Kents Re-
pertorium erst an zweiter Stelle zu Hilfe. Julia M.      An dieser Stelle sei auf die nicht immer klare Un-
Green (1871–1963), von James Tyler Kent (1849–           terscheidung von Begleitsymptom und Neben-
1916) als seine Schülerin bezeichnet, empfahl die        symptom hingewiesen. Das Begleitsymptom tritt
Beherrschung beider Repertorien. Cyrus M. Boger          in engem zeitlichen Zusammenhang mit einem
(1861–1935) führte in seiner Übersetzung Bön-            Symptom auf (das kann ein Haupt- oder auch ein
ninghausens früheres Systematisch-Alphabetisches         Nebensymptom sein) als ein Element im Sinne des
Repertorium in seinen beiden Teilen mit dem The-         vollständigen Symptoms, z. B. kalte Füße bei jedem
rapeutischen Taschenbuch zusammen, ergänzte              Migräneanfall. Das Nebensymptom dagegen er-
weitere Arzneien sowie Hinweise aus Bönninghau-          scheint als Teil der zu behandelnden Symptomen-
sens Schriften und schuf damit Boenninghausen’s          gesamtheit im Zuge des Hauptsymptoms, also in
Characteristics and Repertory, welches bis heute         einem geweiteteren zeitlichen Geschehen: Bei-
aufgrund des ihm eigenen Aufbaus bei der Arznei-         spielsweise leidet ein Patient seit Beginn der Mi-
mittelsuche seine Aktualität behalten hat.               gräneerkrankung an kalten Füßen.

           aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung
42
     E Tab. 3.1 Gradeinteilung in vier Schriftarten (Therapeutisches Taschenbuch).

        Grad        Schriftart der unterschiedlichen Grade      Bedeutung

        0           (zweifelhaft)                               näherer Bestätigung bedürfend

        1           sicher                                      in der Arzneimittelprüfung aufgetreten

        2           sicher, wiederholt beobachtet               mit wiederholt in der Arzneimittelprüfung aufgetretener
                                                                Erstwirkung

        3           durch Heilung verifiziert                    zusätzlich in der Beobachtung am Patienten durch Heilung
                                                                bestätigt oder ausschließlich am Patienten beobachtet

        4           MEHRFACH VERIFIZIERT                        häufig durch Heilung bestätigt oder häufig ausschließlich am
                                                                Patienten beobachtet [9]

         Die Teile eines vollständigen Symptoms wer-               S. 332 f.). Unter diesem Aspekt lohnt es sich, einmal
     den nun in den verschiedenen Kapiteln des Thera-              ein kleines Mittel anhand von Arzneimittelprüfung
     peutischen Taschenbuchs angegeben. So ist etwa                und Aufsuchen der Rubrik im Therapeutischen Ta-
     eine bestimmte Art von Zahnschmerzen über                     schenbuch zu erarbeiten. Man erlebt dabei die
     mehrere Kapitel verteilt, nämlich                             Sorgfalt, mit der Bönninghausen vorging, und
     ● im 2. Kapitel (Körperteile und Organe) die Loka-            seine enorme Kenntnis der damals vorhandenen
        lisation des Schmerzes,                                    Arzneimittel, die bis heute den Hauptteil unserer
     ● im 3. Kapitel (Empfindungen und Befunde) die                Verordnungen ausmachen.
        Art des Schmerzes und                                          Als Quellen dienten Bönninghausen die damals
     ● im 6. Kapitel (Modalitäten) die Erhöhung oder               vorhandenen Arzneiprüfungen – Hahnemanns
        Linderung der Beschwerden je nach Zeit, Lage               Reine Arzneimittellehre und die Chronischen Krank-
        oder anderen Umständen.                                    heiten, die Prüfungen aus Stapfs Archiv für die ho-
                                                                   möopathische Heilkunst – sowie beobachtete Veri-
     Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier einer             fikationen und klinische Erfahrungen.
     willkürlichen Kombinatorik Tür und Tor geöffnet                   In den Rubriken des Therapeutischen Taschen-
     wird. Nach Bönninghausen muss aber „der Genius                buchs sind die Arzneien in vier unterschiedlichen
     des Heilmittels in allen Beziehungen dem Genius der           Graden vertreten, wobei der niedrigste, einge-
     Gesammtkrankheit, wie er sich durch seine charak-             klammerte und laut Bönninghausen noch weiterer
     teristischen Symptome zu erkennen giebt, genau ent-           Bestätigung bedürfende Grad vernachlässigt wird:
     sprechen“ ([1], S. 407).                                      Die hier aufgeführte Gradeinteilung (▶ Tab. 3.1)
         Dieser Genius durchzieht das Arzneimittel „wie            geht auf die revidierte Ausgabe des Therapeuti-
     der rote Faden in den Tauen der englischen Ma-                schen Taschenbuchs [4] zurück, die im Folgenden
     rine“ in verschiedenen Bereichen: Es sind meist               auch zur Repertorisation verwendet wurde. (Die
     Empfindungen oder Modalitäten, die von mehre-                 revidierte Ausgabe des Therapeutischen Taschen-
     ren Prüfern beobachtet wurden, sich deutlich zeig-            buchs führt noch einen 5. Grad nach C. Dunhams
     ten und in verschiedenen Körperbereichen auftra-              handschriftlichen Aufzeichnungen an.)
     ten ([7], S. 226). So kann eine Modalität oder Emp-               Die ersten beiden Grade entsprechen damit
     findung, die sich bei der Prüfung eindeutig kund-             Prüfungssymptomen, die beiden höchsten Grade
     tut, auch auf andere Lokalisationen übertragen                wären idealerweise vom Konzept her klinische Be-
     werden. Wir kennen dies z. B. von der Bewegungs-              stätigungen von Prüfungssymptomen („sowohl
     verschlimmerung bei Bryonia oder der Wärmever-                durch die Charakteristik der Mittel, als durch die
     schlechterung bei Pulsatilla. Bönninghausen erläu-            Praxis vorzugsweise bewährt“ [2], S. IX), wobei wir
     terte diesen Zusammenhang anhand der von in-                  allerdings auch in den höchsten Graden rein klini-
     nen nach außen gerichteten Stiche bei Asa foetida,            sche Symptome finden, die in der Arzneimittelprü-
     die in der Prüfung häufig beobachtet wurden ([5],             fung von ihrer Art her als Erstwirkung gar nicht

            aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.4 – Praktisches Vorgehen bei der Fallanalyse
                                                                                                                   43
auftreten können (etwa Beschwerden infolge von          schung der Repertorisation mit mehreren Reperto-
Impfungen oder Infektionskrankheiten sowie Indi-        rien legitim, z. B. bei einzelnen Rubriken, die in
kationen wie „Alkoholiker“, „Alte Menschen“,            manchen Repertorien nicht enthalten sind, sofern
„Kinder“, „Verbrennungen“, „Wöchnerinnen“ oder          man den abschließenden Symptomenvergleich
„Würmer“).                                              nicht außer Acht lässt.

3.3                                                     3.4

Indikationen und bevorzugte                             Praktisches Vorgehen bei der

                                                                                                                  Bönninghausen
Anwendungsgebiete                                       Fallanalyse
Bönninghausens Methode bietet sich bei akuten           Die Analyse erfolgt nach der Fallaufnahme in fünf
oder chronischen Beschwerden an, wenn deutliche         Schritten, nämlich in der Anordnung der Symp-
Modalitäten, konstante Empfindungen oder Lokal-         tome nach folgender Einteilung und Gewichtung:
befunde im Sinne eines möglichst vollständigen
Symptoms vorhanden sind: so etwa bei Erkran-            1. Causa occasionalis
kungen des Bewegungsapparates, z. B. Ischialgien,       Gemeint ist die Ursache hinsichtlich des Haupt-
oder bei lokalisierten Beschwerden mit nicht ein-       symptoms bzw. der Umstand, wonach sich das
deutiger Gemütssymptomatik und ohne aussage-            Hauptsymptom erstmals zeigte, was rein phäno-
fähige Allgemeinsymptome. Bei ausgeprägter              menologisch und nicht ätiologisch zu verstehen ist.
Geistes- und Gemütssymptomatik wird man                 So wird lediglich eine zeitliche Synchronizität,
Kents Methode bevorzugen. Letztlich entscheidet         nicht ein pathophysiologischer Zusammenhang
aber die zur Arzneifindung verwertbare indivi-          zwischen möglicher Causa und Auftreten des
duelle, charakteristische Symptomatik, welche           Hauptsymptoms erforderlich (Organon § 5: „Als
Methode jeweils gewählt wird – ob Kent, Bönning-        Beihülfe der Heilung dienen dem Arzte die Data der
hausen oder eine andere.                                wahrscheinlichsten Veranlassung der acuten Krank-
    Als Vorteil dieser Repertorisationsmethode sei      heit [. . .]“).
das homogene Konzept mit seiner definierten
Gradeinteilung hervorgehoben. Bei einem Seiten-         2. Hauptsymptom
blick auf die vorhandenen aktuellen Repertorien         Hierunter wird die vorrangige Beschwerde ver-
wird uns dabei bewusst, dass diese in all ihrer         standen, sozusagen der Anlass für die Konsulta-
Symptomenfülle die Gefahr in sich bergen, Gra-          tion. Es ist als möglichst vollständiges Symptom
duierungen unterschiedlicher Definition miteinan-       (gemäß Organon § 86) aufzunehmen.
der zu vermischen und dadurch insgesamt unzu-
verlässig werden.                                       3. Nebensymptome
    Als gewisser Nachteil bei der Arbeit mit dem        Bei den Nebensymptomen handelt es sich um Be-
Therapeutischen Taschenbuch ist die relativ kleine      schwerden, die in zeitlichem Zusammenhang mit
Zahl der vertretenen Arzneien zu nennen (insge-         dem Hauptsymptom in anderen Körperbereichen
samt nur 133 Arzneien, dem Stand der Arzneiprü-         entstanden sind und andauern. Falls das Haupt-
fungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts entspre-       symptom im Gemütsbereich liegt, dann finden
chend), außerdem das Fehlen einiger Symptombe-          sich die Nebensymptome im körperlichen Bereich
reiche (wie Zungenbelag, Menopause oder Husten-         (Organon § 95).
qualitäten). Dies ist aber nicht unbedingt als ein
Mangel zu betrachten, denn die Erfahrung der Ta-        4. Stimmung
schenbuch-Anwender zeigt, dass ein Großteil der         Last but not least werden die Änderungen des
Fälle mit diesen Arzneien gut behandelt werden          Gemütszustandes, sofern sie nicht das Haupt-
kann. Falls ein nicht enthaltenes Arzneimittel bes-     symptom konstituieren, einbezogen. Diese psychi-
ser zu passen scheint, bietet sich der Wechsel zu       sche Befindensveränderung im Zuge der Erkran-
einem anderen Repertorium an. Auch ist die Mi-          kung ist letztlich das entscheidende Kriterium für

          aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung
44
     die Arzneiwahl (Organon § 211–213: „Dieß geht so          außer Acht gelassen, was mit der Idee des Konsti-
     weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmit-         tutionsmittels kaum vereinbar ist.
     tels der Gemüthszustand des Kranken oft am meis-
     ten den Ausschlag giebt“).
                                                               3.5
     5. Polaritäten                                            Fallbeispiele
     Hierbei wird die Arzneiwahl durch den Ausschluss
     von Kontraindikationen, nämlich durch Rubriken,           3.5.1   Fallbeispiel 1
     die das Gegenteil der Symptomatik ausdrücken,             Ein Beispiel aus Bönninghausens Schriften soll
     noch einmal überprüft („wenn die übrigen Zeichen          seine Methode veranschaulichen:
     keine Widersprüche enthalten“– [5], S. 699). Wider-           „Ein anderes Mittel war nöthig, um die gänzliche
     spricht die infrage kommende Arznei in ihrem Ge-          Stimmlosigkeit bei einem 20jährigen Mädchen zu
     nius der Symptomatik?                                     heben, welche durch Erhitzung beim Tanzen ihre
          Ein Beispiel: Ist in einem Krankheitsfall eine       Stimme verloren hatte. Th. G. zu D., die einzige Toch-
     Abendverschlimmerung, die Besserung durch Be-             ter eines wohlhabenden Bauers, hatte am Fast-
     wegung in frischer Luft und eine Unverträglichkeit        nachtssonntage 1838 übermäßig getanzt, weil sie
     von fetten Speisen vorliegend? Dann spräche dies          hübsch und reich, mithin der Gegenstand großer
     für Pulsatilla. Ergibt sich Pulsatilla aber in einem      Kourtoisie war. Am andern Morgen war zum Ent-
     anderen Fall neben mehreren anderen Arzneien in           setzen ihrer Eltern die Stimme fort. Nun ging das
     der Repertorisation, und es findet sich dabei eine        Konsultiren der Aerzte los, und es wurde 6 Wochen
     abendliche Besserung sowie eine Besserung in ge-          lang ‚alles Erdenkliche’ gebraucht; aber die Stimm-
     schlossenen Räumen, eine Bewegungsverschlech-             losigkeit blieb wie sie war. In der Osterwoche kam ich
     terung und eine Indifferenz gegenüber fetten Spei-        zufällig dahin, und sogleich baten mich die beküm-
     sen, dann sollte Pulsatilla noch einmal überdacht         merten Eltern um Hülfe für ihre Tochter. Das Aus-
     oder eine andere infrage kommende Arznei ge-              sehen des Mädchens war blühend, wie früher, aber
     wählt werden.                                             die Stimme fehlte ganz, so daß sie mit aller Anstren-
          Mit der inzwischen geläufigen computerge-            gung kaum verständlich flüstern konnte. Von Neben-
     stützten Repertorisation lassen sich auch alle ver-       beschwerden, die zur Wahl des richtigen Mittels nöt-
     wendeten Modalitätenrubriken mit entgegenge-              hig waren, erfuhr ich folgende: wenn sie durch die
     setzter Bedeutung unter- oder nebeneinander auf-          Nase Athem holt, hat sie in derselben ein empfindli-
     listen. So wird durch die Polaritätsanalyse als zu-       ches Kältegefühl; stets verdorbenen Magen nach
     sätzliches Kriterium eine größere Sicherheit bei          jenem Tanzabende, wo sie mehrere Gläser (sauren?)
     der Mittelwahl erreicht. Dieses Verfahren, das            Wein getrunken; am Tage, besonders Morgens, große
     sich in der Praxis bewährt hat, wird im vorliegen-        Neigung zu schlafen ; sie ist wegen ihres Uebels sehr
     den Buch in einem eigenen Kapitel (▶ Kap. 6) von          besorgt. Die gebrauchten allop. Arzneien hatten
     Heiner Frei ausführlich erläutert [3].                    nichts gebessert und nur zur Folge gehabt, daß vor
                                                               8 Tagen nun auch die Periode ausgeblieben war. –
                                                               Die Wahl des Mittels war nach obigen Symptomen
     3.4.1   Verlaufskontrolle                                 leicht genug und nach einer Gabe Antimon. crud. 30/
     Vorrangig berücksichtigt Bönninghausen die ge-            2 war nach 48 Stunden alles Krankhafte vollkommen
     genwärtige Totalität von Haupt- und Nebensymp-            und dauerhaft gehoben, und wie im Triumphe führ-
     tomen. Im Heilungsverlauf sollte sich dann das            ten die glücklichen Eltern die Genesene zu mir, um
     Hauptsymptom bessern und nicht nur die weniger            mir zu danken.“ ([5], S. 252 f.)
     belastenden Nebensymptome. Dies ist ein weiterer              Eine Anordnung der Symptomatik nach dem
     Unterschied zu Kent, der dem Hauptsymptom in              oben angegebenen Schema würde so aussehen
     der Regel nur geringe Bedeutung zuschreibt. Bei           (▶ Tab. 3.2):
     Bönninghausen werden außerdem die vor dem ge-             Es bieten sich nun mehrere Vorgehensmöglichkei-
     genwärtigen Kranksein aufgetretenen Symptome              ten an:
                                                                   1. Das Auszählen der sich durch die einzelnen
                                                               Rubriken des Therapeutischen Taschenbuchs durch-

             aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.5 – Fallbeispiele
                                                                                                                          45
E Tab. 3.2 Symptomgewichtung Fallbeispiel 1.

   Reihenfolge      Art des Symptoms           Symptom                                 Rubrik der revidierten Ta-
   der Analyse                                                                         schenbuchausgabe 2000

   1                Causa                      Verschlimmerung Erhitzung               2063

   2                Hauptsymptom               Stimme, mangelnd (Stimmlosigkeit)       758

   3                Nebensymptome              ●   Verschlimmerung Wein, saurer        2225
                                               ●   Schläfrigkeit morgens               1770
                                               ●   Nase, innere                        177

                                                                                                                         Bönninghausen
                                               ●   Kältegefühl innerer Teile           1869
                                               ●   Verschlimmerung Lufteinziehen       2201

   4                Stimmung                   (sehr besorgt wegen ihrer Krankheit)

ziehenden Mittel – wie bekannt recht mühsam, da               ● 253: Verlust der Stimme, so oft er heiß ward.
die einzelnen Rubriken durch die Trennung der                 ● 251: Aeusserste Schwäche der Stimme; er kann
Symptomen-Elemente zur gewünschten freien                         nur ganz leise reden.
Kombination oft umfangreicher sind als vergleich-             ● 74: Die Nase schmerzt beim Athmen, wie von
bare Rubriken im Kent’schen Repertorium, in wel-                  Einathmen kalter Luft, oder von Einziehen
chem die Symptome nicht gleichermaßen zerlegt                     scharfer Dämpfe.
angeordnet sind.                                              ●   144: Uebelkeit nach Trinken eines Glases Wein.
     2. Um das Auszählen zu erleichtern, gibt es              ●   410: Vorzüglich Wein-Trinken verschlimmert
Lochkarten, von denen jede einer Repertoriums-                    sein Befinden.
rubrik entspricht. Diejenigen Arzneien, welche das            ●   425: Grosse Müdigkeit früh, und Unlust zum
genannte Symptom aufweisen, sind gelocht. Wer-                    Aufstehen.
den die Karten der zu repertorisierenden Rubriken             ●   427: Grosse Schläfrigkeit am Tage und früh
übereinandergelegt, so zeigen sich die jeweiligen                 nach dem Erwachen; er kann sich gar nicht
Arzneien und können anhand des Materia-me-                        aus dem Bette finden.
dica-Vergleichs differenziert werden. Aufgrund                ●   7: Aengstliche Betrachtungen, am Tage, über
des Prinzips der freien Kombination kann man                      sich selbst, sein jetziges und künftiges Schicksal.
jedoch nicht erwarten, dass ein Arzneimittel im-
mer im entsprechenden Körperbereich vertreten                 Mit der Repertorisation nach Kent wäre das Mittel
ist. Die Therapeutische Taschenkartei [8] und die             eventuell verloren gegangen, da sein Repertorium
Homöopathische Lochkartei [9] sind auf diesem                 mit dem teilweisen Erhalt der Einheit der Symp-
Prinzip aufgebaut und eignen sich zu einer schnel-            tome anders, nämlich synthetisch, aufgebaut ist.
len Bestimmung des Kreises der möglichen Arznei-                  Von besonderem Interesse ist der Vergleich ei-
mittel.                                                       ner der wenigen ausführlichen Kasuistiken Hahne-
     3. Mit den zur Verfügung stehenden PC-Pro-               manns, in denen er seine Arzneiwahl explizit be-
grammen lassen sich nach Eingabe von Text oder                gründete, mit der zeitlich späteren Methodik Bön-
Nummer der Rubriken am elegantesten die infrage               ninghausens. Wir sehen dabei, wie aufwendig
kommenden Arzneien eingrenzen.                                Hahnemann mit seiner unmittelbaren Arzneimit-
     Im vorliegenden Fall sticht nun Antimonium               telkenntnis bei der Fallanalyse vorging. In seiner
crudum hervor (mit einer Wertigkeit von 7/21),                Behandlung der 40-jährigen „Lohnwäscherin“ –
gefolgt von Sepia (7/17), ausgearbeitet mit der               von Anton Rohrer in Kapitel 2 erörtert – schildert
Taschenbuch-Revision 2000.                                    er im 2. Band der Reinen Arzneimittellehre Symp-
     Das Studium der Materia medica belegt die                tom für Symptom die Differenzialdiagnose der mit
Arzneiwahl. Dazu seien die entsprechenden Symp-               den Beschwerden der Erkrankten ähnlichen Arz-
tome mit ihrer Nummerierung aus dem 2. Band                   neien.
der Chronischen Krankheiten hier angeführt:

           aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung
46
     E Tab. 3.3 Repertorisation Fallbeispiel 1.

                                                         Ant-c.        Sep.              Phos.        Bell.      Nux-v.

        Anzahl der Treffer                                7             7                 6            6          6

        Summe der Grade                                  21            17                16           15         15

        Polaritätsdifferenzen                             0             0                 0            0          0

        < Erhitzung (2063)                               4             3                 3            2          2

        Stimme, mangelnd (Stimmlosigkeit)                3             1                 4            3          2
        (758)

        < Nahrungsmittel, Wein, saurer (2225)            4             1

        Schläfrigkeit morgens (1770)                     1             4                 3            1          4

        Nase, innere (177)                               4             2                 2            3          1

        Kältegefühl innerer Teile (1869)                 1             3                 2            2          3

        < Lufteinziehen (2201)                           4             3                 1            3          3

     E Tab. 3.4 Repertorisation der „Lohnwäscherin“

                                                  Bry.            Bell.             Nux-v.        Nat-m.        Calc.

        Anzahl der Treffer                         5               5                 5             5             5

        Summe der Grade                           20              16                15            15            14

        Polaritätsdifferenzen                      10              8                 10            7             6

        Äußerer Bauch, Epigastrium                4               3                 2             4             3
        (Herzgrube) (451)

        Stechen innerer Teile (1059)              4               3                 2             2             3

        < Bewegung, während (2021)                4               4                 4             3             2

        < Auftreten, (hartes) (2002)              4               3                 3             3             3

        > Liegen (2553)                           4               3                 4             3             3

        > Bewegung, während (2493)                1               1                               1             1

        > Auftreten (hart) (2486)

        < Liegen (2189)                           1               1                 1             1             1

     Mit dem Therapeutischen Taschenbuch ergibt die                            Diese Gegenüberstellung verdeutlicht die ge-
     Repertorisation der Elemente                                          niale Methode Bönninghausens, die im Grunde
     ● Lokalität: Herzgrube (451)                                          verblüffend einfach ist. (Das hochrangige Ergebnis
     ● Empfindung: Stechen (1059)                                          für Bryonia kann natürlich auch durch Bönning-
     ● Modalitäten: < Bewegung (2021)                                      hausens Einarbeitung dieser Kasuistik in das The-
     ● < Auftreten (2002)                                                  rapeutische Taschenbuch mitbedingt sein.)
     ● > Liegen (2553)
     ● Stimmung: < Zorn (2127)
     jeweils Bryonia, und zwar immer im höchsten
     Grad.

             aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3.5 – Fallbeispiele
                                                                                                                      47
E Tab. 3.5 Symptomgewichtung Fallbeispiel 2.

   Reihenfolge der      Art des Symptoms       Symptom                               Rubrik der revidierten
   Analyse                                                                           Taschenbuchausgabe 2000

   1                    Causa                  < Ärger                               2103
                                               < Gemütsbewegung allgemein            2102

   2                    Hauptsymptom           Augen, Augapfel                       81
                                               Stechen äußerer Teile                 1058
                                               < Zugluft, Zugwind                    2466

                                                                                                                     Bönninghausen
                                               < Augenöffnen                          2005

   3                    Nebensymptom           äußerer Kopf, Hinterkopf              69
                                               Äußerer Hals, Nacken                  787
                                               Schweiß einzelner Teile               1889

   4                    Stimmung               Hoffnungslosigkeit (Verzweiflung)       12

3.5.2   Fallbeispiel 2                                       gen kalte Luft (1446–1450) und – bei den klini-
Ein aktueller Fall aus meiner Praxis möge einen              schen Angaben – der charakteristische Kopf-
weiteren Aspekt beleuchten. Eine 67-jährige Pa-              schweiß.
tientin mit einem seit mehreren Monaten rezidi-                  Nach einer Gabe Calcarea carbonica XM
vierenden linksseitigen Herpes ophthalmicus ohne             (Schmidt-Nagel) war die Patientin innerhalb weni-
Linderung durch die fachärztliche lokale Behand-             ger Tage dauerhaft beschwerdefrei.
lung meldet sich mit                                             Die einzelnen Teile dieses vollständigen Symp-
● stechenden Augenschmerzen (Lokalisation und                toms können, wenn nötig, auch noch untereinan-
   Empfindung),                                              der nach ihrer Bedeutung sortiert werden. So be-
● schlimmer schon bei geringer Zugluft und beim              stimmt eine deutlich auftretende Modalität die
   Öffnen der Augen,                                         Arzneiwahl mit mehr Gewicht als eine Empfin-
● besser beim Schließen der Augen (Modalitäten).             dung, die wiederum schwerer wiegt als die Loka-
● Sie sei durch die Beschwerden regelrecht ver-              lisation. Auch in der vorliegenden Kasuistik führen
   zweifelt (Stimmung).                                      die Modalitäten, wie dies meist bei der Arzneiwahl
● Begonnen haben die Beschwerden eine Woche                  nach der Bönninghausen-Methode der Fall ist. Es
   nach einer konfliktträchtigen Situation, die sie          folgt die Empfindung, die Lokalisation steht an
   entgegen ihrer sonstigen Art extrem verärgert             letzter Stelle. Und die Gemütsverfassung ist in
   habe (Causa).                                             der entsprechenden Rubrik hochgradig vertreten.
● An Nebensymptomen gibt sie Schweiß im Hin-
   terkopf- und Nackenbereich an.

Polaritätsanalyse
Substanzielle Einwände gegen die in der Reperto-
risation mit weitem Abstand führende Arznei Cal-
carea carbonica (Calcium carbonicum Hahne-
manni) (10/37) liegen nicht vor. In Anbetracht
der Causa ist natürlich auch an Ignatia zu denken
(9/31), welcher aber das Nebensymptom nicht ent-
spricht.
    Im 2. Band der Chronischen Krankheiten finden
sich die stechenden Augenschmerzen (Symptom
Nr. 247–253), die Ärgerlichkeit (45–54) und die
Verzweiflung (29 und 35), die Empfindlichkeit ge-

           aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
3 – Bönninghausens Methode der Arzneifindung
48
     E Tab. 3.6 Repertorisation Fallbeispiel 2

                                                    Calc.           Bell.           Chin.          Ign.           Sulph.

           Anzahl der Treffer                        10              10              10             9              9

           Summe der Grade                          37              30              22             31             30

           Polaritätsdifferenzen                     1               -2              -1             4              -1

           < Gemüt, Ärger (2103)                    1               5               1              5              1

           < Gemütsbewegungen allg. (2102)          3               3               1              4              2

           Augen, Augapfel (81)                     4               4               2              2              4

           Stechen äußerer Teile (1058)             4               4               3              3              4

           < Zugluft, Zugwind (2466)                5               4               3              4              4

           < Augenöffnen (2005)                      3               1               2              5              0

           Äußerer Kopf, Hinterkopf (69)            5               1               2                             5

           Äußerer Hals, Nacken (787)               4               3               3              3              3

           Schweiß einzelner Teile (1889)           4               3               3              1              4

           Hoffnungslosigkeit (Verzweiflung) (12)     4               2               2              4              3

           > Augenöffnen (2488)                      2               3               3              1              1

     L Literatur                                                     [6]    Gypser KH. Leben und Werk von C. M. F. v. Bönning-
                                                                            hausen. Seminar vom 3.–4. Mai 1997 auf Stevernburg,
                                                                            Nottuln bei Darup
     [1]    Bönninghausen Cv. Die Aphorismen des Hippokrates
            nebst den Glossen eines Homöopathen. Nachdruck           [7]    Gypser KH. Der „Genius“ der Arznei bei Bönninghau-
            der Ausgabe von 1863. Göttingen: Ulrich Burgdorf;               sen. ZKH 1992; 36: 224–230
            1979
                                                                     [8]    Lieth Bvd. Therapeutische Taschenkartei. Hamburg:
     [2]    Bönninghausen Cv. Bönninghausens Therapeutisches                Bernd von der Lieth; 1989
            Taschenbuch. Münster 1846. Nachdruck Hamburg:
                                                                     [9]    Minder P, Ryffel J. Homöopathische Lochkartei. Güm-
            Bernd von der Lieth; o. J.
                                                                            ligen: Spagyros AG; 2000
     [3]    Frei H. Homöopathische Behandlung multimorbider
                                                                     [10] Minder P. Die Bedeutung der Grade in Bönninghau-
            Patienten. Sichere Arzneimittelwahl durch Polaritäts-
                                                                          sens Therapeutischem Taschenbuch. ZKH 2010; 54:
            analyse und Bönninghausen-Methode. Stuttgart:
                                                                          23–27
            Haug; 2011
                                                                     [11] Stahl M. Der Briefwechsel zwischen Samuel Hahne-
     [4]    Gypser KH, Hrsg. Bönninghausens Therapeutisches
                                                                          mann und Clemens von Bönninghausen. Heidelberg:
            Taschenbuch. Revidierte Ausgabe 2000. 3. Aufl. Stutt-
                                                                          Haug; 1997
            gart: Sonntag; 2006
     [5]    Gypser KH, Hrsg. Bönninghausens Kleine Medizini-
            sche Schriften. Heidelberg: Arkana; 1984

               aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
49

4        Die Methode nach Kent
Gerhard Bleul

4.1      Kurzcharakteristik, Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . .                  .   .   .   .   .   .   .   49
4.2      Die Position der Kent’schen Methode in der Homöopathie                           .   .   .   .   .   .   .   49
4.3      Indikationen und bevorzugte Anwendungsgebiete . . . . . .                        .   .   .   .   .   .   .   53
4.4      Praktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           .   .   .   .   .   .   .   53
4.5      Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   56

4.1                                                                    Die Methode ist vor allem von drei Elementen
Kurzcharakteristik, Zusammen-                                      geprägt:
                                                                   ● von der Hierarchisierung der Symptome – am
fassung                                                               höchsten stehen die Gemütssymptome, gefolgt
Nachdem die Homöopathie zum Ende des 19. Jahr-                        von den Allgemeinsymptomen und zuletzt von
hunderts in Europa kaum noch beachtet wurde                           den Lokalsymptomen,
und in der von der Virchow’schen Zellularpatho-                    ● von der Repertorisation nach dem umfangrei-
logie neu geprägten Medizin keine Rolle mehr                          chen und stark gegliederten Repertorium nach
spielte, erlebte sie durch Pierre Schmidt                             Kent (und dessen Nachfolgern Synthesis und
(1894–1987) aus Neuchatel bzw. Genf (ab 1921)                         Complete) und
ihre Renaissance. Er wollte als junger Mann den                    ● von den Einmalgaben hoher und höchster Po-
berühmten James Tyler Kent in den USA besuchen,                       tenzen, die oberhalb der C 1000 nach der Flu-
aber als er dort ankam, musste er feststellen, dass                   xionsmethode (ohne die schrittweise Verschüt-
dieser schon vor sechs Jahren gestorben war. Des-                     telung) hergestellt werden.
sen Schüler Margaret Tyler (1857–1943), Alonzo
Austin (1868–1948, New York) und Frederica                         Die Q-Potenzen fügten sich später, nach der Ent-
Gladwin (1856–1931, Philadelphia), wurden seine                    deckung der 6. Auflage des Organons der Heilkunst
wichtigsten Lehrer. Schmidt brachte die Homöopa-                   und der praktischen Umsetzung der §§ 246 ff., fast
thie von den USA zurück nach Europa, war Mit-                      nahtlos in diese Methode ein.
herausgeber der 6. Auflage des Kent’schen Reper-
toriums und 1925 Mitgründer der Liga medicorum
                                                                   4.2
homoeopathica internationalis. Seine schweize-
rischen Zeitgenossen Adolf Voegeli (1898–1993),                    Die Position der Kent’schen
Rudolf Flury-Lemberg (1903–1977) und seine
Schüler Jost Künzli von Fimmelsberg (1915–
                                                                   Methode in der Homöopathie
1992), Horst Barthel, Will Klunker, Georg von Kel-                 Bis in die Gegenwart sind die Fallanalyse nach
ler und viele andere brachten sein Anliegen voran                  Kent, die Repertorien in seiner Nachfolge und die
und verbreiteten die Homöopathie nach der Me-                      Gabe höchster Potenzen unter den homöopathi-
thode von Kent in ganz Mitteleuropa.                               schen Methoden auf der ganzen Welt am weites-
                                                                   ten verbreitet. Die meisten Lehrer der Homöopa-

           aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
4 – Die Methode nach Kent
50
     thie haben diese Methode selbst gelernt und leh-          gut für die Präparation eigneten und daß es allein
     ren sie weiter, die Curricula der meisten Fachver-        auf das Potenzieren ankäme.
     bände sind von ihr geprägt.                                    Zu diesem Zeitpunkt herrschte gerade eine
                                                               Durchfallepidemie bei uns, auf welche in allen Punk-
                                                               ten Podophyllum paßte. Aber mir fehlte total der
         Bezug zu den Schriften
     4.2.1
                                                               Mut, nun meine 30. Potenz auszuprobieren, die mir
     Hahnemanns                                                ganz lächerlich erschien. Da konnte man ja ebenso
     Kent lehrte die Homöopathie ab 1889 in Philadel-          gut klares Wasser geben! So gab ich denn eben wei-
     phia auf der Grundlage von Hahnemanns Organon.            ter meine Urtinkturen und Tiefpotenzen wie stets.
     Seine Schüler veröffentlichten die Mitschriften als       Eines Tages kam eine verweinte Mutter mit ihrem
     Kents Lectures on Homoeopathic Philosophy im Jahr         Kleinen auf dem Arm in die Sprechstunde geeilt. Ich
     1900, in denen in jedem Kapitel vielfach auf das          hatte sogleich den Eindruck, daß das Kind todge-
     Organon der Heilkunst verwiesen wird, seine Para-         weiht sei, nicht mehr lange leben würde. Es war ein
     graphen interpretiert und mit Fallbeispielen erläu-       Säugling, und wahrend er in den Armen seiner Mut-
     tert werden. Eine Erweiterung erfahren Hahne-             ter lag, rann unversehens plötzlich ein reichlicher,
     manns Prinzipien in der Differenzierung und Ge-           heller, gelblicher durchfälliger Stuhl auf meinen Tep-
     wichtung der sonderlichen Symptome (die Hierar-           pich. Mir fiel sofort der Geruch auf, der mich lebhaft
     chisierung nach Kent), in der Dosierung (Kent’sche        an das erinnerte, was ich in der Materia medica über
     Skala mit ultrahohen Potenzen) und in der Fall-           den Geruch der Podophyllum-Stühle gelesen hatte,
     analyse („Prognose aus der Reaktion auf die erste         diesen abstoßenden, ekelerregenden, furchtbar
     Gabe“).                                                   stinkenden, richtig kranken Geruch. Und der Durch-
                                                               fall war so auffallend reichlich, daß die Mutter die
                                                               Bemerkung machte: ‚Man fragt sich wirklich, wo
     4.2.2   Theoretischer Hintergrund                         diese Menge herkommt.’
     Kents Lehre steht vollständig auf der Basis von                Das wäre nun doch wirklich genau der Fall, an
     Hahnemanns Schriften, vor allem dem Organon               welchem ich den Wert dieser Hahnemann’schen 30.
     der Heilkunst und den Chronischen Krankheiten,            Potenz einmal ausprobieren konnte, sagte ich mir.
     Band 1. Die Erweiterungen sind konsequente Fort-          Ich holte – ich muß schon sagen, ohne die geringste
     entwicklungen eines genialen Praktikers, der das          Überzeugung – ein paar Kügelchen meiner 30. Po-
     Wissen und die Schriften seiner Zeit zu einem             tenz von Podophyllum und schüttete sie auf die
     umfassenden Symptomenlexikon, dem Kent’schen              Zunge des Kindes, schickte Mutter und Kind dann
     Repertorium ausbaute, die Fallanalyse aufgrund            heim, zitternd bei dem Gedanken, daß das Kleine in
     der eigenen großen Praxistätigkeit erweiterte             Hinsicht auf die Schwere seines Zustand sicher ster-
     und, möglicherweise angetrieben durch die eigene          ben würde. Dieses schmale Gesichtchen, die spitze,
     Verwunderung über die Wirkung einer C 30-Po-              an einen Leichnam erinnernde Nase, dieser kranke
     tenz, die Herstellung noch viel höherer Potenzen          Geruch, der von seinem ganzen Körper ausging. Als
     veranlasste.                                              ich am anderen Tag auf meiner Hausbesuchsrunde
         Wie Kent von der Wirkung einer Hochpotenz             an der Tür vorüber mußte, hinter der das kranke
     überzeugt wurde, beschreibt er anekdotisch:               Kind wohnte, erwartete ich den Trauerflor um die-
         „Eines schönen Tages entschloß ich mich dann          selbe herum, wie dies als Zeichen eines Todesfalls in
     aber doch, nun einmal ganz unparteiisch eine C 30         unserem Lande üblich ist. Aber nichts war da. Ich
     zu erproben, um zu sehen, ob so etwas wirklich noch       wagte nicht hineinzugehen, gepeinigt von Angst,
     etwas Aktives enthalte, und da man einer Sache nur        aber auch von Neugierde.
     sicher ist; wenn man sie selbst hergestellt hat,               Nachher trieb es mich noch einmal zurück, aber
     machte ich mich nun dahinter, eine C 30 von Podo-         auch jetzt war kein Trauerflor da. Später fuhr ich auf
     phyllum peltatum genau nach der Art zu präparie-          dem Heimweg noch einmal dort vorbei, obwohl es
     ren, die Hahnemann gelehrt hat, mit Wasser, da man        für mich einen großen Umweg bedeutete, aber auch
     uns gesagt hatte, daß Alkohol und Wasser sich gleich      jetzt war keine Trauerdekoration zu sehen; hingegen
                                                               stand diesmal die Großmutter unter der Tür, die mir

             aus: Bleul u. a., Homöopathische Fallanalyse (ISBN 9783830473206) © 2012 Karl F. Haug Verlag
Sie können auch lesen