DIGITALE ÜBERWACHUNG und die Auswirkungen auf den Journalismus in Russland - Andrei Soldatow, Irina Borogan - Friedrich-Naumann-Stiftung für ...

Die Seite wird erstellt Hortensia-Solange Scholl
 
WEITER LESEN
DIGITALE ÜBERWACHUNG und die Auswirkungen auf den Journalismus in Russland - Andrei Soldatow, Irina Borogan - Friedrich-Naumann-Stiftung für ...
DIGITALE
ÜBERWACHUNG
und die Auswirkungen
auf den Journalismus in Russland
Andrei Soldatow, Irina Borogan

                                 ANALYSE
DIGITALE ÜBERWACHUNG und die Auswirkungen auf den Journalismus in Russland - Andrei Soldatow, Irina Borogan - Friedrich-Naumann-Stiftung für ...
Impressum
Herausgeber
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Truman-Haus
Karl-Marx-Straße 2
14482 Potsdam-Babelsberg

 /freiheit.org
 /FriedrichNaumannStiftungFreiheit
 /FNFreiheit

Autoren
Andrei Soldatow, Irina Borogan

Redaktion
Daniela Oberstein
Referat Globale Themen / Fachbereich Internationales
der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Kontakt
Telefon +49 30 220126-34
Telefax +49 30 690881-02
E-Mail service@freiheit.org

Stand
Oktober 2020

Hinweis zur Nutzung dieser Publikation
Diese Publikation ist ein Informationsangebot der Friedrich-
Naumann-Stiftung für die Freiheit. Die Publikation ist kostenlos
erhältlich und nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf nicht von
Parteien oder von Wahlhelfern während eines Wahlkampfes
zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden (Bundes-
tags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie Wahlen zum
Europäischen Parlament).

Lizenz
Creative Commons (CC BY-NC-ND 4.0)
Inhalt
URSPRÜNGE                                                          4

  Journalismus im Wandel                                           5

BEDROHUNGEN: STAATLICHE AKTEURE                                    6

  Staatliche Abhöraktion                                           6

  Befugnisse zum Ausspähen von Journalistinnen und Journalisten    7

  Gesichtserkennungskameras                                        7

  Informationen online sammeln                                     8

BEDROHUNGEN: WIRTSCHAFTLICHE AKTEURE                               8

  Die Rolle sozialer Medienplattformen                             8

  „Fake News“-Gesetze und ihre Anwendung auf die Sozialen Medien   9

  Herausforderungen durch Mobiltelefone                            10

BEDROHUNGEN: BEVOLLMÄCHTIGTE                                       10

COVID-19 IN MOSKAU: FALLSTUDIE                                     11

FAZIT		                                                            13

LITERATURVERZEICHNIS                                               15

ÜBER DIE AUTOREN                                                   16
4      Digitale Überwachung

Roman Shleynow, Russlands Top-Enthüllungsjournalist beim                                                 Kurz danach wurde der Account mittels einer ausgefeilten
Organized Crime and Corruption Reporting Project (Projekt                                                Phishing-Attacke angegriffen. Gmail schickte ihm eine soge-
zur Erfassung und Veröffentlichung von organisierter Krimi-                                              nannte government-backed attack alert (Warnung vor von der
nalität und Korruption, kurz OCCRP), war unter seinen Kolle-                                             Regierung unterstützten Angriffen), die ihn davor warnte, dass
ginnen und Kollegen als jemand bekannt, der sich stets an                                                von der Regierung unterstützte Eindringlinge versuchen
die Regeln hielt. Eine dieser Regeln, die er niemals brach,                                              könnten, sein Passwort zu stehlen. Später fand eine ameri-
lautete, der betroffenen Seite, über die er Untersuchungen                                               kanische Cybersicherheitsfirma die von Shleynow genutzte
anstellte, die Möglichkeit zu geben, eine Story zu kommen-                                               Gmail -Adresse zusammen mit anderen Accounts von russi-
tieren. In jener einen Woche im Frühling 2016 schrieb er                                                 schen Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen
gerade über die staatseigene russische Bank – VTB – eine                                                 und Aktivisten auf der Liste der Accounts, die von Fancy Bear –
der größten Banken des Landes. Seine Arbeit war Teil einer                                               den Hackern, die hinter dem Angriff auf das Democratic
groß angelegten internationalen Untersuchung und eines                                                   National Committee (DNC) 2016 steckten – attackiert wurden.
Gemeinschaftsprojekts, später bekannt als Panama Papers:
Die Enthüllung internationaler Steuervermeidung, die auch                                                Die Bank, über die Shleynow Untersuchungen anstellte, wollte
persönliche Freunde Putins betraf. Die Recherche war heikel,                                             keinen Kommentar abgeben. Jedoch sieht es so aus, als
jedoch wollte er auch in diesem Fall alles richtigmachen –                                               wollte Fancy Bear in der Tat mehr über die kommende Story
was eben hieß, der betroffenen Partei die Möglichkeit zu                                                 wissen. Sowohl Roman Shleynow als auch die Angreiferin-
geben, einen Kommentar abzugeben. Shleynow war kein An-                                                  nen und Angreifer wussten, dass es für ihn keinen Sinn hatte,
fänger: Er rief die Pressestelle der Bank an und verschickte                                             sich an die russische Polizei zu wenden. Dies war genau die
dann eine Anfrage für einen Kommentar von einem Gmail                                                    Realität, in der Russlands investigative Journalistinnen und
-Account, den er vor Jahren erstellt und seitdem nie wieder                                              Journalisten zu leben und zu arbeiten gelernt hatten und sie
genutzt hatte.                                                                                           passten sich eben entsprechend an.

Ursprünge
Die systematische, unaufhaltsame Offensive des Kremls                                                    schenienkrieges untergraben hatten – so die Botschaft, die
gegen den Journalismus fing im Jahr 1999 an, als der zweite                                              der Kreml zu verbreiten begann. Die westlichen Journalis-
Tschetschenienkrieg im Nordkaukasus begann. Zu der Zeit                                                  tinnen und Journalisten hätten dies getan, weil der Großteil
war der kürzlich zum Premierminister ernannte Vladimir Putin                                             von ihnen Spione waren und die russischen Kolleginnen und
ein aufgehender politischer Stern und neuer Protegé von                                                  Kollegen hätten mitgemacht, da sie entweder korrupt oder
Boris Jelzin. Er investierte seine gesamte Reputation in den                                             dumm waren. Die von Angst vor Terroranschlägen in Mos-
Krieg, sodass er unbedingt einen militärischen Sieg brauchte.                                            kau geplagte russische Öffentlichkeit wollte einen starken
Dazu musste er dem russischen Volk zuerst einmal den Krieg                                               Anführer und akzeptierte weitgehend die Idee der verräte-
verkaufen und es überzeugen, dass die Armee siegen konnte.                                               rischen Medien. Der Kreml führte eine strenge Zensur der
                                                                                                         Berichterstattung über den zweiten Tschetschenienkrieg
Dies warf eine große, unbequeme Frage auf: Wieso hatte ge-                                               ein. Einige Journalistinnen und Journalisten wurden der Re-
nau dieselbe russische Armee vier Jahre zuvor den ersten                                                 gion verwiesen, die Behörden änderten die Auslegung der
Tschetschenienkrieg verloren? Putin hätte den Staatschef                                                 Gesetze so, dass die Darstellung einer anderen Seite der Ge-
verantwortlich machen können, doch hätte dies bedeutet,                                                  schichte – nämlich der tschetschenischen Seite – als illegal
Jelzin der Unfähigkeit zu bezichtigen, was kaum möglich                                                  deklariert wurde.1 Journalistinnen und Journalisten wurde
war, da Jelzin noch immer Russlands Präsident war. Er hät-                                               es untersagt, tschetschenische Kämpferinnen und Kämpfer
te es auf die Armee schieben können, aber auch dort gab                                                  zu zitieren, da dies ab jenem Zeitpunkt als Unterstützung
es keinen Wechsel unter den befehlshabenden Generälen.                                                   von Terrorismus betrachtet wurde. Somit wurde es so gut
Stattdessen entschied sich Putin dafür, die Überbringer der                                              wie unmöglich, mit Zivilisten, Opfern oder Verwandten in
Nachrichten verantwortlich zu machen. Es waren die russi-                                                der Kriegszone zu sprechen. Das russische Militär führte
schen und ausländischen Journalistinnen und Journalisten,                                                Sonderregelungen für den Zugang zu den Bereichen ein, in
die die Bemühungen Russlands während des ersten Tschet-                                                  denen die Militäraktionen stattfanden.

1
    Während eines Treffens der Kommission zur Bekämpfung politischen Extremismus unter dem Präsidenten im März 2000 sagte der Erste Vizeminister für Presse, Michail Seslawinsky, dass es
    „zusätzlich zu dem Gesetz über die Massenmedien noch ein Gesetz über die Bekämpfung des Terrorismus gibt. Gemäß diesem Gesetz wird ab sofort journalistisches Material über Tschetsche-
    nien ausgewertet.“ Nach Auffassung der Regierung legt Artikel 15 dieses Gesetzes fest, dass die Unterrichtung der Öffentlichkeit über terroristische Handlungen in der Form und dem Umfang
    erfolgt, wie es der Leiter der operativen Zentrale für den Umgang mit Antiterror-Operationen festlegt. Des Weiteren verbietet dieser Artikel die Verbreitung von Informationen, die „der Propaganda
    oder Rechtfertigung von Terrorismus sowie Extremismus dienen“. Das Presseministerium unterstellte den Zeitungen Kommersant und Nowaja Gaseta gegen diesen besagten Artikel verstoßen
    zu haben. Die beiden Zeitungen erhielten offizielle Warnungen, dass ihr Erscheinen eingestellt werden könnte. Kommersant z.B. erhielt am 21. August 2000 eine Verwarnung für ein Interview mit
    dem Anführer der tschetschenischen Kämpferinnen und Kämpfer, Aslan Maschadow. Weitere Informationen unter: Andrei Richter “War on terror and media freedom” 2005, https://cyberleninka.
    ru/article/n/voyna-s-terrorizmom-i-svoboda-massovoy-informatsii
5

Der Kreml führte zudem ein Konzept ein, das uns allen in-                                             Moskowskije-Nowosti-Teams, ein politisches Magazin sowie
zwischen allzu bekannt ist: Informationskrieg und Informa-                                            eine politische Website zu lancieren, geschlossen. Jobs bei
tionssicherheit. Im Jahr 2000 erstellte der Sicherheitsrat die                                        der Nowaja Gaseta folgten, jedoch waren sie nicht von langer
„Doktrin zur Informationssicherheit der Russischen Födera-                                            Dauer. Innerhalb von drei Monaten wurden die Autoren der
tion“, die eine ungewöhnlich vollumfängliche Liste von Be-                                            Publikation von der Nowaja Gaseta entlassen – der letzten
drohungen enthielt: von der „Kompromittierung von Schlüs-                                             russischen Zeitung, die deren Stories drucken wollte. Anfang
seln und dem kryptografischen Schutz von Informationen“                                               und Mitte der 2000er Jahre wechselten die Moskauer Zei-
über „die Abwertung geistiger Werte“, „die Reduzierung geis-                                          tungen und Magazine häufig die Besitzerinnen und Besitzer,
tigen, moralischen und kreativen Potenzials der russischen                                            der Großteil von ihnen endete in den Händen von kremltreu-
Bevölkerung“ und „der Manipulation von Informationen (Des-                                            en Oligarchinnen und Oligarchen, die Putin halfen, jedwede
information, Verschleierung oder Falschdarstellung)“. Recht                                           feindselige Berichterstattung im Keim zu ersticken. Diese
ominös berief sich die Doktrin als Quelle der Bedrohungen                                             Tendenz blieb von der Öffentlichkeit fast unbemerkt.
auf den „Wunsch einiger Länder, die Interessen Russlands
im globalen Informationsraum zu dominieren und zu verlet-                                             Am 6. Oktober 2006 wurde die bekannte russische Investi-
zen“. Putin unterzeichnete die Doktrin am 9. Dezember 2000.                                           gativ-Journalistin Anna Politkovskaya von Auftragsmördern
                                                                                                      im Moskauer Stadtzentrum ermordet. Politkovskaya war die
In den frühen 2000ern wurde das Kerngebiet Russlands von                                              prominenteste Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen
einer Serie von Terroranschlägen getroffen, einschließlich einer                                      in Tschetschenien – einer Region, die die russischen Behör-
Geiselnahme im Moskauer Dubrovka-Theater im Oktober                                                   den seit den frühen 2000ern vor Journalistinnen und Jour-
2002. Nachdem unabhängige russische Medien unerschro-                                                 nalisten abschotten wollten. Nach Ihrer Ermordung gingen
cken berichteten, schlug der Kreml zurück. Journalistinnen                                            mehr Menschen in Paris auf die Straße, um ihr die letzte
und Journalisten (einschließlich der Autoren) wurden durch                                            Ehre zu erweisen, als in Moskau. Diejenigen, die dieses Ver-
Befragungen im Lefortowo-Gefängnis eingeschüchtert, das                                               brechen in Auftrag gaben, wurden nie gefunden.
zum Inlandsgeheimdienst (FSB) – der wichtigsten Behörde
für Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung in Russ-
land – gehört. Managerinnen und Manager von Fernsehsen-                                               Journalismus im Wandel
dern wurden gefeuert und Putin persönlich griff die Medien
an, indem er betonte, dass es inakzeptabel sei „Geld mit dem                                          Im Jahr 2008 waren in Russland nur einige wenige investiga-
Blut unserer Bürgerinnen und Bürger“ zu verdienen.2                                                   tive Journalistinnen und Journalisten, etwa sechs bis acht,
                                                                                                      noch in Moskau tätig. Ziemlich bald jedoch erlebte Moskau
Von da an begann die Öffentlichkeit sich langsam, aber                                                einen neuen Aufschwung des investigativen Journalismus:
entschieden, gegen Journalistinnen und Journalisten zu                                                Kleine Teams, die z.T. aus lediglich einem Dutzend Leuten
wenden. Einige berühmte Reporterinnen und Reporter, die                                               bestanden, betraten die Bühne. Sie riefen einige digitale
sich ihre Reputation in den frühen 1990ern erarbeitet hat-                                            Medienplattformen ins Leben, die qualitativ hochwertige
ten, erwiesen sich als korrupt und bereit, jedwede Art von                                            Recherchen hervorbrachten. Sie untersuchten Korruption
Stories zu veröffentlichen, wenn sie dafür angemessen be-                                             und gruben im Falle hochrangiger Beamtinnen und Beam-
zahlt würden. Der Berufsstand des Journalisten wurde von                                              ter tief nach nicht deklarierten Immobilien im Ausland, ihren
seinem Podest gestürzt, das er seit den Jahren der Perest-                                            Offshore-Unternehmen und riesigen Luxusanwesen, die in
roika in den späten 1980ern einnahm. Vielleicht noch augen-                                           den modernsten Vorstadtgebieten um Moskau herum sowie
scheinlicher war jedoch der Umstand, dass Journalistinnen                                             anderswo gebaut wurden.
und Journalisten und die freie Presse für viele Menschen in
Russland ein Symbol der liberalen Werte waren, die nach                                               Neue Methoden erfreuten sich dabei immer größerer Be-
dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land fluteten.                                                  liebtheit: von Datamining in staatlichen Beschaffungs- und
Weite Teile der russischen Gesellschaft waren verbittert und                                          Immobiliendatenbanken, über Drohnen, die perfekte Videos
fühlten sich vom Westen verraten, vor allem seit der Wirt-                                            der Luxusvillen von Kreml-Bediensteten lieferten, die vor
schaftskrise in Russland 1998, als der Eindruck entstand,                                             konventionellen Erkundigungen massiv durch hohe Zäune
dass Märkte und Demokratie – aus dem Westen importierte                                               und diverse aggressive Security-Leute abgeschirmt wurden.
Konzepte – nichts außer Chaos hervorbrächten. Die Grund-                                              Diese neuen Methoden halfen Journalistinnen und Journa-
gedanken von Journalismus und freier Presse verloren an                                               listen, dem Druck der Regierung standzuhalten. Einige Re-
Glaubwürdigkeit.                                                                                      daktionen gingen ins Ausland, aber die Journalistinnen und
                                                                                                      Journalisten arbeiteten weiterhin in Russland. Meduza eröff-
Journalistinnen und Journalisten der traditionellen Medien                                            nete sein Hauptbüro in Riga, Lettland, und bewies, dass es
verloren nicht nur das Vertrauen der Öffentlichkeit, son-                                             möglich war, russischen Journalismus trotz einer Redaktion
dern gleichermaßen ihre Jobs. Innerhalb von sieben Jahren                                             außerhalb russischer Grenzen zu produzieren. Einige Jour-
hatten die Autoren Positionen bei fünf Zeitungen inne: die                                            nalistinnen und Journalisten, die ihren Job bei traditionellen
politische Abteilung der Iswestija wurde aufgelöst, der Chef-                                         Medien verloren hatten, starteten ihre eigenen Kanäle mit-
redakteur der Versiya wurde entlassen, Moskowskije Nowosti                                            hilfe der Messenger-App Telegram und produzierten – manch-
wurde samt zweier nachfolgender erfolgloser Versuche des                                              mal anonym – einen Strom an unzensierten Informationen,

2
       The Compatriots, Soldatov and Borogan. Siehe auch: Kreml, Transkript von Putins Äußerungen, 25. November, 2002, http://kremlin.ru/events/president/transcripts/21788.
6     Digitale Überwachung

Einblicken und Kommentaren. Diese Telegram-Kanäle wur-             lässt. Der Weg zum inländischen Publikum ist lang, aber
den sehr bekannt. Telegram ist eine sehr beliebte Plattform in     erfolgreich – bis heute wurden alle ihre Bücher in Russland
Russland und gibt den Userinnen und Usern die Möglichkeit,         veröffentlicht und sind in russischen Buchläden zu finden.
über einen eigenen Kanal Nachrichten und Kommentare an
Abonnentinnen und Abonnenten zu senden.                            All dies bereitet dem Kreml Unbehagen und verschärfte die
                                                                   Paranoia, die bereits nach der Annexion der Krim und den
Die Autoren dieser Publikation gingen dazu über, Sachbücher        Sanktionen, die der Westen dem Regime in Moskau aufer-
über sensible Themen zu schreiben: von Sicherheitsdiens-           legte, in der russischen Bürokratie um sich griff. Journalis-
ten über digitale Überwachung und durch die Regierung              tinnen und Journalisten wurden erneut zur Zielscheibe und
unterstütztes Hacking, hin zu der problematischen Bezie-           verschiedenste Methoden wurden an ihnen getestet: von ein-
hung zwischen dem Kreml und der russischen Emigranten-             deutigen Repressionen bis hin zu Cyberangriffen und -über-
Community. Die Bücher werden für einen amerikanischen              wachung. Erfinderisch wie eh und je nahm der Kreml dabei
Verlag geschrieben und, wenn sie fertig sind, von einem            die Hilfe verschiedener Akteurinnen und Akteure – sowohl
russischen Verleger abgeholt, der diese dann übersetzen            staatlicher als auch privatwirtschaftlicher – in Anspruch.

Bedrohungen: staatliche Akteure
Der Staat hat in der russischen Gesellschaft schon immer           trotz hatte dies keinen nachhaltigen Einfluss auf Nemzows
eine bedeutende Rolle gespielt, doch ab den 2000er Jahren          Position innerhalb der Opposition.
erkannten Journalistinnen und Journalisten, dass sie nicht
nur mit dem offiziell für die Medien zuständigen Presse-           Wie sind diese kremltreuen Websites eigentlich zu den Auf-
ministerium umgehen mussten, sondern auch mit anderen              nahmen gekommen? Es kann nur eine Antwort geben: Nem-
staatlichen Stellen, einschließlich der Sicherheitsbehörden        zow berichtete uns damals, dass die russischen Sicherheits-
des Landes.                                                        dienste sein Mobiltelefon angezapft hätten und einige der
                                                                   Aufnahmen leakten, um ihm zu schaden. Nemzow war Opfer
In den 2000ern und 2010ern wurden die Telefonate von rus-          von SORM geworden.
sischen Aktivistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und
Journalisten sowie kremlkritischen Politikerinnen und Polit-
kern gelegentlich abgehört und im Anschluss regierungsna-          Staatliche Abhöraktion
hen Medien zugespielt. In den meisten Fällen vermuteten die
Opfer eher eine Beteiligung von Sicherheitsdiensten und nicht      SORM ist ein Akronym für „Systema Operativno-Rozysknikh
von Privatpersonen. So wurden etwa am 19. Dezember 2011            Meropriatiy“ oder auch: „System der operativen Ausspähmaß-
am Abend der größten Protestkundgebung in Moskau gegen             nahmen“, das landesweite Überwachungs- und Abhörsystem
die Rückkehr Putins als Präsident in den Kreml Audiodatei-         des russischen Sicherheitsdienstes, des FSB.
en von neun abgehörten Telefonanrufen von Boris Nemzow
auf der dem Kreml wohlgesonnenen Website Lifenews.ru               Wie KGB-Veteranen (der In- und Auslandsgeheimdienst in
veröffentlicht. Nemzow, der unter Jelzin stellvertretender         der Sowjetunion, Vorgänger des FSB) uns gegenüber zuga-
Premierminister war, wurde zum führenden Oppositionspoli-          ben, wurde es ursprünglich in einer der KGB-Forschungsein-
tiker des Landes in den 2000er Jahren. Vier Jahre später im        richtungen von Ingenieurinnen und Ingenieuren entwickelt,
Februar 2015 wurde er bei einem kaltblütigen Auftragsmord          die dabei vom landesweiten Abhörsystem der DDR, dem von
auf einer Brücke, nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt, ge-      der Staatssicherheit (Stasi) eingerichteten ‚CEKO-2‘ (steht
tötet. In seinen 2011 aufgezeichneten Gesprächen sprach er         für Centrales Kontrollsystem), beeinflusst wurden.3
auf recht direkte Art und Weise, gespickt mit vielen abfälligen
Anmerkungen, über andere Oppositionsführerinnen und -füh-          Die erste SORM-Generation wurde als Hintertür zur Tele-
rer. Nemzow erzählte den Autoren, dass diese Gespräche im          kommunikation der Nation aufgebaut. In den 1980er und
Vorfeld der Protestkundgebungen im Dezember stattgefun-            1990er Jahren bestanden die vom KGB entwickelten Abhör-
den hätten. „Ihr Ziel war klar“, erinnerte er sich. „Sie wollten   systeme zum einen aus einer speziellen SORM-Blackbox,
im Vorfeld der Protestkundgebungen einen Keil zwischen uns         die auf dem Gelände eines Telefonanbieters installiert und
treiben, die Opposition jedoch fiel nicht darauf rein.“ Dieser     versiegelt wurde, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Vorfall war ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Behör-      des Telefonanbieters keinen Zugang zu der Box hatten, und
den und mutmaßlich private Einrichtungen, wie kremltreue           zum anderen aus einem speziellen Gerät in den Büros der
Medien, miteinander verwoben sein können. Nichtsdesto-             örtlichen Zweigstelle des FSB.

3
    The Red Web (2015), Soldatov and Borogan
7

Das dritte unverzichtbare Element war das zwischen dem                                  Wedomosti, der zehn Jahre lang über Russlands militärisch-
FSB und dem Telekommunikationsunternehmen unterir-                                      industriellen Komplex und Waffenverkäufe berichtete, im Juli
disch verlegte Kabel, das die Box und das Gerät miteinander                             2020 verhaftete, offenbarte der FSB, dass Safronows Kom-
verband. Jemand vom FSB Personal tippte im eigenen Büro                                 munikation seit mindestens 2017 angezapft und abgehört
Befehle in das Gerät ein und die Blackbox auf dem Gelände                               wurde.5 Dies ist eine Realität, die jede/r in Russland arbeiten-
des Telefonanbieters begann, Telefongespräche abzuhören.                                de Journalistin und Journalist intensiv bedenken sollte.
Diese Methode wurde zuerst für traditionelle Telefonleitun-
gen entwickelt, später jedoch modernisiert, um E-Mails und                              Das Abhören von Telefonanrufen sowie das Abfangen von
Internetverkehr abfangen zu können. Im Wesentlichen war es                              Textnachrichten bleiben die Hauptgefahren für Journalistin-
das gleiche System – zudringlich und ohne Kontrolle. Auch                               nen und Journalisten. Aber angesichts der technologischen
wenn der FSB juristisch gesehen eine Abhörgenehmigung                                   Entwicklungen, die wir tagtäglich nutzen, sollten sich russi-
beim Gericht einholen müsste, ist der Sicherheitsdienst je-                             sche Journalistinnen und Journalisten heutzutage bewusst
doch nicht dazu verpflichtet, irgendjemandem – nicht ein-                               sein, dass das Telefon, das er oder sie mit sich trägt, eine
mal den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Telefon- oder                             Quelle für noch mehr Daten sein könnte – eine potenzielle
Internetanbieters, zu zeigen, welche Art von Traffic der FSB                            Gefahr also für die Journalistinnen und Journalisten und ihre
abfängt. Zudem können Telekommunikations- und Internet-                                 vertraulichen Quellen.
anbieter vom FSB nicht verlangen, ihnen den richterlichen
Beschluss vorzuzeigen, da sie nicht über eine Sicherheits-                              Metadaten von Telefonaufzeichnungen oder Informatio-
freigabe verfügen. Das undurchsichtige und außer Kontrolle                              nen darüber, wer wen angerufen hat und wo das Telefon je-
geratene SORM-System kann einfach gegen Aktivistinnen                                   den Moment, in dem es aktiv war, eingeloggt war - all dies
und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten und Op-                                könnte vertrauliche Quellen leicht kompromittieren. Vor
positionspolitikerinnen und -politiker eingesetzt werden.                               zehn Jahren noch hat es ausgereicht, das Telefon auszu-
Nemzow zog vor Gericht und forderte eine ordnungsgemä-                                  schalten oder die Batterie zu entfernen. Heutzutage gibt
ße Untersuchung des Eindringens in seine Privatsphäre, die                              es diese Option bei Smartphones nicht, sie können selbst
Untersuchung begann jedoch nie wirklich und ging schluss-                               dann noch geortet werden, wenn sie ausgeschaltet sind.
endlich ohne Ergebnis aus.                                                              Der einzige Weg, um die Anonymität der Quelle zu ga-
                                                                                        rantieren wurde recht radikal: Zu den Treffen wurden kei-
Was SORM besonders für Journalistinnen und Journalisten                                 ne Smartphones mehr mitgebracht. Dies ist nicht immer
so gefährlich macht, sind zwei wichtige Begleitumstände.                                machbar oder angenehm. Für Journalistinnen und Journa-
                                                                                        listen heißt kein Telefon dabeizuhaben jedoch nicht, dass
                                                                                        ihre Privatsphäre und die Anonymität ihrer Quellen in solch
Befugnisse zum Ausspähen                                                                einer großen Stadt wie Moskau garantiert werden könnten.
von Journalistinnen und Journalisten
Erstens hat der FSB seit Jahren die Befugnis, Journalistin-                             Gesichtserkennungskameras
nen und Journalisten auszuspionieren – über dieselbe FSB-
Pressestelle, die sich um Anfragen nach Informationen und                               Seit einigen Jahren wird Moskau als Testgelände für neue
Kommentaren der Journalistinnen und Journalisten küm-                                   Technologien genutzt. Mit Begeisterung hat die Stadtverwal-
mert. Sie sind bereits seit den späten 2000ern offiziell dazu                           tung unter anderem das stadtweite Kamerasystem zur Ge-
berechtigt, sie zu überprüfen und zu überwachen. Der Befehl                             sichtserkennung auf den Straßen, in der U-Bahn (Metro) und
Nr. 343, der vom FSB-Direktor Alexander Bortnikow im Juli                               in öffentlichen Verkehrsmitteln ausgebaut (105.000 bis Feb-
2009 unterschrieben wurde, erweiterte die Liste von FSB-                                ruar 20206), was bereits Anfang 2018 zum Politikum wurde.
Abteilungen, die befugt waren „einen Antrag zu stellen, um
Spionageabwehrmaßnahmen, die die verfassungsmäßigen                                     Im August des Jahres wurde der politische Aktivist Michael
Rechte der Bürgerinnen und Bürger einschränken, durchfüh-                               Aksel während der FIFA-Fußballweltmeisterschaft in der Me-
ren zu können“.4 Ab dem Jahr 2009 umfasste die Liste die                                trostation Sportivnaya festgehalten. Die Polizei erhielt ein Si-
FSB-Direktion für unterstützende Programme, die auch die                                gnal von einer Kamera zur Gesichtserkennung, die in der Sta-
FSB-Pressestelle einbezog. Sie ist auch für die Durchführung                            tion installiert war. Aksel wurde als Person identifiziert, die auf
von „Unterstützungseinsätzen“ verantwortlich (eine neue Aus-                            der schwarzen Liste gesuchter Verbrecher stand. Er wurde
drucksweise für den KGB-Begriff „aktive Maßnahmen“, sprich                              von der Abteilung zur Bekämpfung von Extremismus des In-
Desinformation).                                                                        nenministeriums (bekannt als „Center E“) auf diese schwarze
                                                                                        Liste gesetzt – und zwar, obwohl er keinerlei Verbrechen be-
Zweitens wurde 2020 öffentlich, dass der FSB auch nicht da-                             gangen hatte und noch nicht einmal von der Polizei gesucht
vor zurückschreckte, diese Überwachungsbefugnisse gegen                                 wurde.7 Schlussendlich hat man den Aktivisten gehen lassen,
Journalistinnen und Journalisten einzusetzen. Als der FSB                               nachdem ein Polizeibeamter ihm sagte, dass man ihn heu-
Iwan Safronow, ehemaliger Journalist bei Kommersant und                                 te nicht bräuchte. Frappierend ist, wie einfach ein politischer

4
    The New Nobility (2011), A. Soldatov, Preface by Nick Fielding.
5
    https://www.kommersant.ru/doc/4407193#id1919489
6
    https://zona.media/news/2020/02/11/watchdog
7
    https://www.dw.com/ru/что-не-так-с-системой-распознавания-лиц-в-москве/a-50977069
8   Digitale Überwachung

Aktivist zu einer Liste gesuchter Krimineller hinzugefügt wer-   Informationen online sammeln
den konnte, nur damit die Polizei sein Bewegungsprofil bes-
ser nachvollziehen kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der    In der modernen Welt müssen normale Bürgerinnen und
gleiche Trick auch gegen Journalistinnen und Journalisten,       Bürger, einschließlich Journalistinnen und Journalisten, viele
die an sensiblen Stories arbeiten sowie gegen deren Quellen      persönliche Informationen im Austausch für Online-Dienst-
eingesetzt werden könnte.                                        leistungen preisgeben – und die Regierung gehört zu den
                                                                 größten Sammlern dieser Art von Daten. Vor einigen Jahren
Im Jahr 2015 traf einer der Autoren dieser Publikation einen     startete die russische Regierung ein ehrgeiziges Programm,
britischen Diplomaten in einem Moskauer Coffeeshop. Nach         das auf nationaler (gosuslugi.ru) und lokaler Ebene (mos.ru,
dem Treffen ging der Autor zur Metrostation Smolenskaya, wo      z.B. für Moskau) immer mehr staatliche Leistungen online an-
er von einem Polizeibeamten angehalten und unter einem ab-       bietet. Dazu gehören die Beantragung eines neuen Passes,
surden Vorwand nach seinem Pass gefragt wurde – er sei zu-       die Zahlung von Gebühren sowie die Anmeldung für einen
fällig ausgewählt worden, um einen Vortrag über Maßnahmen        Arzttermin. Diese Informationen können auch gegen Journa-
zur Terrorismusbekämpfung zu hören. Der Autor zeigte den         listinnen und Journalisten genutzt werden, da viele persön-
geforderten Pass vor und der Polizeibeamte notierte die Infor-   liche Informationen, einschließlich der Passdetails und der
mationen auf einem Zettel. Nach einer Minute war der Polizist    tatsächlichen Wohnanschrift angegeben werden müssen, um
verschwunden, der Autor folgte ihm jedoch und sah, dass er       die Onlinedienste der Regierung nutzen zu können.
den Zettel einem großen Mann in Zivilkleidung übergab. Es
scheint, als sei der Autor nach seinem Treffen mit dem Diplo-    Zu Sowjetzeiten unterhielt der KGB ein weitgespanntes Netz-
maten verfolgt worden und dass der FSB herausfinden wollte,      werk regionaler Dienststellen und Abteilungen, die vor Ort
wer die Person im Coffeeshop war. So folgte man dem Au-          agierten, Kontakte in Schulen, Krankenhäusern und Haus-
tor in die Metro und forderte einen Polizeibeamten auf, einen    verwaltungen hatten, um Informationen über Verwandte von
Vorwand zu finden, um an Details seines Passes zu kommen.        Dissidentinnen und Dissidenten, über die Schule der Kinder
Seit 2018 kann eine Identifikation per Gesichtserkennung er-     und darüber zu sammeln, welche gesundheitlichen Proble-
folgen und niemand würde es mitbekommen können.                  me die Familie der Dissidentin oder des Dissidenten hatte
                                                                 (zu diesem Zweck unterhielt der KGB eine Einheit in jedem
                                                                 Moskauer Stadtteil). Es kostete den KGB viel Zeit und Mühe,
                                                                 genügend Druckmittel zu finden, um mit Unruhestifterinnen
                                                                 und Unruhstiftern umzugehen. Heutzutage können diese
                                                                 Informationen ganz einfach und völlig unbemerkt online ge-
                                                                 sammelt werden.

Bedrohungen: wirtschaftliche Akteure
Die Rolle sozialer Medienplattformen                             lichen. Dieser neue Weg, Informationen zu verbreiten und zu
                                                                 teilen hat sich als recht effektiv erwiesen und diese Kanäle
Gewiss sind Social Media eine tolle neue Möglichkeit, neue       haben meist mehr Abonnentinnen und Abonnenten als die
Kontakte zu knüpfen und die Leserschaft von Journalistin-        Massenmedien.
nen und Journalisten zu vergrößern. In autoritären Staaten,
in denen die meisten Medien von der Regierung kontrolliert       Gleichzeitig können Social Media – als einfacher Weg, um
werden und unabhängige Medien unter extrem großem                direkt zum Publikum zu sprechen – auch gegen Journa-
Druck arbeiten, stellen die sozialen Medien für die durch-       listinnen und Journalisten eingesetzt werden. Seit Jahren
schnittlichen Userinnen und User sowie Journalistinnen           versuchen russische Behörden, die Linie zwischen sozialen
und Journalisten eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung           und Massenmedien zu verwischen. Sie versuchten auch, die
ohne übermäßige Einschränkungen dar. Viele russische             Medienplattformen, für die Journalistinnen und Journalisten
Journalistinnen und Journalisten, Kolumnistinnen und Ko-         arbeiteten, dafür zur Verantwortung zu ziehen, was er oder
lumnisten sowie Hosts nutzen das russische Netzwerk              sie in den sozialen Medien gepostet hat und zwangen die
VKontakte, aber auch Facebook, Twitter und Telegram, um          Social-Media-Unternehmen, mit der Regierung zusammen-
den Menschen mitzuteilen, was sie wirklich über die aktu-        zuarbeiten.
ellen Geschehnisse denken. Hunderte Journalistinnen und
Journalisten haben Kanäle auf Telegram eingerichtet und          Im November 2014 postete der beliebte Moderator des libe-
nutzen diese als persönliches Massenmedium, um unzen-            ralen Radiosenders Echo Moskwy, Alexander Pljuschtschew,
siert Nachrichten, Meinungen und Kommentare zu veröffent-        einen emotionalen Tweet über den Unfall des Sohnes des
9

prominenten russischen Funktionärs Sergey Iwanow – Alex-                                           strafen aufzuerlegen. Als die Covid-19-Pandemie im April
ander Iwanow, der im Meer ertrank. Sergey Iwanow war seit                                          2020 Russland erreichte, begannen die Behörden, diese Ge-
ihren gemeinsamen Tagen beim Geheimdienst ein enger                                                setzgebung aktiv gegen Journalistinnen und Journalisten
Freund Putins und zu dieser Zeit im Jahr 2014 Chef der Prä-                                        einzusetzen. Der Kreml hatte Angst, dass Nachrichten über
sidialverwaltung. Neun Jahre zuvor überfuhr Iwanows Sohn                                           die tatsächliche Situation in Russland und seinen Regionen
Alexander eine ältere Dame mit dem Auto. Die Frau starb,                                           über Social Media verbreitet und das Monopol des Staates
Alexander Iwanow jedoch kam ungestraft davon, was vie-                                             auf sensible Informationen untergraben werden könnten.
le Russinnen und Russen wütend machte. In seinem Tweet
fragte Pljuschtschew, ob der Tod von Iwanows Sohn, „der                                            Zwei Journalisten in russischen Regionen wurden fast un-
einst eine alte Frau mit seinem Auto überfuhr und später                                           mittelbar Opfer dieser Gesetzgebung. Im April 2020 führte
ihren Schwiegersohn verklagte, ein Beweis für die Existenz                                         ein Team von FSB-Agenten und des lokalen Untersuchungs-
Gottes oder einer höheren Gerechtigkeit sei“.8 Am nächsten                                         komitees (eine Arte russisches FBI) eine Razzia in der
Tag teilte ihm Ekaterina Pawlowa, CEO von Echo Moskwy,                                             Wohnung des Journalisten Alexander Pichugin in Nischni
mit, er sei entlassen. Die Redaktion jedoch hielt sich nicht                                       Nowgorod durch. Sein Laptop sowie sein Handy wurden be-
an diese Vorgabe. Kurz danach schlug der ehemalige Pres-                                           schlagnahmt und Pichugin vor den Augen seiner schwange-
seminister, Michail Lessin – zu dieser Zeit Chef des sehr                                          ren Frau und seines Kindes von Agenten abgeführt. Er wurde
kremlnahen Unternehmens Gazprom-Media und Haupt-                                                   nachts verhört. Der Grund für dieses brutale Vorgehen war
aktionär des Radiosenders – vor, auch den Chefredakteur                                            Pichugins Posting auf seinem Telegram-Kanal. Ihm wurde
von Echo-Moskwy, Alexander Wenediktow, zu feuern, wenn                                             die Verbreitung von „unzuverlässigen Informationen“ oder
er mit Pljuschtschews Entlassung nicht einverstanden wäre.                                         „Fake News“ über die Coronavirus-Pandemie in der Region
Wenediktow sagte, er sei nicht mit dem Tweet einverstan-                                           vorgeworfen, was als mutmaßliche Bedrohung der öffent-
den, bestand jedoch darauf, dass soziale Netzwerke einen                                           lichen Sicherheit galt.
persönlichen Raum darstellten und nicht von den News-
rooms oder Redaktionen kontrolliert werden könnten. Die                                            Pichugin postete vier Tage zuvor einen sehr kurzen Text auf
Behörden sahen dies offensichtlich anders. Pljuschtschew                                           Telegram, in dem er satirisch über einen überfüllten Gottes-
löschte seinen Tweet und entschuldigte sich bei all denjeni-                                       dienst in einem orthodoxen Kloster vor Ort als vorsätzliche
gen, die diesen als beleidigend empfanden, doch der Konflikt                                       Tat zur Ansteckung der Bevölkerung mit Covid-19 schrieb.
schwelte noch weiter. Journalistinnen und Journalisten be-                                         Sein Kanal hatte lediglich 73 Abonnentinnen und Abonnen-
fürchteten, dass die Eigentümerinnen und Eigentümer sowie                                          ten. Am darauffolgenden Tag erreichte ihn ein Anruf des lo-
die hinter ihnen stehenden Behörden Pljuschtschews Tweet                                           kalen FSB-Büros. Der Beamte verlangte die Entfernung des
dazu nutzen könnten, die Redaktionen zu säubern. Echo hatte                                        Posts. Pichugin kam dem nach, jedoch machte es letztlich
damals Glück: Der Konflikt wurde beigelegt und niemand                                             keinen Unterschied, wie der Besuch der Vollzugsbeamten
verlor seinen Job. Nichtsdestotrotz zogen die russischen                                           drei Tage später bewies. Wenn der Journalist für schuldig
Journalistinnen und Journalisten ihre Lehren daraus.                                               befunden würde, müsste er mit einer Gefängnisstrafe von
                                                                                                   bis zu drei Jahren rechnen.10 Dies war der erste Fall, in dem
                                                                                                   das „Fake News“-Gesetz gegen einen Journalisten ange-
„Fake News“-Gesetze und ihre Anwendung                                                             wandt und der Fall vor Gericht gebracht wurde. Alexander
auf die Sozialen Medien                                                                            Pichugin bekannte sich nicht schuldig und gab an, der Post
                                                                                                   sei lediglich satirisch gemeint und mit allen Merkmalen die-
Als die Behörden begannen, die Verbreitung sogenannter                                             ses Genres versehen gewesen und könnte somit nicht als
„Fake News“ strafrechtlich zu verfolgen und Social Media                                           Nachricht betrachtet werden.
wie traditionelle Medien zu behandeln, wurden soziale Me-
dien für Journalistinnen und Journalisten jäh zu einer noch                                        Zwei Monate später, im Juni desselben Jahres, wurde einer
größeren Herausforderung. Russland verabschiedete im                                               weiteren Journalistin in Nischni Nowgorod, Irina Slavina11,
März 2019 Gesetze, die es ermöglichten, Nutzerinnen und                                            Chefin und Herausgeberin des lokalen Online-Mediums Ko-
Nutzer von Social Media sowie Journalistinnen und Journa-                                          za-Press, von der örtlichen Polizei vorgeworfen, „Fake News“
listen wegen der Verbreitung von „Fake News“ zu verfolgen.                                         zu verbreiten. Die Polizei leitete auf Grund ihrer Story über
Gemäß den Rechtsvorschriften können Individuen, die „un-                                           den ersten Fall des Coronavirus in der Stadt Kstowo, die
zuverlässige Informationen“ verbreiten, die die Sicherheit                                         in der Region Nischni Nowgorod liegt, eine Untersuchung
der Bürgerinnen und Bürger bedrohen, mit einer Geldstrafe                                          ein.12 In Slavinas Fall wurde weniger das Strafgesetz ange-
von bis zu 700.000 Rubel (rd. 7.846 €) belegt oder zu Haft-                                        wandt, sondern das Ordnungswidrigkeitsgesetz, sie bekam
strafen von bis zu drei Jahren verurteilt werden.9 Ein weiteres                                    eine Geldstrafe von 65.000 Rubel (rd. 740 Euro) auferlegt.
Gesetz über den Missbrauch der Freiheit der Massenmedien                                           Pichugin hingegen wurde nach dem Strafgesetzbuch ange-
erlaubt es, Individuen (z.B. Journalistinnen und Journalisten)                                     klagt, sodass ihm nicht nur eine Geld-, sondern auch eine
und Medien für die Veröffentlichung von „Fake News“ Geld-                                          Gefängnisstrafe drohen könnte. Sowohl Pichugin als auch

8
     https://globalvoices.org/2014/11/07/ekho-moskvy-plushev-gazprom-censorship-russia/
9
     http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/9d8a5b6501a01da934c1bbd0ca9b1fd46df76a72/#:~:text=%D0%BE%D1%82%2008.06.2020
10
     https://www.kommersant.ru/doc/4377203
11
     Irina Slavina starb am 2. Oktober 2020, nachdem sie sich vor einem Büro des Innenministeriums in der Stadt Nischni Nowgorod selbst angezündet hatte:
     https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/irina-slawina-russland-oppositionelle-selbstanzuendung
12
     IBID
10 Digitale Überwachung

Slavina sind bzw. waren regional bekannte Journalisten                                             licht hätte.14 Anin, ein bekannter russischer Journalist, der seit
und beide sind dem politischen System gegenüber kritisch                                           Jahren über die Korruption von leitenden Beamtinnen und
gewesen. Somit war es keine Überraschung, dass man sie                                             Beamten, einschließlich der Sicherheitsdienste, recherchierte,
als erste Ziele der neuen Gesetzgebung wählte. Sie werden                                          sagte, dass er sogar verfolgt worden wäre.15 Sergey Kanev,
leider auch nicht die letzten sein: Laut der internationalen                                       ein Kollege von Roman Anin bei der Novaya Gazeta, befand
Menschenrechtsgruppe Agora wurden während der drei                                                 sich Ende August 2015 in einer sehr ähnlichen Lage. Als sich
„Epidemie“-Monate 157 Fälle mit ähnlichen Vorwürfen wie in                                         sein Handy plötzlich ausschaltete, bat er seinen Mobilfunk-
Slavinas Fall registriert.13                                                                       anbieter Vimpelcom darum, zu erklären, was passiert sei. Die
                                                                                                   Antwort war überraschend: Das Unternehmen sagte ihm,
                                                                                                   dass er, Kanev, seine SIM-Karte vor einigen Tagen ausge-
Herausforderungen durch Mobiltelefone                                                              tauscht hätte. Kanev begriff, dass entweder eine unbekannte
                                                                                                   Person sich als er selbst ausgab und eine neue SIM-Karte
Auch Mobiltelefonen ist nicht zu trauen. In Ländern wie Russ-                                      vom Mobilfunkanbieter erhalten hatte oder dass jemand den
land kooperieren Mobilfunkanbieter auf sehr undurchschau-                                          Anbieter dazu gezwungen hatte, dieser Person eine SIM-
bare Art und Weise mit den Behörden und Sicherheitsdiens-                                          Karte für seine Nummer herauszugeben.16
ten. Das bedeutet also, dass der herkömmliche Weg zum
Schutz des eigenen Accounts in sozialen Netzwerken und                                             Manchmal können auch bequeme und beliebte kommerzielle
E-Mail-Programmen mittels Textnachricht nicht wirksam ist.                                         Dienstleister wie Fahrdienstunternehmen eine Bedrohung der
Es gibt diverse Beispiele von gehackten Accounts von Jour-                                         Sicherheit und Privatsphäre von Journalistinnen und Journa-
nalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivis-                                      listen darstellen. Im März 2020 gab Russlands größtes Taxi-
ten, da Mobilfunkanbieter zweite SIM-Karten herausgaben,                                           unternehmen, Yandex.Taxi, Teil des Internetgiganten Yandex,
die dazu genutzt wurden, einen Text mit einem Passwort zu                                          zu, dass das Unternehmen Informationen über die Fahrten-
jemandes E-Mail- oder Messenger-Account zu erhalten.                                               übersicht der Kundinnen und Kunden mit der Polizei geteilt
                                                                                                   habe. Die Öffentlichkeit erfuhr dies von einem Polizeibeam-
Mitte August 2015 wurde der E-Mail-Account des für die                                             ten, der den Enthüllungsjournalisten Iwan Golunow wegen fal-
Novaya Gazeta arbeitenden Investigativ-Journalisten Roman                                          scher Vorwürfe des Drogenmissbrauchs im Juni 2019 verhaf-
Anin durch die Duplikation seiner SIM-Karte gehackt. Dies                                          tet hatte. Ein großer öffentlicher Aufschrei führte zu Golunows
konnte nur durch willfährige Mobilfunkanbieter geschehen,                                          Freilassung und zu einem Prozess gegen die Polizistinnen
die seine SIM-Karte herausgaben. Während Roman Anin im                                             und Polizisten, die dem investigativen Journalisten absicht-
Ausland weilte, rief eine unbekannte Person den Mobilfunk-                                         lich Drogen untergeschoben hatten. Während des Prozesses
anbieter an und bat um Hilfe bei der Wiederherstellung seiner                                      sagte ein Polizeibeamter aus, dass er Golunows Adresse aus
angeblich verlorengegangenen SIM-Karte. Diese Person gab                                           dessen Fahrtenübersicht erhalten hatte, die ihm von Yandex.
die korrekten Passdaten an. Sie bekam, wonach sie fragte,                                          Taxi zur Verfügung gestellt wurde. Das Unternehmen be-
hackte sich dann mithilfe einer SMS in Anins Gmail-Konto.                                          stätigte, dass es Fahrtenübersichten mit Strafverfolgungs-
Der Mobilfunkanbieter MTS leugnete kategorisch, dass er in                                         behörden teilte und behauptete, dass die Firma rechtlich
irgendeiner Weise das Eindringen in seine Accounts ermög-                                          verpflichtet wäre, Anfragen der Polizei nachzukommen.17

Bedrohungen: Stellvertreter
In der Nacht vom 11. Oktober 2016 wurde das russische Inter-                                       ten hatte, als er seinen Gmail-Account dazu nutzte, die Staats-
net von einer großen Hacker-Operation heimgesucht: Einige                                          bank um einen Kommentar zu bitten. Im Oktober erhielt er
hundert E-Mail-Accounts, größtenteils Gmail, wurden ange-                                          diese Warnung nun ein zweites Mal.18
griffen. Die Accounts gehörten politischen Aktivistinnen und
Aktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten, einschließ-                                     Eines der Opfer, der Aktivist Oleg Kozlovsky (sein Telegram-
lich einiger Mitglieder der Antikorruptions-NGO Transparency                                       Account wurde im April 2016 gehackt) reichte eine Beschwer-
International. Auch Roman Shleynows Gmail-Account war                                              de bei der für den Moskauer Bezirk Ismailowo zuständigen
wieder unter jenen, auf die die mysteriösen Hacker abzielten.                                      Abteilung des Untersuchungskomitees ein und forderte eine
Die Betroffenen erhielten eine Warnmeldung von Google, dass                                        Untersuchung des Hackerangriffs sowie die Eröffnung eines
von der Regierung unterstützte Angreiferinnen und Angreifer                                        Strafverfahrens auf Grundlage der Artikel zur Verletzung der
versuchen könnten, ihr Passwort zu stehlen – ganz ähnlich                                          Privatsphäre und des Briefgeheimnisses. Die einzige Ant-
der Meldung, die Shleynow im April des gleichen Jahres erhal-                                      wort, die er erhielt, war, dass seine „Nachricht keinerlei Anzei-

13
     https://agora.legal/fs/a_delo2doc/196_file__ENG_final.pdf
14
     https://snob.ru/selected/entry/97274/
15
     https://snob.ru/selected/entry/97274/
16
     https://tjournal.ru/tech/56066-novaya-gazeta-sim-violations
17
     https://www.themoscowtimes.com/2020/03/04/russias-yandextaxi-admits-to-sharing-riders-location-with-police-a69495
18
     https://meduza.io/news/2016/10/11/google-predupredil-rossiyskih-aktivistov-i-zhurnalistov-o-popytkah-spetssluzhb-vzlomat-ih-pochtu
11

chen für ein Verbrechen“ beinhaltete. Kozlovsky wandte sich                                       über die Untersuchung der russischen Einmischung bei den
2020 an den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte in                                          Präsidentschaftswahlen 2016“ von März 2019 besagte, dass
Straßburg und beschwerte sich über das Ausbleiben einer                                           zwei Einheiten des russischen Militärgeheimdienstes hin-
ordnungsgemäßen Untersuchung. Er machte geltend, dass                                             ter dem Angriff auf das DNC stünden.23 Nichtsdestotrotz
die Russische Föderation gegen Artikel 8 der Europäischen                                         machten all diese Aussagen keinen Eindruck auf die russi-
(Menschenrechts-) Konvention, der ihm sein Recht auf Privat-                                      sche Regierung. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, betonte,
sphäre garantiert, verstoßen hätte.19 Kozlovsky vermutete,                                        dass weder die russische Regierung noch staatliche russi-
dass die Regierung irgendwie in den Hackerangriff verwi-                                          sche Stellen involviert seien. Seine Kommentare schienen
ckelt war. Als die Hacker Passwörter für seinen Telegram-                                         darauf hinzudeuten, dass der Kreml seine Taktik, die seit
Account ausprobierten, generierten die Login-Versuche SMS                                         so langer Zeit gegen russische Dissidentinnen und Dissi-
mit Autorisierungscodes, die Kozlovsky jedoch nicht erhalten                                      denten sowie Journalistinnen und Journalisten funktioniert
hatte. Er entdeckte, dass die Zustellung von Textnachrich-                                        hatte, wiederverwendete: Nämlich, dass diese von irgend-
ten für seine SIM-Karte während der Nacht, in der sein Tele-                                      welchen kriminellen Hackerinnen und Hackern angegriffen
gram-Account gehackt wurde, deaktiviert war. Obwohl ein                                           wurden, die rein gar nichts mit den Behörden zu tun hätten.
Sprecher des Mobilfunkanbieters MTS später jegliche „vor-
sätzliche“ Aktivität, deren Ziel es war, die Dienste zu deakti-                                   Diese Verteidigungslinie wurde durch Wladimir Putin selbst
vieren, abstritt, glaubte Kozlovsky jedoch an den Einfluss der                                    bekräftigt, als ein Reporter von Bloomberg ihn zum Hacker-
Behörden hinter dem Vorfall – entweder durch SORM oder                                            angriff auf das DNC befragte. Putin lachte und sagte: „Wis-
durch einen Anruf bei dem Mobilfunkanbieter.20 Bis Dezember                                       sen Sie, es gibt so viele Hacker heutzutage und sie führen
2017 blieb die Identität der Angreiferinnen und Angreifer ein                                     ihre Arbeit so filigran und feinfühlig aus, dass sie ihre ‚Spuren‘
Rätsel, als die Cybersicherheits-Firma Secureworks eine                                           überall und jederzeit legen können. Vielleicht handelt es sich
Hack-Liste einer Gruppe mit Namen Fancy Bear erhielt und                                          nicht einmal um eine Spur. Sie können ihre Aktivitäten so ver-
diese mit Journalistinnen und Journalisten von der Nach-                                          decken, dass es aussieht, als wenn Hackerinnen und Hacker
richtenagentur Associated Press teilte.21 Roman Shleynow                                          von anderen Gebieten, aus anderen Ländern operieren. Es
stand auf dieser Liste und befand sich in guter Gesellschaft:                                     ist äußerst schwierig, dieses Vorgehen zu überprüfen, mög-
Auf der Liste standen 200 Journalistinnen und Journalisten,                                       licherweise ist es sogar unmöglich.“24
Verlegerinnen und Verleger sowie Bloggerinnen und Blog-
ger, einschließlich 50 Personen von The New York Times.                                           Diese Strategie wurde so lange gefahren, dass Journalistin-
Weitere 50 waren entweder in Moskau ansässige Auslands-                                           nen und Journalisten es aufgaben, eine ordnungsgemäße
korrespondentinnen und Auslandskorrespondenten oder                                               Untersuchung der Hackerangriffe auf ihre E-Mail-Accounts
russische Reporterinnen und Reporter, die für unabhängige                                         zu fordern und dies als ein sehr wahrscheinliches Risiko ak-
Nachrichtenagenturen arbeiteten. Andere waren prominen-                                           zeptierten. Das Regime garantierter Straffreiheit für Hacke-
te Medienvertreterinnen und -vertreter in der Ukraine, der                                        rinnen und Hacker, die kremlkritische politische Aktivistin-
Republik Moldau, den baltischen Staaten oder Washington.                                          nen und Aktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten
Fancy Bear hatte sie seit mindestens 2014 im Visier, indem                                        angriffen, wurde zur Realität. Anstatt auf die Strafverfol-
sie Phishing-Mails nutzten.                                                                       gungsbehörden zu zählen, verlassen sich russische Journa-
                                                                                                  listinnen und Journalisten auf technische Mittel, die ihnen
Es handelte sich um die gleiche Gruppe, von der man an-                                           helfen, ihre Privatsphäre zu wahren: Verschlüsselung, VPN
nahm, sie sei eine der beiden Hackergruppen, die sich 2016                                        (virtuelle private Netzwerke) etc. Dies wiederum kann auch
in das Democratic National Committee (DNC) einhackten.                                            zur Gefahr werden, wie der Fall von Ivan Safronow zeigte.
Viele Cyber-Expertinnen und -Experten behaupteten, dass                                           Der FSB legte die Tatsache, dass Safronow die Verschlüsse-
Fancy Bear in Wirklichkeit eine Einheit des russischen militä-                                    lungssoftware VeraCrypt nutzte, als Beweis dafür aus, dass
rischen Nachrichtendienstes sei.22 „Robert Muellers „Bericht                                      er ein Spion war, der seine Spuren verwischen wollte.25

COVID-19 in Moskau: Fallstudie
Das Coronavirus traf Russland im April 2020 und nach                                              kerten Gebiet des Landes – zum Testgelände für politische,
einem langsamen und zögerlichen Start ergriff der Kreml                                           technische und Social Engineering-Lösungen gegen das
drastische Maßnahmen, um es zu bekämpfen. Die Regie-                                              Virus. Dies war ein kalkulierter Schachzug: Während Putin
rung machte die Region Moskau – das am dichtesten bevöl-                                          sich nach einem kurzen Besuch in einem Moskauer Kranken-

19
     https://www.vedomosti.ru/society/articles/2020/01/12/820412-rossiiskii-oppozitsioner
20
     https://advox.globalvoices.org/2016/05/02/is-telegram-really-safe-for-activists-under-threat-these-two-russians-arent-so-sure/
21
     https://www.csmonitor.com/World/2017/1222/Russian-hacking-groups-including-Fancy-Bear-targeted-journalists-around-the-world
22
     https://www.crowdstrike.com/blog/who-is-fancy-bear/
23
     https://www.justice.gov/storage/report.pdf
24
     The Red Web (2015), Soldatov and Borogan
25
     https://www.rt.com/russia/494611-journalist-charged-high-treason/
12 Digitale Überwachung

haus in Selbstisolation begab, wurden alle Befugnisse an die                                         Leute, die nachts oder während sie im Badezimmer waren,
regionale Ebene in Moskau delegiert. Nachdem Putin Sergei                                            aufgefordert wurden, ein Selfie zu machen und versäumten,
Sobjanin, dem Bürgermeister der Stadt Moskau, freie Hand                                             eines zu verschicken, wurden wegen Regelverstößen mit
ließ, verfügte dieser einen beinahe vollständigen Lockdown                                           einer Geldstrafe belegt. Einige wurden irrtümlich zu einer
der Hauptstadt. Die Moskauer Stadtverwaltung musste je-                                              Geldstrafe verurteilt, obwohl sie die Vorschriften genau be-
doch einen Weg finden, um diesen durchzusetzen. Die von der                                          folgten und ihre Selfies pünktlich versandten. So stellte eine
Moskauer Stadtregierung eingeführten Maßnahmen gaben                                                 Moskauerin beispielsweise fest, dass sie als sie sich besser
den Behörden in beispielloser Weise die Möglichkeit, Informa-                                        fühlte, während ihres Aufenthaltes zu Hause eine Geldstrafe
tionen über Journalistinnen und Journalisten zu sammeln.                                             in Höhe von 550 € wegen eines angeblichen Quarantänever-
                                                                                                     stoßes erhalten hatte.26
Zuerst dachten sie sich das Konzept eines digitalen Passes
aus. Ohne diesen Pass war es nicht mehr möglich, sich inner-                                         Die zweite App, „Quarantäne“, wurde für den Gebrauch durch
halb der Stadt zu bewegen: Weder zu Fuß, da man den Pass                                             die Polizei, nicht für Bürgerinnen und Bürger, entwickelt. Die
am Eingang jeder Metro-Station vorzeigen oder gewappnet                                              Angehörigen der Verkehrspolizei mussten die App auf ihren
sein musste, diesen vorzuzeigen, wenn eine Polizeipatrouil-                                          Tablets installieren. Die App verband sich mit den nächstge-
le einen anhielt, noch mit dem Auto, da die an allen großen                                          legenen Verkehrs- und Überwachungskameras (die verwert-
Straßen installierten Verkehrskameras anfingen, die Autos                                            bare Entfernung beträgt 500 bis 600 Meter), machte Autos
herauszufiltern, deren Nummernschilder nicht mit dem digi-                                           ohne digitalen Pass aus und warnte die Polizei vor heran-
talen Pass in Verbindung gebracht werden konnten.                                                    nahenden Wagen – somit war es möglich, die Autos schnell
                                                                                                     und effizient anzuhalten.
Die Regierung stellte für unterschiedliche Kategorien von
Personen digitale Pässe aus, zumeist taten sie dies für einen                                        Auch nach der vollständigen Aufhebung der Einschränkungen
Tag, aber es gab eine Kategorie, der es erlaubt war, einen                                           werden diese beiden Apps weiterhin in Benutzung bleiben.
Pass für die gesamte Dauer der Einschränkungen zu nutzen.                                            Die Regierung kündigte Pläne an, die App zur sozialen Über-
Diese Kategorie war für Personen mit „Dienstausweisen“                                               wachung zur Verfolgung der Bewegungsprofile von Wander-
vorgesehen, d.h. für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von                                            arbeiterinnen und Wanderarbeitern zu nutzen. Die Installation
Sicherheitsdiensten, der Armee, Anwältinnen und Anwälte                                              der App würde für alle Migrantinnen und Migranten verpflich-
sowie Journalistinnen und Journalisten. Um diesen Pass zu                                            tend sein, die nach Russland kommen, um zu arbeiten.27 Des
bekommen, mussten Journalistinnen und Journalisten ihren                                             Weiteren gibt es Pläne, die App „Soziale Überwachung“ für die
Account auf der Website der staatlichen Online-Dienste                                               Einführung eines Sozialkreditsystems für Migrantinnen und
nutzen – dieser Account beinhaltete bereits persönliche                                              Migranten zu nutzen – ähnlich dem System, das chinesische
Informationen, wie z.B. Details zum Pass sowie die Wohnad-                                           Behörden seit Jahren nutzen, um die Gesellschaft zu über-
resse. Wenn sich die Journalistinnen und Journalisten erst                                           wachen. Die App „Quarantäne“ wird weiterhin von der Polizei
einmal eingeloggt hatten, mussten sie die Nummer ihres                                               genutzt werden, um die Autos zu identifizieren und anzuhal-
Presseausweises angeben. So kam die Regierung ganz                                                   ten, für die kein Nachweis einer verpflichtenden Versicherung
problemlos in den Besitz einer Datenbank aller Journalist-                                           erbracht wird, deren Fahrerinnen und Fahrer ihre Geldbußen
innen und Journalisten in der Stadt. Wenn diese ihr Auto                                             nicht bezahlt haben usw.28 Da beide Apps über COVID hinaus
nutzen wollten, mussten sie dem digitalen Pass die Daten                                             Bestand haben sollen, sollten sich Journalistinnen und Jour-
ihrer Nummernschilder hinzufügen. Auf diese Art und Weise                                            nalisten der potenziellen Risiken einer breitgefächerten Nut-
kannte die Regierung alle von Journalistinnen und Journalis-                                         zung der Apps gewahr werden.
ten gefahrenen Autos in der Region Moskau.
                                                                                                     Die Moskauer Stadtregierung nahm auch die Hilfe von Wirt-
Zweitens führte die Moskauer Stadtregierung prompt zwei                                              schaftsunternehmen in Anspruch, um die Bewegungen der
mobile Apps ein, um die Bewegungsprofile der Moskauer-                                               Moskauerinnen und Moskauer zu verfolgen. Die Behörden
innen und Moskauer zu verfolgen. Die Stadtverwaltung lan-                                            verlangten von allen Taxi-Unternehmen in Moskau, dass sie
cierte mehrere Tracing Apps. Die App „Soziale Überwachung“,                                          ihre Daten mit dem „Einheitlichen Regionalen Navigations-
um die Infizierten im Haus zu halten und die App „Quarantä-                                          und Informationssystem der Stadt Moskau“ (ERNIS) teilen,
ne“, um die Bewegungen der Autos nachzuverfolgen. Jede                                               einschließlich der Geolokalisierung aller Taxis: personenbe-
Person, die sich mit dem Virus infiziert hatte, musste die App                                       zogene Daten aller beschäftigten Fahrerinnen und Fahrer so-
„Soziale Überwachung“, aufs Smartphone downloaden. Diese                                             wie die von ihnen gefahrenen Autos. Das einzige Unterneh-
App verfolgte die Geolokalisierung des Handys, um seine/n                                            men, das dagegen protestierte, war „Wheely business-class
Besitzer/in davon abzuhalten, ihre bzw. seine Wohnung zu                                             service“.29 Der Gründer und CEO von Wheely, Anton Chirkunov,
verlassen und verlangte von den Nutzerinnen und Nutzern,                                             veröffentlichte einen offenen Brief auf der Homepage des
alle fünf bis sechs Stunden zu zufälligen Uhrzeiten ein Selfie                                       Unternehmens: „Diese Daten ermöglichen eine konstante
zu machen, um zu beweisen, dass sie zu Hause waren.                                                  Überwachung aller Fahrerinnen und Fahrer sowie indirekt

26
     Maria Katashova wurde zu einer Strafzahlung von 40.000 Rubeln verurteilt, obwohl sie ihre Wohnung nicht verlassen hatte.
     https://russian.rt.com/russia/article/748049-shtraf-narushenie-karantin
27
     https://www.znak.com/2020-05-29/v_rossii_mogut_sozdat_specialnoe_prilozhenie_dlya_trudovyh_migrantov
28
     https://www.drive.ru/russia/5ebbcc85ec05c4851700001c.html
29
     https://zona.media/article/2020/05/12/wheely
Sie können auch lesen