HYBRIDES LERNEN UND DIGITALE KOMPETENZEN - Zwischen on- und offline, formell und informell

Die Seite wird erstellt Sibylle-Barbara Bühler
 
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Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II

     www.zeit.de/schulangebote

Ein Thema, drei Sprachen – Die Arbeits-
blätter widmen sich verschiedenen                          In Zusammenarbeit mit:
Themen auf Deutsch, Englisch und
Französisch.

                                       Zwischen on- und offline, formell und informell
                                       HYBRIDES LERNEN UND
                                       DIGITALE KOMPETENZEN
                                       Lernen geschieht in jedem Unterricht.
                                       An welche Gruppen richten sich diese Arbeitsblätter?

                                                    Sekundarstufe II
                                                    (Jahrgangsstufe 9 – 13, nämlich: Abschlussklassen der
                                                    Mittelschule, die letzten beiden Jahrgangsstufen an
                                                    Realschulen und an Klassen der höheren Mittelstufe an
                                                    Gymnasien, sowie der Oberstufe an Gymnasien)

                                                    Fächer: Deutsch, Sozialkunde, Sozialwesen/Sozialprakti-
                                                    sche Grundbildung, Psychologie und Pädagogik

                                                    Seminargruppen zu den Themen „Lernen lernen“ und
                                                    Erwerb der 4K-Kompetenzen / 21st century skills

                                       INHALT:
                                       2 Einleitung: Thema, Lernziele und Projekt-Option
                                       3 Artikel: Richtig duschen in 20 Schritten
                                       7 Aufgaben
                                       11 Gruppenarbeit
                                       12 Reflexionsformular: „Digitale Gruppenarbeit“
                                       13 Stundenplanungsformular und Hinweise für Lehrkräfte
                                       14 Differenzierungsoption: Originaltext
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                 2

EINLEITUNG: THEMA, LERNZIELE UND PROJEKT-OPTION

Tiktok und Corona gingen 2020 viral. Als Phänomene haben sie aber noch mehr gemeinsam. An ihnen
zeigt sich deutlich der Wandel des Lernens. In einem Jahr, das von Teleunterricht und Wechselmodellen
geprägt war, wurde in den Medien, Klassenzimmern, Whatsappgruppen und an Esszimmertischen eifrig
diskutiert: Wie soll unser Lernen der Zukunft aussehen? Für Sie als Lehrkraft ist klar: Ihr Repertoire hat
sich seither ungemein erweitert, und Sie und Ihre Lernenden wissen inzwischen, was online funktioniert
– und wofür es eher das Klassenzimmer braucht. Gleichzeitig haben Jugendliche mehr Zeit denn je on-
line verbracht: Für viele war Tiktok in Zeiten des Lockdowns ein täglicher Impuls zum Schmunzeln, zum
Tanzen – und ja, zum Lernen. Kurze Tutorials mit Rezepten, Vokabelhilfen und Rechentricks zeigen, welche
Dimension das informelle Lernen durch das Internet gewonnen hat. Wenn möglich, passiert informelles
Lernen aber auch offline: nach dem Schulunterricht, in der Familie, im Verein, auf Ausflügen oder beim
Einrichten des eigenen Zimmers. Die Bedeutung der formellen Lernkontexte bleibt jedoch ungebrochen.

In der folgenden Unterrichtssequenz soll es um hybrides Lernen gehen: einmal als hybrides Lernen zwi-
schen Online- und Offline-Unterricht und einmal im Spannungsfeld der formellen und informellen Lern-
kontexte. Die übergeordneten Lernziele vermitteln Ihren Lernenden lebensrelevante Fertigkeiten: Wissen,
welche Formen des Lernens existieren; Erkennen, was jede Form des Lernens ausmacht; Evaluieren, wel-
ches Lernen einem persönlich besonders liegt; Beurteilen, welche Form des Lernens zu welchen Inhalten
passt. Diese Meta-Kenntnisse beweisen Ihre Lernenden in einer finalen Gruppenarbeit: Sie gründen eine
„Schule der Fertigkeiten“ und bestücken diese mit einem überzeugenden Kursprogramm. Dabei entschei-
den sie, welche Kurse online und welche offline stattfinden. Eine Serie an Aktivitäten bereitet darauf vor.
Sie trainiert das Leseverstehen und vermittelt die Konzepte des hybriden Lernens. Die Arbeitsformen
wechseln zwischen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit. Peer-Feedback erfolgt auf Basis vereinbarter Kri-
terien. Zur Differenzierung gibt es verschiedene Textversionen: Wer im Lesen langsamer ist, liest eine
leicht vereinfachte, gekürzte Version des Textes.

Dieser Unterrichtsvorschlag ist Teil der Material-Sammlung „Hybrides Lernen – learning in hybrid ways –
apprendre à la façon hybride”. Die Sammlung bietet die Option, das Thema im Rahmen eines fächerüber-
greifenden Projekts zu behandeln. Im ersten Teil der Projektwoche können Sie in Ihrem Fachunterricht die
Unterrichtssequenz durchlaufen. Auch bei der „Schule der Fertigkeiten” ist es ratsam, Kursprogramme in-
nerhalb einer Sprache konkurrieren zu lassen. So bleibt der Wettbewerb fair. Die Projekt-Rückschau führt
die Fächer schließlich zusammen. Teilen Sie hierzu Ihre Ergebnisse, am besten digital. Eine (Best-of-)Vit-
rine gibt den anderen Klassen Einsicht über die einzelnen Aktivitäten und finalen Produkte. Anschließend
können Sie gemeinsam evaluieren. Als Instrument dazu dient die Medienkompetenzmatrix im Anhang. So
können Sie und Ihre Klasse den Prozess noch einmal Revue passieren lassen und die erworbenen Medien-
kompetenzen an den gemachten Erfahrungen festmachen.
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     RICHTIG DUSCHEN IN 20 SCHRITTEN
     Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man auch alles können?
     Von Philipp Daum

     Es gibt eine Urban Legend: „Mein Opa hat mir heute erzählt: Immer, wenn Oma sauer auf ihn ist, dreht
     er den Deckel vom Marmeladenglas fest. So muss sie wieder mit ihm reden. Genau DAS möchte ich auch
     mal.“ Eine schöne, emotionale, wohl erfundene Geschichte. Ich will gar nicht über Alltagssexismus schrei-
     ben oder die Machtverhältnisse einer Ehe in Deutschland nach dem Krieg. Ich will nur festhalten: Die
5    emotionale Erpressung mit einem Marmeladenglas funktioniert nicht mehr. Denn als die Geschichte neu-
     lich auf Twitter erzählt wurde, kam die Antwort: „An alle, die denken, dass man als Frau einen Mann zum
     Öffnen irgendwelcher Gläser braucht: mit einem dünnen Löffelstiel zwischen Glas und Deckel gehen und
     leicht hebeln, damit Luft entweicht.“ Wenn Omas von heute vor einem verschlossenen Marmeladenglas
     stehen, können sie googeln. Sie fragen nicht mehr ihre Männer. Sie fragen Tutorials. Solche Gebrauchs-
10   anweisungen in wenigen Schritten können einem alles beibringen: Nützliches (Wie man eine Waschma-
     schine anschließt). Nutzloses (Wie man eine Sektflasche mit einem Schwert öffnet). Lebenserleichterndes
     (Wie man eine Ehe rettet). Sogar Lebensrettendes (Wie man den Sturz aus einem Flugzeug überlebt).
     Wir leben in einer How-to-Epoche. Das Gute ist: Man kann alles lernen. Das Blöde ist: Es gibt jetzt keine
     Ausrede mehr, etwas nicht selbst zu machen. Was also muss man alles können? Es gibt einen Ort, der eine
15   Antwort bereithalten könnte. Dieser Ort heißt Wikihow. Wenn Wikipedia eine Enzyklopädie des Wissens
     ist, ist Wikihow eine Enzyklopädie des Könnens. Mehr als 200 000 Anleitungen in 18 Sprachen mit dem
     einen Ziel: „Teaching anyone in the world how to do anything.“

     Anything. Anyone! Die Möglichkeiten der Welt liegen vor mir, in Form von Tutorials. Ich bin bereit. Ich wer-
20   de die Fertigkeiten lernen, die man heute so lernt. Wikihow hat mir eine Tabelle mit den 100 beliebtesten
     Tutorials geschickt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben zehn davon ausgesucht. Ich werde zum Beispiel
     lernen, wie man eine Dose ohne Dosenöffner öffnet. Flirtet. Einen Spagat in einer Woche macht. Ich begin-
     ne also zu lernen. Werden mich Tutorials zu einem kompletteren Menschen machen? Ich beginne mit dem
     verrücktesten Projekt: ein Spagat in einer Woche. Ideal für unsere Zeit. Instagrammable, kann nicht jeder,
25   dauert nur eine Woche. Eine gute Challenge in Zeiten, in denen andere Paläo-Diät machen. Aber zuerst
     die Anamnese! Von oben blicke ich in einen Abgrund: 70 Zentimeter zwischen dem Boden und, ähem, der
     Stelle zwischen meinen Beinen. Noch nie waren 70 Zentimeter so viel. Das Tutorial ist, Wikihow-typisch,
     als Liste geschrieben. 15 Schritte werden in den nächsten Tagen mein Leben strukturieren: 1. Zweimal
     täglich eine Viertelstunde lang dehnen. 2. Vorher unbedingt aufwärmen! 3. Vorbereitungsdehnungen: die
30   V-Dehnung (uff). Die Schmetterlingsdehnung (aua). „Berühre deine Zehen“ (haha). In Minivideos macht
     alle Übungen ein gelenkiger Mann vor, der aussieht wie Johnny Depp, lange bevor der Drogen entdeckte.
     Ein Freund, der seit Jahren Yoga macht, gibt mir einen Tipp: Beim Dehnen soll ich dorthin gehen, wo es
     orange aufleuchtet. Niemals in die rote Zone. Vielleicht hat dieser Tipp mein Leben gerettet. Denn es ist
     ziemlich gefährlich, einen übermotivierten, unbeweglichen 31-Jährigen auf Spagat-Tutorials loszulassen.
35   Ist es normal, dass sich nach zwei Tagen die Hinterseiten meiner Knie ziemlich kaputt anfühlen?
     Ja, bei vielem bin ich schnell frustriert. Ich hatte mir das leichter vorgestellt. Schauen manche Menschen
     Tutorials vielleicht nur an, ohne sie auszuprobieren? Wie sonst erklärt sich die Popularität von „Wie man
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     einen Sixpack bekommt“ oder „Wie man einen Marathon läuft“? Ich telefoniere mit Jack Herrick (50), dem
     Gründer von Wikihow. Herrick, ein Kalifornier, lebte in den 90er-Jahren in seinem Pick-up und reiste durch
40   die USA. Immer dabei: eine Plastikkiste mit Sachbüchern – seine „knowledge box“. Er brachte sich alles
     Mögliche bei. Und er dachte: Sollte das nicht jeder können? Im Jahr 2005 ging Wikihow online. „Unser Ziel
     ist eine weltweite kostenlose Bildung für alle“, sagt Herrick. Und die Menschen sind dankbar. Es sind schon
     Babys mithilfe von Wikihow auf die Welt gekommen. Von mindestens vier behauptet Herrick zu wissen.
     Was muss man heute können, Mister Herrick? „Ich weiß es nicht.“ Aber Bildung, sagt er, bedeutet heute
45   etwas anderes als in seiner Generation. „Früher war es so: In deiner Jugend wirst du zur Bibliothek, und
     wenn du älter bist, leihst du Bücher bei dir aus.“ Die Zukunft der Bildung funktioniert wie eine globalisierte
     Lieferkette. Nach dem Just-in-time-Prinzip. Menschen lernen, sobald sie lernen wollen. Herrick blickt sehr
     optimistisch in die Zukunft. „Heutige Jugendliche wissen mehr als die Generationen vor ihnen. Sie können
     mehr. Sie sind talentierter.“ Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, wie die kalifornische Sonne. Ich er-
50   ledige ein paar kleinere Tutorials: Wie man Katzen streichelt (man lässt sie kommen). Wie man Dosen ohne
     Dosenöffner aufmacht (mit einem spitzen Löffel, Messer oder Stein). Und dann entdecke ich das hier: Wie
     man duscht. Eine Anleitung in vier Teilen. Zum Beispiel mit diesem Hinweis: Nein, Finger eignen sich nicht
     zum Messen der Wassertemperatur: „Ihr Handgelenk ist ein genaueres Messgerät.“ Der Artikel hat zwei
     Millionen Abrufe. Ist das alles ein gigantisches Missverständnis? Wir wollen Spagate machen und Sixpacks
55   bekommen, können aber nicht einmal duschen?

     In Köln treffe ich Stephan Grünewald. Grünewald, ein freundlicher Mann, ist Psychologe und Marktforscher.
     Er hat in Tausenden Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Gesellschaft analysiert. Herr Grünewald,
     warum schauen Menschen online nach, wie man duscht? Grünewald denkt kurz nach und sagt dann: „In
60   meiner Jugend war der Alltag ritualisiert. Es gab gemeinsame Mahlzeiten, am Samstag war Badetag.
     Aber heute ist die gemeinsame Mahlzeit die Ausnahme.“ Die gemeinsamen Lebenszeiten von Kindern,
     Eltern und Großeltern würden weniger. „Es verschwinden die Räume, in denen man Alltagswissen vermit-
     teln kann. Ich bezweifle, dass Eltern eine Anleitung geben, wie man richtig zu duschen hat.“ Grünewalds
     Diagnose bedeutet: Verlust der Alltagskompetenz. Das fing schon vor Jahren an, als Sendungen wie Die
65   Super Nanny überforderten Eltern ihre Kinder erklärten. Smartphones aber haben das noch schlimmer ge-
     macht. Sie erledigen vieles von dem, was man früher können musste: sich in einer fremden Stadt zurecht-
     finden. Bruchrechnen. Partnersuche. Grünewald sagt: „Wir hoffen, alles auf Knopfdruck zu können. Und
     sind dann tief beschämt, wenn wir merken: Wir können nicht rechnen, nicht tapezieren und nicht kochen.“
     Und wer hilft, wenn man sich schämt? Jemand, der nicht verurteilt und keine blöden Fragen stellt. Ein
70   netter Influencer, jemand wie du und ich – oder eine freundliche Website wie Wikihow.

     Tutorials, so verstehe ich das, sind die neuen Eltern. Sie geben einem zwei Dinge. Anleitungen für Apfel-
     kuchen, ja. Aber auch Orientierung im Alltag. Wie oft soll ich duschen? Soll ich meine Kleidung zusam-
     menlegen wie die japanische Bestsellerautorin Marie Kondō oder wie meine Mutter? Diese Gesellschaft
75   ist unsicher. Sie hat Fragen, auf die früher niemand gekommen wäre. Meine Liste der beliebten Tutorials
     enthält auch: cool sein. Flirten. Cool sein, lese ich, ist eine Sache der Einstellung. Man kann Joggingho-
     sen tragen und trotzdem cool sein. Also ziehe ich die älteste Jogginghose aus meinem Schrank an und
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      versuche, auch alles andere richtig zu machen: suche Augenkontakt. Sitze gerade. Gehe langsam. Atme
      tief. Und: Entspanne dich. Mach dir keine Sorgen, was andere über dich denken. Ein Kollege fragt mich,
80    ob ich „Funktionskleidung“ trage, was ich ignoriere. Ich mache Witze, ich schaue in Augen, und Augen
      schauen zurück. Kurz vor Feierabend schreibe ich einem eingeweihten Kollegen: „Findest du mich schon
      cooler als gestern?“ „Nein. Tatsächlich nein. Deine Regenhose ist nicht cool.“ „Deine Meinung interessiert
      mich nicht.“ „Ah. Er lernt schnell.“ Ein paar Tage später flirte ich mit einer ungefähr 50 Jahre alten Sach-
      bearbeiterin mit roten Haaren und lackierten Fingernägeln im Bürgeramt. Dort bin ich, um eine Wohnung
85    anzumelden. Ich folge dem Tipp: „Halte deine Interaktionen kurz und süß.“ Ich sage: „Sehr schön haben
      Sie es hier!“ (Komplimente machen) Das Tutorial rät mir, sie unauffällig am Arm zu berühren, aber das ist
      vielleicht ein bisschen zu viel. Auch so funktioniert alles super: Wir lachen viel und verabschieden uns aufs
      Herzlichste. Manche dieser Tipps fühlen sich wie billige Tricks an. Aber sie wirken. Und doch haben sie
      etwas Trauriges. Jungs, die wissen wollen, wie man cool ist. Wer Tutorials liest, ist allein.
90

      An einem kalten Januartag knie ich mit einer Bohrmaschine in der Hand neben meinem Vater. Der Plan
      für heute: die Anzeige der Kältepumpe in der Wand zu befestigen. Mein Vater ist ein sehr ambitionierter
      Hobbyhandwerker und kann aus so etwas eine Wissenschaft machen. Ich lerne heute viele neue Wörter,
      so zum Beispiel das Schraubenprofil Torx. Mit zwölf Jahren bekam mein Vater seinen ersten Akkubohrer.
95    Seiner ersten Freundin installierte er einen Kachelofen, meiner Mutter schreinerte er ein Bett, und wenn
      das Haus aus dem 18. Jahrhundert fertig ist, wird meine Schwester dort einziehen. Mein Vater hat noch nie
      ein Handwerkstutorial gelesen. Handwerk ist für ihn mehr als eine Fertigkeit. Beziehungsarbeit. Ein Bauen
      an sich selbst. Und eine Art, sein Leben zu erzählen. Was muss man heute können, Papa? „Möglichst viel.
      Viel zu können und sich viel zuzutrauen macht dich frei und unabhängig. Als Mann musst du mit deinen
100   Händen umgehen können.“ Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei war. Ich habe meinen Vater nie
      gefragt, ob er mir Handwerksdinge beibringt. Für mich war früh klar: Ich kann nicht mit meinen Händen
      umgehen. Nicht mit Werkzeug, nicht mit Stiften. In Tutorials nähert man sich einer Tätigkeit allein, als freier
      Mensch und nicht als pubertierender Junge unter Jungs, die den Unterricht blöd finden. Und das ist der
      Unterschied zu der Art, wie mein Vater lernte. Männer seiner Generation wurden gute Handwerker. Es war
105   mehr als eine Fertigkeit, es war ihre Rolle. Auch deswegen, weil sie sich den Kopf nicht mit anderen Dingen
      wie Kochen oder Kindererziehung vollmachten. Ich kann vieles schlechter als er. Aber ich bin freier. Was
      muss man heute können? Alles. Nichts. Wie man die Bestandteile seines Müslis anbaut (was drei Jahre
      dauert). Wie man duscht. Man kann auch problemlos sein Leben zubringen, ohne etwas zu können, denn
      niemand erwartet mehr etwas von einem.
110

      In den vergangenen Wochen habe ich mich bis an die Schmerzgrenze gedehnt, ich habe Gesichter, Inseln
      und Bäume gezeichnet und Katzen gestreichelt. Aber wozu? Ich habe natürlich keinen Spagat geschafft.
      Aber seit den Dehnungen spüre ich meinen linken Sitzbeinknochen beim Radfahren wieder. Und mir ist
      klar geworden, wie sehr Rollen bestimmen, was wir lernen. Bist du Katzen- oder Hundemensch? Team
115   Sport oder Team Kunst? Hast du zwei linke Hände oder nicht? Und das, obwohl die meisten Fertigkeiten
      viel mehr mit Übung zu tun haben als mit Talent. Drei Tricks habe ich noch: Wenn Sie mit Kindern ver-
      stecken spielen, suchen Sie sich ein hoch gelegenes Versteck. Denn suchende Augen blicken immer nach
      unten. Wenn Sie neben einem Nieser sitzen und sein Niesen unterdrücken wollen, rufen Sie ihm schnell
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                        6

      etwas Absurdes zu. Dann kommt sein Gehirn möglicherweise auf eine andere Idee. Und wenn Sie Ihrem
120   Arbeitgeber eine Krankheit vortäuschen wollen, schreien Sie vor dem Telefonat zehn Sekunden in Ihr Kis-
      sen. Dann klingen Sie heiser.
                                                                     Text: Philipp Daum, Deutsch perfekt 6/2021, S. 48–52
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                               7

VOR DEM LESEN

1a) Welches
          Internetphänomen verbindet diese Wörter? Ergänze das gesuchte Wort auch in 2a!

die Gebrauchsanleitung
beibringen
die Bildung
Schritt für Schritt
der Benutzer / die Benutzerin
nachvollziehbar
der Vorgang
die Schulung
erstellen
schneiden
sein Wissen teilen
jemandem über die Schulter gucken
nachmachen

1b) W
     as hältst du von dieser Überschrift? Worum könnte es in dem Artikel gehen?
    Richtig duschen in 20 Schritten

LESEN

2a) Führe beim Lesen Notizen: Liste _ _ _ _ _ _ _ _ _ auf, links die nützlichen und rechts diese,
     die deiner Meinung nach unsinnig sind.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                  8

2b) V
     erweise auf Textstellen, die zu diesen Aussagen passen. Teile anschließend deine Meinung dazu.

                                 Tutorials sind die neuen Eltern
                   „Viel zu können macht dich frei und unabhängig“

KONZEPTE RUND UMS LERNEN
3a) Wissenswertes rund ums Lernen: Lies den Text und kläre Verständnisfragen.

Hier lernst du vier Arten des Lernens kennen. Man kann sie kombinieren. Hier sollen sie aber zuerst einmal
getrennt voneinander vorgestellt werden:

Online-Unterricht: Eine Lehrkraft bringt uns online etwas bei. Mithilfe einer Software kann sich die Klasse
hören und sehen. Die Möglichkeit, den eigenen Bildschirm zu teilen, hilft beim Erklären. Man kann auch
schriftlich chatten oder mit Icon-Signalen interagieren. Sogenannte Break-out-Rooms machen Partner-
und Gruppenarbeit möglich.

Offline-Unterricht: Wir sehen uns persönlich und nicht vor dem Bildschirm. Man sieht sich vor Ort, die
Lehrkraft unterrichtet im physischen Klassenzimmer. Verschiedene Sitzaufstellungen machen unterschied-
liche Arbeitsformen möglich. Offline bedeutet aber nicht, dass Technik tabu ist: Im Offline-Unterricht kön-
nen auch Smartboard, Beamer oder ein Bildschirm zum Einsatz kommen.

Informelles Lernen – online: Wir alle entdecken im Internet Dinge, die wir ganz autonom (kennen-)lernen.
Dabei stoßen wir selbstständig auf Neuigkeiten und Wissenswertes zu den Themen, die uns interessieren.
Während wir frei durchs Internet surfen, lernen wir mithilfe von Tutorials und Erklärvideos. „Informell“ be-
deutet dabei immer ohne Lehrkraft oder Lehrplan.

Informelles Lernen – offline: Informelles Lernen außerhalb des Klassenzimmers ist grenzenlos: Es findet
das ganze Leben lang statt, auch nach dem Schulabschluss. Wir erwerben praktische Fähigkeiten, lernen
im sozialen Umfeld und durch persönlichen Austausch. Egal ob draußen oder im Verein, informelles Lernen
passiert öfter, als wir glauben. Häufig, aber nicht immer, spielt sich informelles Lernen offline ab.

DISKUTIERE

3b) Wie lernst du am liebsten? Kannst du auf eine Form des Lernens verzichten? Warum (nicht)?
     Teile deine Meinung dazu.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                 9

KONZEPTE IN SCHAUBILDERN

4a) Betrachte die beiden Schaubilder.
     Erkläre in eigenen Worten, was man jeweils unter dem Begriff hybrides Lernen versteht.

Schaubild 1

                             Online-             hybrides            Offline-
                            Unterricht            Lernen            Unterricht

Schaubild 2

                            formelles            hybrides          informelles
                             Lernen               Lernen             Lernen

4b) Überlege dir konkrete Beispiele: Wie kann hybrides Lernen in der Praxis aussehen? Nenne ein
     Beispiel für hybrides Lernen zwischen online und offline sowie ein Beispiel für hybrides Lernen
     zwischen formellem und informellem Lernen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                   10

KOMPETENZEN

5) L est die Fragen a) bis c) und die verschiedenen Aspekte dazu, beantwortet die Fragen aber noch
     nicht. Sprecht danach über folgende Themen: Wie definiert ihr Digital-Kompetenzen? Welche Rolle
     spielen sie im Lernen der Zukunft? Besprecht außerdem den Begriff der sozialen Kompetenzen.
     Was versteht ihr darunter? Welche Bedeutung haben sie?

a) Hat das bei eurer Gruppenarbeit funktioniert?

  Wir haben Ideen       Mehrere Leute         Unser Kurspro-         Wir können auch     Wir können
  und Vorschläge        aus der Gruppe        gramm war im           jetzt noch unser    einstellen, wer
  für unser Kurs-       haben gleichzei-      Tutorialbasar für      Kursprogramm        Zugriff auf unser
  programm zentral      tig am Kurspro-       alle zu sehen. Das     mit weiteren Leu-   Kursprogramm
  gesammelt. Alle       gramm geschrie-       Endprodukt ist an      ten, zum Beispiel   hat.
  aus der Gruppe        ben, Textstellen      einem Ort abge-        anderen Klassen
  konnten dazu bei-     ergänzt und ge-       speichert.             teilen.
  tragen.               ändert.

b) Gab es technische Hilfsmittel, z. B. Online-Tools? Wenn ja, welche?

c) Habt ihr diese Digital-Kompetenzen bewiesen?

  Wir können in der           Wir können in der digi-     Wir können in der         Wir kennen den Status
  digitalen Welt Informa-     talen Welt kooperativ       digitalen Welt Dateien    des Zugangs und der
  tionen suchen, abru-        an Projekten arbeiten.      erstellen, teilen und     Sicherheit von unseren
  fen, abspeichern und                                    präsentieren.             geteilten Daten.
  wieder aufrufen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                 11

GRUPPENARBEIT – WIR KREIEREN UNSERE EIGENE SCHULE

6) A
    rbeitet in einer Gruppe von 3 - 5 Personen. Zusammen leitet ihr eine Schule der Kompetenzen.
    Eure neue Schule möchte ein tolles Kursprogramm bieten, in dem vor allem Digital-Kompetenzen
    und soziale Kompetenzen vermittelt werden. Wählt Tutorials von Wikihow aus, und stellt den span-
    nendsten Katalog zusammen. Der Tutorialbasar am Ende entscheidet, welche Schule gewinnt!

Phase 1: Unsere Schule – unser Kursprogramm (20 Minuten)

Wählt zuerst einen Namen für eure Schule! Recherchiert dann auf de.wikihow.com – wählt vier Kurse aus,
die ihr in eurer Schule anbieten wollt. Schreibt zu jedem Kurs einen Beschreibungstext von drei bis fünf
Sätzen. Er soll die anderen zur Anmeldung inspirieren. Für zwei der Kurse dürft ihr jeweils ein Bild von
Wikihow speichern. Die anderen zwei Kurse werdet ihr ohne Bild präsentieren. Wählt außerdem, welche
Kurse online stattfinden sollen.

Phase 2: Kluger Katalog (15 Minuten)

Euer Katalog soll in digitaler Form (zum Beispiel als kollaboratives Textdokument mit Bildern) entstehen.
Darin müsst ihr eure Kurse gut präsentieren und klug entscheiden, wie viel jeder Kurs kostet und wann er
stattfindet. Notiert zu jedem Kurs den Preis und die Uhrzeit. Beachtet dabei:

Das Management hat euch die folgende Preisstruktur vorgegeben:

1 Gratiskurs		          1 Kurs für 5 €		        1 Kurs für 10 € 1 Kurs für 15 €

Jeder Kurs kann zur vollen Stunde beginnen und dauert eine Stunde. Kurse können frühestens um 12:00
Uhr beginnen und müssen spätestens um 19:00 enden. Eure Trainer/-innen können fast immer unterrich-
ten, aber zwei Kurse müssen um 18:00 Uhr starten.

Phase 3: Tutorialbasar (20 Minuten)

In dieser Phase können alle im Kurs die Kataloge der Gruppen ansehen. Jede Person liest die anderen
Kataloge und meldet sich für Kurse an den verschiedenen Schulen an. Eine Anmeldung an der eigenen
Schule ist nicht möglich. Jede Person hat ein Budget von 30 € und notiert sich den Preis, die Uhrzeit und
den Namen der Schule. Achtet auch darauf, dass ihr nicht an zwei Kursen gleichzeitig teilnehmen könnt.

Abschluss: Siegerehrung (5 Minuten)

Die Klasse errechnet für jede Schule die Einnahmen aus dem Kursprogramm. Dabei fragt ihr zu jedem
Kurs, wer sich dafür anmelden will. Multipliziert die Anzahl der Anmeldungen mit dem jeweiligen Kurs-
preis. Addiert alle Summen pro Schule. So errechnet sich der Gewinn. Welche Schule hat am meisten Geld
eingenommen?
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                          12

REFLEXIONSFORMULAR „DIGITALE GRUPPENARBEIT“

Beantworte für a) bis c) die Ankreuz-Frage. Zeichne dann Linien von oben nach unten:
Welche Aspekte von a/b) passen logisch zu welchen Digital-Kompetenzen von c)?

a) Hat das bei eurer Gruppenarbeit funktioniert?

 Wir haben Ideen        Mehrere Leute         Unser Kurspro-           Wir können auch      Wir können
 und Vorschläge         aus der Gruppe        gramm war im             jetzt noch unser     einstellen, wer
 für unser Kurs-        haben gleichzei-      Tutorialbasar für        Kursprogramm         Zugriff auf unser
 programm zentral       tig am Kurspro-       alle zu sehen. Das       mit weiteren Leu-    Kursprogramm
 gesammelt. Alle        gramm geschrie-       Endprodukt ist an        ten, zum Beispiel    hat.
 aus der Gruppe         ben, Textstellen      einem Ort abge-          anderen Klassen
 konnten dazu bei-      ergänzt und ge-       speichert.               teilen.
 tragen.                ändert.

 Ja?                    Ja?                   Ja?                      Ja?                  Ja?

b) Gab es technische Hilfsmittel, z. B. Online-Tools? Wenn ja, welche?

 Vorhanden?             Vorhanden?            Vorhanden?               Vorhanden?           Vorhanden?
 ____________           ____________          ____________             ____________         ____________

                                                         ?

c) Habt ihr diese Digital-Kompetenzen bewiesen?

 Ja?                          Ja?                            Ja?                      Ja?

 Wir können in der            Wir können in der digi-        Wir können in der        Wir kennen den Status
 digitalen Welt Informa-      talen Welt kooperativ          digitalen Welt Dateien   des Zugangs und der
 tionen suchen, abru-         an Projekten arbeiten.         erstellen, teilen und    Sicherheit von unseren
 fen, abspeichern und                                        präsentieren.            geteilten Daten.
 wieder aufrufen.

Erkläre in eigenen Worten, wie du die Elemente oben verbunden hast.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                                   13

STUNDENPLANUNG
Hybrides Lernen: online, offline, formell und informell

Phase                 Aufgabe                                                   Sozialform                  Zeit
 Vor dem Lesen        Aufgabe 1)                                                Plenum / in Paaren          10 Minuten

 Textarbeit: lesen,   Aufgabe 2)                                                Stillarbeit / in Paaren     40 Minuten
 exzerpieren

 Textarbeit und       Aufgabe 3)                                                Stillarbeit / Plenum / in   15 Minuten
 Diskussion                                                                     Paaren

 Schaubilder          Aufgabe 4)                                                Plenum / in Paaren          35 Minuten
 erklären und
 Ideen sammeln

 Briefing:            Aufgabe 5) und Instruktionen aus Aufgabe 6)               Plenum                      10 Minuten
 Gruppenarbeit

 Gruppenarbeit        Aufgabe 6)                                                Gruppen / Plenum            60 Minuten
 und
 Tutorialbasar

 Nach-                Feedbackformular Debriefing ggf. Blick auf die Produkte   Plenum                      20 Minuten
 besprechung          anderer Klassen

Hinweise für Lehrkräfte
Die ersten 90 Minuten drehen sich um die Textarbeit zum Thema Tutorials. Gehen Sie nach Mög-
lichkeit immer wieder auf die Erfahrungen Ihrer Lernenden ein. Fragen Sie so z. B. nach Ablauf von
Aufgabe 1a), wann Ihre Lernenden das letzte Mal ein Tutorial angesehen haben. Was war der Inhalt
des Tutorials? Haben sie die Fertigkeit danach gleich ausprobiert?

Die Differenzierung der Textversionen können Sie selbst übernehmen, um den längeren, nicht ver-
einfachten Text Ihren lesestärkeren Schülerinnen und Schülern zuzuteilen. Alternativ können Sie
die Wahl der Versionen den Lernenden selbst überlassen. Hier spart der Hinweis, dass nur wenige
Formulierungen verändert und einzelne Passagen rausgeschnitten wurden, etwas Zeit.

Die zweiten 90 Minuten geben Raum für Reflexion und einen Blick hinüber zu den anderen Fächern.
Gehen Sie im Briefing Aufgabe 5) und die Instruktionen von Aufgabe 6) durch. So wissen Ihre Ler-
nenden schon vor der Gruppenarbeit, an welchen Kriterien sich die Evaluation der Digital-Kompe-
tenzen messen wird. Helfen Sie ggf. bei der Wahl der Tools, und demonstrieren Sie u. U. einzelne
Funktionen wie das Teilen des kooperativen Textdokuments.

Haben Ihre Lernenden im Nachgang die Prospekte zugänglich gemacht? Dann teilen Sie die Links/
Dateien mit den anderen Sprachen. Werfen Sie im Plenum auch noch mal einen Blick auf die fremd-
sprachlichen Produkte, vorausgesetzt, Ihrer Klasse stehen die Links/Dateien zur Verfügung.
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     Originaltext

     RICHTIG DUSCHEN IN 20 SCHRITTEN
     Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man auch alles können?
     Von Philipp Daum

     Es gibt eine Urban Legend, die in sozialen Netzwerken herumgeht: „Mein Opa hat mir heute erzählt, dass
     immer, wenn Oma sauer auf ihn ist, er den Deckel vom Marmeladenglas festdreht, damit sie wieder mit
     ihm reden muss. Genau DAS möchte ich auch mal.“ Eine schöne, herzerwärmende, vermutlich erfundene
     Geschichte.
     Ich will gar nicht über Alltagssexismus schreiben oder die Machtverhältnisse einer Mittelschichtsehe in
5    Nachkriegsdeutschland. Ich will bloß festhalten: Die emotionale Erpressung mit einem Marmeladenglas ist
     ein aussterbender Trick.
     Denn als die Geschichte neulich bei Twitter erzählt wurde, kam die Antwort: „An alle, die denken, dass
     man als Frau einen Mann zum Öffnen irgendwelcher Gläser braucht: Mit einem dünnen Löffelstiel zwi-
     schen Glas und Deckel gehen und leicht hebeln, damit Luft entweicht.“
10   Omas von heute können googeln, wenn sie vor einem verschlossenen Marmeladenglas stehen. Sie fragen
     nicht ihre Männer, sie fragen Tutorials. Tutorials, Bedienungsanleitungen in wenigen Schritten, können
     einem alles beibringen: Nützliches (Wie man eine Waschmaschine anschließt). Nutzloses (Wie man eine
     Sektflasche mit einem Schwert öffnet). Lebenserleichterndes (Wie man eine Ehe rettet). Sogar Lebens-
     rettendes (Wie man den Sturz aus einem Flugzeug überlebt).
15   Wir leben in einem How-to-Zeitalter. Das Gute ist: Man kann alles lernen. Das Blöde ist: Es gibt jetzt keine
     Ausrede mehr, etwas nicht selber zu machen. Was also muss man alles können?
     Es gibt einen Ort, der eine Antwort bereithalten könnte. Dieser Ort heißt Wikihow. Wenn Wikipedia eine
     Enzyklopädie des Wissens ist, ist Wikihow eine Enzyklopädie des Könnens. Mehr als 200.000 Anleitungen
     in 18 Sprachen mit dem einen Ziel: „Teaching anyone in the world how to do anything.“
20

     Anything. Anyone! Die Möglichkeiten der Welt liegen ausgestreckt vor mir, gegossen in Tutorials. Ich bin
     bereit. Ich werde mir die Fertigkeiten draufschaffen, die man heute so draufhat. Wikihow hat mir eine Ta-
     belle mit den 100 beliebtesten Tutorials geschickt. Die Redaktion hat zehn davon ausgewählt. Ich werde
     unter anderem lernen, wie man eine Dose ohne Dosenöffner öffnet. Flirtet. Einen Spagat in einer Woche
25   macht.
     Ich zog aus, um zu lernen, der Held eines modernen Bildungsromans. Würden mich Tutorials zu einem
     kompletteren Menschen machen?
     Ich beginne mit dem größenwahnsinnigsten Vorhaben überhaupt: Ein Spagat in einer Woche. Bevor ich
     anfange, spreche ich tagelang von nichts anderem. Was für ein Tutorial! Wie geschaffen für das 21. Jahr-
30   hundert. Instagrammable, kann nicht jeder, dauert nur eine Woche. Eine anschlussfähige Challenge in
     Zeiten, in denen andere auf Fleisch verzichten oder eine Paläo-Diät machen.
     Aber die Anamnese ist niederschmetternd! Von oben blicke ich in einen Abgrund: 70 Zentimeter zwischen
     dem Boden und, ähem, der Stelle zwischen meinen Beinen. Wolkenkratzerhöhe. International-Space-Sta-
     tion-Höhe. Ich kreise in der Umlaufbahn meiner eigenen Unbeweglichkeit.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                  15

35   Das Tutorial ist, Wikihow-typisch, in akribischer Listenform verfasst. 15 Schritte werden in den nächsten
     Tagen mein Leben strukturieren: 1. Zweimal täglich eine Viertelstunde lang dehnen. 2. Vorher unbedingt
     aufwärmen! 3. Vorbereitungsdehnungen: Die V-Dehnung (uff). Die Schmetterlingsdehnung (aua). „Be-
     rühre deine Zehen“ (haha). In Minivideos macht alle Übungen ein gelenkiger Mann vor, der aussieht wie
     Johnny Depp, lange bevor er Drogen entdeckte.
40   Ein Freund, der seit Jahren Yoga macht, gibt mir einen Tipp: Beim Dehnen solle ich dorthin gehen, wo es
     orange aufleuchtet. Niemals in die rote Zone.
     Vielleicht hat dieser Tipp mein Leben gerettet. Denn es ist einigermaßen gefährlich, einen übermotivier-
     ten, unbeweglichen 31-Jährigen auf Spagat-Tutorials loszulassen. Ist es normal, dass sich nach zwei Tagen
     die Hinterseiten meiner Knie anfühlen wie durchgescheuert?
45   Ja, es ist alles sehr frustrierend. Ich hatte mir das leichter vorgestellt.
     Mich beschleicht der ungeheure Verdacht, dass manche Menschen Tutorials nur angucken, ohne sie aus-
     zuprobieren. Wie sonst erklärt sich die Popularität von „Wie man einen Sixpack bekommt“ oder „Wie man
     einen Marathon läuft“?

50   Ich telefoniere mit Jack Herrick, 50 Jahre alt, dem Gründer von Wikihow. Herrick, ein Kalifornier, lebte in
     den Neunzigerjahren in seinem Pick-up und zog durch die Staaten. In seinem Kofferraum immer dabei:
     eine Plastikkiste mit Sachbüchern – seine „knowledge box“. Er brachte sich alles Mögliche bei. Und er
     dachte: Sollte das nicht jeder können?
     2005 ging Wikihow online. „Unser Ziel ist eine weltweite kostenlose Bildung für alle“, sagt Herrick. Und die
55   Menschen sind dankbar. Es sind schon Babys mithilfe von Wikihow auf die Welt gekommen. Von mindes-
     tens vier behauptet Herrick zu wissen.
     Was muss man heute können, Mister Herrick? Gibt es einen Kanon? „Ich weiß es nicht.“ Aber Bildung, sagt
     er, bedeutet im 21. Jahrhundert etwas anderes als in seiner Generation. „Früher war es so: In deiner Ju-
     gend wirst du zur Bibliothek, und wenn du älter bist, leihst du Bücher bei dir aus.“ Die Zukunft der Bildung
60   funktioniert wie eine globalisierte Lieferkette. Nach dem Just-in-time-Prinzip. Menschen lernen, sobald sie
     wollen.
     Und was diese Zukunft angeht, ist Herrick sehr optimistisch. „Heutige Jugendliche wissen mehr als die
     Generationen vor ihnen. Sie können mehr. Sie sind talentierter.“
     Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, wie die kalifornische Sonne. Ich erledige ein paar kleinere Tuto-
65   rials: Wie man Katzen streichelt (man lässt sie kommen), wie man Dosen ohne Dosenöffner aufmacht (mit
     einem spitzen Löffel das Metall durchreiben), wie man Weihwasser herstellt (na ja, nicht wirklich Weihwas-
     ser, weil ich kein Priester bin, aber okay).
     Und dann entdecke ich das hier: Wie man duscht. Eine Anleitung in vier Teilen. Nein, Finger eignen sich
     nicht zum Messen der Wassertemperatur: „Ihr Handgelenk ist ein genaueres Messgerät.“ Der Artikel hat
70   zwei Millionen Abrufe.
     Ist das alles ein gewaltiges Missverständnis? Wir wollen Spagate und Waschbrettbäuche, können aber
     nicht mal duschen?
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                 16

75    Ich fahre nach Köln, um Stephan Grünewald zu treffen. Grünewald, ein freundlicher Rheinländer, ist Psy-
      chologe und Marktforscher. Er hat in Tausenden Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Gesellschaft
      analysiert, ihre Orientierungslosigkeit, ihre Gereiztheit, ihre Überforderung.
      Herr Grünewald, warum gucken Menschen im Internet nach, wie man duscht?
      Grünewald denkt kurz nach und sagt dann: „In meiner Jugend war der Alltag ritualisiert. Es gab gemein-
80    same Mahlzeiten, am Samstag war Badetag. Aber heute ist die gemeinsame Mahlzeit die Ausnahme.“ Die
      gemeinsamen Lebenszeiten von Kindern, Eltern und Großeltern würden weniger. „Es verschwinden die
      Räume, in denen man Alltagswissen vermitteln kann. Ich bezweifle, dass Eltern eine Anleitung geben, wie
      man richtig zu duschen hat.“
      Grünewalds Diagnose lässt sich auf einen Begriff bringen: Verlust der Alltagskompetenz. Das ging schon
85    vor Jahren los, als Sendungen wie Die Super Nanny überforderten Eltern ihre Kinder erklärten. Smart-
      phones aber haben das verschärft. Sie erledigen vieles von dem, was man früher können musste: Sich in
      einer fremden Stadt zurechtfinden. Bruchrechnen. Partnersuche. Smartphones geben uns ein „digitales
      Allmachtsversprechen“ – und diese Anspruchshaltung schwappt in den Alltag. Grünewald sagt: „Wir hof-
      fen, alles auf Knopfdruck zu können. Und sind dann tief beschämt, wenn wir merken: Wir können nicht
90    rechnen, nicht tapezieren und nicht kochen.“
      Und an wen wendet man sich, wenn man sich schämt? An jemanden, der nicht verurteilt und keine doofen
      Nachfragen stellt. An den netten Influencer von nebenan – oder an eine freundliche Website wie Wikihow.

      Tutorials, so verstehe ich das, sind die neuen Eltern. Sie geben einer verwirrten Gesellschaft zwei Dinge.
95    Anleitungen für Apfelkuchen, ja. Aber auch Orientierung im Alltag. Wie oft soll ich duschen? Soll ich meine
      Kleidung zusammenlegen wie Marie Kondo oder wie meine Mutter? Diese Gesellschaft ist unsicher. Sie hat
      Fragen, auf die früher niemand gekommen wäre. Auf meiner Liste der beliebten Anleitungen stehen: Cool
      sein. Flirten.
      Cool sein, lese ich, ist eine Sache der Einstellung. Man kann Jogginghosen tragen und trotzdem cool sein.
100   Also ziehe ich die älteste Jogginghose aus meinem Schrank an und versuche, alle anderen Tipps zu beher-
      zigen: Suche Augenkontakt. Sitze aufrecht. Gehe langsam. Atme tief. Und: Entspanne dich. Mach dir keine
      Sorgen, was andere über dich denken.
      In der Redaktion fragt mich ein Kollege, ob ich „Funktionskleidung“ trage, was ich ignoriere. Ich mache
      Witze, ich schaue in Augen, und Augen schauen zurück. Zwei Kollegen berühren mich beim Mittagessen
105   in einem offensichtlichen Versuch, etwas von meiner Coolness abzubekommen.
      Kurz vor Feierabend schreibe ich einem eingeweihten Kollegen eine Nachricht:
      „Findest du mich schon cooler als gestern?“
      „Nein. Tatsächlich nein. Deine Regenhose ist nicht cool.“
      „Deine Meinung interessiert mich nicht.“
110   „Ah. Er lernt schnell.“
      Ein paar Tage später flirte ich mit einer ungefähr 50 Jahre alten Sachbearbeiterin mit roten Haaren und la-
      ckierten Fingernägeln im Bürgeramt Biesdorf. Dort bin ich, um eine Wohnung anzumelden. Ich folge dem
      Tipp: „Halte deine Interaktionen kurz und süß.“ Ich sage: „Sehr schön haben Sie es hier!“ (Komplimente
      machen) Das Tutorial rät mir, sie unauffällig am Arm zu berühren, aber man kann es auch übertreiben. Es
115   funktioniert alles hervorragend: Wir lachen viel und verabschieden uns aufs Herzlichste.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                  17

      Manche dieser Tipps fühlen sich wie billige Tricks an. Aber sie wirken. Und doch haben sie etwas Trauriges.
      Jungs, die nachlesen, wie man cool ist. Wer Tutorials liest, ist allein.

      An einem kalten Januartag knie ich mit einer Bohrmaschine in der Hand neben meinem Vater. Ich bin bei
120   ihm in Oberfranken. Er baut ein Haus aus dem 18. Jahrhundert um, es ist fast fertig, der Plan für heute: die
      Anzeige der Kältepumpe in der Wand zu befestigen. Mein Vater ist ein sehr ambitionierter Hobbyhand-
      werker und kann aus so etwas eine Wissenschaft machen. Ich lerne folgende Wörter: Rutschkupplung.
      Schnellspannbohrfutter. Torx.
      Mit zwölf Jahren bekam mein Vater seinen ersten Akkubohrer. Seiner ersten Freundin installierte er einen
125   Kachelofen, meiner Mutter schreinerte er ein Bett, und wenn das Haus aus dem 18. Jahrhundert fertig ist,
      wird meine Schwester dort einziehen. Mein Vater hat noch nie ein Handwerkstutorial gelesen. Handwerk
      ist für ihn mehr als eine Fertigkeit. Beziehungsarbeit. Ein Bauen an sich selbst. Und eine Art, sein Leben
      zu erzählen.
      Was muss man heute können, Papa?
130   „Möglichst viel. Viel zu können und sich viel zuzutrauen macht dich frei und unabhängig. Als Mann musst
      du mit deinen Händen umgehen können.“
      Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei war. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob er mir Handwerks-
      dinge beibringt. Für mich war früh klar: Ich kann nicht mit meinen Händen umgehen. Nicht mit Werkzeug,
      nicht mit Stiften.
135   Auf meinem Zettel steht: Ein Gesicht zeichnen. Ein schmerzhaftes Thema. In der fünften Klasse drohte mir
      Frau Ernst, meine Kunstlehrerin, mit einer Fünf im Zeugnis.
      „Ziehen Sie eine dünne Außenlinie des Gesichts.“ Oh Gott. Ich zeichne einen Eierkopf mit einem markanten
      Kiefer. Eine Schlangennase, einen Sylvester-Stallone-Mund, er hängt rechts herunter.
      Tief in mir kriechen Kunstunterrichtsgefühle herauf: Selbstzweifel, der Drang wegzulaufen. Aus Furcht,
140   eine falsche Linie zu zeichnen, zögere ich jeden Schritt hinaus. Dann blicke ich mich um: Niemand neben
      mir, der ein viel schöneres Gesicht zeichnet. Keine Frau Ernst, die sich über meinen Schreibtisch beugt,
      seufzt und wortlos weitergeht.
      Ich merke, wie verrückt viele Varianten des Drückens, Schiebens, Vorsichtig-Aufditschens und Brutal-Strei-
      chens mit einem Stift auf Holz und Grafit möglich sind. Die Frau bekommt ein schlankeres Kinn. Die Vol-
145   demort-Nase wird feiner. Nach zwei Stunden bedecken Radiergummiwürste und Bleistiftsplitter meinen
      Schreibtisch, und ich signiere mein Bild. Ich habe etwas geschaffen.
      In Tutorials nähert man sich einer Tätigkeit allein, als freier Mensch und nicht als pubertierender Junge
      unter Jungs, die Kunstunterricht blöd finden. Und das ist der Unterschied zu der Art, wie mein Vater
      lernte. Männer seiner Generation wurden gute Handwerker. Es war mehr als eine Fertigkeit, es war ihre
150   angestammte Rolle. Auch deswegen, weil sie sich den Kopf nicht mit anderen Dingen wie Kochen oder
      Kindererziehung vollmachten. Ich kann vieles schlechter als er. Aber ich bin freier.
      Was muss man können? Für seine Generation kann mein Vater diese Frage noch beantworten. Aber heu-
      te? Alles. Nichts. Wie man sämtliche Bestandteile seines Müslis anbaut (was drei Jahre dauert). Wie man
      duscht. Man kann auch problemlos sein Leben zubringen, ohne etwas zu können, denn niemand erwartet
155   mehr etwas von einem.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen                                                                 18

      In den vergangenen Wochen habe ich mich bis an die Schmerzgrenze gedehnt, ich habe Gesichter, Inseln
      und Bäume gezeichnet, ich habe Katzen gestreichelt und Weihwasser gesegnet. Was hat das alles ge-
      bracht?
      Ich habe natürlich keinen Spagat geschafft. Aber seit den Dehnungen spüre ich meinen linken Sitzbein-
160   knochen beim Radfahren wieder. Meine Freundin hat mir ein Skizzenbuch geschenkt. Und zu Hause steht
      eine Flasche Weihwasser, für alle Fälle.
      Mir ist klar geworden, wie sehr Rollen bestimmen, was wir lernen. Bist du Katzen- oder Hundemensch?
      Team Sport oder Team Kunst? Hast du zwei linke Hände oder nicht? Dabei haben die meisten Fertigkeiten
      viel mehr mit Übung zu tun als mit Talent.
165   Drei Tricks habe ich noch: Wenn Sie mit Kindern verstecken spielen, suchen Sie sich ein hoch gelegenes
      Versteck, denn suchende Augen blicken immer nach unten. Wenn Sie neben einem Nieser sitzen und sein
      Niesen unterdrücken wollen, rufen Sie ihm schnell etwas Absurdes zu, dann kommt sein Gehirn möglicher-
      weise auf eine andere Idee. Wenn Sie eine Krankheit im Büro vortäuschen wollen, schreien Sie vor dem
      Telefonat zehn Sekunden in Ihr Kissen, dann klingen Sie heiser.
                                                                                                   Text: Philipp Daum, ZEIT 6/2020

      IMPRESSUM
      Redaktion                           Gestaltung           Autoren
      Jörg Walser (Chefredakteur          Georg Lechner        Philipp Daum
      Deutsch perfekt) (V. i. S. d. P.)
      Julian Großherr (verantwortlich)    Bildredaktion        Bildnachweis
      Katharina Heydenreich               Sarah Gough          Illustrationen: alashi/iStock.com
                                          Judith Rothenbusch
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