HYBRIDES LERNEN UND DIGITALE KOMPETENZEN - Zwischen on- und offline, formell und informell
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Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II www.zeit.de/schulangebote Ein Thema, drei Sprachen – Die Arbeits- blätter widmen sich verschiedenen In Zusammenarbeit mit: Themen auf Deutsch, Englisch und Französisch. Zwischen on- und offline, formell und informell HYBRIDES LERNEN UND DIGITALE KOMPETENZEN Lernen geschieht in jedem Unterricht. An welche Gruppen richten sich diese Arbeitsblätter? Sekundarstufe II (Jahrgangsstufe 9 – 13, nämlich: Abschlussklassen der Mittelschule, die letzten beiden Jahrgangsstufen an Realschulen und an Klassen der höheren Mittelstufe an Gymnasien, sowie der Oberstufe an Gymnasien) Fächer: Deutsch, Sozialkunde, Sozialwesen/Sozialprakti- sche Grundbildung, Psychologie und Pädagogik Seminargruppen zu den Themen „Lernen lernen“ und Erwerb der 4K-Kompetenzen / 21st century skills INHALT: 2 Einleitung: Thema, Lernziele und Projekt-Option 3 Artikel: Richtig duschen in 20 Schritten 7 Aufgaben 11 Gruppenarbeit 12 Reflexionsformular: „Digitale Gruppenarbeit“ 13 Stundenplanungsformular und Hinweise für Lehrkräfte 14 Differenzierungsoption: Originaltext
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 2 EINLEITUNG: THEMA, LERNZIELE UND PROJEKT-OPTION Tiktok und Corona gingen 2020 viral. Als Phänomene haben sie aber noch mehr gemeinsam. An ihnen zeigt sich deutlich der Wandel des Lernens. In einem Jahr, das von Teleunterricht und Wechselmodellen geprägt war, wurde in den Medien, Klassenzimmern, Whatsappgruppen und an Esszimmertischen eifrig diskutiert: Wie soll unser Lernen der Zukunft aussehen? Für Sie als Lehrkraft ist klar: Ihr Repertoire hat sich seither ungemein erweitert, und Sie und Ihre Lernenden wissen inzwischen, was online funktioniert – und wofür es eher das Klassenzimmer braucht. Gleichzeitig haben Jugendliche mehr Zeit denn je on- line verbracht: Für viele war Tiktok in Zeiten des Lockdowns ein täglicher Impuls zum Schmunzeln, zum Tanzen – und ja, zum Lernen. Kurze Tutorials mit Rezepten, Vokabelhilfen und Rechentricks zeigen, welche Dimension das informelle Lernen durch das Internet gewonnen hat. Wenn möglich, passiert informelles Lernen aber auch offline: nach dem Schulunterricht, in der Familie, im Verein, auf Ausflügen oder beim Einrichten des eigenen Zimmers. Die Bedeutung der formellen Lernkontexte bleibt jedoch ungebrochen. In der folgenden Unterrichtssequenz soll es um hybrides Lernen gehen: einmal als hybrides Lernen zwi- schen Online- und Offline-Unterricht und einmal im Spannungsfeld der formellen und informellen Lern- kontexte. Die übergeordneten Lernziele vermitteln Ihren Lernenden lebensrelevante Fertigkeiten: Wissen, welche Formen des Lernens existieren; Erkennen, was jede Form des Lernens ausmacht; Evaluieren, wel- ches Lernen einem persönlich besonders liegt; Beurteilen, welche Form des Lernens zu welchen Inhalten passt. Diese Meta-Kenntnisse beweisen Ihre Lernenden in einer finalen Gruppenarbeit: Sie gründen eine „Schule der Fertigkeiten“ und bestücken diese mit einem überzeugenden Kursprogramm. Dabei entschei- den sie, welche Kurse online und welche offline stattfinden. Eine Serie an Aktivitäten bereitet darauf vor. Sie trainiert das Leseverstehen und vermittelt die Konzepte des hybriden Lernens. Die Arbeitsformen wechseln zwischen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit. Peer-Feedback erfolgt auf Basis vereinbarter Kri- terien. Zur Differenzierung gibt es verschiedene Textversionen: Wer im Lesen langsamer ist, liest eine leicht vereinfachte, gekürzte Version des Textes. Dieser Unterrichtsvorschlag ist Teil der Material-Sammlung „Hybrides Lernen – learning in hybrid ways – apprendre à la façon hybride”. Die Sammlung bietet die Option, das Thema im Rahmen eines fächerüber- greifenden Projekts zu behandeln. Im ersten Teil der Projektwoche können Sie in Ihrem Fachunterricht die Unterrichtssequenz durchlaufen. Auch bei der „Schule der Fertigkeiten” ist es ratsam, Kursprogramme in- nerhalb einer Sprache konkurrieren zu lassen. So bleibt der Wettbewerb fair. Die Projekt-Rückschau führt die Fächer schließlich zusammen. Teilen Sie hierzu Ihre Ergebnisse, am besten digital. Eine (Best-of-)Vit- rine gibt den anderen Klassen Einsicht über die einzelnen Aktivitäten und finalen Produkte. Anschließend können Sie gemeinsam evaluieren. Als Instrument dazu dient die Medienkompetenzmatrix im Anhang. So können Sie und Ihre Klasse den Prozess noch einmal Revue passieren lassen und die erworbenen Medien- kompetenzen an den gemachten Erfahrungen festmachen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 3 RICHTIG DUSCHEN IN 20 SCHRITTEN Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man auch alles können? Von Philipp Daum Es gibt eine Urban Legend: „Mein Opa hat mir heute erzählt: Immer, wenn Oma sauer auf ihn ist, dreht er den Deckel vom Marmeladenglas fest. So muss sie wieder mit ihm reden. Genau DAS möchte ich auch mal.“ Eine schöne, emotionale, wohl erfundene Geschichte. Ich will gar nicht über Alltagssexismus schrei- ben oder die Machtverhältnisse einer Ehe in Deutschland nach dem Krieg. Ich will nur festhalten: Die 5 emotionale Erpressung mit einem Marmeladenglas funktioniert nicht mehr. Denn als die Geschichte neu- lich auf Twitter erzählt wurde, kam die Antwort: „An alle, die denken, dass man als Frau einen Mann zum Öffnen irgendwelcher Gläser braucht: mit einem dünnen Löffelstiel zwischen Glas und Deckel gehen und leicht hebeln, damit Luft entweicht.“ Wenn Omas von heute vor einem verschlossenen Marmeladenglas stehen, können sie googeln. Sie fragen nicht mehr ihre Männer. Sie fragen Tutorials. Solche Gebrauchs- 10 anweisungen in wenigen Schritten können einem alles beibringen: Nützliches (Wie man eine Waschma- schine anschließt). Nutzloses (Wie man eine Sektflasche mit einem Schwert öffnet). Lebenserleichterndes (Wie man eine Ehe rettet). Sogar Lebensrettendes (Wie man den Sturz aus einem Flugzeug überlebt). Wir leben in einer How-to-Epoche. Das Gute ist: Man kann alles lernen. Das Blöde ist: Es gibt jetzt keine Ausrede mehr, etwas nicht selbst zu machen. Was also muss man alles können? Es gibt einen Ort, der eine 15 Antwort bereithalten könnte. Dieser Ort heißt Wikihow. Wenn Wikipedia eine Enzyklopädie des Wissens ist, ist Wikihow eine Enzyklopädie des Könnens. Mehr als 200 000 Anleitungen in 18 Sprachen mit dem einen Ziel: „Teaching anyone in the world how to do anything.“ Anything. Anyone! Die Möglichkeiten der Welt liegen vor mir, in Form von Tutorials. Ich bin bereit. Ich wer- 20 de die Fertigkeiten lernen, die man heute so lernt. Wikihow hat mir eine Tabelle mit den 100 beliebtesten Tutorials geschickt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben zehn davon ausgesucht. Ich werde zum Beispiel lernen, wie man eine Dose ohne Dosenöffner öffnet. Flirtet. Einen Spagat in einer Woche macht. Ich begin- ne also zu lernen. Werden mich Tutorials zu einem kompletteren Menschen machen? Ich beginne mit dem verrücktesten Projekt: ein Spagat in einer Woche. Ideal für unsere Zeit. Instagrammable, kann nicht jeder, 25 dauert nur eine Woche. Eine gute Challenge in Zeiten, in denen andere Paläo-Diät machen. Aber zuerst die Anamnese! Von oben blicke ich in einen Abgrund: 70 Zentimeter zwischen dem Boden und, ähem, der Stelle zwischen meinen Beinen. Noch nie waren 70 Zentimeter so viel. Das Tutorial ist, Wikihow-typisch, als Liste geschrieben. 15 Schritte werden in den nächsten Tagen mein Leben strukturieren: 1. Zweimal täglich eine Viertelstunde lang dehnen. 2. Vorher unbedingt aufwärmen! 3. Vorbereitungsdehnungen: die 30 V-Dehnung (uff). Die Schmetterlingsdehnung (aua). „Berühre deine Zehen“ (haha). In Minivideos macht alle Übungen ein gelenkiger Mann vor, der aussieht wie Johnny Depp, lange bevor der Drogen entdeckte. Ein Freund, der seit Jahren Yoga macht, gibt mir einen Tipp: Beim Dehnen soll ich dorthin gehen, wo es orange aufleuchtet. Niemals in die rote Zone. Vielleicht hat dieser Tipp mein Leben gerettet. Denn es ist ziemlich gefährlich, einen übermotivierten, unbeweglichen 31-Jährigen auf Spagat-Tutorials loszulassen. 35 Ist es normal, dass sich nach zwei Tagen die Hinterseiten meiner Knie ziemlich kaputt anfühlen? Ja, bei vielem bin ich schnell frustriert. Ich hatte mir das leichter vorgestellt. Schauen manche Menschen Tutorials vielleicht nur an, ohne sie auszuprobieren? Wie sonst erklärt sich die Popularität von „Wie man
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 4 einen Sixpack bekommt“ oder „Wie man einen Marathon läuft“? Ich telefoniere mit Jack Herrick (50), dem Gründer von Wikihow. Herrick, ein Kalifornier, lebte in den 90er-Jahren in seinem Pick-up und reiste durch 40 die USA. Immer dabei: eine Plastikkiste mit Sachbüchern – seine „knowledge box“. Er brachte sich alles Mögliche bei. Und er dachte: Sollte das nicht jeder können? Im Jahr 2005 ging Wikihow online. „Unser Ziel ist eine weltweite kostenlose Bildung für alle“, sagt Herrick. Und die Menschen sind dankbar. Es sind schon Babys mithilfe von Wikihow auf die Welt gekommen. Von mindestens vier behauptet Herrick zu wissen. Was muss man heute können, Mister Herrick? „Ich weiß es nicht.“ Aber Bildung, sagt er, bedeutet heute 45 etwas anderes als in seiner Generation. „Früher war es so: In deiner Jugend wirst du zur Bibliothek, und wenn du älter bist, leihst du Bücher bei dir aus.“ Die Zukunft der Bildung funktioniert wie eine globalisierte Lieferkette. Nach dem Just-in-time-Prinzip. Menschen lernen, sobald sie lernen wollen. Herrick blickt sehr optimistisch in die Zukunft. „Heutige Jugendliche wissen mehr als die Generationen vor ihnen. Sie können mehr. Sie sind talentierter.“ Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, wie die kalifornische Sonne. Ich er- 50 ledige ein paar kleinere Tutorials: Wie man Katzen streichelt (man lässt sie kommen). Wie man Dosen ohne Dosenöffner aufmacht (mit einem spitzen Löffel, Messer oder Stein). Und dann entdecke ich das hier: Wie man duscht. Eine Anleitung in vier Teilen. Zum Beispiel mit diesem Hinweis: Nein, Finger eignen sich nicht zum Messen der Wassertemperatur: „Ihr Handgelenk ist ein genaueres Messgerät.“ Der Artikel hat zwei Millionen Abrufe. Ist das alles ein gigantisches Missverständnis? Wir wollen Spagate machen und Sixpacks 55 bekommen, können aber nicht einmal duschen? In Köln treffe ich Stephan Grünewald. Grünewald, ein freundlicher Mann, ist Psychologe und Marktforscher. Er hat in Tausenden Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Gesellschaft analysiert. Herr Grünewald, warum schauen Menschen online nach, wie man duscht? Grünewald denkt kurz nach und sagt dann: „In 60 meiner Jugend war der Alltag ritualisiert. Es gab gemeinsame Mahlzeiten, am Samstag war Badetag. Aber heute ist die gemeinsame Mahlzeit die Ausnahme.“ Die gemeinsamen Lebenszeiten von Kindern, Eltern und Großeltern würden weniger. „Es verschwinden die Räume, in denen man Alltagswissen vermit- teln kann. Ich bezweifle, dass Eltern eine Anleitung geben, wie man richtig zu duschen hat.“ Grünewalds Diagnose bedeutet: Verlust der Alltagskompetenz. Das fing schon vor Jahren an, als Sendungen wie Die 65 Super Nanny überforderten Eltern ihre Kinder erklärten. Smartphones aber haben das noch schlimmer ge- macht. Sie erledigen vieles von dem, was man früher können musste: sich in einer fremden Stadt zurecht- finden. Bruchrechnen. Partnersuche. Grünewald sagt: „Wir hoffen, alles auf Knopfdruck zu können. Und sind dann tief beschämt, wenn wir merken: Wir können nicht rechnen, nicht tapezieren und nicht kochen.“ Und wer hilft, wenn man sich schämt? Jemand, der nicht verurteilt und keine blöden Fragen stellt. Ein 70 netter Influencer, jemand wie du und ich – oder eine freundliche Website wie Wikihow. Tutorials, so verstehe ich das, sind die neuen Eltern. Sie geben einem zwei Dinge. Anleitungen für Apfel- kuchen, ja. Aber auch Orientierung im Alltag. Wie oft soll ich duschen? Soll ich meine Kleidung zusam- menlegen wie die japanische Bestsellerautorin Marie Kondō oder wie meine Mutter? Diese Gesellschaft 75 ist unsicher. Sie hat Fragen, auf die früher niemand gekommen wäre. Meine Liste der beliebten Tutorials enthält auch: cool sein. Flirten. Cool sein, lese ich, ist eine Sache der Einstellung. Man kann Joggingho- sen tragen und trotzdem cool sein. Also ziehe ich die älteste Jogginghose aus meinem Schrank an und
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 5 versuche, auch alles andere richtig zu machen: suche Augenkontakt. Sitze gerade. Gehe langsam. Atme tief. Und: Entspanne dich. Mach dir keine Sorgen, was andere über dich denken. Ein Kollege fragt mich, 80 ob ich „Funktionskleidung“ trage, was ich ignoriere. Ich mache Witze, ich schaue in Augen, und Augen schauen zurück. Kurz vor Feierabend schreibe ich einem eingeweihten Kollegen: „Findest du mich schon cooler als gestern?“ „Nein. Tatsächlich nein. Deine Regenhose ist nicht cool.“ „Deine Meinung interessiert mich nicht.“ „Ah. Er lernt schnell.“ Ein paar Tage später flirte ich mit einer ungefähr 50 Jahre alten Sach- bearbeiterin mit roten Haaren und lackierten Fingernägeln im Bürgeramt. Dort bin ich, um eine Wohnung 85 anzumelden. Ich folge dem Tipp: „Halte deine Interaktionen kurz und süß.“ Ich sage: „Sehr schön haben Sie es hier!“ (Komplimente machen) Das Tutorial rät mir, sie unauffällig am Arm zu berühren, aber das ist vielleicht ein bisschen zu viel. Auch so funktioniert alles super: Wir lachen viel und verabschieden uns aufs Herzlichste. Manche dieser Tipps fühlen sich wie billige Tricks an. Aber sie wirken. Und doch haben sie etwas Trauriges. Jungs, die wissen wollen, wie man cool ist. Wer Tutorials liest, ist allein. 90 An einem kalten Januartag knie ich mit einer Bohrmaschine in der Hand neben meinem Vater. Der Plan für heute: die Anzeige der Kältepumpe in der Wand zu befestigen. Mein Vater ist ein sehr ambitionierter Hobbyhandwerker und kann aus so etwas eine Wissenschaft machen. Ich lerne heute viele neue Wörter, so zum Beispiel das Schraubenprofil Torx. Mit zwölf Jahren bekam mein Vater seinen ersten Akkubohrer. 95 Seiner ersten Freundin installierte er einen Kachelofen, meiner Mutter schreinerte er ein Bett, und wenn das Haus aus dem 18. Jahrhundert fertig ist, wird meine Schwester dort einziehen. Mein Vater hat noch nie ein Handwerkstutorial gelesen. Handwerk ist für ihn mehr als eine Fertigkeit. Beziehungsarbeit. Ein Bauen an sich selbst. Und eine Art, sein Leben zu erzählen. Was muss man heute können, Papa? „Möglichst viel. Viel zu können und sich viel zuzutrauen macht dich frei und unabhängig. Als Mann musst du mit deinen 100 Händen umgehen können.“ Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei war. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob er mir Handwerksdinge beibringt. Für mich war früh klar: Ich kann nicht mit meinen Händen umgehen. Nicht mit Werkzeug, nicht mit Stiften. In Tutorials nähert man sich einer Tätigkeit allein, als freier Mensch und nicht als pubertierender Junge unter Jungs, die den Unterricht blöd finden. Und das ist der Unterschied zu der Art, wie mein Vater lernte. Männer seiner Generation wurden gute Handwerker. Es war 105 mehr als eine Fertigkeit, es war ihre Rolle. Auch deswegen, weil sie sich den Kopf nicht mit anderen Dingen wie Kochen oder Kindererziehung vollmachten. Ich kann vieles schlechter als er. Aber ich bin freier. Was muss man heute können? Alles. Nichts. Wie man die Bestandteile seines Müslis anbaut (was drei Jahre dauert). Wie man duscht. Man kann auch problemlos sein Leben zubringen, ohne etwas zu können, denn niemand erwartet mehr etwas von einem. 110 In den vergangenen Wochen habe ich mich bis an die Schmerzgrenze gedehnt, ich habe Gesichter, Inseln und Bäume gezeichnet und Katzen gestreichelt. Aber wozu? Ich habe natürlich keinen Spagat geschafft. Aber seit den Dehnungen spüre ich meinen linken Sitzbeinknochen beim Radfahren wieder. Und mir ist klar geworden, wie sehr Rollen bestimmen, was wir lernen. Bist du Katzen- oder Hundemensch? Team 115 Sport oder Team Kunst? Hast du zwei linke Hände oder nicht? Und das, obwohl die meisten Fertigkeiten viel mehr mit Übung zu tun haben als mit Talent. Drei Tricks habe ich noch: Wenn Sie mit Kindern ver- stecken spielen, suchen Sie sich ein hoch gelegenes Versteck. Denn suchende Augen blicken immer nach unten. Wenn Sie neben einem Nieser sitzen und sein Niesen unterdrücken wollen, rufen Sie ihm schnell
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 6 etwas Absurdes zu. Dann kommt sein Gehirn möglicherweise auf eine andere Idee. Und wenn Sie Ihrem 120 Arbeitgeber eine Krankheit vortäuschen wollen, schreien Sie vor dem Telefonat zehn Sekunden in Ihr Kis- sen. Dann klingen Sie heiser. Text: Philipp Daum, Deutsch perfekt 6/2021, S. 48–52
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 7 VOR DEM LESEN 1a) Welches Internetphänomen verbindet diese Wörter? Ergänze das gesuchte Wort auch in 2a! die Gebrauchsanleitung beibringen die Bildung Schritt für Schritt der Benutzer / die Benutzerin nachvollziehbar der Vorgang die Schulung erstellen schneiden sein Wissen teilen jemandem über die Schulter gucken nachmachen 1b) W as hältst du von dieser Überschrift? Worum könnte es in dem Artikel gehen? Richtig duschen in 20 Schritten LESEN 2a) Führe beim Lesen Notizen: Liste _ _ _ _ _ _ _ _ _ auf, links die nützlichen und rechts diese, die deiner Meinung nach unsinnig sind.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 8 2b) V erweise auf Textstellen, die zu diesen Aussagen passen. Teile anschließend deine Meinung dazu. Tutorials sind die neuen Eltern „Viel zu können macht dich frei und unabhängig“ KONZEPTE RUND UMS LERNEN 3a) Wissenswertes rund ums Lernen: Lies den Text und kläre Verständnisfragen. Hier lernst du vier Arten des Lernens kennen. Man kann sie kombinieren. Hier sollen sie aber zuerst einmal getrennt voneinander vorgestellt werden: Online-Unterricht: Eine Lehrkraft bringt uns online etwas bei. Mithilfe einer Software kann sich die Klasse hören und sehen. Die Möglichkeit, den eigenen Bildschirm zu teilen, hilft beim Erklären. Man kann auch schriftlich chatten oder mit Icon-Signalen interagieren. Sogenannte Break-out-Rooms machen Partner- und Gruppenarbeit möglich. Offline-Unterricht: Wir sehen uns persönlich und nicht vor dem Bildschirm. Man sieht sich vor Ort, die Lehrkraft unterrichtet im physischen Klassenzimmer. Verschiedene Sitzaufstellungen machen unterschied- liche Arbeitsformen möglich. Offline bedeutet aber nicht, dass Technik tabu ist: Im Offline-Unterricht kön- nen auch Smartboard, Beamer oder ein Bildschirm zum Einsatz kommen. Informelles Lernen – online: Wir alle entdecken im Internet Dinge, die wir ganz autonom (kennen-)lernen. Dabei stoßen wir selbstständig auf Neuigkeiten und Wissenswertes zu den Themen, die uns interessieren. Während wir frei durchs Internet surfen, lernen wir mithilfe von Tutorials und Erklärvideos. „Informell“ be- deutet dabei immer ohne Lehrkraft oder Lehrplan. Informelles Lernen – offline: Informelles Lernen außerhalb des Klassenzimmers ist grenzenlos: Es findet das ganze Leben lang statt, auch nach dem Schulabschluss. Wir erwerben praktische Fähigkeiten, lernen im sozialen Umfeld und durch persönlichen Austausch. Egal ob draußen oder im Verein, informelles Lernen passiert öfter, als wir glauben. Häufig, aber nicht immer, spielt sich informelles Lernen offline ab. DISKUTIERE 3b) Wie lernst du am liebsten? Kannst du auf eine Form des Lernens verzichten? Warum (nicht)? Teile deine Meinung dazu.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 9 KONZEPTE IN SCHAUBILDERN 4a) Betrachte die beiden Schaubilder. Erkläre in eigenen Worten, was man jeweils unter dem Begriff hybrides Lernen versteht. Schaubild 1 Online- hybrides Offline- Unterricht Lernen Unterricht Schaubild 2 formelles hybrides informelles Lernen Lernen Lernen 4b) Überlege dir konkrete Beispiele: Wie kann hybrides Lernen in der Praxis aussehen? Nenne ein Beispiel für hybrides Lernen zwischen online und offline sowie ein Beispiel für hybrides Lernen zwischen formellem und informellem Lernen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 10 KOMPETENZEN 5) L est die Fragen a) bis c) und die verschiedenen Aspekte dazu, beantwortet die Fragen aber noch nicht. Sprecht danach über folgende Themen: Wie definiert ihr Digital-Kompetenzen? Welche Rolle spielen sie im Lernen der Zukunft? Besprecht außerdem den Begriff der sozialen Kompetenzen. Was versteht ihr darunter? Welche Bedeutung haben sie? a) Hat das bei eurer Gruppenarbeit funktioniert? Wir haben Ideen Mehrere Leute Unser Kurspro- Wir können auch Wir können und Vorschläge aus der Gruppe gramm war im jetzt noch unser einstellen, wer für unser Kurs- haben gleichzei- Tutorialbasar für Kursprogramm Zugriff auf unser programm zentral tig am Kurspro- alle zu sehen. Das mit weiteren Leu- Kursprogramm gesammelt. Alle gramm geschrie- Endprodukt ist an ten, zum Beispiel hat. aus der Gruppe ben, Textstellen einem Ort abge- anderen Klassen konnten dazu bei- ergänzt und ge- speichert. teilen. tragen. ändert. b) Gab es technische Hilfsmittel, z. B. Online-Tools? Wenn ja, welche? c) Habt ihr diese Digital-Kompetenzen bewiesen? Wir können in der Wir können in der digi- Wir können in der Wir kennen den Status digitalen Welt Informa- talen Welt kooperativ digitalen Welt Dateien des Zugangs und der tionen suchen, abru- an Projekten arbeiten. erstellen, teilen und Sicherheit von unseren fen, abspeichern und präsentieren. geteilten Daten. wieder aufrufen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 11 GRUPPENARBEIT – WIR KREIEREN UNSERE EIGENE SCHULE 6) A rbeitet in einer Gruppe von 3 - 5 Personen. Zusammen leitet ihr eine Schule der Kompetenzen. Eure neue Schule möchte ein tolles Kursprogramm bieten, in dem vor allem Digital-Kompetenzen und soziale Kompetenzen vermittelt werden. Wählt Tutorials von Wikihow aus, und stellt den span- nendsten Katalog zusammen. Der Tutorialbasar am Ende entscheidet, welche Schule gewinnt! Phase 1: Unsere Schule – unser Kursprogramm (20 Minuten) Wählt zuerst einen Namen für eure Schule! Recherchiert dann auf de.wikihow.com – wählt vier Kurse aus, die ihr in eurer Schule anbieten wollt. Schreibt zu jedem Kurs einen Beschreibungstext von drei bis fünf Sätzen. Er soll die anderen zur Anmeldung inspirieren. Für zwei der Kurse dürft ihr jeweils ein Bild von Wikihow speichern. Die anderen zwei Kurse werdet ihr ohne Bild präsentieren. Wählt außerdem, welche Kurse online stattfinden sollen. Phase 2: Kluger Katalog (15 Minuten) Euer Katalog soll in digitaler Form (zum Beispiel als kollaboratives Textdokument mit Bildern) entstehen. Darin müsst ihr eure Kurse gut präsentieren und klug entscheiden, wie viel jeder Kurs kostet und wann er stattfindet. Notiert zu jedem Kurs den Preis und die Uhrzeit. Beachtet dabei: Das Management hat euch die folgende Preisstruktur vorgegeben: 1 Gratiskurs 1 Kurs für 5 € 1 Kurs für 10 € 1 Kurs für 15 € Jeder Kurs kann zur vollen Stunde beginnen und dauert eine Stunde. Kurse können frühestens um 12:00 Uhr beginnen und müssen spätestens um 19:00 enden. Eure Trainer/-innen können fast immer unterrich- ten, aber zwei Kurse müssen um 18:00 Uhr starten. Phase 3: Tutorialbasar (20 Minuten) In dieser Phase können alle im Kurs die Kataloge der Gruppen ansehen. Jede Person liest die anderen Kataloge und meldet sich für Kurse an den verschiedenen Schulen an. Eine Anmeldung an der eigenen Schule ist nicht möglich. Jede Person hat ein Budget von 30 € und notiert sich den Preis, die Uhrzeit und den Namen der Schule. Achtet auch darauf, dass ihr nicht an zwei Kursen gleichzeitig teilnehmen könnt. Abschluss: Siegerehrung (5 Minuten) Die Klasse errechnet für jede Schule die Einnahmen aus dem Kursprogramm. Dabei fragt ihr zu jedem Kurs, wer sich dafür anmelden will. Multipliziert die Anzahl der Anmeldungen mit dem jeweiligen Kurs- preis. Addiert alle Summen pro Schule. So errechnet sich der Gewinn. Welche Schule hat am meisten Geld eingenommen?
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 12 REFLEXIONSFORMULAR „DIGITALE GRUPPENARBEIT“ Beantworte für a) bis c) die Ankreuz-Frage. Zeichne dann Linien von oben nach unten: Welche Aspekte von a/b) passen logisch zu welchen Digital-Kompetenzen von c)? a) Hat das bei eurer Gruppenarbeit funktioniert? Wir haben Ideen Mehrere Leute Unser Kurspro- Wir können auch Wir können und Vorschläge aus der Gruppe gramm war im jetzt noch unser einstellen, wer für unser Kurs- haben gleichzei- Tutorialbasar für Kursprogramm Zugriff auf unser programm zentral tig am Kurspro- alle zu sehen. Das mit weiteren Leu- Kursprogramm gesammelt. Alle gramm geschrie- Endprodukt ist an ten, zum Beispiel hat. aus der Gruppe ben, Textstellen einem Ort abge- anderen Klassen konnten dazu bei- ergänzt und ge- speichert. teilen. tragen. ändert. Ja? Ja? Ja? Ja? Ja? b) Gab es technische Hilfsmittel, z. B. Online-Tools? Wenn ja, welche? Vorhanden? Vorhanden? Vorhanden? Vorhanden? Vorhanden? ____________ ____________ ____________ ____________ ____________ ? c) Habt ihr diese Digital-Kompetenzen bewiesen? Ja? Ja? Ja? Ja? Wir können in der Wir können in der digi- Wir können in der Wir kennen den Status digitalen Welt Informa- talen Welt kooperativ digitalen Welt Dateien des Zugangs und der tionen suchen, abru- an Projekten arbeiten. erstellen, teilen und Sicherheit von unseren fen, abspeichern und präsentieren. geteilten Daten. wieder aufrufen. Erkläre in eigenen Worten, wie du die Elemente oben verbunden hast.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 13 STUNDENPLANUNG Hybrides Lernen: online, offline, formell und informell Phase Aufgabe Sozialform Zeit Vor dem Lesen Aufgabe 1) Plenum / in Paaren 10 Minuten Textarbeit: lesen, Aufgabe 2) Stillarbeit / in Paaren 40 Minuten exzerpieren Textarbeit und Aufgabe 3) Stillarbeit / Plenum / in 15 Minuten Diskussion Paaren Schaubilder Aufgabe 4) Plenum / in Paaren 35 Minuten erklären und Ideen sammeln Briefing: Aufgabe 5) und Instruktionen aus Aufgabe 6) Plenum 10 Minuten Gruppenarbeit Gruppenarbeit Aufgabe 6) Gruppen / Plenum 60 Minuten und Tutorialbasar Nach- Feedbackformular Debriefing ggf. Blick auf die Produkte Plenum 20 Minuten besprechung anderer Klassen Hinweise für Lehrkräfte Die ersten 90 Minuten drehen sich um die Textarbeit zum Thema Tutorials. Gehen Sie nach Mög- lichkeit immer wieder auf die Erfahrungen Ihrer Lernenden ein. Fragen Sie so z. B. nach Ablauf von Aufgabe 1a), wann Ihre Lernenden das letzte Mal ein Tutorial angesehen haben. Was war der Inhalt des Tutorials? Haben sie die Fertigkeit danach gleich ausprobiert? Die Differenzierung der Textversionen können Sie selbst übernehmen, um den längeren, nicht ver- einfachten Text Ihren lesestärkeren Schülerinnen und Schülern zuzuteilen. Alternativ können Sie die Wahl der Versionen den Lernenden selbst überlassen. Hier spart der Hinweis, dass nur wenige Formulierungen verändert und einzelne Passagen rausgeschnitten wurden, etwas Zeit. Die zweiten 90 Minuten geben Raum für Reflexion und einen Blick hinüber zu den anderen Fächern. Gehen Sie im Briefing Aufgabe 5) und die Instruktionen von Aufgabe 6) durch. So wissen Ihre Ler- nenden schon vor der Gruppenarbeit, an welchen Kriterien sich die Evaluation der Digital-Kompe- tenzen messen wird. Helfen Sie ggf. bei der Wahl der Tools, und demonstrieren Sie u. U. einzelne Funktionen wie das Teilen des kooperativen Textdokuments. Haben Ihre Lernenden im Nachgang die Prospekte zugänglich gemacht? Dann teilen Sie die Links/ Dateien mit den anderen Sprachen. Werfen Sie im Plenum auch noch mal einen Blick auf die fremd- sprachlichen Produkte, vorausgesetzt, Ihrer Klasse stehen die Links/Dateien zur Verfügung.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 14 Originaltext RICHTIG DUSCHEN IN 20 SCHRITTEN Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man auch alles können? Von Philipp Daum Es gibt eine Urban Legend, die in sozialen Netzwerken herumgeht: „Mein Opa hat mir heute erzählt, dass immer, wenn Oma sauer auf ihn ist, er den Deckel vom Marmeladenglas festdreht, damit sie wieder mit ihm reden muss. Genau DAS möchte ich auch mal.“ Eine schöne, herzerwärmende, vermutlich erfundene Geschichte. Ich will gar nicht über Alltagssexismus schreiben oder die Machtverhältnisse einer Mittelschichtsehe in 5 Nachkriegsdeutschland. Ich will bloß festhalten: Die emotionale Erpressung mit einem Marmeladenglas ist ein aussterbender Trick. Denn als die Geschichte neulich bei Twitter erzählt wurde, kam die Antwort: „An alle, die denken, dass man als Frau einen Mann zum Öffnen irgendwelcher Gläser braucht: Mit einem dünnen Löffelstiel zwi- schen Glas und Deckel gehen und leicht hebeln, damit Luft entweicht.“ 10 Omas von heute können googeln, wenn sie vor einem verschlossenen Marmeladenglas stehen. Sie fragen nicht ihre Männer, sie fragen Tutorials. Tutorials, Bedienungsanleitungen in wenigen Schritten, können einem alles beibringen: Nützliches (Wie man eine Waschmaschine anschließt). Nutzloses (Wie man eine Sektflasche mit einem Schwert öffnet). Lebenserleichterndes (Wie man eine Ehe rettet). Sogar Lebens- rettendes (Wie man den Sturz aus einem Flugzeug überlebt). 15 Wir leben in einem How-to-Zeitalter. Das Gute ist: Man kann alles lernen. Das Blöde ist: Es gibt jetzt keine Ausrede mehr, etwas nicht selber zu machen. Was also muss man alles können? Es gibt einen Ort, der eine Antwort bereithalten könnte. Dieser Ort heißt Wikihow. Wenn Wikipedia eine Enzyklopädie des Wissens ist, ist Wikihow eine Enzyklopädie des Könnens. Mehr als 200.000 Anleitungen in 18 Sprachen mit dem einen Ziel: „Teaching anyone in the world how to do anything.“ 20 Anything. Anyone! Die Möglichkeiten der Welt liegen ausgestreckt vor mir, gegossen in Tutorials. Ich bin bereit. Ich werde mir die Fertigkeiten draufschaffen, die man heute so draufhat. Wikihow hat mir eine Ta- belle mit den 100 beliebtesten Tutorials geschickt. Die Redaktion hat zehn davon ausgewählt. Ich werde unter anderem lernen, wie man eine Dose ohne Dosenöffner öffnet. Flirtet. Einen Spagat in einer Woche 25 macht. Ich zog aus, um zu lernen, der Held eines modernen Bildungsromans. Würden mich Tutorials zu einem kompletteren Menschen machen? Ich beginne mit dem größenwahnsinnigsten Vorhaben überhaupt: Ein Spagat in einer Woche. Bevor ich anfange, spreche ich tagelang von nichts anderem. Was für ein Tutorial! Wie geschaffen für das 21. Jahr- 30 hundert. Instagrammable, kann nicht jeder, dauert nur eine Woche. Eine anschlussfähige Challenge in Zeiten, in denen andere auf Fleisch verzichten oder eine Paläo-Diät machen. Aber die Anamnese ist niederschmetternd! Von oben blicke ich in einen Abgrund: 70 Zentimeter zwischen dem Boden und, ähem, der Stelle zwischen meinen Beinen. Wolkenkratzerhöhe. International-Space-Sta- tion-Höhe. Ich kreise in der Umlaufbahn meiner eigenen Unbeweglichkeit.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 15 35 Das Tutorial ist, Wikihow-typisch, in akribischer Listenform verfasst. 15 Schritte werden in den nächsten Tagen mein Leben strukturieren: 1. Zweimal täglich eine Viertelstunde lang dehnen. 2. Vorher unbedingt aufwärmen! 3. Vorbereitungsdehnungen: Die V-Dehnung (uff). Die Schmetterlingsdehnung (aua). „Be- rühre deine Zehen“ (haha). In Minivideos macht alle Übungen ein gelenkiger Mann vor, der aussieht wie Johnny Depp, lange bevor er Drogen entdeckte. 40 Ein Freund, der seit Jahren Yoga macht, gibt mir einen Tipp: Beim Dehnen solle ich dorthin gehen, wo es orange aufleuchtet. Niemals in die rote Zone. Vielleicht hat dieser Tipp mein Leben gerettet. Denn es ist einigermaßen gefährlich, einen übermotivier- ten, unbeweglichen 31-Jährigen auf Spagat-Tutorials loszulassen. Ist es normal, dass sich nach zwei Tagen die Hinterseiten meiner Knie anfühlen wie durchgescheuert? 45 Ja, es ist alles sehr frustrierend. Ich hatte mir das leichter vorgestellt. Mich beschleicht der ungeheure Verdacht, dass manche Menschen Tutorials nur angucken, ohne sie aus- zuprobieren. Wie sonst erklärt sich die Popularität von „Wie man einen Sixpack bekommt“ oder „Wie man einen Marathon läuft“? 50 Ich telefoniere mit Jack Herrick, 50 Jahre alt, dem Gründer von Wikihow. Herrick, ein Kalifornier, lebte in den Neunzigerjahren in seinem Pick-up und zog durch die Staaten. In seinem Kofferraum immer dabei: eine Plastikkiste mit Sachbüchern – seine „knowledge box“. Er brachte sich alles Mögliche bei. Und er dachte: Sollte das nicht jeder können? 2005 ging Wikihow online. „Unser Ziel ist eine weltweite kostenlose Bildung für alle“, sagt Herrick. Und die 55 Menschen sind dankbar. Es sind schon Babys mithilfe von Wikihow auf die Welt gekommen. Von mindes- tens vier behauptet Herrick zu wissen. Was muss man heute können, Mister Herrick? Gibt es einen Kanon? „Ich weiß es nicht.“ Aber Bildung, sagt er, bedeutet im 21. Jahrhundert etwas anderes als in seiner Generation. „Früher war es so: In deiner Ju- gend wirst du zur Bibliothek, und wenn du älter bist, leihst du Bücher bei dir aus.“ Die Zukunft der Bildung 60 funktioniert wie eine globalisierte Lieferkette. Nach dem Just-in-time-Prinzip. Menschen lernen, sobald sie wollen. Und was diese Zukunft angeht, ist Herrick sehr optimistisch. „Heutige Jugendliche wissen mehr als die Generationen vor ihnen. Sie können mehr. Sie sind talentierter.“ Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, wie die kalifornische Sonne. Ich erledige ein paar kleinere Tuto- 65 rials: Wie man Katzen streichelt (man lässt sie kommen), wie man Dosen ohne Dosenöffner aufmacht (mit einem spitzen Löffel das Metall durchreiben), wie man Weihwasser herstellt (na ja, nicht wirklich Weihwas- ser, weil ich kein Priester bin, aber okay). Und dann entdecke ich das hier: Wie man duscht. Eine Anleitung in vier Teilen. Nein, Finger eignen sich nicht zum Messen der Wassertemperatur: „Ihr Handgelenk ist ein genaueres Messgerät.“ Der Artikel hat 70 zwei Millionen Abrufe. Ist das alles ein gewaltiges Missverständnis? Wir wollen Spagate und Waschbrettbäuche, können aber nicht mal duschen?
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 16 75 Ich fahre nach Köln, um Stephan Grünewald zu treffen. Grünewald, ein freundlicher Rheinländer, ist Psy- chologe und Marktforscher. Er hat in Tausenden Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Gesellschaft analysiert, ihre Orientierungslosigkeit, ihre Gereiztheit, ihre Überforderung. Herr Grünewald, warum gucken Menschen im Internet nach, wie man duscht? Grünewald denkt kurz nach und sagt dann: „In meiner Jugend war der Alltag ritualisiert. Es gab gemein- 80 same Mahlzeiten, am Samstag war Badetag. Aber heute ist die gemeinsame Mahlzeit die Ausnahme.“ Die gemeinsamen Lebenszeiten von Kindern, Eltern und Großeltern würden weniger. „Es verschwinden die Räume, in denen man Alltagswissen vermitteln kann. Ich bezweifle, dass Eltern eine Anleitung geben, wie man richtig zu duschen hat.“ Grünewalds Diagnose lässt sich auf einen Begriff bringen: Verlust der Alltagskompetenz. Das ging schon 85 vor Jahren los, als Sendungen wie Die Super Nanny überforderten Eltern ihre Kinder erklärten. Smart- phones aber haben das verschärft. Sie erledigen vieles von dem, was man früher können musste: Sich in einer fremden Stadt zurechtfinden. Bruchrechnen. Partnersuche. Smartphones geben uns ein „digitales Allmachtsversprechen“ – und diese Anspruchshaltung schwappt in den Alltag. Grünewald sagt: „Wir hof- fen, alles auf Knopfdruck zu können. Und sind dann tief beschämt, wenn wir merken: Wir können nicht 90 rechnen, nicht tapezieren und nicht kochen.“ Und an wen wendet man sich, wenn man sich schämt? An jemanden, der nicht verurteilt und keine doofen Nachfragen stellt. An den netten Influencer von nebenan – oder an eine freundliche Website wie Wikihow. Tutorials, so verstehe ich das, sind die neuen Eltern. Sie geben einer verwirrten Gesellschaft zwei Dinge. 95 Anleitungen für Apfelkuchen, ja. Aber auch Orientierung im Alltag. Wie oft soll ich duschen? Soll ich meine Kleidung zusammenlegen wie Marie Kondo oder wie meine Mutter? Diese Gesellschaft ist unsicher. Sie hat Fragen, auf die früher niemand gekommen wäre. Auf meiner Liste der beliebten Anleitungen stehen: Cool sein. Flirten. Cool sein, lese ich, ist eine Sache der Einstellung. Man kann Jogginghosen tragen und trotzdem cool sein. 100 Also ziehe ich die älteste Jogginghose aus meinem Schrank an und versuche, alle anderen Tipps zu beher- zigen: Suche Augenkontakt. Sitze aufrecht. Gehe langsam. Atme tief. Und: Entspanne dich. Mach dir keine Sorgen, was andere über dich denken. In der Redaktion fragt mich ein Kollege, ob ich „Funktionskleidung“ trage, was ich ignoriere. Ich mache Witze, ich schaue in Augen, und Augen schauen zurück. Zwei Kollegen berühren mich beim Mittagessen 105 in einem offensichtlichen Versuch, etwas von meiner Coolness abzubekommen. Kurz vor Feierabend schreibe ich einem eingeweihten Kollegen eine Nachricht: „Findest du mich schon cooler als gestern?“ „Nein. Tatsächlich nein. Deine Regenhose ist nicht cool.“ „Deine Meinung interessiert mich nicht.“ 110 „Ah. Er lernt schnell.“ Ein paar Tage später flirte ich mit einer ungefähr 50 Jahre alten Sachbearbeiterin mit roten Haaren und la- ckierten Fingernägeln im Bürgeramt Biesdorf. Dort bin ich, um eine Wohnung anzumelden. Ich folge dem Tipp: „Halte deine Interaktionen kurz und süß.“ Ich sage: „Sehr schön haben Sie es hier!“ (Komplimente machen) Das Tutorial rät mir, sie unauffällig am Arm zu berühren, aber man kann es auch übertreiben. Es 115 funktioniert alles hervorragend: Wir lachen viel und verabschieden uns aufs Herzlichste.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 17 Manche dieser Tipps fühlen sich wie billige Tricks an. Aber sie wirken. Und doch haben sie etwas Trauriges. Jungs, die nachlesen, wie man cool ist. Wer Tutorials liest, ist allein. An einem kalten Januartag knie ich mit einer Bohrmaschine in der Hand neben meinem Vater. Ich bin bei 120 ihm in Oberfranken. Er baut ein Haus aus dem 18. Jahrhundert um, es ist fast fertig, der Plan für heute: die Anzeige der Kältepumpe in der Wand zu befestigen. Mein Vater ist ein sehr ambitionierter Hobbyhand- werker und kann aus so etwas eine Wissenschaft machen. Ich lerne folgende Wörter: Rutschkupplung. Schnellspannbohrfutter. Torx. Mit zwölf Jahren bekam mein Vater seinen ersten Akkubohrer. Seiner ersten Freundin installierte er einen 125 Kachelofen, meiner Mutter schreinerte er ein Bett, und wenn das Haus aus dem 18. Jahrhundert fertig ist, wird meine Schwester dort einziehen. Mein Vater hat noch nie ein Handwerkstutorial gelesen. Handwerk ist für ihn mehr als eine Fertigkeit. Beziehungsarbeit. Ein Bauen an sich selbst. Und eine Art, sein Leben zu erzählen. Was muss man heute können, Papa? 130 „Möglichst viel. Viel zu können und sich viel zuzutrauen macht dich frei und unabhängig. Als Mann musst du mit deinen Händen umgehen können.“ Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei war. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob er mir Handwerks- dinge beibringt. Für mich war früh klar: Ich kann nicht mit meinen Händen umgehen. Nicht mit Werkzeug, nicht mit Stiften. 135 Auf meinem Zettel steht: Ein Gesicht zeichnen. Ein schmerzhaftes Thema. In der fünften Klasse drohte mir Frau Ernst, meine Kunstlehrerin, mit einer Fünf im Zeugnis. „Ziehen Sie eine dünne Außenlinie des Gesichts.“ Oh Gott. Ich zeichne einen Eierkopf mit einem markanten Kiefer. Eine Schlangennase, einen Sylvester-Stallone-Mund, er hängt rechts herunter. Tief in mir kriechen Kunstunterrichtsgefühle herauf: Selbstzweifel, der Drang wegzulaufen. Aus Furcht, 140 eine falsche Linie zu zeichnen, zögere ich jeden Schritt hinaus. Dann blicke ich mich um: Niemand neben mir, der ein viel schöneres Gesicht zeichnet. Keine Frau Ernst, die sich über meinen Schreibtisch beugt, seufzt und wortlos weitergeht. Ich merke, wie verrückt viele Varianten des Drückens, Schiebens, Vorsichtig-Aufditschens und Brutal-Strei- chens mit einem Stift auf Holz und Grafit möglich sind. Die Frau bekommt ein schlankeres Kinn. Die Vol- 145 demort-Nase wird feiner. Nach zwei Stunden bedecken Radiergummiwürste und Bleistiftsplitter meinen Schreibtisch, und ich signiere mein Bild. Ich habe etwas geschaffen. In Tutorials nähert man sich einer Tätigkeit allein, als freier Mensch und nicht als pubertierender Junge unter Jungs, die Kunstunterricht blöd finden. Und das ist der Unterschied zu der Art, wie mein Vater lernte. Männer seiner Generation wurden gute Handwerker. Es war mehr als eine Fertigkeit, es war ihre 150 angestammte Rolle. Auch deswegen, weil sie sich den Kopf nicht mit anderen Dingen wie Kochen oder Kindererziehung vollmachten. Ich kann vieles schlechter als er. Aber ich bin freier. Was muss man können? Für seine Generation kann mein Vater diese Frage noch beantworten. Aber heu- te? Alles. Nichts. Wie man sämtliche Bestandteile seines Müslis anbaut (was drei Jahre dauert). Wie man duscht. Man kann auch problemlos sein Leben zubringen, ohne etwas zu können, denn niemand erwartet 155 mehr etwas von einem.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Hybrides Lernen 18 In den vergangenen Wochen habe ich mich bis an die Schmerzgrenze gedehnt, ich habe Gesichter, Inseln und Bäume gezeichnet, ich habe Katzen gestreichelt und Weihwasser gesegnet. Was hat das alles ge- bracht? Ich habe natürlich keinen Spagat geschafft. Aber seit den Dehnungen spüre ich meinen linken Sitzbein- 160 knochen beim Radfahren wieder. Meine Freundin hat mir ein Skizzenbuch geschenkt. Und zu Hause steht eine Flasche Weihwasser, für alle Fälle. Mir ist klar geworden, wie sehr Rollen bestimmen, was wir lernen. Bist du Katzen- oder Hundemensch? Team Sport oder Team Kunst? Hast du zwei linke Hände oder nicht? Dabei haben die meisten Fertigkeiten viel mehr mit Übung zu tun als mit Talent. 165 Drei Tricks habe ich noch: Wenn Sie mit Kindern verstecken spielen, suchen Sie sich ein hoch gelegenes Versteck, denn suchende Augen blicken immer nach unten. Wenn Sie neben einem Nieser sitzen und sein Niesen unterdrücken wollen, rufen Sie ihm schnell etwas Absurdes zu, dann kommt sein Gehirn möglicher- weise auf eine andere Idee. Wenn Sie eine Krankheit im Büro vortäuschen wollen, schreien Sie vor dem Telefonat zehn Sekunden in Ihr Kissen, dann klingen Sie heiser. Text: Philipp Daum, ZEIT 6/2020 IMPRESSUM Redaktion Gestaltung Autoren Jörg Walser (Chefredakteur Georg Lechner Philipp Daum Deutsch perfekt) (V. i. S. d. P.) Julian Großherr (verantwortlich) Bildredaktion Bildnachweis Katharina Heydenreich Sarah Gough Illustrationen: alashi/iStock.com Judith Rothenbusch
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