Meine ersten 48 Stunden in Freiheit - Umfassende Ansätze zu Interventionen mit Take-Home-Naloxon vor und nach der Entlassung von ...
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Meine ersten 48 Stunden in Freiheit Umfassende Ansätze zu Interventionen mit Take-Home-Naloxon vor und nach der Entlassung von Drogenkonsument*innen aus dem Strafvollzugssystem
Impressum Herausgeberin: Deutsche Aidshilfe e. V. Wilhelmstr. 138 10963 Berlin Tel.: 030 / 69 00 87-0 E-Mail: dah@aidshilfe.de www.aidshilfe.de 2021 Das englischsprachige Original des Readers wurde von Kirsten Horsburgh vom Scottish Drugs Forum verfasst und erschien 2018 unter dem Titel „My first 48 hours out. Naloxone-on-Release: Guidelines for naloxone provistion upon release from prison and other custodial settings“. 2019/2020 wurde der Reader übersetzt und an die Verhältnisse in Deutschland angepasst. Redaktion: Prof. Dr. Heino Stöver, Holger Sweers Gestaltung: Carmen Janiesch Spenden: IBAN: DE27 1005 0000 0220 2202 20, BIC: BELADEBEXXX online: www.aidshilfe.de Sie können die DAH auch unterstützen, indem Sie Fördermitglied werden (Antragsformular unter www.aidshilfe.de/foerdermitgliedschaft). Die DAH ist als gemeinnützig und besonders förderungswürdig anerkannt. Spenden und Fördermitgliedschaftsbeiträge sind daher steuerabzugsfähig. 2
Inhalt Vorwort.............................................................................................................................................. 5 Über diesen Reader..................................................................................................................... 6 An wen richten sich die Empfehlungen? ....................................................................................... 7 Opioid-Überdosierungen................................................................................................................. 8 Wodurch sind Menschen dem Risiko einer Überdosierung ausgesetzt?............................. 8 Wie können Überdosierungen verhindert werden?............................................................... 9 Bei wem ist die Wahrscheinlichkeit, eine Überdosierung (mit-) zu erleben, besonders hoch?............................................................................................................................................. 9 Wie sehen die Anzeichen und Symptome einer Überdosierung aus?.................................. 9 Was ist Naloxon?.............................................................................................................................. 11 Wie wirkt Naloxon?..................................................................................................................... 11 Wann sollte Naloxon verabreicht werden?............................................................................. 12 In welcher Form wird Naloxon verabreicht?........................................................................... 12 Rechtliche Aspekte..................................................................................................................... 12 Forschungsübersicht.................................................................................................................. 13 Naloxon-Vergabeprojekte und Naloxon in Haft in der EU (Beispiele)....................................... 14 Norwegen.................................................................................................................................... 14 Estland......................................................................................................................................... 14 Irland............................................................................................................................................ 14 Dänemark ................................................................................................................................... 15 Deutschland ............................................................................................................................... 15 Italien........................................................................................................................................... 16 Spanien........................................................................................................................................ 17 Großbritannien........................................................................................................................... 17 England.......................................................................................................................................... 17 Wales.............................................................................................................................................. 18 Schottland...................................................................................................................................... 18 3
Das schottische Modell................................................................................................................... 19 Kontext: Drogenbedingte Todesfälle in Schottland............................................................... 19 Das Naloxon-Programm in den schottischen Gefängnissen................................................ 20 Praktische Schritte........................................................................................................................ 21 Peer-Education ........................................................................................................................... 24 Wirksamkeit ................................................................................................................................ 25 Empfehlungen rund um die Einführung von Naloxon-Programmen für Entscheidungsträger*innen .................................................................................................... 27 Empfehlungen rund um die Einführung von Naloxon-Programmen für Praktiker*innen ......................................................................................................................... 29 Schulungen für Bedienstete .......................................................................................................... 30 Naloxon-Schulungen für Trainer*innen (Durchführung durch „Master-Trainer*innen“) ........................................................................................................... 30 Aufklärungs-/Informationsveranstaltungen .......................................................................... 31 Peer-Edukator*innen-Modell ........................................................................................................ 32 Naloxon-Peer-to-Peer-Schulungsmodell ................................................................................ 32 Schlüsselinformationen für Kurzinterventionen ........................................................................ 34 Zehn Tipps für Naloxon-Schulungen ............................................................................................ 35 Checkliste für die Umsetzung ........................................................................................................ 37 Entscheidungsträger*innen ..................................................................................................... 37 Praktiker*innen ......................................................................................................................... 37 Anhänge ........................................................................................................................................... 38 Anhang 1: Checkliste für Naloxon-Einzelschulungen ............................................................ 38 Anhang 2: Fragebogen vor der Schulung ............................................................................... 40 Anhang 3: T est zu Überdosisprävention, Erste-Hilfe-Maßnahmen und Naloxon ............. 41 Anhang 4: Auswertung nach der Schulung ............................................................................ 42 Anhang 5: Bewertungsbogen Naloxon-Training für Trainer*innen (TfT) ........................... 43 Anhang 6: Naloxon-Training für Trainer*innen – Teilnahmebescheinigung ..................... 44 Anhang 7: T eilnehmer*innen-Bewertungsbogen für Informationsveranstaltungen ....... 45 Anhang 8: Leben retten im Drogennotfall: Infos von aidshilfe.de ...................................... 46 Anhang 9: Naloxon-Nasenspray: Infos und Trainingskarte ................................................. 47 Anhang 10: Fragebogen/Bericht nach Naloxonanwendung ................................................ 51 Anhang 11: Naloxontraining.de ............................................................................................... 54 Literatur............................................................................................................................................ 55 4
Vorwort Dieser Reader ist ein Ergebnis des Pro- mit Drogenkonsumerfahrung nach jekts „My first 48 hours out – compre- ihrer Entlassung aus dem Gefängnis hensive approaches to pre and post ausreichend betreut werden. Damit prison release interventions for drug Haftentlassene in Freiheit zurechtkom- users in the criminal justice system“ (auf men können, ohne erneut in problema- Deutsch etwa „Meine ersten 48 Stunden tische Konsummuster zu geraten und in Freiheit – umfassende Ansätze für In- sich dem extremen Risiko einer tödli- terventionen für Drogenkonsument*in- chen Überdosierung auszusetzen, sind nen im Justizvollzug vor und nach ihrer Maßnahmen zur Schadensminderung Entlassung“). erforderlich. Das von der Frankfurt University of Ap- Die Zeit unmittelbar nach der Entlas- plied Sciences durchgeführte Projekt sung aus dem Gefängnis („Meine ersten (Leitung: Prof. Dr. Heino Stöver) erhielt 48 Stunden in Freiheit“) ist dabei extrem für den Zeitraum 2017–2018 eine Fi- wichtig. Hier kommt es auf die Zusam- nanzierung der Europäischen Union. menarbeit zwischen Gefängnissen, Ziel war und ist, Lücken in der Kontinu- Gesundheitsdiensten und Nichtregie- ität der medizinischen Versorgung von rungsorganisationen an, um die Kon- Langzeitdrogenkonsument*innen im tinuität der medizinischen Versorgung Gefängnis und nach der Entlassung zu und der Beratung zu gewährleisten, schließen – durch Unterstützung für le- durch gezielte Interventionen Überdo- bensrettende Maßnahmen zur Verhin- sierungen zu verhindern und Leben zu derung von Überdosierungen und zur retten und um den Weg zur weiteren Reduktion anderer mit dem Drogenkon- Behandlung und Rehabilitation für Dro- sum verbundener Risiken sowie für die genkonsument*innen zu ebnen. Etablierung eines Behandlungspfads, der nach der Haftentlassung nicht un- Das Projekt will deshalb unter anderem terbrochen wird. die Umsetzung lebensrettender Inter- ventionen im Gefängnis und nach der Bei Strafgefangenen mit Drogenkon- Entlassung unter besonderer Berück- sumerfahrung (insbesondere von sichtigung der Schadensminderung, der Opioiden) sind die mit dem Drogenkon- Prävention von Überdosierungen und sum verbundenen Risiken, vor allem des Einsatzes von Naloxon-Program- Überdosierungen und Todesfälle, un- men fördern. mittelbar nach der Haftentlassung auf- grund der hohen Rückfallquoten und Dieses Ziel muss sowohl bei Entschei- der geringeren Opioidtoleranz extrem dungsträger*innen als auch bei Prakti- hoch. Es muss noch viel getan werden, ker*innen in den europäischen Ländern um zu gewährleisten, dass Menschen höchste Priorität haben. Der vorliegen- 5
de Reader will Entscheidungsträger*in- Danksagung der Autorin nen und Praktiker*innen aus dem der englischen Ausgabe: Justizvollzug praktische Leitlinien an die Hand geben, wie sie Interventionen zur Die Autorin möchte allen danken, die Prävention von Überdosierungen durch diese Arbeit unterstützt und dazu bei- Naloxon-Programme und entsprechen- getragen haben, insbesondere: Heino de Schulungen und Kompetenztrainings Stöver, Professor an der Frankfurt fördern, initiieren und steuern können. University of Applied Sciences, Laurent Michel vom Centre Pierre Michel des Französischen Roten Kreuzes, den Kol- Über diesen Reader leg*innen vom Scottish Drugs Forum, John-Peter Kools und dem Correlation Der Reader ist im Jahr 2018 unter Network, Cinzia Brentari für die Koor- dem Titel „My first 48 hours out. Nal- dinierung der Arbeit und Milena Naomi oxone-on-Release: Guidelines for nal- Kornek (Frankfurt University of Applied oxone provistion upon release from Sciences) für technische Unterstützung. prison and other custodial settings“ erschienen. 2019/2020 wurde er an die Kontakt Verhältnisse in Deutschland angepasst. Prof. Dr. Heino Stöver Die Verfasserin des englischen Rea- Frankfurt University of Applied Sciences ders „My first 48 hours out” ist Kirsten Nibelungenplatz 1 Horsburgh vom Scottish Drugs Forum. 60318 Frankfurt am Main hstoever@fb4.fra-uas.de Kirsten Horsburgh Scottish Drugs Forum 91 Mitchell Street, G1 3LN Glasgow, UK kirsten@sdf.org.uk u www.harmreduction.eu u www.harmreduction.eu/projects/ my1st48h 6
An wen richten sich die Empfehlungen? Diese Empfehlungen richten sich an Um das zu erreichen, werden diese Entscheidungsträger*innen, Anstaltslei- Empfehlungen tungen und Praktiker*innen, die mit der • Entscheidungsträger*innen des Ge- Versorgung von Drogengebraucher*in- sundheitswesens im Strafvollzug die nen und mit Menschen zu tun haben, Vorteile der Naloxonvergabe bei der welche mit hoher Wahrscheinlichkeit Haftentlassung nahebringen, Überdosierungen (mit)erleben. • über die nötigen praktischen Schritte zur Einführung der Naloxonvergabe Ziel dieser Empfehlungen ist ein Beitrag bei der Haftentlassung informieren zur Reduktion opioidbedingter Todes- sowie fälle in den ersten Wochen nach der • Programmverantwortliche über die Entlassung aus dem Gefängnis. Konkret Vorteile der Naloxonvergabe bei sollen sie der Haftentlassung informieren und • die Verfügbarkeit von Naloxon für Tipps zur Umsetzung der entspre- Personen erhöhen, die nach ihrer chenden Maßnahmen zur Verfügung Entlassung aus dem Gefängnis mit stellen. hoher Wahrscheinlichkeit eine Über- dosierung (mit)erleben, und Diese Empfehlungen sollen einfach und • das Bewusstsein für die Anzeichen benutzer*innenfreundlich sein und Or- und Symptome einer Überdosierung ganisationen einen gebrauchsfertigen schärfen sowie dazu befähigen, dar- Projektplan liefern, der an die lokalen auf wirksam zu reagieren. Erfordernisse angepasst werden kann. 7
Opioid-Überdosierungen Weltweit sind Überdosierungen eine Atemdepression führen, besonders Hauptursache vorzeitiger Todesfäl- dann, wenn sie zusammen mit anderen le unter Menschen, die Drogen in- ZNS-dämpfenden Substanzen wie bei- travenös konsumieren, und an der spielsweise Benzodiazepinen und Alko- überwältigenden Mehrheit der To- hol eingenommen werden. desfälle nach Überdosierungen sind Opioide beteiligt.* 2017 starben schät- Opioide beeinflussen den Teil des Ge- zungsweise 500.000 Menschen infolge hirns, der für die Steuerung der Atmung des Konsums von Drogen, mehr als 70 zuständig ist. Bei einer Überdosis wird Prozent davon infolge des Konsums die Atmung reduziert, bis sie schließlich von Opioiden und mehr als 30 Prozent ganz stoppt. davon an einer Überdosierung mit Opi- oiden (WHO 2020) – das wären mehr als Auch nicht tödlich verlaufende 100.000 Menschen. Überdosierungen sind ein Anlass zur Besorgnis, da sie zu verheerenden und In Europa (damals 28 Mitgliedsländer zuweilen lebensverändernden Folgen plus Norwegen und Türkei) wurden – aufgrund von Verletzungen bzw. Beein- bei allen Unterschieden in Datenerhe- trächtigungen führen und gleichzeitig bung, Monitoring und Pathologie – 2016 das Risiko einer künftigen tödlichen mehr als 9.000 drogeninduzierte To- Überdosierung erhöhen können. In desfälle gemeldet (EMCDDA 2018). Die Europa kommen auf jede tödliche Über- tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich dosis schätzungsweise 20 bis 25 nicht weit höher. tödliche Überdosierungen (EMCDDA 2010). Bei 9.000 gemeldeten Todesfäl- Forschungen zufolge sind die meisten len infolge von Überdosierungen wären dieser Todesfälle unbeabsichtigt einge- das 2016 mehr als 180.000 Überdosie- treten und wären demnach vermeidbar rungen gewesen. gewesen, zumal in einem großen Teil dieser Fälle andere Personen anwesend waren. Wodurch sind Menschen dem Risiko einer Überdosierung aus- Opioide setzen die Aktivität des zentra gesetzt? len Nervensystems (ZNS) herab und können zu einer lebensbedrohlichen Die Hauptrisikofaktoren für Überdosie- rungen sind * Die Begriffe „Opioide“ und „Opiate“ • R eduzierte Toleranz – die Toleranz werden in diesem Dokument synonym gegenüber einer Droge kann schnell verwendet. sinken (häufig innerhalb weniger 8
Tage), nachdem man den Drogen- stitutionstherapien mit den optimalen konsum eingestellt oder wesentlich Dosierungen und der optimalen Be- reduziert hat. Mit einem hohen handlungsdauer durchgeführt werden Risiko verbunden sind daher unter (EMCDDA 2016b). anderem die Zeiträume nach der Entlassung aus dem Gefängnis/der Informationsmaterialien und Gespräche Untersuchungshaft, nach Entlassung über die Risiken einer Überdosierung aus dem Krankenhaus, nach statio- sind von entscheidender Bedeutung. närer Rehabilitation oder nach Been- Man sollte nicht annehmen, dass alle digung einer Substitutionstherapie. Menschen, die schon lange Drogen • Mischkonsum von Drogen – der konsumieren, ausreichend über die Konsum einer Kombination ver- Risiken von und den Umgang mit Über- schiedener Drogen (nicht unbedingt dosierungen informiert sind – diese An- zur selben Zeit) und insbesondere nahme kann dazu führen, dass solche mehrerer ZNS-dämpfender Substan- Gespräche nicht stattfinden. zen. Aufgrund der Wirkungsweise lang und kurz wirkender Drogen ist Mischkonsum in einigen Fällen selbst Bei wem ist die Wahrscheinlich- dann möglich, wenn die Drogen nicht keit, eine Überdosierung (mit-) am selben Tag eingenommen wer- zu erleben, besonders hoch? den: Lang wirkende Drogen können mehrere Tage lang im Körper verblei- Am größten ist die Wahrscheinlichkeit, ben. eine Überdosierung (mit-) zu erleben, • Andere Faktoren wie beispielsweise bei Drogenkonsument*innen. Weite- eine schlechte körperliche oder geis- re Personen sind Familienmitglieder, tige Gesundheit und soziale Faktoren Freund*innen, Drogenberater*innen, können das Risiko einer Überdosie- Beschäftigte im Bereich der Obdach- rung ebenfalls erhöhen. losen- und Wohnhilfe, Streetwor- ker*innen, Mitarbeiter*innen von Strafverfolgungsbehörden … praktisch Wie können Überdosierungen alle, die mit Drogenkonsument*innen verhindert werden? Kontakt haben – die Liste ist endlos. Während diese Empfehlungen dar- auf fokussieren, tödliche Verläufe von Wie sehen die Anzeichen und Überdosierungen zu verhindern, gilt Symptome einer Überdosierung es generell zu überlegen, wie sich aus? Überdosierungen überhaupt vermeiden lassen. Viele Menschen sterben, weil nicht er- kannt wird, dass eine Überdosierung Sehr gut recherchiert und belegt ist, vorliegt. Notfallmaßnahmen gegen dass die Opioid-Substitutionsthera- Überdosierungen aber sind zwecklos, pie (OST) einen Schutzfaktor darstellt wenn die Überdosierung nicht erkannt (Pont et al. 2018). Um drogenbedingte wird. Häufig nehmen Menschen zum Todesfälle zu reduzieren, müssen Sub- Beispiel an, dass eine Person schläft, 9
weil sie „schnarcht“, während in Wahr- In den meisten Fällen tritt der Tod nicht heit eine Überdosierung vorliegt. Es ist sofort ein. Viele Todesfälle treten zwei daher sehr wichtig, dass die Anzeichen oder drei Stunden nach dem Drogen- einer Überdosierung breit bekannt sind: konsum ein, nur ein Viertel der Todes- fälle unmittelbar nach dem Konsum. • Die Person ist nicht ansprechbar. Dieses Zeitfenster bietet die Gelegen- • Die Person hat eine langsame/fla- heit zur Intervention. che/rasselnde Atmung (wird häufig mit Schnarchen verwechselt). Die meisten Zeug*innen von Überdo- • Die Person hat blasse Haut und sierungen greifen ein, um die Notsi- möglicherweise blaue Lippen (Zya- tuation zu bewältigen, doch viele der nose). ergriffenen Maßnahmen (zum Beispiel, • Die Person hat verengte Pupillen kollabierten Konsument*innen leicht (deutet auf den Konsum von Opiaten ins Gesicht zu schlagen oder mit ihnen hin); auch bei nicht verengten Pupil- umherzugehen) sind falsch und unwirk- len sollte eine Opioid-Überdosierung sam. In Studien mit Personen, die selbst nicht ausgeschlossen werden. eine Überdosierung erlebt oder miter- lebt haben, stellte sich heraus, dass nur die Hälfte einen Krankenwagen gerufen hatten – hauptsächlich, weil sie Angst vor der Polizei hatten und glaubten, die Situation selbst bewältigen zu können (Wakeman et al. 2009). 10
Was ist Naloxon? Naloxon ist ein Medikament, das die Es verursacht selbst keinen „Rauschzu- Wirkung von Opioiden aufhebt. Bei stand“ und keine Vergiftung, sondern einer Überdosierung kann es Leben hat einzig und allein die Aufgabe, die retten. Folgen der durch die Opioide verur- sachten Atemdepression aufzuheben. Das Medikament gibt es seit mehr als 50 Jahren; es steht auf der Liste Zu den Opioiden gehören neben Heroin der unentbehrlichen Arzneimittel der unter anderem Methadon (verursacht Weltgesundheitsorganisation (WHO) keinen „Kick“), Kodein, Tramadol, Fenta- und wird in WHO-Leitlinien für den nyl und Morphin. Naloxon ist also nicht Umgang mit Opioid-Überdosierungen nur zur Verwendung bei vermuteten im Community-Setting empfohlen. Heroin-Überdosierungen gedacht. Seit den 1990er-Jahren wird Naloxon an Personen abgegeben, bei denen Wenn die Person mit der Überdosis die Wahrscheinlichkeit hoch ist, eine körperlich von Opioiden abhängig ist, Überdosierung (mit-) zu erleben. In können nach der Naloxongabe akute Deutschland ist seit Ende 2018 ein ver- Entzugserscheinungen auftreten – das schreibungspflichtiges und erstattungs- Risiko steigt mit der Naloxondosis. Eine fähiges Naloxon-Nasenspray auf dem vorsichtige Dosierung kann die Wahr- Markt (DAH 2018). scheinlichkeit von Entzugserscheinun- gen reduzieren. Wie wirkt Naloxon? Naloxon wirkt nur sehr kurz; die Wir- kung beginnt nach 20 bis 30 Minuten Naloxon wirkt, indem es vorüberge- nachzulassen, sodass dann die Opioi- hend Opioide von den Rezeptoren im de wieder an die Rezeptoren binden. Gehirn verdrängt und so die Atem- Es ist daher sehr wichtig, dass die be- schwierigkeiten bei der Person, die troffenen Personen zwischenzeitlich eine Überdosis erlitten hat, rückgängig (während das Naloxon wirkt) keine macht (EMCDDA 2016a). Bei der na- weiteren Drogen oder Medikamente salen Verabreichung von Naloxon tritt einnehmen, da sie sonst bei Nachlas- die erwünschte Wirkung (Person atmet sen der Naloxonwirkung wahrschein- wieder) nach wenigen Sekunden ein; lich erneut eine Überdosierung evtl. muss eine zweite Dosis verabreicht erleiden. Da die vor dem Notfall ein- werden (siehe S. 12). genommene Dosis ausreichen kann, um nach 20 bis 30 Minuten erneut zu Naloxon ist ein „kompetitiver Antago- einer Atemlähmung zu führen, muss nist“, das heißt, es „konkurriert“ mit unbedingt ein Rettungswagen geru- den Opioiden um die Rezeptoren und fen werden und die Person unter Be- blockiert diese dann vorübergehend. obachtung bleiben. 11
Naloxon ist ein extrem sicheres Medika- Die Dosierung hängt von der Wahl des ment. Produkts ab, aber in den meisten Fällen sind 0,4–0,8 mg eine wirksame Dosis. Es ist wichtig, ausreichend Naloxon bereitzu- Wann sollte Naloxon verabreicht stellen, um ggf. die anfängliche Dosis zu werden? ergänzen (WHO, 2014). Naloxon ist für vermutete Opiat-Über- dosierungen gedacht. Bei Anzeichen Rechtliche Aspekte einer Überdosierung ist die Verabrei- chung von Naloxon vollkommen sicher, Die rechtliche Situation stellt sich in den selbst wenn sich herausstellt, dass europäischen Ländern unterschiedlich keine Opiate konsumiert worden sind. dar und ergibt ein unklares Bild. Eine Die Wirkung anderer Drogen wie Alko- Übersicht aus dem Jahr 2020 findet hol, Benzodiazepine oder Kokain, die zu sich bei der EMCDDA unter https:// einer Überdosierung beitragen können, www.emcdda.europa.eu/publications/ kann Naloxon nicht aufheben – Naloxon topic-overviews/take-home-naloxone hebt nur die Wirkung von Opioiden auf. (Stand: 31.8.2020; abgerufen am 8.4.2021). In welcher Form wird Naloxon In Deutschland gelten für die verabreicht? Verschreibung von Naloxon (das nicht dem Betäubungsmittelrecht unterliegt) In Europa war Naloxon bis 2018 nur zur „die Vorschriften der Arzneimittelver- intramuskulären, intravenösen oder schreibungsverordnung sowie die all- subkutanen Anwendung zugelassen. gemeinen ärztlichen Sorgfaltspflichten Mittlerweile ist in der EU eine nasale bei der Arzneimitteltherapie im Sinne Applikation zugelassen worden. Es han- einer individuellen Nutzen-Risiko-Ab- delt sich um ein Nasenspray (Nyxoid®), wägung für die einzelne Patientin oder das in Einzeldosisbehältnissen erhältlich den einzelnen Patienten“ – so lautet ist (pro Packung 2 Sprays à 1,8 mg). Die die Antwort der Bundesregierung auf empfohlene Dosis ist ein Sprühstoß in eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die ein Nasenloch. Falls es der Person inner- Linke“, die wissen wollte, unter welchen halb von 2–3 Minuten nicht besser geht Voraussetzungen es Ärztinnen und Ärz- oder die Symptome der Überdosierung ten nach Ansicht der Bundesregierung erneut auftreten, verwendet man ein erlaubt sei, Menschen mit einer Heroin- neues Spray im anderen Nasenloch. oder sonstigen Opioidabhängigkeit Naloxon zur Anwendung im Notfall zu Neben dem Nasenspray gibt es auch Am- verschreiben.1 pullen oder Fläschchen und Fertigspritzen mit Naloxonhydrochlorid in unterschied- Ein strafrechtliches Gutachten zur Frage lichen Konzentrationen: 0,02 mg, 0,4 mg der einschlägigen Risiken bei der Ver- und 1 mg pro 1 ml-Fläschchen, 2 mg/1 ml-, schreibung von Naloxon an opiatkon- 2 mg/2 ml-, 2 mg/5 ml-Fertigspritzen und 4 mg/10 ml-Multidosisampullen. 1 BT-Drucksache 18/10958, S. 5f. 12
sumierende Personen2 kommt zu dem Person das Medikament bestimmt ist. Schluss: „Einen strafrechtlichen Grund, Dazu, wer die Substanz im Ergebnis in medizinisch geeigneten Fällen von verabreicht, enthält das Rezept hin- der Rezeptierung von Naloxon abzu- gegen keine Angaben – wie sollte dies sehen, gibt es nicht. Wann eine solche auch zum Zeitpunkt des Rezeptierens Rezeptierung angezeigt ist, ist eine me- bestimmt werden können (vgl. Teuter dizinische und keine (straf-)rechtliche 2017, S. 4)? Frage“ (S. 9). Eine Strafbarkeit nach dem Arzneimit- Forschungsübersicht telgesetz ist für den verschreibenden Arzt*die verschreibende Ärztin – bei Ein Mapping-Review (Horton et al. Beachtung der arzneimittelrechtlichen 2017) ergab, dass die meisten Studien Grundsätze sowie spezifischer Beson- und Berichte über Naloxon nach der derheiten – ausgeschlossen, da es sich Haftentlassung aus den USA oder dem bei Naloxon um ein verschreibungsfä- Vereinigten Königreich stammen; aus higes Medikament handelt. In diesem anderen europäischen Ländern gibt es Zusammenhang ist es unerheblich, dass nur wenige veröffentlichte Arbeiten. die opioidkonsumierende Person das Naloxon im Ernstfall nicht mehr selbst Die nachstehenden Informationen anwenden kann. Diese Tatsache ergibt stammen hauptsächlich aus diesen we- sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 der Arzneimit- nigen veröffentlichten Arbeiten sowie telverschreibungsverordnung (AMVV), aus dem EMCDDA-Bericht (EMCDDA denn nach dieser Vorschrift muss das 2016a; vgl. auch: Jamin/Stöver 2020). Rezept Angaben enthalten, für welche 2 euter, L. (2017): Strafrechtliches Gutach- T ten zur Frage der einschlägigen Risiken bei der Verschreibung von Naloxon an opiat- konsumierende Personen. Gutachten im Auftrag von akzept e.V., online verfügbar unter https://www.akzept.org/uploads0517/ GutachtenNaloxonTeuter2017.pdf (Zugriff: 8.6.2020). 13
Naloxon-Vergabeprojekte und Naloxon in Haft in der EU (Beispiele) Norwegen Estland Das Programm für intranasales Nalo- In Estland wurde 2013 ein community xon in Oslo und Bergen startete 2014. basiertes Naloxon-Programm einge- Es sieht eine Naloxon-Fertigspritze führt. Ab 2015 wurde Naloxon durch die (2 mg/2 ml) mit einem Nasalzerstäuber medizinischen Abteilungen der Haftan- anstelle von Injektionsnadeln vor. stalten ausgegeben. Die Justizvollzugs- anstalten organisieren Schulungen für In Haftanstalten konnte es nur bedingt Inhaftierte mit einer Vorgeschichte von umgesetzt werden, ein Ausbau wird an- intravenösem Opioid-Konsum, bevor gestrebt. diese aus dem Gefängnis entlassen wer- den. Bei ihrer Haftentlassung bekom- Unter Gefangenen in Oslo wurden Kurz- men sie ein Naloxon-Fertigspritzen-Kit, schulungen zur Naloxon-Anwendung das sie mit nach Hause nehmen können. durchgeführt. Eine Evaluation zeigte, dass die Teilnehmer*innen schon vor Von Juni 2015 bis Ende 2016 wurden der Schulung gute Grundkenntnisse insgesamt 107 Insassen der Gefängnis- über Risikofaktoren, Symptome und se Viru, Harku und Murru sowie Tartu Umgang mit Opioid-Überdosierungen geschult; 85 Naloxon-Fertigspritzen hatten und die Kurzschulungen die- wurden ausgehändigt. ses Wissen erheblich erweitern konn- ten, insbesondere in Bezug auf den Einsatz von Naloxon (Petterson und Irland Madah-Amiri, 2017). 2015 wurden in Irland 31 Personen zu Daraus wurde gefolgert, dass Program- Schulungsleiter*innen ausgebildet, an me zur Prävention von Überdosierun- übergreifenden Schulungseinheiten für gen von entscheidender Bedeutung das Naloxon-Demonstrationsprojekt sind und dass die in Haftanstalten nahmen dann fast 600 Personen teil durchgeführten Naloxon-Schulungen (Health Service Executive 2016). den Inhaftierten bei der Erkennung und Bewältigung von Opioid-Überdosierun- Im Laufe des Projekts wurden 95 Take- gen nach ihrer Entlassung helfen kön- Home-Naloxon-Rezepte (THN) von nen. sechs Allgemeinmediziner*innen in Dublin und Limerick ausgestellt. 14
Fünf potenziell tödliche Überdosierun- Deutschland gen wurden mit THN verhindert, wobei das Naloxon in vier Fällen von Mitarbei- „Fixpunkt“ Berlin begann 1999 mit ter*innen und in einem Fall von einem der Abgabe von THN, doch erhielt das Peer verabreicht wurde. Projekt nach Ende der Pilotphase im Jahr 2002 keine weitere Finanzierung. Die irische Strafvollzugsbehörde nahm Trotzdem stellte Fixpunkt auch nach an der Einführung der Schulungen teil. der Pilotphase weiterhin THN in gerin- Hier gab es Verzögerungen bei der Ver- gen Mengen zur Verfügung und führte schreibung, die jedoch gegen Ende des Schulungen durch (Dichtl et al. 2018; Projekts beseitigt wurden. Dichtl und Stöver 2015). 2014 veranstaltete die Deutsche Aidshil- Dänemark fe ein Konzeptseminar zur Drogennot- fallschulung und Naloxonvergabe vor Die Vergabe von intranasalem Naloxon der Haftentlassung, an dem Mitarbei- begann 2013 in Kopenhagen, Aarhus, ter*innen verschiedener Justizvollzugs- Odense und Glostrup. 2014 hatten 121 anstalten teilnahmen. 2015 erstellte die Drogenkonsument*innen an Schulun- Deutsche Aidshilfe ein Konzept zur Dro- gen zur Verhinderung von Überdosie- gennotfallschulung und Naloxonverga- rungen teilgenommen und THN-Kits be vor der Haftentlassung. Modellhafte erhalten (EMCDDA 2016a). Interventionen sollten sich anschließen, die Umsetzung scheiterte allerdings an THN wird Drogenkonsument*innen, der Rechtsunsicherheit bezüglich der Familienmitgliedern, Freund*innen Vergabe und der damaligen Auffassung, und Mitarbeiter*innen in Gesundheits- es handele sich ggf. um eine Arzneimit- diensten zur Verfügung gestellt. Bevor telstudie. die THN-Kits ausgegeben werden, wird eine Schulung zur Prävention von Über- Anfang 2021 stellten 19 Träger in 18 dosierungen und zum Umgang damit Städten THN zur Verfügung (Ostermann durchgeführt. 2020), wobei es auch Programme mit Schwerpunkt auf dem Zeitraum nach Das Kit enthält eine 2 mg/2 ml-Fertig- der Haftentlassung gab (Condrobs in spritze mit einem separaten Nasen- München und MUDRA in Nürnberg; zerstäuber. Die Spritze ermöglicht siehe Ostermann 2019). fünf Dosen à 0,4 mg mit Anleitung zur nasalen Verabreichung der ersten drei Laut Rückmeldung von 15 Standorten Dosen und zur intramuskulären Injekti- wurden 2019 insgesamt 190 Nalo- on der restlichen beiden Dosen. xonschulungen mit rund 800 Teilneh- mer*innen durchgeführt. 646 Mal wurde Naloxon ausgegeben und es gab 48 Naloxoneinsätze, 47 davon erfolg- reich. 15
THN wird in Deutschland breit dis- Trotz der Tatsache, dass THN in Apothe- kutiert. Dabei geht es auch um die ken erhältlich ist, spielen die Apothe- Ausarbeitung eines Netzwerks zur ker*innen selbst keine aktive Rolle beim Verbesserung des THN-Angebots Verkauf an Drogenkonsument*innen, (koordiniert von akzept e.V.; siehe was als Mangel des Programms gese- www.naloxoninfo.de). hen wird. Insgesamt bleibt Naloxon in Deutsch- Von den 57 niedrigschwelligen Einrich- land aber weitgehend ungenutzt (vgl. tungen stellten 55 für das Jahr 2015 Schäffer 2020). ihre Daten zur Abgabe von THN an ihre Kund*innen zur Verfügung. Insgesamt wurden 14.999 Ampullen abgegeben, Italien das entspricht einem Durchschnitt von 272 Ampullen pro Jahr und Einrichtung. In Italien ist THN seit den späten 80er-Jahren in Apotheken frei verkäuf- In italienischen Gefängnissen werden lich und wurde bereits 1991 an Drogen- wenige oder gar keine Schadensminde- konsument*innen, ihre Familien und rungs-Programme für Inhaftierte ange- Freund*innen abgegeben. Seit 1996 boten, obwohl eine Abgabe von THN für wird Naloxon formell als apotheken- diese Zielgruppe bedeutsam wäre. pflichtig eingestuft und darf in Apothe- ken ohne Rezept abgegeben werden. Aus der Forschungsarbeit in Italien wur- den die folgenden Schlussfolgerungen THN ist ein Bestandteil der Strategie zur und Empfehlungen abgeleitet: Prävention von Überdosierungen und wurde 2015 durch 57 niedrigschwellige Praxis Harm-Reduction-Einrichtungen verteilt (Ronconi et al. 2017). Die Verfügbarkeit • D er aktuelle rechtliche Rahmen ist ist allerdings regional unterschiedlich; klar und ausreichend. besonders im Süden und auf den Inseln • Jedes Drogenhilfeangebot kann und ist das Angebot lückenhaft. Die Versor- sollte Naloxon ausgeben. gung mit THN wird größtenteils von den • Es sollte Anreize für den Peer-Sup- Drogenberatungsstellen und mobilen port-Ansatz, d.h. die Zusammenar- Spritzentausch-Stellen übernommen. beit mit Peers und die Unterstützung Die entsprechenden Informationen von Vereinigungen von Drogenkon- werden von den Mitarbeiter*innen sument*innen geben. dieser Stellen vermittelt; es gibt jedoch • Einführung von Programmen für Fa- auch eine gute Peer-to-Peer-Aufklärung milien und ein Versorgungsnetz, das Profes- • Einführung von THN in Gefängnissen sionelle und Drogengebraucher*innen und nach der Haftentlassung umfasst. In 70 Prozent der Überdo- sis-Fälle leisten Drogengebraucher*in- nen Erste Hilfe mit Naloxon (Ronconi 2018). 16
Politik Anfangs gab es für Drogenkonsumen- t*innen einen finanziellen Anreiz zur • D ie Drogenpolitik und die dazugehö- Teilnahme an Schulungen. Bis Dezem- rigen Aktionspläne sollten auf einem ber 2013 wurden 5.830 THN-Kits aus- aktuellen Stand sein. gegeben, 40 % der Teilnehmer*innen • Es müssen Richtlinien zur Schadens- gaben an, ein Kit bei Überdosierungen minimierung herausgegeben wer- eingesetzt zu haben. den. • THN ist in die Livelli Essenziali di Die Koordinator*innen des Programms Assistenza (LEA) aufzunehmen, also beschrieben folgende Herausforderun die für alle Bürger*innen garantierte gen und Probleme: Einstellungsbezo- Mindestbetreuung, zu der u.a. Prä- gene Hindernisse bei abstinenzorien- ventionsmaßnahmen und die medi- tierten Einrichtungen, eingeschränkte zinische Grundversorgung gehören. Abgabe von Naloxon-Kits und mangeln- de Bereitstellung über den Gefängnis- Forschung dienst (EMCDDA 2016a). • A ufnahme von THN in das institutio- nelle Monitoringsystem Großbritannien • Entwicklung qualitativer Forschung, Änderung der Haltung gegenüber England Drogenkonsument*innen • Entwicklung von Evaluationsstudien 2008 gewährte der UK Medical Research für die Prozesse und Ergebnisse von Council die Finanzierung für die Pilot- THN studie „N-ALIVE“. Die Teilnahmevoraus- • Höhere Synergie zwischen Informa- setzungen erfüllten alle Inhaftierten tionssystemen und Registern für im Alter von mindestens 18 Jahren mit Sterbefälle, um die Zahl von Über- einer Freiheitsstrafe von mindestens dosierungen besser überwachen zu sieben Tagen und einer Vorgeschichte können. mit intravenösem Heroinkonsum. Die Studie startete im Mai 2012, es nahmen Inhaftierte aus 16 Haftanstalten teil. Spanien Die für den Studienarm mit Take-Home- In Barcelona begann die THN-Vergabe Naloxon randomisierten Teilnehmer*in- offiziell im Jahr 2008, obwohl sie Berich- nen erhielten nach ihrer Haftentlassung ten zufolge bereits seit 2001 inoffiziell ein N-ALIVE-Kit mit einer Naloxon-Fer- praktiziert wurde. THN wird mittler- tigspritze und einem Beipackzettel weile von einem breiten Spektrum von sowie einer DVD mit Video-Anleitung Dienstleister*innen an Drogenkon- zum Umgang mit Überdosierungen und sument*innen ausgegeben, darunter zur Verabreichung von Naloxon. Drogentherapie-Einrichtungen, Drogen- konsumräume und Entgiftungszentren. 17
Die Studienteilnehmer*innen in der • w urden landesweit durchschnittlich Kontrollgruppe erfuhren zum Zeitpunkt 12 Take-Home-Naloxon-Kits auf 100 ihrer Haftentlassung, dass ihr N-ALIVE- Opioidkonsument*innen ausgege- Kit kein Naloxon enthält. ben (entspricht 12 % Abdeckung) • lag die Abdeckung in 18 Gebieten bei Die Randomisierung für die N-ALIVE- 0 % (darunter die 13 Gebiete, die kein Studie endete am 8. Dezember 2014 Take-Home-Naloxon zur Verfügung (d.h., die Studie wurde geöffnet, alle stellten), Teilnehmer*innen bekamen Naloxon), • lag die Abdeckung in 72 Gebieten teilweise aufgrund der positiven Ergeb- zwischen 1 % und 20 %, nisse aus dem schottischen nationalen • lag die Abdeckung in 26 Gebieten Naloxon-Programm (EMCDDA 2016a). zwischen 20 % und 49 %. Gezeigt werden konnte, dass die Nalo- xon-Vergabe vor Haftentlassung eine Wales lebensrettende Maßnahme für Opioid abhängige sein kann (Parmar et al. Wales hat ein eigenes nationales Pro- 2017). gramm, das im Jahr 2009 (als Pilot- programm) startete. Bis einschließlich Die Verfügbarkeit von Naloxon in Eng- März 2017 wurden 15.037 Kits an 6.302 land verbessert sich und war 2017 Einzelpersonen verteilt. Naloxon wurde in 138 von den damals 152 lokalen/ nach Angaben der Teilnehmer*innen regionalen Verwaltungseinheiten des 1.654 Mal bei einer Überdosierung ein- Nationalen Gesundheitsdienstes NHS gesetzt (Morgan und Smith 2017). gewährleistet. Laut einem Bericht aus dem Jahr 2017 (Release 2017) fiel die Es gibt sechs Männergefängnisse in Verfügbarkeit von THN je nach Ort aller- Wales, von denen drei THN an Perso- dings unterschiedlich aus. nen ausgeben, die bei ihrer Entlassung als gefährdet eingestuft werden. Von Von 152 Lokalbehörden machten 117 2016 bis 2017 wurde die THN-Verga- Angaben zur Anzahl von Take-Home- be erfolgreich im Gefängnis Eastwood Naloxon-Kits, die im Wirtschaftsjahr Park in Gloucestershire (das Wales am 2016/17 ausgegeben wurden. In diesen nächsten gelegene Frauengefängnis) Gebieten und in Arrestzellen in Wales eingeführt. Schottland Das schottische Modell wird auf den fol- genden Seiten ausführlich beschrieben. 18
Das schottische Modell Kontext: Drogenbedingte Schottland hatte 2019 laut Eurostat Todesfälle in Schottland etwa 5,45 Millionen Einwohner*innen, 14 Health Boards (regionale Gesund- heitsbehörden), 15 Gefängnisse und 30 Die Zahlen drogenbedingter Todesfälle Alkohol- und Drogenberatungsstellen. in Schottland gehören zu den höchsten Alle 14 Health Boards nehmen am Take- Europas. 2018 starben 1.187 Personen Home-Naloxon-Programm teil und alle einen vermeidbaren Tod, von denen die 15 Gefängnisse stellen Inhaftierten bei meisten versehentlich eintraten. Damit ihrer Entlassung Naloxon zur Verfügung. hat sich die Zahl der drogenbedingten Todesfälle von 1996 bis 2018 etwa ver- Eine Schätzung aus dem Jahr 2019 fünffacht (National Records of Scotland, ging davon aus, dass es 2015/2016 in 2019). 2019 lag die Zahl der drogen- Schottland rund 57.000 Menschen mit bedingten Todesfälle in Schottland bei problematischem Drogenkonsum gab. 1.264 (National Records of Scotland, 2017/2018 erhielten mindestens 25.906 2020). Personen in Schottland Methadon (Scot- tish Public Health Observatory 2018). Als Reaktion auf die steigende Anzahl opioidbedingter Todesfälle stellte die 2017/2018 wurden in Schottland 8.397 schottische Regierung 2010 ein Natio- Take-Home-Naloxon-Kits ausgegeben, nales Naloxon-Programm vor, das ab 664 davon bei Haftentlassung. Etwas 2011 umgesetzt wurde. mehr als die Hälfte der Kits gingen an Personen, die bereits zuvor Naloxon Im Juli 2019 richtete die schottische Re- bekommen hatten, und wiederum die gierung angesichts der kontinuierlich Hälfte davon an Personen, die Naloxon steigenden Todesfallzahlen eine „Drug zur Verhinderung einer Überdosis ein- Deaths Taskforce“ ein, die bewährte gesetzt hatten. Zwischen 2011/12 und Gegenmaßnahmen zusammentragen 2017/18 wurden in Schottland insge- und Barrieren für eine Senkung der samt 46.037 Take-Home-Naloxon-Kits Zahlen identifizieren sowie aus Pub- ausgegeben (Information Services Di- lic-Health-Perspektive Vorschläge für vision Scotland 2018b). Jedes Jahr im einen anderen Umgang mit Drogen(ge- August wird der National-Records-of- braucher*innen) im Gesundheits-, Sozi- Scotland-Bericht veröffentlicht. Er ent- al- und Justizwesen vorlegen soll (siehe hält Angaben zur Zahl der drogenbe- https://drugdeathstaskforce.scot/). dingten Todesfälle im Vorjahr sowie Ihren Plan für die Jahre 2021 bis 2022 zum Alter der Verstorbenen, demogra legte die Taskforce im Dezember 2020 fische Daten sowie Angaben zu den vor (https://drugdeathstaskforce.scot/ Drogen, die bei den Todesfällen eine about-the-taskforce/forward-plan/). Rolle gespielt haben. 19
Die wichtigsten Drogen bei diesen • D ie Person war aktuell nicht in Be- Todesfällen sind durchgehend Heroin, handlung, hatte sich jedoch in einer Methadon, Benzodiazepine und Alkohol. großen Anzahl von Fällen in den 2018 waren Opiate bei 86 Prozent der sechs Monaten vor ihrem Tod einer drogenbedingten Todesfälle beteiligt Behandlung unterzogen. oder haben potenziell dazu beigetragen (National Records of Scotland 2019). Angesichts der Tatsache, dass es sich bei zwei der hauptsächlich involvierten 2017 betrafen 4,4 Prozent (31) der opi- Drogen um Opioide handelt und dass in oidbedingten Todesfälle Personen, die den meisten Fällen Zeug*innen anwe- in den vier Wochen zuvor aus der Haft send sind, ist es sinnvoll, jenen Perso- entlassen worden waren – signifikant nen Naloxon zur Verfügung zu stellen, weniger als die 9,8 Prozent in den fünf die am ehesten eine Überdosierung Jahren (2006–2010) vor Einführung des (mit)erleben werden. schottischen Naloxon-Programms (In- formation Services Division Scotland 2018b). Das Naloxon-Programm in den schottischen Gefängnissen Die Information Services Division (ISD) Scotland veröffentlicht den Drug- Ein Hauptschwerpunkt des landeswei- Deaths-Database-Bericht, der weitere ten Programms war die Sicherstellung Einzelheiten zu den Umständen der der Naloxonvergabe bei der Haftent- einzelnen Todesfälle enthält (siehe z. B. lassung, weil Gefangene in den ersten Information Services Division 2018 für Wochen in Freiheit ein erhöhtes Risiko die drogenbezogenen Todesfälle der einer Überdosierung und eines dro- Jahre 2015 und 2016 sowie Information genbedingten Todesfalls haben (Bird Services Division 2016a für die drogen- und Hutchison 2003). bezogenen Todesfälle des Jahres 2014). Die Gefängnispopulation in Schottland Hierbei lassen sich viele Gemeinsamkei- betrug 2015 durchschnittlich etwa 7.800 ten erkennen: Personen (Scottish Government 2015), ein Drittel dieser Personen wurden bei • H äufig vergehen mehrere Stunden ihrer Aufnahme positiv auf Opiate ge- zwischen der Überdosierung und testet (Scottish Prison Service 2014). dem Eintritt des Todes. • Viele Betroffene hatten bereits ein- Personen mit Opiatkonsumgeschichte mal eine nicht tödlich verlaufene erhalten während ihres Gefängnis- Überdosierung erlebt. aufenthalts ein Schulungsangebot durch • Mehrere Drogen wurden zusammen NHS-Mitarbeiter*innen, oft in den letz- konsumiert (Mischkonsum). ten sechs Wochen vor ihrer Entlassung. • Zeug*innen waren anwesend. Nach der Schulung wird ihren persönli- • Die betroffene Person war ein*e älte chen Gegenständen ein Naloxon-Kit hin- re*r Drogenkonsument*in (35 bis 44 zugefügt, das ihnen bei der Entlassung Jahre) mit einer langen Geschichte aus dem Gefängnis ausgehändigt wird problematischen Drogenkonsums. (Horsburgh und McAuley 2017). 20
Darüber hinaus hat das Scottish Drugs Gefangene haben während ihrer Haft- Forum zahlreiche Gruppen von Ge- zeit an vielen Punkten Gelegenheiten fangenen in ganz Schottland in einer zur Teilnahme an Schulungen. Die fol- Peer-Education-Schulung ausgebildet, genden Schritte beschreiben einige po- damit diese anschließend andere Ge- tenzielle Hindernisse in den einzelnen fangene schulen können. Diese Metho- Phasen und mögliche Lösungen. de hat Berichten zufolge die Akzeptanz von Naloxon in schottischen Gefängnis- Aufnahme („Zugang“) sen erhöht und dazu beigetragen, dass die Mitarbeiter*innen mehr Kits ausge- Bei der Aufnahme werden die Gefange- geben haben. nen dem medizinischen Personal vorge- stellt, das auch Drogentests durchführt. Laut dem landesweiten Naloxon- Bei einem positiven Test auf Opiate Bericht 2016 wurden in Schottland sollen die Gefangenen über das Nalo- zwischen 2011/12 und 2015/16 insge- xon-Programm informiert werden; falls samt 4.343 THN-Kits in Gefängnissen sie Interesse äußern, wird das in den ausgegeben (Information Services Akten notiert. Falls sie die Teilnahme Division 2016b). an dem Programm ablehnen, wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Außerdem wurden fast 300 im Nacht- nachgefragt. dienst eingesetzte Vollzugsbedienstete darin geschult, Überdosierungen zu Hindernisse: erkennen und Naloxon dagegen zu verabreichen, weil in schottischen Ge- Die Aufnahme ist nicht unbedingt der fängnissen nachts keine medizinischen beste Zeitpunkt für das Ansprechen Fachkräfte verfügbar sind. Die Verabrei- einer Maßnahme, die erst bei der Haft chung von Naloxon durch Bedienstete entlassung verfügbar sein wird. Neu- spart daher wertvolle Zeit, während der zugänge müssen sich zu Haftbeginn Krankenwagen unterwegs ist. zweifellos mit anderen Dingen beschäf- tigen. Praktische Schritte Möglich ist, dass nicht alle Gefangenen über das Programm informiert werden, Das Naloxon-Programm für Gefäng- dass das Gespräch nicht dokumentiert nisse soll die Inhaftierten über die wird oder dass die Gefangenen nicht Prävention von/Maßnahmen gegen erneut auf die Angebote angesprochen Überdosierungen sowie über Naloxon werden. aufklären und ihnen bei ihrer Entlas- sung Naloxon zur Verfügung stellen. Es Lösung: wird durch NHS-Mitarbeiter*innen um- gesetzt und durch den Scottish Prison Während ihrer Haftzeit müssen Gefan- Service ermöglicht. gene mehrere Gelegenheiten zur Teil- nahme an der Schulung bekommen. 21
Einführungsveranstaltung Lösung: Allen Inhaftierten wird in den ersten Es muss dafür gesorgt werden, dass es Hafttagen ein Einführungsprogramm während der Haft mehrere Gelegen- angeboten. In einigen Einrichtungen heiten für die Schulung gibt (die Länge übernehmen Mitgefangene die Ein- der Zeit vor der Entlassung ist nicht der führung, in der häufig auch das Nalo- wichtigste Faktor). xon-Programm vorgestellt wird. Auch bei dieser Gelegenheit dokumentieren Anmeldung zur Teilnahme auf eigene Ini- Mitarbeiter*innen oder Mitgefangene tiative wieder, welche Gefangenen Interesse haben. Inhaftierte können sich während ihrer Haft auch jederzeit selbst zu einer Schu- lung anmelden – vielleicht, nachdem Hindernisse: sie ein Poster oder einen Aushang ge- sehen, eine Broschüre gelesen haben Die Einführung ist nicht verpflichtend, oder von Mitgefangenen, Familienmit- daher nehmen viele Gefangene mög- gliedern oder Freund*innen bei einem licherweise nicht teil und können ihr Besuch darüber informiert wurden. Interesse an der Schulung nicht bekun- den. Durchführung der Schulung Ursprünglich war vorgesehen, dass die Lösung: Schulung von zwei Mitarbeiter*innen in einem Gruppensetting durchgeführt Während ihrer Haftzeit müssen Gefan- wird. gene mehrere Gelegenheiten zur Teil- nahme an der Schulung bekommen. Hindernisse: Naloxon-Schulung • Es war schwierig, Schulungsleiter*in- Die Naloxon-Schulung findet häufig – nen und Teilnehmer*innen zur zusammen mit anderen Maßnahmen selben Zeit an denselben Ort zu brin- zur Entlassungsvorbereitung – sechs gen. Wochen vor der Haftentlassung statt. • Die Gefangenen hatten oft andere Prioritäten wie Arbeit, Fitness, Besu- Hindernisse: che usw. Diese Programme sind nicht verpflich- • Die Bediensteten mussten die Teil- tend, daher kann es passieren, dass nehmer*innen zur Schulung be- viele Inhaftierte nicht teilnehmen. Ge- gleiten, doch manche Gefangene fangene könnten außerdem vorzeitig verweigerten am Schulungstag die entlassen werden und diese Gelegen- Teilnahme. heit verpassen. 22
• Personalengpässe oder mangelnde Die Mitarbeiter*innen im Empfangs- Verfügbarkeit stellten ebenfalls ein bereich wissen allerdings nicht immer, Problem dar. was Naloxon ist, und können daher möglicherweise nicht einschätzen, wie Gruppen sind in einer Gefängnisum- wichtig es ist, das Kit den Wertgegen- gebung nicht immer angemessen, ständen hinzuzufügen. insbesondere bei einem potenziell emo- tionalen Thema wie Überdosierung, und die Umgebung kann einschüch- Lösung: ternd wirken. Bedienstete müssen zu Naloxon ge- schult werden, damit sie selbst darüber Lösung: Bescheid wissen, Fragen von Inhaftier- ten beantworten und sie dazu ermuti- Die Schulung wird mittlerweile meis- gen können, das Kit bei ihrer Entlassung tens als Kurzintervention von 10 bis 15 mitzunehmen. Minuten Dauer von einem*r Schulungs- leiter*in oder Mitgefangenen durchge- Außerdem ist zu gewährleisten, dass führt. das Kit rechtzeitig vor Gerichtsterminen oder vorzeitiger Entlassung usw. zu den Dies kann auf der Krankenstation, als Wertgegenständen hinzugefügt wird. Bestandteil anderer Termine oder auch in den Gängen stattfinden. Tag der Entlassung Anschließend bringt das Pflegepersonal Die gefangene Person holt ihre Wertge- das Naloxon-Kit in den Empfangsbe- genstände ab, bevor sie das Gefängnis reich, wo es den Wertgegenständen der verlässt. Häftlinge (Mobiltelefon usw.) hinzuge- fügt wird („Kammer“). Hindernisse: Hindernisse: Das Kit ist nicht zu den Wertgegenstän- den hinzugefügt worden und es ist un- Der Zeitpunkt für diese Schulung kann wahrscheinlich, dass die Person bis zu problematisch sein – wenn eine Person einer Aushändigung wartet. ein Jahr vor der Haftentlassung geschult wird, muss das Kit etwa zu diesem Die Mitarbeiter*innen lenken unnötig Zeitpunkt ihren Wertgegenständen hin- viel Aufmerksamkeit auf das Kit und zugefügt werden. Gefangene werden die Gefangenen weigern sich, es mitzu- nämlich häufig durch eine gerichtliche nehmen – zum Beispiel, weil sie ange- Verfügung vorzeitig entlassen, bevor kündigt haben, keine Drogen mehr zu das Kit ihren Wertgegenständen hinzu- nehmen und die Mitnahme von Nalo- gefügt werden konnte. xon als Widerspruch dazu gesehen wer- den könnte, oder weil sie sich vor den 23
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