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DIGITALE ÜBERWACHUNG und die Auswirkungen auf den Journalismus in Russland Andrei Soldatow, Irina Borogan ANALYSE
Impressum Herausgeber Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Truman-Haus Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam-Babelsberg /freiheit.org /FriedrichNaumannStiftungFreiheit /FNFreiheit Autoren Andrei Soldatow, Irina Borogan Redaktion Daniela Oberstein Referat Globale Themen / Fachbereich Internationales der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Kontakt Telefon +49 30 220126-34 Telefax +49 30 690881-02 E-Mail service@freiheit.org Stand Oktober 2020 Hinweis zur Nutzung dieser Publikation Diese Publikation ist ein Informationsangebot der Friedrich- Naumann-Stiftung für die Freiheit. Die Publikation ist kostenlos erhältlich und nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf nicht von Parteien oder von Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden (Bundes- tags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Europäischen Parlament). Lizenz Creative Commons (CC BY-NC-ND 4.0)
Inhalt URSPRÜNGE 4 Journalismus im Wandel 5 BEDROHUNGEN: STAATLICHE AKTEURE 6 Staatliche Abhöraktion 6 Befugnisse zum Ausspähen von Journalistinnen und Journalisten 7 Gesichtserkennungskameras 7 Informationen online sammeln 8 BEDROHUNGEN: WIRTSCHAFTLICHE AKTEURE 8 Die Rolle sozialer Medienplattformen 8 „Fake News“-Gesetze und ihre Anwendung auf die Sozialen Medien 9 Herausforderungen durch Mobiltelefone 10 BEDROHUNGEN: BEVOLLMÄCHTIGTE 10 COVID-19 IN MOSKAU: FALLSTUDIE 11 FAZIT 13 LITERATURVERZEICHNIS 15 ÜBER DIE AUTOREN 16
4 Digitale Überwachung Roman Shleynow, Russlands Top-Enthüllungsjournalist beim Kurz danach wurde der Account mittels einer ausgefeilten Organized Crime and Corruption Reporting Project (Projekt Phishing-Attacke angegriffen. Gmail schickte ihm eine soge- zur Erfassung und Veröffentlichung von organisierter Krimi- nannte government-backed attack alert (Warnung vor von der nalität und Korruption, kurz OCCRP), war unter seinen Kolle- Regierung unterstützten Angriffen), die ihn davor warnte, dass ginnen und Kollegen als jemand bekannt, der sich stets an von der Regierung unterstützte Eindringlinge versuchen die Regeln hielt. Eine dieser Regeln, die er niemals brach, könnten, sein Passwort zu stehlen. Später fand eine ameri- lautete, der betroffenen Seite, über die er Untersuchungen kanische Cybersicherheitsfirma die von Shleynow genutzte anstellte, die Möglichkeit zu geben, eine Story zu kommen- Gmail -Adresse zusammen mit anderen Accounts von russi- tieren. In jener einen Woche im Frühling 2016 schrieb er schen Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen gerade über die staatseigene russische Bank – VTB – eine und Aktivisten auf der Liste der Accounts, die von Fancy Bear – der größten Banken des Landes. Seine Arbeit war Teil einer den Hackern, die hinter dem Angriff auf das Democratic groß angelegten internationalen Untersuchung und eines National Committee (DNC) 2016 steckten – attackiert wurden. Gemeinschaftsprojekts, später bekannt als Panama Papers: Die Enthüllung internationaler Steuervermeidung, die auch Die Bank, über die Shleynow Untersuchungen anstellte, wollte persönliche Freunde Putins betraf. Die Recherche war heikel, keinen Kommentar abgeben. Jedoch sieht es so aus, als jedoch wollte er auch in diesem Fall alles richtigmachen – wollte Fancy Bear in der Tat mehr über die kommende Story was eben hieß, der betroffenen Partei die Möglichkeit zu wissen. Sowohl Roman Shleynow als auch die Angreiferin- geben, einen Kommentar abzugeben. Shleynow war kein An- nen und Angreifer wussten, dass es für ihn keinen Sinn hatte, fänger: Er rief die Pressestelle der Bank an und verschickte sich an die russische Polizei zu wenden. Dies war genau die dann eine Anfrage für einen Kommentar von einem Gmail Realität, in der Russlands investigative Journalistinnen und -Account, den er vor Jahren erstellt und seitdem nie wieder Journalisten zu leben und zu arbeiten gelernt hatten und sie genutzt hatte. passten sich eben entsprechend an. Ursprünge Die systematische, unaufhaltsame Offensive des Kremls schenienkrieges untergraben hatten – so die Botschaft, die gegen den Journalismus fing im Jahr 1999 an, als der zweite der Kreml zu verbreiten begann. Die westlichen Journalis- Tschetschenienkrieg im Nordkaukasus begann. Zu der Zeit tinnen und Journalisten hätten dies getan, weil der Großteil war der kürzlich zum Premierminister ernannte Vladimir Putin von ihnen Spione waren und die russischen Kolleginnen und ein aufgehender politischer Stern und neuer Protegé von Kollegen hätten mitgemacht, da sie entweder korrupt oder Boris Jelzin. Er investierte seine gesamte Reputation in den dumm waren. Die von Angst vor Terroranschlägen in Mos- Krieg, sodass er unbedingt einen militärischen Sieg brauchte. kau geplagte russische Öffentlichkeit wollte einen starken Dazu musste er dem russischen Volk zuerst einmal den Krieg Anführer und akzeptierte weitgehend die Idee der verräte- verkaufen und es überzeugen, dass die Armee siegen konnte. rischen Medien. Der Kreml führte eine strenge Zensur der Berichterstattung über den zweiten Tschetschenienkrieg Dies warf eine große, unbequeme Frage auf: Wieso hatte ge- ein. Einige Journalistinnen und Journalisten wurden der Re- nau dieselbe russische Armee vier Jahre zuvor den ersten gion verwiesen, die Behörden änderten die Auslegung der Tschetschenienkrieg verloren? Putin hätte den Staatschef Gesetze so, dass die Darstellung einer anderen Seite der Ge- verantwortlich machen können, doch hätte dies bedeutet, schichte – nämlich der tschetschenischen Seite – als illegal Jelzin der Unfähigkeit zu bezichtigen, was kaum möglich deklariert wurde.1 Journalistinnen und Journalisten wurde war, da Jelzin noch immer Russlands Präsident war. Er hät- es untersagt, tschetschenische Kämpferinnen und Kämpfer te es auf die Armee schieben können, aber auch dort gab zu zitieren, da dies ab jenem Zeitpunkt als Unterstützung es keinen Wechsel unter den befehlshabenden Generälen. von Terrorismus betrachtet wurde. Somit wurde es so gut Stattdessen entschied sich Putin dafür, die Überbringer der wie unmöglich, mit Zivilisten, Opfern oder Verwandten in Nachrichten verantwortlich zu machen. Es waren die russi- der Kriegszone zu sprechen. Das russische Militär führte schen und ausländischen Journalistinnen und Journalisten, Sonderregelungen für den Zugang zu den Bereichen ein, in die die Bemühungen Russlands während des ersten Tschet- denen die Militäraktionen stattfanden. 1 Während eines Treffens der Kommission zur Bekämpfung politischen Extremismus unter dem Präsidenten im März 2000 sagte der Erste Vizeminister für Presse, Michail Seslawinsky, dass es „zusätzlich zu dem Gesetz über die Massenmedien noch ein Gesetz über die Bekämpfung des Terrorismus gibt. Gemäß diesem Gesetz wird ab sofort journalistisches Material über Tschetsche- nien ausgewertet.“ Nach Auffassung der Regierung legt Artikel 15 dieses Gesetzes fest, dass die Unterrichtung der Öffentlichkeit über terroristische Handlungen in der Form und dem Umfang erfolgt, wie es der Leiter der operativen Zentrale für den Umgang mit Antiterror-Operationen festlegt. Des Weiteren verbietet dieser Artikel die Verbreitung von Informationen, die „der Propaganda oder Rechtfertigung von Terrorismus sowie Extremismus dienen“. Das Presseministerium unterstellte den Zeitungen Kommersant und Nowaja Gaseta gegen diesen besagten Artikel verstoßen zu haben. Die beiden Zeitungen erhielten offizielle Warnungen, dass ihr Erscheinen eingestellt werden könnte. Kommersant z.B. erhielt am 21. August 2000 eine Verwarnung für ein Interview mit dem Anführer der tschetschenischen Kämpferinnen und Kämpfer, Aslan Maschadow. Weitere Informationen unter: Andrei Richter “War on terror and media freedom” 2005, https://cyberleninka. ru/article/n/voyna-s-terrorizmom-i-svoboda-massovoy-informatsii
5 Der Kreml führte zudem ein Konzept ein, das uns allen in- Moskowskije-Nowosti-Teams, ein politisches Magazin sowie zwischen allzu bekannt ist: Informationskrieg und Informa- eine politische Website zu lancieren, geschlossen. Jobs bei tionssicherheit. Im Jahr 2000 erstellte der Sicherheitsrat die der Nowaja Gaseta folgten, jedoch waren sie nicht von langer „Doktrin zur Informationssicherheit der Russischen Födera- Dauer. Innerhalb von drei Monaten wurden die Autoren der tion“, die eine ungewöhnlich vollumfängliche Liste von Be- Publikation von der Nowaja Gaseta entlassen – der letzten drohungen enthielt: von der „Kompromittierung von Schlüs- russischen Zeitung, die deren Stories drucken wollte. Anfang seln und dem kryptografischen Schutz von Informationen“ und Mitte der 2000er Jahre wechselten die Moskauer Zei- über „die Abwertung geistiger Werte“, „die Reduzierung geis- tungen und Magazine häufig die Besitzerinnen und Besitzer, tigen, moralischen und kreativen Potenzials der russischen der Großteil von ihnen endete in den Händen von kremltreu- Bevölkerung“ und „der Manipulation von Informationen (Des- en Oligarchinnen und Oligarchen, die Putin halfen, jedwede information, Verschleierung oder Falschdarstellung)“. Recht feindselige Berichterstattung im Keim zu ersticken. Diese ominös berief sich die Doktrin als Quelle der Bedrohungen Tendenz blieb von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. auf den „Wunsch einiger Länder, die Interessen Russlands im globalen Informationsraum zu dominieren und zu verlet- Am 6. Oktober 2006 wurde die bekannte russische Investi- zen“. Putin unterzeichnete die Doktrin am 9. Dezember 2000. gativ-Journalistin Anna Politkovskaya von Auftragsmördern im Moskauer Stadtzentrum ermordet. Politkovskaya war die In den frühen 2000ern wurde das Kerngebiet Russlands von prominenteste Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen einer Serie von Terroranschlägen getroffen, einschließlich einer in Tschetschenien – einer Region, die die russischen Behör- Geiselnahme im Moskauer Dubrovka-Theater im Oktober den seit den frühen 2000ern vor Journalistinnen und Jour- 2002. Nachdem unabhängige russische Medien unerschro- nalisten abschotten wollten. Nach Ihrer Ermordung gingen cken berichteten, schlug der Kreml zurück. Journalistinnen mehr Menschen in Paris auf die Straße, um ihr die letzte und Journalisten (einschließlich der Autoren) wurden durch Ehre zu erweisen, als in Moskau. Diejenigen, die dieses Ver- Befragungen im Lefortowo-Gefängnis eingeschüchtert, das brechen in Auftrag gaben, wurden nie gefunden. zum Inlandsgeheimdienst (FSB) – der wichtigsten Behörde für Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung in Russ- land – gehört. Managerinnen und Manager von Fernsehsen- Journalismus im Wandel dern wurden gefeuert und Putin persönlich griff die Medien an, indem er betonte, dass es inakzeptabel sei „Geld mit dem Im Jahr 2008 waren in Russland nur einige wenige investiga- Blut unserer Bürgerinnen und Bürger“ zu verdienen.2 tive Journalistinnen und Journalisten, etwa sechs bis acht, noch in Moskau tätig. Ziemlich bald jedoch erlebte Moskau Von da an begann die Öffentlichkeit sich langsam, aber einen neuen Aufschwung des investigativen Journalismus: entschieden, gegen Journalistinnen und Journalisten zu Kleine Teams, die z.T. aus lediglich einem Dutzend Leuten wenden. Einige berühmte Reporterinnen und Reporter, die bestanden, betraten die Bühne. Sie riefen einige digitale sich ihre Reputation in den frühen 1990ern erarbeitet hat- Medienplattformen ins Leben, die qualitativ hochwertige ten, erwiesen sich als korrupt und bereit, jedwede Art von Recherchen hervorbrachten. Sie untersuchten Korruption Stories zu veröffentlichen, wenn sie dafür angemessen be- und gruben im Falle hochrangiger Beamtinnen und Beam- zahlt würden. Der Berufsstand des Journalisten wurde von ter tief nach nicht deklarierten Immobilien im Ausland, ihren seinem Podest gestürzt, das er seit den Jahren der Perest- Offshore-Unternehmen und riesigen Luxusanwesen, die in roika in den späten 1980ern einnahm. Vielleicht noch augen- den modernsten Vorstadtgebieten um Moskau herum sowie scheinlicher war jedoch der Umstand, dass Journalistinnen anderswo gebaut wurden. und Journalisten und die freie Presse für viele Menschen in Russland ein Symbol der liberalen Werte waren, die nach Neue Methoden erfreuten sich dabei immer größerer Be- dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land fluteten. liebtheit: von Datamining in staatlichen Beschaffungs- und Weite Teile der russischen Gesellschaft waren verbittert und Immobiliendatenbanken, über Drohnen, die perfekte Videos fühlten sich vom Westen verraten, vor allem seit der Wirt- der Luxusvillen von Kreml-Bediensteten lieferten, die vor schaftskrise in Russland 1998, als der Eindruck entstand, konventionellen Erkundigungen massiv durch hohe Zäune dass Märkte und Demokratie – aus dem Westen importierte und diverse aggressive Security-Leute abgeschirmt wurden. Konzepte – nichts außer Chaos hervorbrächten. Die Grund- Diese neuen Methoden halfen Journalistinnen und Journa- gedanken von Journalismus und freier Presse verloren an listen, dem Druck der Regierung standzuhalten. Einige Re- Glaubwürdigkeit. daktionen gingen ins Ausland, aber die Journalistinnen und Journalisten arbeiteten weiterhin in Russland. Meduza eröff- Journalistinnen und Journalisten der traditionellen Medien nete sein Hauptbüro in Riga, Lettland, und bewies, dass es verloren nicht nur das Vertrauen der Öffentlichkeit, son- möglich war, russischen Journalismus trotz einer Redaktion dern gleichermaßen ihre Jobs. Innerhalb von sieben Jahren außerhalb russischer Grenzen zu produzieren. Einige Jour- hatten die Autoren Positionen bei fünf Zeitungen inne: die nalistinnen und Journalisten, die ihren Job bei traditionellen politische Abteilung der Iswestija wurde aufgelöst, der Chef- Medien verloren hatten, starteten ihre eigenen Kanäle mit- redakteur der Versiya wurde entlassen, Moskowskije Nowosti hilfe der Messenger-App Telegram und produzierten – manch- wurde samt zweier nachfolgender erfolgloser Versuche des mal anonym – einen Strom an unzensierten Informationen, 2 The Compatriots, Soldatov and Borogan. Siehe auch: Kreml, Transkript von Putins Äußerungen, 25. November, 2002, http://kremlin.ru/events/president/transcripts/21788.
6 Digitale Überwachung Einblicken und Kommentaren. Diese Telegram-Kanäle wur- lässt. Der Weg zum inländischen Publikum ist lang, aber den sehr bekannt. Telegram ist eine sehr beliebte Plattform in erfolgreich – bis heute wurden alle ihre Bücher in Russland Russland und gibt den Userinnen und Usern die Möglichkeit, veröffentlicht und sind in russischen Buchläden zu finden. über einen eigenen Kanal Nachrichten und Kommentare an Abonnentinnen und Abonnenten zu senden. All dies bereitet dem Kreml Unbehagen und verschärfte die Paranoia, die bereits nach der Annexion der Krim und den Die Autoren dieser Publikation gingen dazu über, Sachbücher Sanktionen, die der Westen dem Regime in Moskau aufer- über sensible Themen zu schreiben: von Sicherheitsdiens- legte, in der russischen Bürokratie um sich griff. Journalis- ten über digitale Überwachung und durch die Regierung tinnen und Journalisten wurden erneut zur Zielscheibe und unterstütztes Hacking, hin zu der problematischen Bezie- verschiedenste Methoden wurden an ihnen getestet: von ein- hung zwischen dem Kreml und der russischen Emigranten- deutigen Repressionen bis hin zu Cyberangriffen und -über- Community. Die Bücher werden für einen amerikanischen wachung. Erfinderisch wie eh und je nahm der Kreml dabei Verlag geschrieben und, wenn sie fertig sind, von einem die Hilfe verschiedener Akteurinnen und Akteure – sowohl russischen Verleger abgeholt, der diese dann übersetzen staatlicher als auch privatwirtschaftlicher – in Anspruch. Bedrohungen: staatliche Akteure Der Staat hat in der russischen Gesellschaft schon immer trotz hatte dies keinen nachhaltigen Einfluss auf Nemzows eine bedeutende Rolle gespielt, doch ab den 2000er Jahren Position innerhalb der Opposition. erkannten Journalistinnen und Journalisten, dass sie nicht nur mit dem offiziell für die Medien zuständigen Presse- Wie sind diese kremltreuen Websites eigentlich zu den Auf- ministerium umgehen mussten, sondern auch mit anderen nahmen gekommen? Es kann nur eine Antwort geben: Nem- staatlichen Stellen, einschließlich der Sicherheitsbehörden zow berichtete uns damals, dass die russischen Sicherheits- des Landes. dienste sein Mobiltelefon angezapft hätten und einige der Aufnahmen leakten, um ihm zu schaden. Nemzow war Opfer In den 2000ern und 2010ern wurden die Telefonate von rus- von SORM geworden. sischen Aktivistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten sowie kremlkritischen Politikerinnen und Polit- kern gelegentlich abgehört und im Anschluss regierungsna- Staatliche Abhöraktion hen Medien zugespielt. In den meisten Fällen vermuteten die Opfer eher eine Beteiligung von Sicherheitsdiensten und nicht SORM ist ein Akronym für „Systema Operativno-Rozysknikh von Privatpersonen. So wurden etwa am 19. Dezember 2011 Meropriatiy“ oder auch: „System der operativen Ausspähmaß- am Abend der größten Protestkundgebung in Moskau gegen nahmen“, das landesweite Überwachungs- und Abhörsystem die Rückkehr Putins als Präsident in den Kreml Audiodatei- des russischen Sicherheitsdienstes, des FSB. en von neun abgehörten Telefonanrufen von Boris Nemzow auf der dem Kreml wohlgesonnenen Website Lifenews.ru Wie KGB-Veteranen (der In- und Auslandsgeheimdienst in veröffentlicht. Nemzow, der unter Jelzin stellvertretender der Sowjetunion, Vorgänger des FSB) uns gegenüber zuga- Premierminister war, wurde zum führenden Oppositionspoli- ben, wurde es ursprünglich in einer der KGB-Forschungsein- tiker des Landes in den 2000er Jahren. Vier Jahre später im richtungen von Ingenieurinnen und Ingenieuren entwickelt, Februar 2015 wurde er bei einem kaltblütigen Auftragsmord die dabei vom landesweiten Abhörsystem der DDR, dem von auf einer Brücke, nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt, ge- der Staatssicherheit (Stasi) eingerichteten ‚CEKO-2‘ (steht tötet. In seinen 2011 aufgezeichneten Gesprächen sprach er für Centrales Kontrollsystem), beeinflusst wurden.3 auf recht direkte Art und Weise, gespickt mit vielen abfälligen Anmerkungen, über andere Oppositionsführerinnen und -füh- Die erste SORM-Generation wurde als Hintertür zur Tele- rer. Nemzow erzählte den Autoren, dass diese Gespräche im kommunikation der Nation aufgebaut. In den 1980er und Vorfeld der Protestkundgebungen im Dezember stattgefun- 1990er Jahren bestanden die vom KGB entwickelten Abhör- den hätten. „Ihr Ziel war klar“, erinnerte er sich. „Sie wollten systeme zum einen aus einer speziellen SORM-Blackbox, im Vorfeld der Protestkundgebungen einen Keil zwischen uns die auf dem Gelände eines Telefonanbieters installiert und treiben, die Opposition jedoch fiel nicht darauf rein.“ Dieser versiegelt wurde, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vorfall war ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Behör- des Telefonanbieters keinen Zugang zu der Box hatten, und den und mutmaßlich private Einrichtungen, wie kremltreue zum anderen aus einem speziellen Gerät in den Büros der Medien, miteinander verwoben sein können. Nichtsdesto- örtlichen Zweigstelle des FSB. 3 The Red Web (2015), Soldatov and Borogan
7 Das dritte unverzichtbare Element war das zwischen dem Wedomosti, der zehn Jahre lang über Russlands militärisch- FSB und dem Telekommunikationsunternehmen unterir- industriellen Komplex und Waffenverkäufe berichtete, im Juli disch verlegte Kabel, das die Box und das Gerät miteinander 2020 verhaftete, offenbarte der FSB, dass Safronows Kom- verband. Jemand vom FSB Personal tippte im eigenen Büro munikation seit mindestens 2017 angezapft und abgehört Befehle in das Gerät ein und die Blackbox auf dem Gelände wurde.5 Dies ist eine Realität, die jede/r in Russland arbeiten- des Telefonanbieters begann, Telefongespräche abzuhören. de Journalistin und Journalist intensiv bedenken sollte. Diese Methode wurde zuerst für traditionelle Telefonleitun- gen entwickelt, später jedoch modernisiert, um E-Mails und Das Abhören von Telefonanrufen sowie das Abfangen von Internetverkehr abfangen zu können. Im Wesentlichen war es Textnachrichten bleiben die Hauptgefahren für Journalistin- das gleiche System – zudringlich und ohne Kontrolle. Auch nen und Journalisten. Aber angesichts der technologischen wenn der FSB juristisch gesehen eine Abhörgenehmigung Entwicklungen, die wir tagtäglich nutzen, sollten sich russi- beim Gericht einholen müsste, ist der Sicherheitsdienst je- sche Journalistinnen und Journalisten heutzutage bewusst doch nicht dazu verpflichtet, irgendjemandem – nicht ein- sein, dass das Telefon, das er oder sie mit sich trägt, eine mal den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Telefon- oder Quelle für noch mehr Daten sein könnte – eine potenzielle Internetanbieters, zu zeigen, welche Art von Traffic der FSB Gefahr also für die Journalistinnen und Journalisten und ihre abfängt. Zudem können Telekommunikations- und Internet- vertraulichen Quellen. anbieter vom FSB nicht verlangen, ihnen den richterlichen Beschluss vorzuzeigen, da sie nicht über eine Sicherheits- Metadaten von Telefonaufzeichnungen oder Informatio- freigabe verfügen. Das undurchsichtige und außer Kontrolle nen darüber, wer wen angerufen hat und wo das Telefon je- geratene SORM-System kann einfach gegen Aktivistinnen den Moment, in dem es aktiv war, eingeloggt war - all dies und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten und Op- könnte vertrauliche Quellen leicht kompromittieren. Vor positionspolitikerinnen und -politiker eingesetzt werden. zehn Jahren noch hat es ausgereicht, das Telefon auszu- Nemzow zog vor Gericht und forderte eine ordnungsgemä- schalten oder die Batterie zu entfernen. Heutzutage gibt ße Untersuchung des Eindringens in seine Privatsphäre, die es diese Option bei Smartphones nicht, sie können selbst Untersuchung begann jedoch nie wirklich und ging schluss- dann noch geortet werden, wenn sie ausgeschaltet sind. endlich ohne Ergebnis aus. Der einzige Weg, um die Anonymität der Quelle zu ga- rantieren wurde recht radikal: Zu den Treffen wurden kei- Was SORM besonders für Journalistinnen und Journalisten ne Smartphones mehr mitgebracht. Dies ist nicht immer so gefährlich macht, sind zwei wichtige Begleitumstände. machbar oder angenehm. Für Journalistinnen und Journa- listen heißt kein Telefon dabeizuhaben jedoch nicht, dass ihre Privatsphäre und die Anonymität ihrer Quellen in solch Befugnisse zum Ausspähen einer großen Stadt wie Moskau garantiert werden könnten. von Journalistinnen und Journalisten Erstens hat der FSB seit Jahren die Befugnis, Journalistin- Gesichtserkennungskameras nen und Journalisten auszuspionieren – über dieselbe FSB- Pressestelle, die sich um Anfragen nach Informationen und Seit einigen Jahren wird Moskau als Testgelände für neue Kommentaren der Journalistinnen und Journalisten küm- Technologien genutzt. Mit Begeisterung hat die Stadtverwal- mert. Sie sind bereits seit den späten 2000ern offiziell dazu tung unter anderem das stadtweite Kamerasystem zur Ge- berechtigt, sie zu überprüfen und zu überwachen. Der Befehl sichtserkennung auf den Straßen, in der U-Bahn (Metro) und Nr. 343, der vom FSB-Direktor Alexander Bortnikow im Juli in öffentlichen Verkehrsmitteln ausgebaut (105.000 bis Feb- 2009 unterschrieben wurde, erweiterte die Liste von FSB- ruar 20206), was bereits Anfang 2018 zum Politikum wurde. Abteilungen, die befugt waren „einen Antrag zu stellen, um Spionageabwehrmaßnahmen, die die verfassungsmäßigen Im August des Jahres wurde der politische Aktivist Michael Rechte der Bürgerinnen und Bürger einschränken, durchfüh- Aksel während der FIFA-Fußballweltmeisterschaft in der Me- ren zu können“.4 Ab dem Jahr 2009 umfasste die Liste die trostation Sportivnaya festgehalten. Die Polizei erhielt ein Si- FSB-Direktion für unterstützende Programme, die auch die gnal von einer Kamera zur Gesichtserkennung, die in der Sta- FSB-Pressestelle einbezog. Sie ist auch für die Durchführung tion installiert war. Aksel wurde als Person identifiziert, die auf von „Unterstützungseinsätzen“ verantwortlich (eine neue Aus- der schwarzen Liste gesuchter Verbrecher stand. Er wurde drucksweise für den KGB-Begriff „aktive Maßnahmen“, sprich von der Abteilung zur Bekämpfung von Extremismus des In- Desinformation). nenministeriums (bekannt als „Center E“) auf diese schwarze Liste gesetzt – und zwar, obwohl er keinerlei Verbrechen be- Zweitens wurde 2020 öffentlich, dass der FSB auch nicht da- gangen hatte und noch nicht einmal von der Polizei gesucht vor zurückschreckte, diese Überwachungsbefugnisse gegen wurde.7 Schlussendlich hat man den Aktivisten gehen lassen, Journalistinnen und Journalisten einzusetzen. Als der FSB nachdem ein Polizeibeamter ihm sagte, dass man ihn heu- Iwan Safronow, ehemaliger Journalist bei Kommersant und te nicht bräuchte. Frappierend ist, wie einfach ein politischer 4 The New Nobility (2011), A. Soldatov, Preface by Nick Fielding. 5 https://www.kommersant.ru/doc/4407193#id1919489 6 https://zona.media/news/2020/02/11/watchdog 7 https://www.dw.com/ru/что-не-так-с-системой-распознавания-лиц-в-москве/a-50977069
8 Digitale Überwachung Aktivist zu einer Liste gesuchter Krimineller hinzugefügt wer- Informationen online sammeln den konnte, nur damit die Polizei sein Bewegungsprofil bes- ser nachvollziehen kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der In der modernen Welt müssen normale Bürgerinnen und gleiche Trick auch gegen Journalistinnen und Journalisten, Bürger, einschließlich Journalistinnen und Journalisten, viele die an sensiblen Stories arbeiten sowie gegen deren Quellen persönliche Informationen im Austausch für Online-Dienst- eingesetzt werden könnte. leistungen preisgeben – und die Regierung gehört zu den größten Sammlern dieser Art von Daten. Vor einigen Jahren Im Jahr 2015 traf einer der Autoren dieser Publikation einen startete die russische Regierung ein ehrgeiziges Programm, britischen Diplomaten in einem Moskauer Coffeeshop. Nach das auf nationaler (gosuslugi.ru) und lokaler Ebene (mos.ru, dem Treffen ging der Autor zur Metrostation Smolenskaya, wo z.B. für Moskau) immer mehr staatliche Leistungen online an- er von einem Polizeibeamten angehalten und unter einem ab- bietet. Dazu gehören die Beantragung eines neuen Passes, surden Vorwand nach seinem Pass gefragt wurde – er sei zu- die Zahlung von Gebühren sowie die Anmeldung für einen fällig ausgewählt worden, um einen Vortrag über Maßnahmen Arzttermin. Diese Informationen können auch gegen Journa- zur Terrorismusbekämpfung zu hören. Der Autor zeigte den listinnen und Journalisten genutzt werden, da viele persön- geforderten Pass vor und der Polizeibeamte notierte die Infor- liche Informationen, einschließlich der Passdetails und der mationen auf einem Zettel. Nach einer Minute war der Polizist tatsächlichen Wohnanschrift angegeben werden müssen, um verschwunden, der Autor folgte ihm jedoch und sah, dass er die Onlinedienste der Regierung nutzen zu können. den Zettel einem großen Mann in Zivilkleidung übergab. Es scheint, als sei der Autor nach seinem Treffen mit dem Diplo- Zu Sowjetzeiten unterhielt der KGB ein weitgespanntes Netz- maten verfolgt worden und dass der FSB herausfinden wollte, werk regionaler Dienststellen und Abteilungen, die vor Ort wer die Person im Coffeeshop war. So folgte man dem Au- agierten, Kontakte in Schulen, Krankenhäusern und Haus- tor in die Metro und forderte einen Polizeibeamten auf, einen verwaltungen hatten, um Informationen über Verwandte von Vorwand zu finden, um an Details seines Passes zu kommen. Dissidentinnen und Dissidenten, über die Schule der Kinder Seit 2018 kann eine Identifikation per Gesichtserkennung er- und darüber zu sammeln, welche gesundheitlichen Proble- folgen und niemand würde es mitbekommen können. me die Familie der Dissidentin oder des Dissidenten hatte (zu diesem Zweck unterhielt der KGB eine Einheit in jedem Moskauer Stadtteil). Es kostete den KGB viel Zeit und Mühe, genügend Druckmittel zu finden, um mit Unruhestifterinnen und Unruhstiftern umzugehen. Heutzutage können diese Informationen ganz einfach und völlig unbemerkt online ge- sammelt werden. Bedrohungen: wirtschaftliche Akteure Die Rolle sozialer Medienplattformen lichen. Dieser neue Weg, Informationen zu verbreiten und zu teilen hat sich als recht effektiv erwiesen und diese Kanäle Gewiss sind Social Media eine tolle neue Möglichkeit, neue haben meist mehr Abonnentinnen und Abonnenten als die Kontakte zu knüpfen und die Leserschaft von Journalistin- Massenmedien. nen und Journalisten zu vergrößern. In autoritären Staaten, in denen die meisten Medien von der Regierung kontrolliert Gleichzeitig können Social Media – als einfacher Weg, um werden und unabhängige Medien unter extrem großem direkt zum Publikum zu sprechen – auch gegen Journa- Druck arbeiten, stellen die sozialen Medien für die durch- listinnen und Journalisten eingesetzt werden. Seit Jahren schnittlichen Userinnen und User sowie Journalistinnen versuchen russische Behörden, die Linie zwischen sozialen und Journalisten eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung und Massenmedien zu verwischen. Sie versuchten auch, die ohne übermäßige Einschränkungen dar. Viele russische Medienplattformen, für die Journalistinnen und Journalisten Journalistinnen und Journalisten, Kolumnistinnen und Ko- arbeiteten, dafür zur Verantwortung zu ziehen, was er oder lumnisten sowie Hosts nutzen das russische Netzwerk sie in den sozialen Medien gepostet hat und zwangen die VKontakte, aber auch Facebook, Twitter und Telegram, um Social-Media-Unternehmen, mit der Regierung zusammen- den Menschen mitzuteilen, was sie wirklich über die aktu- zuarbeiten. ellen Geschehnisse denken. Hunderte Journalistinnen und Journalisten haben Kanäle auf Telegram eingerichtet und Im November 2014 postete der beliebte Moderator des libe- nutzen diese als persönliches Massenmedium, um unzen- ralen Radiosenders Echo Moskwy, Alexander Pljuschtschew, siert Nachrichten, Meinungen und Kommentare zu veröffent- einen emotionalen Tweet über den Unfall des Sohnes des
9 prominenten russischen Funktionärs Sergey Iwanow – Alex- strafen aufzuerlegen. Als die Covid-19-Pandemie im April ander Iwanow, der im Meer ertrank. Sergey Iwanow war seit 2020 Russland erreichte, begannen die Behörden, diese Ge- ihren gemeinsamen Tagen beim Geheimdienst ein enger setzgebung aktiv gegen Journalistinnen und Journalisten Freund Putins und zu dieser Zeit im Jahr 2014 Chef der Prä- einzusetzen. Der Kreml hatte Angst, dass Nachrichten über sidialverwaltung. Neun Jahre zuvor überfuhr Iwanows Sohn die tatsächliche Situation in Russland und seinen Regionen Alexander eine ältere Dame mit dem Auto. Die Frau starb, über Social Media verbreitet und das Monopol des Staates Alexander Iwanow jedoch kam ungestraft davon, was vie- auf sensible Informationen untergraben werden könnten. le Russinnen und Russen wütend machte. In seinem Tweet fragte Pljuschtschew, ob der Tod von Iwanows Sohn, „der Zwei Journalisten in russischen Regionen wurden fast un- einst eine alte Frau mit seinem Auto überfuhr und später mittelbar Opfer dieser Gesetzgebung. Im April 2020 führte ihren Schwiegersohn verklagte, ein Beweis für die Existenz ein Team von FSB-Agenten und des lokalen Untersuchungs- Gottes oder einer höheren Gerechtigkeit sei“.8 Am nächsten komitees (eine Arte russisches FBI) eine Razzia in der Tag teilte ihm Ekaterina Pawlowa, CEO von Echo Moskwy, Wohnung des Journalisten Alexander Pichugin in Nischni mit, er sei entlassen. Die Redaktion jedoch hielt sich nicht Nowgorod durch. Sein Laptop sowie sein Handy wurden be- an diese Vorgabe. Kurz danach schlug der ehemalige Pres- schlagnahmt und Pichugin vor den Augen seiner schwange- seminister, Michail Lessin – zu dieser Zeit Chef des sehr ren Frau und seines Kindes von Agenten abgeführt. Er wurde kremlnahen Unternehmens Gazprom-Media und Haupt- nachts verhört. Der Grund für dieses brutale Vorgehen war aktionär des Radiosenders – vor, auch den Chefredakteur Pichugins Posting auf seinem Telegram-Kanal. Ihm wurde von Echo-Moskwy, Alexander Wenediktow, zu feuern, wenn die Verbreitung von „unzuverlässigen Informationen“ oder er mit Pljuschtschews Entlassung nicht einverstanden wäre. „Fake News“ über die Coronavirus-Pandemie in der Region Wenediktow sagte, er sei nicht mit dem Tweet einverstan- vorgeworfen, was als mutmaßliche Bedrohung der öffent- den, bestand jedoch darauf, dass soziale Netzwerke einen lichen Sicherheit galt. persönlichen Raum darstellten und nicht von den News- rooms oder Redaktionen kontrolliert werden könnten. Die Pichugin postete vier Tage zuvor einen sehr kurzen Text auf Behörden sahen dies offensichtlich anders. Pljuschtschew Telegram, in dem er satirisch über einen überfüllten Gottes- löschte seinen Tweet und entschuldigte sich bei all denjeni- dienst in einem orthodoxen Kloster vor Ort als vorsätzliche gen, die diesen als beleidigend empfanden, doch der Konflikt Tat zur Ansteckung der Bevölkerung mit Covid-19 schrieb. schwelte noch weiter. Journalistinnen und Journalisten be- Sein Kanal hatte lediglich 73 Abonnentinnen und Abonnen- fürchteten, dass die Eigentümerinnen und Eigentümer sowie ten. Am darauffolgenden Tag erreichte ihn ein Anruf des lo- die hinter ihnen stehenden Behörden Pljuschtschews Tweet kalen FSB-Büros. Der Beamte verlangte die Entfernung des dazu nutzen könnten, die Redaktionen zu säubern. Echo hatte Posts. Pichugin kam dem nach, jedoch machte es letztlich damals Glück: Der Konflikt wurde beigelegt und niemand keinen Unterschied, wie der Besuch der Vollzugsbeamten verlor seinen Job. Nichtsdestotrotz zogen die russischen drei Tage später bewies. Wenn der Journalist für schuldig Journalistinnen und Journalisten ihre Lehren daraus. befunden würde, müsste er mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren rechnen.10 Dies war der erste Fall, in dem das „Fake News“-Gesetz gegen einen Journalisten ange- „Fake News“-Gesetze und ihre Anwendung wandt und der Fall vor Gericht gebracht wurde. Alexander auf die Sozialen Medien Pichugin bekannte sich nicht schuldig und gab an, der Post sei lediglich satirisch gemeint und mit allen Merkmalen die- Als die Behörden begannen, die Verbreitung sogenannter ses Genres versehen gewesen und könnte somit nicht als „Fake News“ strafrechtlich zu verfolgen und Social Media Nachricht betrachtet werden. wie traditionelle Medien zu behandeln, wurden soziale Me- dien für Journalistinnen und Journalisten jäh zu einer noch Zwei Monate später, im Juni desselben Jahres, wurde einer größeren Herausforderung. Russland verabschiedete im weiteren Journalistin in Nischni Nowgorod, Irina Slavina11, März 2019 Gesetze, die es ermöglichten, Nutzerinnen und Chefin und Herausgeberin des lokalen Online-Mediums Ko- Nutzer von Social Media sowie Journalistinnen und Journa- za-Press, von der örtlichen Polizei vorgeworfen, „Fake News“ listen wegen der Verbreitung von „Fake News“ zu verfolgen. zu verbreiten. Die Polizei leitete auf Grund ihrer Story über Gemäß den Rechtsvorschriften können Individuen, die „un- den ersten Fall des Coronavirus in der Stadt Kstowo, die zuverlässige Informationen“ verbreiten, die die Sicherheit in der Region Nischni Nowgorod liegt, eine Untersuchung der Bürgerinnen und Bürger bedrohen, mit einer Geldstrafe ein.12 In Slavinas Fall wurde weniger das Strafgesetz ange- von bis zu 700.000 Rubel (rd. 7.846 €) belegt oder zu Haft- wandt, sondern das Ordnungswidrigkeitsgesetz, sie bekam strafen von bis zu drei Jahren verurteilt werden.9 Ein weiteres eine Geldstrafe von 65.000 Rubel (rd. 740 Euro) auferlegt. Gesetz über den Missbrauch der Freiheit der Massenmedien Pichugin hingegen wurde nach dem Strafgesetzbuch ange- erlaubt es, Individuen (z.B. Journalistinnen und Journalisten) klagt, sodass ihm nicht nur eine Geld-, sondern auch eine und Medien für die Veröffentlichung von „Fake News“ Geld- Gefängnisstrafe drohen könnte. Sowohl Pichugin als auch 8 https://globalvoices.org/2014/11/07/ekho-moskvy-plushev-gazprom-censorship-russia/ 9 http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/9d8a5b6501a01da934c1bbd0ca9b1fd46df76a72/#:~:text=%D0%BE%D1%82%2008.06.2020 10 https://www.kommersant.ru/doc/4377203 11 Irina Slavina starb am 2. Oktober 2020, nachdem sie sich vor einem Büro des Innenministeriums in der Stadt Nischni Nowgorod selbst angezündet hatte: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/irina-slawina-russland-oppositionelle-selbstanzuendung 12 IBID
10 Digitale Überwachung Slavina sind bzw. waren regional bekannte Journalisten licht hätte.14 Anin, ein bekannter russischer Journalist, der seit und beide sind dem politischen System gegenüber kritisch Jahren über die Korruption von leitenden Beamtinnen und gewesen. Somit war es keine Überraschung, dass man sie Beamten, einschließlich der Sicherheitsdienste, recherchierte, als erste Ziele der neuen Gesetzgebung wählte. Sie werden sagte, dass er sogar verfolgt worden wäre.15 Sergey Kanev, leider auch nicht die letzten sein: Laut der internationalen ein Kollege von Roman Anin bei der Novaya Gazeta, befand Menschenrechtsgruppe Agora wurden während der drei sich Ende August 2015 in einer sehr ähnlichen Lage. Als sich „Epidemie“-Monate 157 Fälle mit ähnlichen Vorwürfen wie in sein Handy plötzlich ausschaltete, bat er seinen Mobilfunk- Slavinas Fall registriert.13 anbieter Vimpelcom darum, zu erklären, was passiert sei. Die Antwort war überraschend: Das Unternehmen sagte ihm, dass er, Kanev, seine SIM-Karte vor einigen Tagen ausge- Herausforderungen durch Mobiltelefone tauscht hätte. Kanev begriff, dass entweder eine unbekannte Person sich als er selbst ausgab und eine neue SIM-Karte Auch Mobiltelefonen ist nicht zu trauen. In Ländern wie Russ- vom Mobilfunkanbieter erhalten hatte oder dass jemand den land kooperieren Mobilfunkanbieter auf sehr undurchschau- Anbieter dazu gezwungen hatte, dieser Person eine SIM- bare Art und Weise mit den Behörden und Sicherheitsdiens- Karte für seine Nummer herauszugeben.16 ten. Das bedeutet also, dass der herkömmliche Weg zum Schutz des eigenen Accounts in sozialen Netzwerken und Manchmal können auch bequeme und beliebte kommerzielle E-Mail-Programmen mittels Textnachricht nicht wirksam ist. Dienstleister wie Fahrdienstunternehmen eine Bedrohung der Es gibt diverse Beispiele von gehackten Accounts von Jour- Sicherheit und Privatsphäre von Journalistinnen und Journa- nalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivis- listen darstellen. Im März 2020 gab Russlands größtes Taxi- ten, da Mobilfunkanbieter zweite SIM-Karten herausgaben, unternehmen, Yandex.Taxi, Teil des Internetgiganten Yandex, die dazu genutzt wurden, einen Text mit einem Passwort zu zu, dass das Unternehmen Informationen über die Fahrten- jemandes E-Mail- oder Messenger-Account zu erhalten. übersicht der Kundinnen und Kunden mit der Polizei geteilt habe. Die Öffentlichkeit erfuhr dies von einem Polizeibeam- Mitte August 2015 wurde der E-Mail-Account des für die ten, der den Enthüllungsjournalisten Iwan Golunow wegen fal- Novaya Gazeta arbeitenden Investigativ-Journalisten Roman scher Vorwürfe des Drogenmissbrauchs im Juni 2019 verhaf- Anin durch die Duplikation seiner SIM-Karte gehackt. Dies tet hatte. Ein großer öffentlicher Aufschrei führte zu Golunows konnte nur durch willfährige Mobilfunkanbieter geschehen, Freilassung und zu einem Prozess gegen die Polizistinnen die seine SIM-Karte herausgaben. Während Roman Anin im und Polizisten, die dem investigativen Journalisten absicht- Ausland weilte, rief eine unbekannte Person den Mobilfunk- lich Drogen untergeschoben hatten. Während des Prozesses anbieter an und bat um Hilfe bei der Wiederherstellung seiner sagte ein Polizeibeamter aus, dass er Golunows Adresse aus angeblich verlorengegangenen SIM-Karte. Diese Person gab dessen Fahrtenübersicht erhalten hatte, die ihm von Yandex. die korrekten Passdaten an. Sie bekam, wonach sie fragte, Taxi zur Verfügung gestellt wurde. Das Unternehmen be- hackte sich dann mithilfe einer SMS in Anins Gmail-Konto. stätigte, dass es Fahrtenübersichten mit Strafverfolgungs- Der Mobilfunkanbieter MTS leugnete kategorisch, dass er in behörden teilte und behauptete, dass die Firma rechtlich irgendeiner Weise das Eindringen in seine Accounts ermög- verpflichtet wäre, Anfragen der Polizei nachzukommen.17 Bedrohungen: Stellvertreter In der Nacht vom 11. Oktober 2016 wurde das russische Inter- ten hatte, als er seinen Gmail-Account dazu nutzte, die Staats- net von einer großen Hacker-Operation heimgesucht: Einige bank um einen Kommentar zu bitten. Im Oktober erhielt er hundert E-Mail-Accounts, größtenteils Gmail, wurden ange- diese Warnung nun ein zweites Mal.18 griffen. Die Accounts gehörten politischen Aktivistinnen und Aktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten, einschließ- Eines der Opfer, der Aktivist Oleg Kozlovsky (sein Telegram- lich einiger Mitglieder der Antikorruptions-NGO Transparency Account wurde im April 2016 gehackt) reichte eine Beschwer- International. Auch Roman Shleynows Gmail-Account war de bei der für den Moskauer Bezirk Ismailowo zuständigen wieder unter jenen, auf die die mysteriösen Hacker abzielten. Abteilung des Untersuchungskomitees ein und forderte eine Die Betroffenen erhielten eine Warnmeldung von Google, dass Untersuchung des Hackerangriffs sowie die Eröffnung eines von der Regierung unterstützte Angreiferinnen und Angreifer Strafverfahrens auf Grundlage der Artikel zur Verletzung der versuchen könnten, ihr Passwort zu stehlen – ganz ähnlich Privatsphäre und des Briefgeheimnisses. Die einzige Ant- der Meldung, die Shleynow im April des gleichen Jahres erhal- wort, die er erhielt, war, dass seine „Nachricht keinerlei Anzei- 13 https://agora.legal/fs/a_delo2doc/196_file__ENG_final.pdf 14 https://snob.ru/selected/entry/97274/ 15 https://snob.ru/selected/entry/97274/ 16 https://tjournal.ru/tech/56066-novaya-gazeta-sim-violations 17 https://www.themoscowtimes.com/2020/03/04/russias-yandextaxi-admits-to-sharing-riders-location-with-police-a69495 18 https://meduza.io/news/2016/10/11/google-predupredil-rossiyskih-aktivistov-i-zhurnalistov-o-popytkah-spetssluzhb-vzlomat-ih-pochtu
11 chen für ein Verbrechen“ beinhaltete. Kozlovsky wandte sich über die Untersuchung der russischen Einmischung bei den 2020 an den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte in Präsidentschaftswahlen 2016“ von März 2019 besagte, dass Straßburg und beschwerte sich über das Ausbleiben einer zwei Einheiten des russischen Militärgeheimdienstes hin- ordnungsgemäßen Untersuchung. Er machte geltend, dass ter dem Angriff auf das DNC stünden.23 Nichtsdestotrotz die Russische Föderation gegen Artikel 8 der Europäischen machten all diese Aussagen keinen Eindruck auf die russi- (Menschenrechts-) Konvention, der ihm sein Recht auf Privat- sche Regierung. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, betonte, sphäre garantiert, verstoßen hätte.19 Kozlovsky vermutete, dass weder die russische Regierung noch staatliche russi- dass die Regierung irgendwie in den Hackerangriff verwi- sche Stellen involviert seien. Seine Kommentare schienen ckelt war. Als die Hacker Passwörter für seinen Telegram- darauf hinzudeuten, dass der Kreml seine Taktik, die seit Account ausprobierten, generierten die Login-Versuche SMS so langer Zeit gegen russische Dissidentinnen und Dissi- mit Autorisierungscodes, die Kozlovsky jedoch nicht erhalten denten sowie Journalistinnen und Journalisten funktioniert hatte. Er entdeckte, dass die Zustellung von Textnachrich- hatte, wiederverwendete: Nämlich, dass diese von irgend- ten für seine SIM-Karte während der Nacht, in der sein Tele- welchen kriminellen Hackerinnen und Hackern angegriffen gram-Account gehackt wurde, deaktiviert war. Obwohl ein wurden, die rein gar nichts mit den Behörden zu tun hätten. Sprecher des Mobilfunkanbieters MTS später jegliche „vor- sätzliche“ Aktivität, deren Ziel es war, die Dienste zu deakti- Diese Verteidigungslinie wurde durch Wladimir Putin selbst vieren, abstritt, glaubte Kozlovsky jedoch an den Einfluss der bekräftigt, als ein Reporter von Bloomberg ihn zum Hacker- Behörden hinter dem Vorfall – entweder durch SORM oder angriff auf das DNC befragte. Putin lachte und sagte: „Wis- durch einen Anruf bei dem Mobilfunkanbieter.20 Bis Dezember sen Sie, es gibt so viele Hacker heutzutage und sie führen 2017 blieb die Identität der Angreiferinnen und Angreifer ein ihre Arbeit so filigran und feinfühlig aus, dass sie ihre ‚Spuren‘ Rätsel, als die Cybersicherheits-Firma Secureworks eine überall und jederzeit legen können. Vielleicht handelt es sich Hack-Liste einer Gruppe mit Namen Fancy Bear erhielt und nicht einmal um eine Spur. Sie können ihre Aktivitäten so ver- diese mit Journalistinnen und Journalisten von der Nach- decken, dass es aussieht, als wenn Hackerinnen und Hacker richtenagentur Associated Press teilte.21 Roman Shleynow von anderen Gebieten, aus anderen Ländern operieren. Es stand auf dieser Liste und befand sich in guter Gesellschaft: ist äußerst schwierig, dieses Vorgehen zu überprüfen, mög- Auf der Liste standen 200 Journalistinnen und Journalisten, licherweise ist es sogar unmöglich.“24 Verlegerinnen und Verleger sowie Bloggerinnen und Blog- ger, einschließlich 50 Personen von The New York Times. Diese Strategie wurde so lange gefahren, dass Journalistin- Weitere 50 waren entweder in Moskau ansässige Auslands- nen und Journalisten es aufgaben, eine ordnungsgemäße korrespondentinnen und Auslandskorrespondenten oder Untersuchung der Hackerangriffe auf ihre E-Mail-Accounts russische Reporterinnen und Reporter, die für unabhängige zu fordern und dies als ein sehr wahrscheinliches Risiko ak- Nachrichtenagenturen arbeiteten. Andere waren prominen- zeptierten. Das Regime garantierter Straffreiheit für Hacke- te Medienvertreterinnen und -vertreter in der Ukraine, der rinnen und Hacker, die kremlkritische politische Aktivistin- Republik Moldau, den baltischen Staaten oder Washington. nen und Aktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten Fancy Bear hatte sie seit mindestens 2014 im Visier, indem angriffen, wurde zur Realität. Anstatt auf die Strafverfol- sie Phishing-Mails nutzten. gungsbehörden zu zählen, verlassen sich russische Journa- listinnen und Journalisten auf technische Mittel, die ihnen Es handelte sich um die gleiche Gruppe, von der man an- helfen, ihre Privatsphäre zu wahren: Verschlüsselung, VPN nahm, sie sei eine der beiden Hackergruppen, die sich 2016 (virtuelle private Netzwerke) etc. Dies wiederum kann auch in das Democratic National Committee (DNC) einhackten. zur Gefahr werden, wie der Fall von Ivan Safronow zeigte. Viele Cyber-Expertinnen und -Experten behaupteten, dass Der FSB legte die Tatsache, dass Safronow die Verschlüsse- Fancy Bear in Wirklichkeit eine Einheit des russischen militä- lungssoftware VeraCrypt nutzte, als Beweis dafür aus, dass rischen Nachrichtendienstes sei.22 „Robert Muellers „Bericht er ein Spion war, der seine Spuren verwischen wollte.25 COVID-19 in Moskau: Fallstudie Das Coronavirus traf Russland im April 2020 und nach kerten Gebiet des Landes – zum Testgelände für politische, einem langsamen und zögerlichen Start ergriff der Kreml technische und Social Engineering-Lösungen gegen das drastische Maßnahmen, um es zu bekämpfen. Die Regie- Virus. Dies war ein kalkulierter Schachzug: Während Putin rung machte die Region Moskau – das am dichtesten bevöl- sich nach einem kurzen Besuch in einem Moskauer Kranken- 19 https://www.vedomosti.ru/society/articles/2020/01/12/820412-rossiiskii-oppozitsioner 20 https://advox.globalvoices.org/2016/05/02/is-telegram-really-safe-for-activists-under-threat-these-two-russians-arent-so-sure/ 21 https://www.csmonitor.com/World/2017/1222/Russian-hacking-groups-including-Fancy-Bear-targeted-journalists-around-the-world 22 https://www.crowdstrike.com/blog/who-is-fancy-bear/ 23 https://www.justice.gov/storage/report.pdf 24 The Red Web (2015), Soldatov and Borogan 25 https://www.rt.com/russia/494611-journalist-charged-high-treason/
12 Digitale Überwachung haus in Selbstisolation begab, wurden alle Befugnisse an die Leute, die nachts oder während sie im Badezimmer waren, regionale Ebene in Moskau delegiert. Nachdem Putin Sergei aufgefordert wurden, ein Selfie zu machen und versäumten, Sobjanin, dem Bürgermeister der Stadt Moskau, freie Hand eines zu verschicken, wurden wegen Regelverstößen mit ließ, verfügte dieser einen beinahe vollständigen Lockdown einer Geldstrafe belegt. Einige wurden irrtümlich zu einer der Hauptstadt. Die Moskauer Stadtverwaltung musste je- Geldstrafe verurteilt, obwohl sie die Vorschriften genau be- doch einen Weg finden, um diesen durchzusetzen. Die von der folgten und ihre Selfies pünktlich versandten. So stellte eine Moskauer Stadtregierung eingeführten Maßnahmen gaben Moskauerin beispielsweise fest, dass sie als sie sich besser den Behörden in beispielloser Weise die Möglichkeit, Informa- fühlte, während ihres Aufenthaltes zu Hause eine Geldstrafe tionen über Journalistinnen und Journalisten zu sammeln. in Höhe von 550 € wegen eines angeblichen Quarantänever- stoßes erhalten hatte.26 Zuerst dachten sie sich das Konzept eines digitalen Passes aus. Ohne diesen Pass war es nicht mehr möglich, sich inner- Die zweite App, „Quarantäne“, wurde für den Gebrauch durch halb der Stadt zu bewegen: Weder zu Fuß, da man den Pass die Polizei, nicht für Bürgerinnen und Bürger, entwickelt. Die am Eingang jeder Metro-Station vorzeigen oder gewappnet Angehörigen der Verkehrspolizei mussten die App auf ihren sein musste, diesen vorzuzeigen, wenn eine Polizeipatrouil- Tablets installieren. Die App verband sich mit den nächstge- le einen anhielt, noch mit dem Auto, da die an allen großen legenen Verkehrs- und Überwachungskameras (die verwert- Straßen installierten Verkehrskameras anfingen, die Autos bare Entfernung beträgt 500 bis 600 Meter), machte Autos herauszufiltern, deren Nummernschilder nicht mit dem digi- ohne digitalen Pass aus und warnte die Polizei vor heran- talen Pass in Verbindung gebracht werden konnten. nahenden Wagen – somit war es möglich, die Autos schnell und effizient anzuhalten. Die Regierung stellte für unterschiedliche Kategorien von Personen digitale Pässe aus, zumeist taten sie dies für einen Auch nach der vollständigen Aufhebung der Einschränkungen Tag, aber es gab eine Kategorie, der es erlaubt war, einen werden diese beiden Apps weiterhin in Benutzung bleiben. Pass für die gesamte Dauer der Einschränkungen zu nutzen. Die Regierung kündigte Pläne an, die App zur sozialen Über- Diese Kategorie war für Personen mit „Dienstausweisen“ wachung zur Verfolgung der Bewegungsprofile von Wander- vorgesehen, d.h. für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von arbeiterinnen und Wanderarbeitern zu nutzen. Die Installation Sicherheitsdiensten, der Armee, Anwältinnen und Anwälte der App würde für alle Migrantinnen und Migranten verpflich- sowie Journalistinnen und Journalisten. Um diesen Pass zu tend sein, die nach Russland kommen, um zu arbeiten.27 Des bekommen, mussten Journalistinnen und Journalisten ihren Weiteren gibt es Pläne, die App „Soziale Überwachung“ für die Account auf der Website der staatlichen Online-Dienste Einführung eines Sozialkreditsystems für Migrantinnen und nutzen – dieser Account beinhaltete bereits persönliche Migranten zu nutzen – ähnlich dem System, das chinesische Informationen, wie z.B. Details zum Pass sowie die Wohnad- Behörden seit Jahren nutzen, um die Gesellschaft zu über- resse. Wenn sich die Journalistinnen und Journalisten erst wachen. Die App „Quarantäne“ wird weiterhin von der Polizei einmal eingeloggt hatten, mussten sie die Nummer ihres genutzt werden, um die Autos zu identifizieren und anzuhal- Presseausweises angeben. So kam die Regierung ganz ten, für die kein Nachweis einer verpflichtenden Versicherung problemlos in den Besitz einer Datenbank aller Journalist- erbracht wird, deren Fahrerinnen und Fahrer ihre Geldbußen innen und Journalisten in der Stadt. Wenn diese ihr Auto nicht bezahlt haben usw.28 Da beide Apps über COVID hinaus nutzen wollten, mussten sie dem digitalen Pass die Daten Bestand haben sollen, sollten sich Journalistinnen und Jour- ihrer Nummernschilder hinzufügen. Auf diese Art und Weise nalisten der potenziellen Risiken einer breitgefächerten Nut- kannte die Regierung alle von Journalistinnen und Journalis- zung der Apps gewahr werden. ten gefahrenen Autos in der Region Moskau. Die Moskauer Stadtregierung nahm auch die Hilfe von Wirt- Zweitens führte die Moskauer Stadtregierung prompt zwei schaftsunternehmen in Anspruch, um die Bewegungen der mobile Apps ein, um die Bewegungsprofile der Moskauer- Moskauerinnen und Moskauer zu verfolgen. Die Behörden innen und Moskauer zu verfolgen. Die Stadtverwaltung lan- verlangten von allen Taxi-Unternehmen in Moskau, dass sie cierte mehrere Tracing Apps. Die App „Soziale Überwachung“, ihre Daten mit dem „Einheitlichen Regionalen Navigations- um die Infizierten im Haus zu halten und die App „Quarantä- und Informationssystem der Stadt Moskau“ (ERNIS) teilen, ne“, um die Bewegungen der Autos nachzuverfolgen. Jede einschließlich der Geolokalisierung aller Taxis: personenbe- Person, die sich mit dem Virus infiziert hatte, musste die App zogene Daten aller beschäftigten Fahrerinnen und Fahrer so- „Soziale Überwachung“, aufs Smartphone downloaden. Diese wie die von ihnen gefahrenen Autos. Das einzige Unterneh- App verfolgte die Geolokalisierung des Handys, um seine/n men, das dagegen protestierte, war „Wheely business-class Besitzer/in davon abzuhalten, ihre bzw. seine Wohnung zu service“.29 Der Gründer und CEO von Wheely, Anton Chirkunov, verlassen und verlangte von den Nutzerinnen und Nutzern, veröffentlichte einen offenen Brief auf der Homepage des alle fünf bis sechs Stunden zu zufälligen Uhrzeiten ein Selfie Unternehmens: „Diese Daten ermöglichen eine konstante zu machen, um zu beweisen, dass sie zu Hause waren. Überwachung aller Fahrerinnen und Fahrer sowie indirekt 26 Maria Katashova wurde zu einer Strafzahlung von 40.000 Rubeln verurteilt, obwohl sie ihre Wohnung nicht verlassen hatte. https://russian.rt.com/russia/article/748049-shtraf-narushenie-karantin 27 https://www.znak.com/2020-05-29/v_rossii_mogut_sozdat_specialnoe_prilozhenie_dlya_trudovyh_migrantov 28 https://www.drive.ru/russia/5ebbcc85ec05c4851700001c.html 29 https://zona.media/article/2020/05/12/wheely
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