Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik

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Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik
Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik
Sebastian Gießmann Center for Advanced Internet Studies Bochum
                   Universität Siegen

                WORKING PAPER SERIES | NO. 17 | SEPTEMBER 2020
                             Collaborative Research Center 1187 Media of Cooperation
                              Sonderforschungsbereich 1187 Medien der Kooperation
Working Paper Series
Collaborative Research Center 1187 Media of Cooperation

Print-ISSN 2567–2509
Online-ISSN 2567–2517
DOI doi.org/10.25819/ubsi/4437                             Publication of the series is funded by the German
Handle dspace.ub.uni-siegen.de/handle/ubsi/1692            ­Research Foundation (DFG).
URN urn:nbn:de:hbz:467-16928
                                                           Universität Siegen
                                                           SFB 1187 Medien der Kooperation
               This work is licensed under the Creative    Herrengarten 3
               Commons Attribution-NonCommercial-          57072 Siegen, Germany
               No­Derivatives 4.0 International License.   www.sfb1187.uni-siegen.de
                                                           workingpaperseries@sfb1187.uni-siegen.de

This Working Paper Series is edited by the Collaborative   Cover Image: Van Os et al., United States Patent
Research Center Media of Cooperation and serves as         No. 10,395,128 (2019) B2: Implementation of Biometric
a platform to circulate work in progress or preprints      Authentification, S. 53.
in order to encourage the exchange of ideas. Please
contact the authors if you have any questions or           Der hier mit freundlicher Genehmigung vorab publi-
comments. Copyright remains with the authors.              zierte Text erscheint in Christians, Heiko/Bickenbach,
                                                           Matthias/Wegmann, Nikolaus (Hrsg.): Historisches Wör-
The Working Papers are accessible via the website          terbuch des Mediengebrauchs, Bd. 3, Köln (2020).
http://wp-series.mediacoop.uni-siegen.de or can be         Mein Dank gilt der Werkstatt Praxistheorie des Sonder-
ordered in print by sending an email to:                   forschungsbereichs „Medien der Kooperation“, Jenny
workingpaperseries@sfb1187.uni-siegen.de                   Berkholz, Sebastian Randerath und Tobias Conradi.
Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik
Sebastian Gießmann Universität Siegen, Center for Advanced Internet Studies Bochum

             Inhalt

             Abstract   2

             Anekdote 2
             Etymologie 3
             Kontexte 4
             Konjunkturen 6
             Gegenbegriffe 10
             Perspektiven 11
             Forschung 12

             Bibliografie   12
2	  CRC Media of Cooperation Working Paper Series No. 17 September 2020

                          Abstract Registrieren, Identifizieren und Klassifizieren sind
                          Praktiken, die in digitalen Kulturen kaum mehr zu trennen sind.
                          Anhand der Mediengeschichte des Passes und der Kreditkarte
                          geht der folgende Text der Frage nach, wie immer neue infra-
                          strukturelle Kaskaden des Identifizierens entstehen und welche
                          öffentliche Brisanz den entsprechenden Datenverarbeitungen
                          innewohnt. Beim Identifizieren handelt es sich um eine ko-ope-
                          rative Medien- und Datenpraktik, an der stets mehr als eine
                          Person beteiligt ist. Sie involviert von Anfang an menschli-
                          che Körper samt ihrer semiotischen Ressourcen und koppelt
                          diese mit bürokratischen Aufschreibesystemen. Auch die neu-
                          esten digitalen Prozeduren greifen bevorzugt auf Gesichter und
                          Fingerabdrücke zu: Biometrie versucht, den für das Identifizieren
                          konstitutiven Abstand zwischen Konten, Körpern und Personen
                          aufzuheben.

                          Keywords Medientheorie, Praxistheorie, Mediengeschichte,
                          Historische Praxeologie, Identifikation, Ausweis, Kreditkarte,
                          Registrierung, Klassifikation, Accountability, Biometrie

Anekdote                                                     erkennung einer computerwissenschaftlichen Ana-
                                                             lyse unterzogen werden. Gender Shades: Inter-
                                                             sectional Accuracy Disparities in Commercial
„Identities seek control.“                                   Gender Classification zielt auf faire, transparente
Harrison White1                                              und rechenschaftspflichtige Gesichtserkennungs-
                                                             Algorithmen ab.2 Man darf dieses Ziel, wie es auch
Joy Buolamwini ist eine Superheldin. Oder zumin-             von anderen aktivistischen Initiativen zur algorithmic
dest ein Star der Algorithmenkritik. Denn sie hat            accountability verfolgt wird, nicht allzu leicht als naiv
2018 die Algorithmic Justice League gegründet, die           abqualifizieren.
in Fragen maschineller und sozialer Vorurteile und              Denn angesichts der schnellen Entwicklung ma-
der Macht von Algorithmen eine klare Haltung hat.            schinellen Lernens und rezenter Fälle wie der Firma
Algorithmic bias existiert, gerade in kommerziellen Ge-      Clearview, die weltweit wild Gesichtsdaten aus drei
sichtserkennungssystemen. Die kluge Öffentlichkeits-         Milliarden Fotografien aggregiert hat,3 muss man vor-
arbeit von Buolamwini, um deren Superheldenstatus            sichtig fragen: Was war Gesichtserkennung bis zum
man sich ob populärer TED talks keine Sorgen ma-             Jahr 2018 und was bedeutet sie für die Identifikation
chen muss, verdeckt aber leicht die wissenschaftliche        menschlicher Körper? Zunächst einmal bedarf sie
Substanz der öffentlichen Mission. So hat die Dokto-
randin des MIT Media Lab 2018 zusammen mit Timnit
Gebru von Microsoft Research einen ebenso furiosen           2 Buolamwini/Gebru: Gender Shades. In: Proceedings
wie positivistischen Artikel vorgelegt, in dem die           of Machine Learning Research, Bd. 81 (2018), S. 1–15.
intersektionalen Abgründe der Massen-Gesichts-               3 Hill: The Secretive Company That Might End Privacy
                                                             as We Know It. In: New York Times. Unter: https://www.
                                                             nytimes.com/2020/01/18/technology/clearview-pri-
1 White: Identity & Control, S. 1.                           vacy-facial-recognition.html [aufgerufen am 30.3.2020].
Sebastian Gießmann·                                                                                                   3

einer infrastrukturellen Grundlage, die auch vor Cle-         Praktiken immer auch Maskierungen, Inszenierungen
arview auf dem capturing möglichst großer Datensets           und anderslautende Berichte (accounts) beinhalten:
beruhte. Buolamwini und Gebru halten fest, dass auf           Nicht ohne Grund trägt die Superheldin der Algorithmic
Basis von Sammlungen wie Megaface und LFW zwar                Justice League eine weiße Gesichtsmaske.
hohe Erkennungsraten in der automatischen Gesichts-
erkennung postuliert wurden – etwa 97,35% im Falle
von LFW – jedoch ohne die Qualität nach ethnischen
(race) und geschlechtlichen (gender) Kriterien zu dif-        Etymologie
ferenzieren. Demgegenüber unterziehen sie sowohl
das labeling der digital-fotografisch repräsentierten         Das französische Verb identifier gilt als Bezugspunkt
Hautfarbe als auch den Umgang von Algorithmen mit             der angelsächsischen und deutschen Etymologien.
Geschlechtsklassifikation einem Audit-Prozess. Diese          Identifier wiederum bezieht seine Herkunft als transi-
Praxis soziotechnischen Prüfens akzeptiert dabei die          tives Verb aus dem scholastischen Latein, wenn man
welterzeugende Kraft digitalen Klassifizierens und            dem Larousse folgt: „latin scolastique identificare, du
Identifizierens. Sie achtet vor allem auf Disparitäten        latin classique idem, le même, et facere, faire“.6 Identi-
– etwa, wenn in den Datensets dunkelhäutige Frauen            fikation ist Gleichmacherei, könnte man sagen. Etwas
am wenigsten repräsentiert werden (IJG-A, 4,4%)               als gleich oder gleich gemacht zu erkennen, ist jedoch
oder dunkelhäutige Männer (Adience, 6,4%).4 Ledig-            eine komplexe Praktik, die das Inrechnungstellen von
lich eines von drei Datensets, PPB, ist ausgewogener          kulturellen Schemata und ein Agieren zwischen Kate-
hinsichtlich der Repräsentation von dunkleren und             gorien erfordert. Das deutsche Substantiv ‚Identität‘,
helleren Hauttönen.                                           das für „völlige Übereinstimmung, Gleichheit, Wesens-
    Kommerzielle Gesichtserkennungssysteme, die vor           einheit“ steht und das Verb ‚identifizieren‘, das „die
allem im polizeilichen und juristischen Kontext ge-           Identität feststellen, einander gleichsetzen“ bedeutet,
nutzt werden, testen Buolamwini und Gebru anhand              werden im 18. Jahrhundert aus dem Lateinischen ent-
von API bundles, also Schnittstellenzugängen von              lehnt.7 Im 19. Jahrhundert kommt hierzu die ‚Identifi-
Microsoft, IBM und der chinesischen Firma FACE++.             zierung‘.8 Die enzyklopädisch nachweisbare deutsche
Die Resultate des Vergleichs sind schlagend: Alle             Sprachgeschichte erscheint gegenüber den Praktiken
Klassifikatoren erkennen hellhäutigere männliche              des Identifizierens nachläufig, die sich mit der franzö-
Subjekte besser. Am schlechtesten waren die Erken-            sischen, englischen, spanischen und italienischen Ety-
nungsraten für dunkelhäutige Frauen.                          mologie deutlich früher im 17. Jahrhundert ansetzen
    Demgegenüber argumentieren die Autorinnen: „Fu-           lassen.9
ture work should explore intersectional error analysis            So notiert das für praxeologische Forschung viel-
of facial detection, identification and verification.“5 Be-   leicht am besten geeignete Oxford English Dictionary
zeichnend ist dabei, dass weniger die Gesichtserken-          für die transitive Nutzung von identify – im Sinne von
nung selbst, als ihre informatische Qualität, öffentliche     „to regard or treat as identical“ – frühneuzeitliche
Transparenz und Rechenschaftspflicht auf dem Prüf-            Fundstellen ab 1626. Identify im Sinne von „to serve
stand stehen.                                                 as a means of identification for; to show something or
    Wie lässt sich eine solche kontrollgesellschaftliche      somebody to be“ wird als transitives Verb vor allem im
Eskalation, die auch kritische Medienforschungen              späten 18. Jahrhundert gebräuchlich. 10
unterwandert, medienhistorisch begründen? Wie kam                 Etymologie und Historische Semantik allein, so muss
es zu immer neuen Kaskaden des Registrierens, Iden-           man es festhalten, helfen beim Identifizieren des Identi-
tifizierens und Klassifizierens? Nahezu alle Medien-          fizierens nur begrenzt. Valentin Groebner hat in seiner
theorien des Identifizierens betonen die asymmetrische        vielgelesenen Studie Der Schein der Person festge-
Verteilung von Identifikationsmacht, die insbesondere         halten, wie schwer ein Anschluss an postmoderne Be-
staatliche und privatwirtschaftliche Medienagenturen          griffe der (pluralen) ‚Identität‘ ist, wenn man sich iden-
in den Vordergrund rücken lässt. Die polizeilich-ge-          tifizierender Praktiken historisch versichern will. So ist
heimdienstliche Disposition der Erkennungsdienste
lässt sich kaum leugnen; sie ist aber das zu Erklärende
                                                              6 (Art.) Identifier. In: Larousse. Unter: https://larousse.
und nicht die Erklärung selbst. Zu erklären bleibt auch,
                                                              fr/dictionnaires/francais/identifier/41414#definition
warum und vor allem wie fortwährend identifizierbar
                                                              [aufgerufen am 30.3.2020].
gehaltene Subjekte mit staatlichen und privatwirt-
                                                              7 (Art.) Identität. In: Pfeiffer, Etymologisches Wörter-
schaftlichen Erkennungsdiensten umgehen. Denn Ge-             buch, S. 570. Unter: https://www.dwds.de/wb/identi-
sicht, Sprache und Körper bleiben in medienanthropo-          fizieren [aufgerufen am 30.3.2020].
logischer Sicht offene semiotische Ressourcen, deren          8 Ebd.
                                                              9 (Art.) Identify. In: Oxford English Dictionary. Unter:
                                                              https://www.oed.com/view/Entry/90999 [aufgerufen
4 Buolamwini/Gebru: Gender Shades, S. 7.                      am 30.3.2020].
5 Ebd., S. 12.                                                10 Ebd.
4	  CRC Media of Cooperation Working Paper Series No. 17 September 2020

der Begriff der identitas in der mittelalterlichen Logik   xikalisch zur Geltung gebracht werden, umfasst all
häufig gebraucht worden – freilich nicht als Ausweis       diejenigen Situationen, in denen wir unsere Körper
von Einzigartigkeit, „sondern vielmehr für die die-        wechselseitig zu Medien machen. Besonders deut-
jenigen Merkmale, die verschiedenen Elementen              lich haben dies ethnomethodologische und anthro-
einer Gruppe gemeinsam waren, abgeleitet von idem,         pologische Forschungen zeigen können, die sequenz-
der- oder dasselbe, oder identidem, zum wiederholten       analytisch vorgehen.15 So umfasst Harold Garfinkels
Mal.“11 Groebners Schlussfolgerung, sich besser dem        Begriff der ‚Accountability‘16 nicht nur die schriftli-
„Identifizieren“ als den „Identitäten“ zuzuwenden,         chen Formen des Berichtens, Kontierens und Recht-
bleibt eine wertvolle mikrohistorisch-anthropologi-        fertigens, sondern gerade den mündlichen account
sche Lektion: „Denn Identifizieren ist immer ein Vor-      als Erzählung, die Berührung unter miteinander
gang, an dem mehr als eine Person beteiligt ist.“12 Um     arbeitenden Kolleg*innen als verkörperte Accoun-
diese ko-operative Verfassung des Identifizierens soll     tability17 oder das Aktenförmig-Werden juridischer
es im Folgenden gehen. Sie steht im engen Zusammen-        Sprechakte. Sich accountable zu machen, produziert
hang mit den Praktiken des Registrierens – die jedwede     fortwährend identifizierbare Daten in ko-operativen
Identifikation bedingen – und denen des Klassifizie-       Settings ‚mit mehr als einer Person‘.18
rens, die ein Verorten in kategorialen Ordnungen und          Eine weitere interaktionale und interkorporeale
etablierten Schemata erlauben.                             Begründung des Registrierens und Identifizierens
    Eine Medienpraxistheorie des Identifizierens beruht    lässt sich anhand der anthropologischen Forschun-
auf der infrastrukturellen Engführung des Registrie-       gen Charles Goodwins zum ko-operativen Handeln
rens und Identifizierens, ist Teil der langen Geschichte   vornehmen. Goodwins Studien zur Ethnologie und
von Klassifikationssystemen und adressiert auf dieser      Sequenzanalyse menschlicher Interaktion und Zei-
Grundlage notwendigerweise symbolische Ordnun-             chenpraktiken weisen nach, wie wir semiotische
gen. Ich möchte zunächst den Rahmen einer solchen          Ressourcen, die durch das Gegenüber (sprachlich,
Medienpraxistheorie abstecken, bevor ich mich am           gestisch, mimisch) zur Verfügung gestellt werden,
Beispiel des Passes, des Kredits und seiner Praktiken      ko-operativ als registrative Grundlage für die Identi-
der Geschichte des wechselseitigen Identifizierens zu-     fikation der jeweiligen weiteren turns der Interaktion
wende. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei jenen           nutzen. Sie stellen auch die öffentliche Basis für ver-
bürokratischen Medienagenturen, durch die Personen,        körperte Lernprozesse dar, wie sie Goodwin etwa im
Zeichen und Dinge verschaltet werden.                      Falle der Professional Vision von Archäolog*innen
                                                           nachdrücklich beschrieben hat, in der die Medien
                                                           des Sehen-Lernens (Wie erkennt man Erdschich-
                                                           ten?) zugleich Instrumente des wissenschaftlichen
Kontexte                                                   Registrierens, Identifizierens und Klassifizierens
                                                           sind. Identifizieren ist, wenn man Goodwin folgt,
Praktiken des Registrierens und Identifizierens sind       ganz normale Alltagspraxis und zugleich Bedingung
systematisch nicht voneinander zu trennen.13 Denn          für hochdifferenzierte skills.19
kein Medieneinsatz kennt ein bloßes Speichern, alle           Garfinkels und Goodwins sozialtheoretische und
Inskriptionen werden semiotisch und soziotechnisch         anthropologische Diagnosen bleiben für die inter-
durch Identifikationsprozesse, Referenzproduktion          korporeale, ko-operative Dimension des Identifi-
oder schlicht Spurenlesen relevant.                        zierens zentral. Gerade an vormodernen Praktiken,
   Medienpraktiken der Registrierung und Identifi-         wie sie Valentin Groebner exzellent beschrieben
zierung beginnen bereits vor der Schrift, in wechsel-      hat, wird dies besonders deutlich. Zwar waren die
seitiger Interaktion, in sprachlichen und gestischen       Registraturen – ob nun in der Kanzlei Friedrichs II.,
Praktiken des Verweisens, Verdeutlichens und Ad-           den kirchlichen Bürokratien des Mittelalters oder
ressierens. Sie sind, entgegen einer vermeintlichen        der Kolonialmacht Spaniens unter Philipp II. – Aus-
Dominanz der Schrift und anderer Inskriptionen,            druck einer von Europa aus betriebenen Verschriftli-
ebenso körpertechnisch-interaktional verfasst. Die         chung der Welt. Die konkreten mittelalterlichen und
Interkorporealität,14 in der wechselseitig Körper-         frühneuzeitlichen Praktiken des Identifizierens von
bewegungen, Gestik, Mimik und Sprechakte inde-
                                                           15 Meyer/Streeck/Jordan (Hrsg.): Intercorporeality.
                                                           16 Harold Garfinkel: What is Ethnomethodology? In:
11 Groebner: Der Schein der Person, S. 20.                 ders.: Studies in Ethnomethodology, S. 1–34, hier S. 33f.
12 Ebd., S. 21.                                            17 Suchman: Technologies of Accountability. In: Button
13 Der folgende Abschnitt basiert auf meinen Überle-       (Hrsg.): Technology in Working Order, S. 113–126.
gungen in Gießmann: Elemente einer Praxistheorie der       18 Vgl. Groebner: Der Schein der Person, S. 21.
Medien. In: ZfM, Bd. 19 (2018), S. 95–109, hier S. 104f.   19 Goodwin: Professional Vision. In: American
14 Merleau-Ponty: Der Philosoph und sein Schatten. In:     Anthropologist, New Series, Bd. 96, Nr. 3 (1994), S. 606–
ders.: Zeichen, S. 233–264, hier S. 246.                   633; ders.: Co-Operative Action.
Sebastian Gießmann·                                                                                          5

Einzelpersonen mobilisierten aber eine Vielzahl se-           Klassisch ist Bowkers und Stars Analyse der Inter-
miotischer Ressourcen, deren Prüfung situativ und         nationalen Statistischen Klassifikation der Krankhei-
indexikalisch entlang von Ähnlichkeitskriterien er-       ten (ICD) geworden, die seit der ersten Auflage im
folgte: Haar- und Hautfarben, Gesichtsmerkmale,           Jahr 1900 zwischen Wissensverwaltung und medi-
Kleider, Tätowierungen, Wappen, herrschaftliche           zinischer Identifikationspraxis zu vermitteln sucht.
Siegel, (Geleit-)Briefe, und schlussendlich Ausweise,     Die ICD übernimmt als global angelegte, wachsende
passeportes – als bleibendes Erbe des europäischen        Informationsinfrastruktur eine koordinative und
Mittelalters. Konstitutiv für die Medien- und Daten-      standardisierende Funktion, die die jeweiligen loka-
praktiken des Identifizierens war dabei die begrenzte     len Praktiken des Registrierens, Identifizierens und
Vervielfältigung der mobilen Person durch ihre mo-        Klassifizierens von Krankheiten unterstützt. Sie war
bilen Papiere, die dadurch zugleich zum Rechtssub-        – und ist – ein Weltprojekt, das eine andere Art von
jekt wurde.20 Die Lücke zwischen einer Person und         Erkennungsdienst eingesetzt hat als etwa die poli-
ihren Zeichen blieb dabei allerdings über Jahrhun-        zeiliche Verwaltung von Verbrechens- und Verbre-
derte lang bestehen, so dass nur die Praxis des Identi-   cherdaten am Ende des 19. Jahrhunderts.26 Für sie
fizierens von Ähnlichkeiten selbst diese überwinden       gilt der Abstand zwischen Person und Klassifikation
konnte: „Ausweisen heißt schließlich herzeigen.“21        noch genau so, wie für die von Groebner beschrie-
Zugleich heißt es, sich medienpraktisch als Rechts-       bene Differenz zwischen Körper und Ausweispapie-
subjekt zu behaupten, indem man sich berichtbar,          ren: „The crack comes when the messy flow of bo-
eben accountable macht.                                   dily and natural experience must be ordered against
    Die Medientheorie hat sich diesen kleinen, ver-       a formal, neat set of categories.“27 Das gilt für die
teilten Praktiken – zu denen auch die Listen von          Formularförmigkeit moderner Ausweise ebenso wie
Hochstaplern und Identitätsbetrügern gehören –            für die Pragmatik des medizinischen Identifizierens:
traditionell weniger gewidmet als den Haupt- und          Wer identifiziert, klassifiziert.
Staatsaktionen des Identifizierens und der durch              Medientheoretisch spricht also viel dafür, Prak-
diese eingeführten, disziplinierenden Mikrophy-           tiken des Identifizierens nicht allein entlang eines
sik der Macht.22 Tatsächlich kann man sagen,              erkennungsdienstlichen Paradigmas zu verstehen,
dass eine medieninteraktionistische Perspektive           das polizeiliche, geheimdienstliche und sozial-be-
den Blick auf die klassischen Verdatungstechniken         wertende Verfahren privilegiert. Vielmehr gehören
staatlicher Registrierung und Identifizierung, dar-       kleinere wie größere Medienagenturen des Identi-
unter die Staatstabellen seit dem 17. Jahrhundert,23      fizierens von Personen erstens zum modernen in-
polizeiliche Erkennungsdienste, optische und akusti-      frastrukturellen Staat, und zweitens zu denjenigen
sche Überwachung, Sozialstatistik, und neuerdings         „centers of calculation“28, die Privatwirtschaft, Kon-
Big Data und Biometrie24 verschiebt, ja sogar zu-         sumforschung und statistische Durchmusterung von
gunsten der agency der identifizierbaren Person ver-      Öffentlichkeiten hervorbringen. Gegen die Asym-
schieben muss. Denn das perfekte Aufschreibesys-          metrie dieses Verhältnisses hat es immer Gegenbe-
tem bleibt ein – meist folgenreicher – bürokratischer     wegungen gegeben – etwa das „right to be let alone“
Traum, der zum Alptraum werden kann.                      gegenüber der Pressefotografie um 1900 –, den Da-
    Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star haben         tenschutz gegenüber staatlichen Rasterfahndungen
dieser Janusköpfigkeit der infrastrukturellen Mo-         ab den 1970er Jahren oder den Verschlüsselungsak-
derne ihr großes Buch Sorting Things Out gewid-           tivismus der 2010er Jahre. Für diese Gegenbewegun-
met, das die Konsequenzen kategorialer Ordnungen          gen gibt es in der Regel gute normative und politische
des Registrier- und Identifizierbaren durchdenkt.25       Gründe. Erklärungsbedürftig ist aber, warum die in-
Es zeigt zugleich den Aufstieg neuer Medienagen-          teraktionalen Formen des Sich-Berichtbar-Machens
turen, die mit der Verwaltung des Identifizierbaren       zu immer neuen Kaskaden des Registrierens, Identi-
entstehen. Die infrastrukturellen Rückseiten der          fizierens und Klassifizierens führen – bis hin zur der
Mediengeschichte sind darin der Ort, an dem Daten-        von der Algorithmic Justice League kritisierten Appro-
verarbeitung und Klassifikationspraxis miteinander        priation des maschinellen Lernens für eine schlechte
verkoppelt werden.                                        Automatisierung eben dieser Zwecke.
                                                              Denn eine künstliche Trennung von Daten, Kalku-
                                                          lation, Körpern und Gesichtern lässt sich innerhalb
                                                          digitaler Medienkulturen kaum mehr vornehmen.
                                                          Registrieren und Identifizieren beinhalten darin all-
20   Groebner: Der Schein der Person, S. 173f.            tägliche logistische Medien- und Datenpraktiken,
21   Ebd., S. 169.
22   Foucault: Mikrophysik der Macht.
23   Vismann: Akten, S. 204f.                             26 Vgl. Meyer: Operative Porträts, S. 131ff.
24   Wichum: Biometrie.                                   27 Bowker/Star: Sorting Things Out, S. 68.
25   Bowker/Star: Sorting Things Out.                     28 Latour: Science in Action, S. 215f.
6	  CRC Media of Cooperation Working Paper Series No. 17 September 2020

Adressieren, Einschätzen, Auffinden, Tracking und         Konjunkturen
das Liefern einer Nachricht, eines Objekts oder einer
Person. Registrierungs- und Identifizierungstech-         Ausweispapiere tragen eine echte longue durée der
niken ermöglichen die Referenz auf singularisierte        Mediengeschichte, in der sich die mobile Nutzung
Personen, Zeichen und Objekte, aber auch auf loka-        und Identifizierung mit großen Registraturprojekten
lisierte und datierte Verschickungsvorgänge. All dies     verbindet. Zum Abstand zwischen der Person, ihren
wäre jedoch nicht möglich ohne das interaktionale         Erkennungszeichen und den Medien des Identifizie-
und interkorporeale Vermögen des Registrierens            rens gehört vom 15. bis ins 21. Jahrhundert die struk-
und Identifizierens, in seiner jeweiligen Modifika-       turelle Nicht-Identität von beweglichen Körpern und
tion durch infrastrukturelle und logistische Medien.      ihren stets stabilisierungsbedürftigen, tendenziell ob-
    Phil Agre hat diese Praktiken 1994 mit dem lo-        rigkeitlich produzierten Daten. Bernhard Siegert hat
gistischen Begriff der capture charakterisiert.29 War     dies nachdrücklich anhand der Zeichenpraktiken der
dieser zunächst durchaus als Differenz zu visuellen       spanischen Krone im 16. Jahrhundert beschrieben, die
Modi der surveillance wie dem von Michel Foucault         Passagiere und Papiere auf dem Weg in die amerika-
beschriebenen Panoptismus gedacht, ist mittlerweile       nischen Kolonien strikt zu regulieren versuchte.31 In
das fortwährende capturing von Daten zur überwa-          Valentin Groebners Geschichte von Steckbrief, Aus-
chenden Mustererkennung weit etabliert: Gesichts-         weis und Kontrolle erscheinen die „großen Apparate“
erkennung und andere Biometrien gehen davon aus,          bzw. Medienagenturen der Moderne wie ein Echo der
dass der menschliche Körper die beste Grundlage           – multiplen, auf Ähnlichkeiten gerichteten, verteil-
identifizierbarer Individualität bereitstellt. Unsere     ten – mittelalterlichen Praktiken des Identifizierens.
semiotischen Ressourcen führen so ein nicht mehr          Wendepunkte in dieser langen Geschichte des Iden-
voneinander trennbares Doppelleben: die inter-            tifizierens waren oftmals politische, sei es der West-
korporeale, ko-operative und wechselseitige Ver-          fälische Friede, seien es die nach der Französischen
fertigung von accounts wird nicht erst seit dem Auf-      Revolution erlassenen strikten Namensgesetze32 oder
stieg der Social-Media-Plattformen untrennbar von         der mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs wieder-
ihrer Bürokratisierung, Valorisierung, Profilierung       eingeführte Zwang zu Ausweis, Pass und Identifika-
und Datenverarbeitung. Medien- und Datenprak-             tionskarten.33 Zugleich beruhten auch Zeiten des
tiken des Identifizierens konvergieren in digitalen       liberalen Verkehrs von sozial höher gestellten Perso-
Gegenwartskulturen, Big Data wie maschinelles Ler-        nen, wie sie das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts in
nen sind Mittel zu diesem Zweck.                          West- und Mitteleuropa kennzeichneten, auf staat-
    Auf welchen Mediengeschichten beruht diese be-        lichen Strategien, die ‚gute‘ Zirkulation ermöglichen
unruhigende Entwicklung? Man kann sie kultur-,            und ‚schlechte‘ Zirkulation präventiv verhindern woll-
staats- und kapitalismuskritisch verstehen, aber ob       ten.34 Privilegien im Weltverkehr galten für Bürger*in-
ihrer anderen Genealogien in der medizinischen            nen kolonialer Weltreiche und administrative Eliten,
Datenverarbeitung, Konsum- und Öffentlichkeits-           nicht aber für die working class und noch weniger für
forschung ebenso als eine Form von „banal sur-            die Menge der Kolonialisierten.
veillance“, Normalisierung verteilter Kontrolle und           Über die Person hinaus zeichnete sich das 19. Jahr-
fortwährende Indexikalisierungsleistung digital ver-      hundert durch ökonomisch-technische Innovationen
netzter Medien. Ich möchte daher im Folgenden an          zur Entstehung neuer Registrier- und Identifikations-
eine gemeinsam mit Asko Lehmuskallio, Paula Haara         medien aus. So hat etwa Monika Dommann zeigen
und Heikki Heikkilä generierte Frage anschließen30        können, wie im expandierenden Welthandel Fracht-
und fragen: Was haben Pässe und Kreditkarten ge-          briefe und Speditionsbücher zu Transportnormen
meinsam?                                                  werden konnten.35 JoAnne Yates hat die Geschichte
                                                          von Aktenordnern, Memoranden und Ablageprakti-
                                                          ken als Arbeitsmedien in der amerikanischen control
                                                          revolution seit Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstru-
                                                          iert, mit denen industrielle und bürokratische Praxis
                                                          im neuen Stil systematisch dokumentiert wurde.36
                                                          Delphine Gardey verdanken wir einen parallelen, auf
29 Agre: Surveillance and Capture. In: Wardrip-Fruin/
Montfort (Hrsg): The New Media Reader, S. 740–760.        31 Siegert: Passagiere und Papiere.
30 Vgl. das Forschungsprojekt BANSUR zur ‚banal sur-      32 Torpey: The Invention of the Passport, S. 26f.
veillance‘. Unter: https://www.tuni.fi/en/research/       33 Groebner: Der Schein der Person, S. 159ff.
banal-surveillance-unravelling-causes-and-remedies-pri-   34 Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung,
vacy-paradox-bansur [aufgerufen am 30.3.2020]. Siehe      S. 37f.
auch zur Geschichte finnischer Ausweispapiere Haara/      35 Dommann: Verbandelt im Welthandel. In: Werkstatt
Lehmuskallio: Ruumiin ja dokumenttien kytkökset: Suo-     Geschichte, Bd. 58 (2012), S. 29–48.
men passin historiaa.                                     36 Yates: Control Through Communication.
Sebastian Gießmann·                                                                                               7

Frankreichs Industrialisierung gerichteten Überblick           Die seit den 1870er Jahren v.a. in den größeren
zu den Medien des modernen Büros, der Schreib-, Re-        Städten der USA entstehenden Agenturen zur loka-
chen- und Archivierungspraktiken in ihrer materiel-        len Überwachung von Kund*innen bewerteten de-
len und institutionellen Kultur grundiert.37               ren Zahlungsfähigkeit mit Kurzklassifikationen. So
   Infrastrukturelle Medieninnovationen dieser Art         notierte die in Brooklyn ansässige Retail Mercantile
waren untrennbar mit den Arbeitswelten ihrer Organi-       Agency 1874 „A“ für schnelle Bezahlung, „B“ für Bar-
sationen und Institutionen verwoben und Teil dessen,       geldnutzung, „C“ für späte Rückzahlungen, „K“ für
was man die bürokratische Hintergrundkooperation           Nicht-Zahlungsfähigkeit und „&“ für Nicht-Bewert-
des Identifizierens nennen kann. Besonders deutlich        bare, über die Details nur im Büro erfragt werden
ersichtlich wird der Zusammenhang von ökonomi-             konnten.41
schem Liberalismus und hintergründiger Identifizie-            Während der erste Weltkrieg die Fixierung einer
rung an der Entstehung von Kreditprüfungsagentu-           auf Identitätsdokumenten basierenden Mobilität
ren in den USA. So gründete Lewis Tappan 1841 seine        mit sich brachte, etablierten sich im Aufstieg des US-
Mercantile Agency in New York, um kleine Berichte zur      Konsumerismus in den 1920er Jahren neue Zeichen
Zahlungsfähigkeit von Kreditkunden narrativ – und          finanzieller Identität.42 Zu diesem Zeitpunkt wurde
nicht primär numerisch – einzuholen und für Anfra-         es erstmals möglich, gesammelte Schulden wiede-
gen der zahlenden Abonnenten bereitzustellen.38 In         rum zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausket-
den großen Foliobänden in Brooklyn wurden accounts         ten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen.43
von Geschäftsmännern aus dem ganzen Land zentral           Die ohnehin hohe Nachfrage nach installment credit
registriert – darunter z.B. derjenige von Abraham          – für größere Anschaffungen, darunter Automobile
Lincoln, dessen Inhalt im Zuge seiner politischen Kar-     und Schallplattenspieler – und rechtlich abgesi-
riere gelöscht wurde. Agenturen wie Lewis Tappan’s         cherten persönlichen Krediten (small loan lending)
Mercantile Agency oder die Bradstreet Company waren        korrespondierte mit dem neuen Kaufen und Verkau-
von vorneherein auf hohe territoriale Reichweite und       fen von angesammelten Schulden im Finanzsystem.
wachsenden Geltungsbereich hin angelegt. Sie ver-          Auf der Ebene der alltäglichen ökonomischen Prakti-
schoben die Informations- und Identifikationsprakti-       ken verbreiteten sich Kundenkarten, die eine Regist-
ken primär auf ihr Netzwerk menschlicher Agenten           rierung und Identifizierung der Konsument*innen
und fusionierten 1933 als Dun & Bradstreet.                erleichterten. Neben der entsprechenden Buch- und
   Für Privatkund*innen etablierte sich in den gro-        Karteiführung beinhaltete dies eine spezielle Form der
ßen Städten ab den 1880er Jahren die Vergabe von           Kundenkarte, die sogenannten charge-a-plates oder
temporärem Kredit durch US-amerikanische Kauf-             charge plates.
häuser, die substanziell in die Identifizierung der            Es handelte sich dabei um einfache, mit einigen
Stammkunden und die entsprechende Buchführungs-            wenigen drucktechnischen Elementen versehene
arbeit investierten.39 Möglich wurde diese Bürokrati-      Objekte, die zunächst basale Zahlungspraktiken in
sierung auf Basis der weit verbreiteten Praktiken des      Kaufhäusern, an Tankstellen und in Hotels erleichtern
‚Anschreibens‘ bzw. des keeping a tab, mit denen die       sollten, wie etwa die um bis zu dreißig Tage verspätete
gegenseitigen sozialen Verpflichtungen tabelliert          Zahlung bei bewährten, ‚guten‘ Kundenbeziehungen.
wurden. Identifizierungen blieben in beiden Fällen –       Die Zahlung mit charge plates – oder mit den verwand-
dem persönlichen Verschulden und dem Einräumen             ten charge coins – war einerseits eine Angelegenheit
temporären Kredits durch größere Kaufhäuser – pri-         des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits kor-
mär lokal und interaktional:                               respondierte jede Karte mit einem lokalen Kunden-
                                                           konto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv
        „American households thus incurred small           zur Personalisierung der charge plates beitrugen.
        debts with local shopkeepers that were settled         Die Buchführungspraktiken, mit denen Geschäfte
        when hard money was available, often six to        Kredit einräumten, schufen auf diese Weise eine neue
        twelve months later, and sometimes longer.         Verbindung von Konto und Person. Konto, Körper
        The spread of installment credit after the Civil   und Karte erlaubten als Medienverbund eine Identi-
        War, conventionally viewed as the takeoff          fizierung und Adressierung des zahlenden – und kre-
        point of modern consumer credit, merely            ditfähigen – Subjekts ebenso, wie sie Personen eine
        expanded the scope and impersonality of            Erweiterung ihrer Zahlungsmöglichkeiten boten.
        practices already in place.“40                     Dabei blieben bestehende Interaktionsordnungen des

                                                           41 Ebd., S. 68.
37   Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen.                  42 Die folgende Darstellung beruht auf meinen Überle-
38   Lauer: Creditworthiness, S. 33.                       gungen in Gießmann: Ein amerikanischer Standard. In:
39   Vgl. ebd., Kap. 2 und 3.                              Archiv für Mediengeschichte (2017), S. 55–68, hier S. 56.
40   Ebd., S. 51.                                          43 Hyman: Debtor Nation, Kap. 1.
8	  CRC Media of Cooperation Working Paper Series No. 17 September 2020

Bezahlens, des Gebens und Überreichens weitestge-             kierte die erste Standardisierung der Plastikkredit-
hend erhalten bzw. wurden um die Registrierung und            karte 1971 einen deutlichen Einschnitt.47 Sie legte die
Identifizierung per plate oder coin ergänzt. Die indi-        zu speichernden Daten weitestgehend fest und fügte
vidualisierten Karten und Münzen wurden dabei mit             mit dem Magnetstreifen ein entscheidendes frühes
dem Körper der Kunden verbunden und vice versa.               Moment digitaler Identifizierung hinzu.
Bezahltechniken und Infrastrukturen blieben weiter-              Korrespondierend hierzu etablierte sich eine
hin körpernah und interaktionistisch. Sie benötigten          Marktforschung, welche die sozialen Identitäten der
von allen Beteiligten einen hohen Vorschuss an wech-          Kund*innen genauer zu fassen und beziffern suchte.48
selseitigem Vertrauen, das nur teilweise an die büro-         Dies war umso herausfordernder, als nach der anfäng-
kratischen Registrierungs- und Identifizierungstech-          lichen Konzentration auf weiße reisende Geschäfts-
niken delegiert werden konnte. Mittels Buchführung            männer in den 1960er Jahren Kreditkarten als Mit-
wurden die verzögerten Zahlungen der entsprechen-             telschichten-Produkte auch für Frauen und Familien
den Person zugeordnet, die sich wiederum durch ihre           vermarket wurden, insbesondere die Bank Americard
Karten und Münzen identifiziert hatte. Die für Druck-         und MasterCharge. Die Option einer bequemen Ver-
techniken konstitutive Zweizustandsdifferenz,44 die           schuldung verlockte vor allem ärmere Nutzer*innen.
durch hochstehende Zeichen und Tinteneinfärbung               Finanzmarktprodukte entstehen bekanntlich da, wo
bzw. Kohlepapierdurchschlag genutzt wird, wurde               sie gebraucht werden – und mit dem Bedürfnis nach
hier zur Grundlage eines veritablen Aktenerzeugungs-          mobilem easy credit ging eine soziale Selbstklassi-
programms, in dem Karten und Münzen die formular-             fikation einher, die Kreditwürdigkeit und Zahlungs-
förmige Interaktion unterstützten.                            fähigkeit ausweisen wollte. Auf dieser Basis – der Fi-
   Dieses Erbe der charge cards ist den späteren Kre-         nanzialisierung von Mittelschichten – verfolgten die
ditkarten erhalten geblieben, wenn auch nicht auf di-         amerikanischen Kreditkartenanbieter seit den 1970er
rektem Wege. So bestand die spezielle Funktion des            Jahren die Globalisierung ihres Produkts, mitsamt
oftmals als ‚erste‘ Kreditkartenfirma benannten Diners        des konfliktträchtigen Exports der entsprechenden,
Club zu seiner Gründung 1949/1950 im bequemen                 US-amerikanisch geprägten sozialen Tatsachen und
monatlichen Bezahlen der bei Geschäftsessen in New            ökonomischen Praktiken.49
York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners              Waren die bisherigen soziotechnischen Identi-
Club zunächst keine charge card aus Metall oder Plas-         fikationsmechanismen noch stark an papierne Auf-
tik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem             schreibesysteme und repräsentationale Überprüfung
Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants. Es           der Angaben gebunden, führten die auf zwei der drei
handelte sich eher um eine debit card als eine credit         Tracks des Magnetstreifens gespeicherten persön-
card,45 die wiederum mehr mit einem Rabattmarken-             lichen Daten ein zwar unverschlüsseltes, aber ten-
heft als mit einer charge plate gemeinsam hatte.              denziell unsichtbares maschinenlesbares Element
   Die materielle Vielfalt der neu entstehenden Kre-          ein. Dies hieß aber nicht, dass die bisherigen Identi-
ditkarten, bei der aber stets der Name des Kontoinha-         fikationsmechanismen weniger genutzt wurden oder
bers – und sukzessive auch der Kontoinhaberinnen –,           gar verschwanden. So waren die Grundlagen für den
die Kontonummer, Adresse und ein Unterschriftsfeld            Magnetstreifen durch einen Auftrag der US-Regie-
vorhanden waren, führte zu einem regelrechten Wild-           rung zur Herstellung von lokal einsetzbaren Identifi-
wuchs an Designs und Formaten. Da sowohl lokale               kationskarten gelegt worden.50 Die mühsame, durch
Händler, national agierende Ketten (Hotels, Tank-             IBM 1969 bis 1971 in laboratorischer Feinarbeit in Los
stellen, Luftlinien), spezialisierte Unternehmen wie          Gatos ermöglichte Applikation des Magnetstreifens
American Express und Banken seit den 1950er Jahren            auf Plastik wurde zur Basis einer ganzen infrastruk-
eigene Karten auf den Markt warfen,46 stellten sich           turellen Kaskade von Techniken des Identifizierens.
technische Standardisierungsfragen, die schnell mit           Im alltäglichen Einsatz an den Bezahlterminals des
juristisch-regulatorischen Einsätzen korrespondier-
ten. Nach einer Phase unregulierter Markteroberung
Mitte der 1960er Jahre, die durch Massenmailings              47 Gießmann: Money, Credit, and Digital Payment
ohne weitergehende Identifizierung prospektiver               1971/2014. In: Administration and Society, Bd. 50, Nr. 9,
                                                              S. 1259–1279, hier S. 1262f.
Kundinnen und Kunden gekennzeichnet war, mar-
                                                              48 Mandell: Credit Card Use in the United States.
                                                              49 Vgl. zur europäischen Kreditkartengeschichte Gieß-
                                                              mann: „Ein weiteres gemeinsames Medium zur Banken-
44 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit,        Kooperation“. In: Gießmann/Röhl/Trischler (Hrsg.):
S. 63ff.                                                      Materialität der Kooperation, S. 169–198.
45 Swartz: Gendered Transactions. In: Women’s                 50 Gilles Deleuze führt deutlich später in seinem Post-
Studies Quarterly, Bd. 41, Nr. 1–2 (2014), S. 137–153, hier   skriptum über die Kontrollgesellschaften (1990)
S. 137f.                                                      eine Fantasie von Félix Guattari an, der sich eine Stadt
46 Zumello: The ‚Everything Card‘. In: Business History       vorstellt, in der der Zugang zu Räumen über elektroni-
Review, Bd. 85 (2011), S. 551–575.                            sche (dividuelle) Karten erfolgt. Ebd., S. 261.
Sebastian Gießmann·                                                                                             9

Point of Sale hieß dies auch, Verzögerungen in der Ve-    prägte Werbeslogan „Bezahlen Sie einfach mit ihrem
rifizierung in Kauf zu nehmen.51                          guten Namen“, was sich u.a. in der hartnäckigen Per-
    Immer neue integrierte Elemente kennzeichnen          sistenz des handschriftlichen Unterschreibens von
die Mediengeschichte des Identifizierens mit Kredit-      Rechnungen manifestierte.55
karten. Dazu zählen etwa Hologramme, Sicherheits-            Eine vergleichsweise einfache Begründung für die
nummern auf der Rückseite und Projekte zur breiten        Aufschichtung immer neuer Identifikationsmöglich-
Einführung von smart cards in den 1980er Jahren. Der      keiten lässt sich anhand technischer Pfadabhängig-
EMV-Standard integrierte ab 1998 weltweit Chips und       keiten und unerwünschter Nutzungsweisen geben:
Personal Identification Numbers (PINs). Im Zuge des-      Weder reichte der unverschlüsselte, kopierbare Mag-
sen wurden „card not present“-Funktionen eingeführt,      netstreifen auf Dauer für vertrauliche Transaktionen
die sich speziell für das E-Commerce im Aufstieg des      aus, noch die auf der Rückseite notierte Sicherheits-
World Wide Webs als wichtig erwiesen haben. Neuere        nummer. Sperrlisten, mit denen im Hintergrund ge-
Entwicklungen umfassen Near Field Communication           prüft und – negativ – identifiziert wird, sind wie schon
(NFC) bzw. Nahfunk für die Mobiltelefone der 2000er       im 19. Jahrhundert die Bedingung unkritischer Trans-
Jahre, one-time tokens – als temporäre Identifizierung    aktionen. Zu den wirtschaftlichen Programmen der
während Transaktionen52 – und die Smartphone-ba-          Kreditkarte existieren also immer starke medienprak-
sierte Fingerabdruck- und Gesichtsidentifikation.         tische Gegenprogramme, nicht nur des Kreditkarten-
    Die Frage, die sich anhand dieser fortwährenden       betrugs wegen: Skimming – also Auslesen und Miss-
Eskalation infrastrukturellen Misstrauens stellt, lau-    brauch der Daten –, Diebstahl von Rohlingen oder der
tet: Auf was antworten die immer erneuerten Inf-          postalisch versendeten Karten, Hacking von accounts
rastrukturen des Registrierens und Identifizierens        und Transaktionen, Übernutzung von Optionen wie
eigentlich? Was für eine Art von Vertrauen sollen sie     Rabattprogrammen, Verschulden durch das Hantie-
(wieder-)herstellen und welche Praktiken sollen sie       ren zwischen mehreren Kreditkarten und vieles mehr.
wie ermöglichen, einhegen oder verhindern? Geld-             Eine weiterreichende Begründung besteht hin-
theoretisch ist die Sache vergleichsweise klar: Je mehr   gegen darin, dass alle infrastrukturellen, digitalen
Buch- bzw. Giralgeld es gibt, je mehr Kredit adminis-     und rechtlichen Zurüstungen die spätmittelalterlich-
triert werden muss, umso mehr kommt es auf das Si-        frühneuzeitlichen Lücken zwischen Personen und
chern und Verifizieren von Soll- und Habenseinträgen      Papieren ebenfalls kaum schließen können. Diesem
an, die auch nur ein Datum unter anderen sind – „data     Abstand wird mit immer neuen verschalteten Refe-
that could pass as money“.53                              renzen zwischen Konto, Karte und Person entgegen-
    Im Gegensatz zur politisch geprägten Geschichte       gewirkt. Alle Mittel des persönlichen Identifizierens
der Ausweisdokumente lassen sich große Wende-             vermitteln so die Zertifizierung von Personen, ,mo-
punkte wie das Ende des Kalten Krieges oder die           ney of account‘, Transaktionen, Kreditwürdigkeit und
Terroranschläge vom 11. September 2001 für neue           Zahlungsfähigkeit. So gebildete Medienverbünde der
finanzmediale Identitätsnachweise nur begrenzt            finanziellen Aktenführung sind notorisch instabil, was
zur Begründung heranziehen. Pässe, Ausweise und           im Gegenzug durch die Proliferation immer neuer
Kreditkarten sind zwar parallel mit immer neuen           Kontrollen, Bewertungen (scores)56 und Zertifizierun-
Sicherheitsmerkmalen versehen worden, die teil-           gen57 aufgefangen werden soll. Dies unterscheidet die
weise von denselben industriellen Dienstleistern          Identifikationen des wirtschaftlichen Austauschs von
produziert werden. Im Detail unterscheiden sie sich       der Beglaubigung durch eine staatliche-territoriale
aber deutlich, auch wenn z.B. Personalausweise und        Autorität. Nur in seltenen Fällen konvergieren beide,
Führerscheine ihr Scheckkartenformat von 85,6 mal         etwa bei Debitkarten, die – wie in Nigeria seit 2014 üb-
53,98 mal 0,76 Millimeter der Herkunft aus der Kre-       lich – gleichzeitig als elektronische und biometrische
ditkartenstandardisierung verdanken.54 So hat sich        Ausweise fungieren.58
beispielsweise die Option der Personalisierung von
Kredit- und Debitkarten mit Ausweisfotografien wei-
testgehend nicht durchsetzen können. Vielmehr galt        55 „Handschrift ist auch so ein indexikalisches Zeichen,
offenbar weiterhin der 1984 von American Express ge-      denn anders als Druckschrift verweist sie wie ein Finger-
                                                          zeig auf ihren Grund, oder Urheber. Die juridische Logik
                                                          der Signatur beruht auf genau dieser Indexikalität, denn
51 Stearns: Electronic Value Exchange, S. 30f.            die Behauptung einer authentischen und physischen
52 Gießmann: Money, Credit, and Digital Payment           Präsenz des Urhebers beim Akt des Schreibens bleibt
1971/2014, S. 1270f.                                      fortbestehen, auch und gerade, wenn dieser nicht mehr
53 Brunton: Digital Cash, S. 200.                         anwesend ist – als testamentarisches Instrument.“ Neef:
54 Das 1985 erstmals standardisierte ID-1 Format be-      Abdruck und Spur, S. 43.
zieht diese Abmessungen aus den US-amerikanischen         56 Mau: Das metrische Wir, S. 103f.
ANSI-Kreditkartenstandards seit 1971, die wiederum als    57 Busch: Standards, Kap. 4.
eine Grundlage der ISO-Standards 7810, 7811-1 bis 6 und   58 Die nigerianische National Identity Management
7813 fungierten.                                          Comission arbeitet hierzu mit Mastercard zusammen.
10	  CRC Media of Cooperation Working Paper Series No. 17 September 2020

    Von daher ist es konsequent, wenn die neuesten         Medienverbünde zwischen Konten, Körpern und
Smartphone-basierten Bezahloptionen das persönli-          Personen. Gegenüber solchen Kaskaden des Regis-
che Identifizieren qua Fingerabdruck oder Gesichts-        trierens und Identifizierens brauchen wir digitale
erkennung vorsehen. Die infrastrukturelle Fusion           (Finanz-)Medien, die Pseudonymität und Nichtklas-
von Körperzeichen und Geldzeichen zugunsten ge-            sifizierung wieder ermöglichen. Denn ansonsten gilt
nau einer maschinenlesbaren Identität verspricht           vorerst weiterhin ein tief asymmetrisches Machtge-
dabei die Überwindung des alten Abstands zwischen          fälle in digitalen Handlungs- und Kontrollräumen:
Person und Identifikationsmedien: Be yourself, no          Jede Vermittlung zählt, wird in digitalen Akten regis-
matter what they say. Via Biometrie können wir Kör-        triert und identifiziert, mit Körper und Person vernäht
perdaten-identifiziert an Apps und Finanzplattfor-         und damit als fait social berechen- und klassifizierbar
men teilhaben, wenn wir uns in unseren accounts auf        gemacht. Digitale Infrastrukturen des Identifizierens
deren methodologischen Individualismus einlassen.          beruhen mehr denn je auf den von User*innen ausge-
Banken und Kreditkartenfirmen bleiben dabei recht-         henden Medien- und Datenpraktiken. Nutzer*innen
lich, zumal nach der Finanzkrise von 2008, auf das         machen sich weiterhin accountable und klassifizieren
Prinzip „Know Your Customer“ angewiesen.59 Sie             sich selbst, trotz der konstitutiven Asymmetrien ge-
werden so gezwungenermaßen Nutznießer staat-               genüber allen neuen Erkennungsdiensten. Identität
licher Identifikationsregime und – in Europa – per         sucht Kontrolle angesichts der Überwachung, könnte
Zahlungsdiensterichtlinie von 2007 und 2015 (PSD 1         man im Anschluss an Harrison White sagen.
bzw. 2) zur fortwährenden Identifikation finanzieller
Identitäten verpflichtet.60 Außerhalb dieses finanzme-
dialen Mainstreams werden auch in der Flüchtlings-
hilfe die Kaskaden von Identifizierungen ausgeweitet.      Gegenbegriffe
Dies gilt z.B. für die im Lager von Zaatari, Jordanien
durch das World Food Programme der UN seit 2014            Denn man kann sich gegenwärtig sowohl gegenüber
eingesetzte OneCard. Schon deren Präsenz wirkte ob         dem Datenhunger von Staaten wie gegenüber dem al-
des auf ihr sichtbaren MasterCard-Zeichens paradox         gorithmischen tracking und tracing privatwirtschaft-
– und wurde noch hinsichtlich der personellen Iden-        licher Medienagenturen nicht nicht-identifizieren.
tifikation durch Irisscans übertroffen, in denen die       Wenn die Algorithmic Justice League antritt, nicht so,
biometrischen Daten das Anrecht auf Lebensmittel-          sondern anders und entlang höherer Erkennungsra-
rationen im World Food Programme der UN gewisser-          ten von Ethnie und Geschlecht in der Gesichtserken-
maßen ‚freischalten‘.61                                    nung identifiziert zu werden, ist das bezeichnend für
    Für die Gegenwart des Jahres 2020 gilt deshalb:        eine Gegenwartskultur, in der es vor allem darum
Je mehr registrierende und identifizierende Ver-           geht, etwaige maschinierte Vorurteile im Identifi-
mittlungsschritte zur Realisierung einer Transaktion       zieren zu vermeiden. Ein guter Gegenbegriff zum
unternommen werden, umso realer wird eine Be-              Identifizieren ist daher im „surveillance capitalism“62
zahlinteraktion. Je körpernäher die Beglaubigung           schwer zu finden, denn auch Maskieren, Tarnen, Täu-
der Zahlungsfähigkeit in vernetzter Buchhaltung            schen und Faken setzen einen virtuosen Umgang mit
erfolgt, umso glaubwürdiger erscheint diese – ob           den Medien des Identifizierens voraus. Als konträre
nun per Irisscan, Gesichtserkennung oder Fingerab-         Bewegung können zudem publizistische, rechtliche
druck. Kontrollgesellschaften schätzen offenbar die        wie technische Praktiken des Pseudonymisierens und
vergleichsweise anonyme Wertzirkulation des Bar-           Anonymisierens gelten, die sich Klarnamenzwängen
geldes nicht mehr, und ersetzen sie durch neue             strukturell zu entziehen suchen. Individuelle Ent-
                                                           netzung setzt hingegen auf den Rückzug aus denje-
                                                           nigen Medien- und Datenöffentlichkeiten, in denen
Vgl. Meister: Nigeria – Elektronischer Personalausweis     Individuen strategisch identifiziert werden – mit ent-
ist gleichzeitig Führerschein, Krankenkarte und Master-    sprechenden Konsequenzen für soziale Mobilität und
card-Kreditkarte. „Die Tendenz, Geld und Meldewesen        Status.
zu koppeln, ist aus afrikanischen Fintech-Lösungen             Wenn immer schon öffentlich identifiziert und klas-
bekannt.“ Blumentrath/Echterhölter/Felcht/Harrasser:
                                                           sifiziert wird, ist Verschlüsselung die naheliegende,
Jenseits des Geldes, S. 123.
                                                           eher kurzfristig wirkende infrastrukturelle Antwort.
59 (Art.) Know-your-customer-Prinzip (KYC). In: Gab-
                                                           Sie adaptiert aber eine geheimdienstliche Praxis, mit-
ler Wirtschaftslexikon. Unter: https://wirtschaftslexi-
kon.gabler.de/definition/know-your-customer-prinzip-       unter durch direkte Umnutzung: Die Herkunft der
kyc-53389/version-276482 [aufgerufen am 30.3.2020].        weit genutzten Verschlüsselungssoftware TOR (The
60 Europäisches Parlament und Rat: Zahlungsdienste-        Onion Router) aus geheimdienstlicher und militäri-
richtlinie 2007/64/EG (PSD 1); Zahlungsdiensterichtlinie   scher Auftragsforschung hält Aktivistinnen weltweit
(EU) 2015/2366 (PSD 2).
61 Blumentrath/Echterhölter/Felcht/Harrasser: Jen-
seits des Geldes, S. 121f.                                 62 Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism.
Sebastian Gießmann·                                                                                              11

nicht davon ab, diese intensiv zu verwenden.63 Ju-         rung Bitcoin weltanschaulich zumindest fragwürdig
ridische Einhegungen des Identifizierens sind – zu-        und ökologisch mit Sicherheit desaströs waren, ha-
mindest in den Rechtsstaaten, die noch darauf Wert         ben sich durch den Bitcoin und seine Nachfolger ver-
legen – aufwendig, umstritten und langwierig. Sie          schlüsselte Infrastrukturen weit verbreiten können.68
stehen zudem im konstanten Konflikt mit staatlichen        In deren verteilten Transaktionsdatenbanken und den
Identifikationsregimen, die sich zur Verbrechens- und      Wallets der Nutzer*innen werden die Einträge ano-
Betrugsbekämpfung immer weiter in Finanzmedien             nym registriert, bleiben dabei aber in der Regel über
hinein verlagern.64 Kompromisslos können hingegen          ihre Pseudonyme öffentlich identifizierbar und somit
diejenigen Künstler*innen und Aktivist*innen inter-        für jeden prüfbar.69 Die Identifizierung verschiebt sich
venieren, die Identifikation und Klassifikation gezielt    damit von der Person auf die Transaktion.70 Allerdings
stören.                                                    hat sich eine zentrale Hoffnung des Blockchain-Urhe-
   So wendet sich etwa eine taktische Medieninter-         bers Nakamoto Satoshi – bezeichnenderweise auch
vention wie adversarial.io gegen Massengesichtser-         ein unaufgelöstes Pseudonym, das für mehr als eine
kennung, indem sie digitalen Bildern gezielt Störun-       Person stehen kann71 – und anderer Apologeten des
gen (adversarial noise) gegen die Erkennung durch          digital cash nicht erfüllt. So sind tatsächliche Peer-to-
maschinelles Lernen hinzufügt und typische Metada-         Peer-Überweisungen von Bitcoin aufgrund der Gebüh-
ten entfernt.65 Die kategoriale Arbeit der entsprechen-    ren finanziell unattraktiv und tendenziell gegenüber
den neuralen Bilderkennungsnetze wird dadurch ge-          anderen Optionen langsam. Der spekulative Umgang
stört, oder zumindest verschoben.                          mit dem neuen Finanzmedium dominiert daher nach
   Für finanzmediale Identitäten, die untrennbar           wie vor; Kryptowährungen spielen für Alltagsbezah-
mit dem Aufstieg des modernen Konsums und seiner           lungen kaum eine Rolle. Zahlreiche alternative Kryp-
Logistik verbunden sind, stellt sich dies als ungleich     towährungen beheben zwar erfolgreich Probleme des
schwerer heraus. So ist etwa die 2018 ins Leben geru-      ursprünglichen Bitcoin-Designs, dennoch bleibt der
fene aktivistische Initiative OpenSchufa, die sich gegen   Bitcoin die größte, tatsächlich genutzte öffentliche
die Intransparenz des algorithmischen Scorings durch       Blockchain.
die deutsche Auskunftei Schutzgemeinschaft für all-           Als strukturell offene Technologien werden Block-
gemeine Kreditsicherung (Schufa) richtet, bisher wei-      chain-Anwendungen aber auch für das genaue Ge-
testgehend folgenlos geblieben.66 Als informatische        genteil in Sachen Identifizierung angeeignet, oft auf
Gegenpraktik lässt sich ebenso das Entstehen neuer         Basis der Open-Source-Plattform Ethereum. So hat
digitaler Bezahlungssysteme verstehen, die dem für         die Nicht-Änderbarkeit einmal errechneter Blöcke –
Buchgeld typischen Identifikationsimperativ pseudo-        die das vertrauenslose Vertrauen bei Blockchains ga-
nyme Nutzungsweisen entgegensetzen.67                      rantieren soll – auch verführerische Qualitäten für die
                                                           Festlegung und Prüfung digitaler Identitäten. Dieser
                                                           strukturelle Konservatismus soll digitale Daten ein-
                                                           eindeutig verteilt beglaubigen, d.h. infrastrukturell
Perspektiven                                               accountable machen – vom einfachen Dokument72 bis
                                                           zur persönlichen Identität. Das Spektrum an kleinen
So ist der eigentliche Clou digitaler Infrastrukturen,     wie großen Projekten zur digitalen Identifizierung,
die auf das verteilte Rechnen in Blockchains setzen,       deren Hintergrund auf Blockchain-Registrierung
ihre pseudonyme, aber digital-öffentliche Nutzungs-        beruht, ist groß. Vielleicht am bemerkenswertesten
weise. Während die ersten zehn Jahre der Kryptowäh-        sind Unternehmen wie das mittlerweile gescheiterte
                                                           Berlin-Budapester Start-up Taqanu, dass von 2016
                                                           bis 2018 die Entwicklung einer mobilen Bankapp und
63 Levine: Surveillance Valley, S. 219f.                   self-sovereign digital identity für Flüchtlinge verspro-
64 Vgl. Basel Committee on Banking Supervision:            chen hatte.73 Taqanu war kein Einzelfall, auch das
Basel III: International framework for liquidity risk
measurement, standards and monitoring.
65 Hunger/Fluppke: adversarial.io – Fighting mass          68 DuPont: Cryptocurrencies and Blockchains.
image recognition. Unter: http://adversarial.io/about      69 Ausgenommen davon sind die immer zahlreicher
[aufgerufen am 30.3.2020].                                 genutzten privaten, „permissioned“ Blockchains. Vgl.
66 Algorithm Watch/Open Knowledge Foundation:              ebd., S. 109.
OpenSCHUFA. Unter: https://openschufa.de [aufgeru-         70 Ferguson: Bitcoin: A Reader’s Guide. In: Critical
fen am 30.3.2020].                                         Inquiry, Bd. 46, Nr. 1, S. 140–166, hier S. 143.
67 Vgl. zu widerständigen Praktiken gegenüber der          71 Nakamoto: Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash
Identifikation monetärer Transaktionen O’Dwyer: Cache      System.
Society. In: Journal of Cultural Economy, Bd. 12, Nr. 2,   72 OriginStamp: Immutable Data Trails. Unter: https://
S. 133–153, hier S. 147f. O’Dwyer führt hierzu Geldver-    originstamp.org/home [aufgerufen am 30.3.2020].
brennung, Pro-Bargeld-Bewegungen, Spurenverwischung        73 Taqanu: Blockchain Based Digital Identity. Unter:
bzw. obfuscation und algorithmic accountability an.        https://www.taqanu.com [aufgerufen am 30.3.2020].
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