Gemeinwohl im digitalen Zeitalter - Engagement und Ehrenamt zukunftsfähig gestalten - iRights.Lab
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Gemeinwohl im digitalen Zeitalter. Engagement und Ehrenamt zukunftsfähig gestalten Tim Vallée, Anne Lammers
1 EINLEITUNG 4 GEMEINWOHL: ERSTE ANNÄHERUNG AN EINEN SCHLÜSSELBEGRIFF 5 Vertiefung: Gemeinwohl im (Gemeinnützigkeits-)Recht 5 WAS IST DIGITALISIERUNG? WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT SIE? 6 GEMEINWOHL IM DIGITALEN ZEITALTER 6 Neue Handlungsmöglichkeiten für Engagement und Zivilgesellschaft 7 Neue Themenfelder: Gemeinwohldiskurse zur Digitalisierung 7 Neue Voraussetzungen für Engagement (im digitalen Zeitalter) 8 Spotlight: Analoges Engagement im digitalen Zeitalter 8 Fazit zu Gemeinwohl im digitalen Zeitalter 9 AKTEUR:INNEN DES GEMEINWOHLS 11 FOKUS LÄNDLICHE RÄUME 13 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND ÜBERGEORDNETE HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN 13 1. Gemeinwohl auch im digitalen Zeitalter als Richtschnur gesellschaftlichen Han- delns begreifen 14 2. Gemeinwohl gemeinschaftlich diskutieren und konkretisieren: Gemeinwohl- Konvente einberufen 15 3. Gemeinwohl-Akteur:innen stärken und fördern 16 4. Civic-Tech-Entwicklung, Wissensmultiplikation und Gemeinwohl-Akteur:innen durch die Wirtschaft unterstützen 17 5. Daten, Code und Wissen als Schlüsselgüter des Gemeinwohls identifizieren und zugänglich machen 18 DANK UND VERZEICHNIS DER INTERVIEWS 19 LITERATURVERZEICHNIS 21 IMPRESSUM
anders sowie gesellschaftlicher Auseinandersetzung und EINLEITUNG damit Raum des Gemeinwohls. Diese Bedeutung will die vorliegende Studie unterstreichen.5 Schließlich wirkt sich Die Digitalisierung bringt große Umwälzungen von Ge- die Digitalisierung nicht nur in urbanen Kontexten aus, sellschaft und Staat, Arbeit und Wirtschaft sowie Kom- sondern bietet auch und besonders Chancen für ländli- munikation und Zwischenmenschlichkeit mit sich. Die che Räume. In Gegenden, die von großen Entfernungen Einleitung Frage nach dem gesellschaftlich Wünschenswerten stellt und großem Engagement zur Sicherstellung der Da- sich: Wie können diese Veränderungen gemeinwohl- seinsvorsorge geprägt sind, kann Engagement bereits in orientiert gestaltet werden?1 Die Debatte orientiert sich einem ersten Schritt von Organisations- und Kommuni- am Schlüsselbegriff „Gemeinwohl“. Dieser ist bereits seit kationserleichterungen durch digitale Tools profitieren. der Antike Richtschnur und Maßstab für politisches Han- Allerdings setzt dies gewisse Bedingungen voraus. deln. Er setzt das Wohl der Gemeinschaft in ein Verhältnis zum Interesse des Einzelnen. In einem Zeitalter, das auch Aufgabe dieser Studie ist es erstens, dem Begriff Ge- dank digitaler Möglichkeiten eine zunehmende Frag- meinwohl und dessen Bedeutung im digitalen Zeitalter mentierung der Diskurse und Individualisierung der Le- nachzugehen. Welche Handlungsmöglichkeiten bringt benswelten erlebt, kann ein solcher Ansatz wie ein Ana- die Digitalisierung für Gemeinwohl-Akteur:innen, wel- chronismus wirken. Jedoch zeigt diese Studie das exakte che neuen Themenfelder entstehen? Zweitens wird ein Gegenteil: Gerade in diesen Zeiten braucht es ein solches Schlaglicht auf die Bedeutung des Analogen geworfen. gruppennütziges Kalkül, gerade die Digitalisierung muss Drittens werden die Akteur:innen des Gemeinwohls und gemeinwohlorientiert reflektiert und gestaltet werden. ihre Rolle im digitalen Zeitalter beleuchtet. Dabei wird der Fokus auf ländliche Räume gerichtet. Viertens und Die Stärke der Gemeinwohl-Idee zeigt sich auf der abschließend werden Schlussfolgerungen gezogen und Handlungs- und Akteursebene. Lokal sowie in den ge- übergeordnete Handlungsempfehlungen ausgespro- sellschaftlichen Debatten engagieren sich Millionen von chen, um Impulse für Engagement zu geben. Menschen für das Gemeinwohl, allein 600.000 gemein- nützige Organisationen sind 2017 registriert gewesen.2 Die vorliegende Studie steht in engem Zusammenhang Als Gemeinwohl-Akteur:innen verstehen wir Organisatio- mit der Publikation On/Off. Wie digital handlungsfähig ist nen, die Engagement und Ehrenamt ermöglichen, sowie der Engagementsektor in Deutschland? vom Superrr Lab. die organisierte Zivilgesellschaft.3 Dabei sind die Fragen, wer in den Organisationen über die Nutzung digitaler Werkzeuge entscheidet und welche Ab- Im digitalen Zeitalter müssen die Gemeinwohl-Akteur:in- hängigkeiten aus einer solchen Nutzung folgen, leitend.6 nen in doppelter Hinsicht an das Digitale angebunden sein. Einerseits müssen ihnen die digitalen Möglichkeiten effektiv zur Verfügung stehen.4 Die Ausgangsbedingun- gen für das bunte Feld der Engagement-Organisationen sind dabei äußerst unterschiedlich. Andererseits muss Methodik der Studie dem gesellschaftspolitischen Mitspracheanspruch der Zivilgesellschaft dahingehend Rechnung getragen wer- Die Erkenntnisse basieren auf interdisziplinären den, dass sie die großen Fragen der Digitalisierung mit- Ansätzen, wobei analytische bzw. qualitativ-em- gestalten kann. Die Studie unterscheidet „klassische“ Ak- pirische rechts- und gesellschaftswissenschaft- teur:innen, die ihren Arbeitsschwerpunkt in nicht-digita- liche Methoden zur Anwendung kommen. Dazu len Kontexten sehen, und „digitalspezifische“ Akteur:in- wurden u. a. zehn Interviews geführt und zwei nen, die das digitale Engagement (bzw. Teilaspekte) zum Workshops abgehalten.7 Gegenstand haben oder aber Kompetenzen für den Um- gang mit der Digitalisierung vermitteln. Zugleich bleibt das Analoge auch im digitalen Zeitalter zentraler Raum gesellschaftlicher Begegnung, gesellschaftlichen Mitein- 1 Dem widmet sich auch ein jüngst erschienener Sammelband, siehe Piallat 2021. 2 Zu den Organisationen siehe Priemer et al. 2017. 39,7 Prozent der Befragten engagierten sich 2019 freiwillig, vgl. Simonson et al. 2021: 11. 3 Dabei wird der Fokus auf organisierte Strukturen gelegt, da der wesentliche Teil des Engagements in Vereinen, Initiativen und ähnlichen Organisationsstrukturen stattfindet oder durch diese Organisationen ermöglicht wird, vgl. BMFSFJ 2020: 141. Zur grundsätzlichen Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie vgl. Putnam 1994. 3 4 5 Zugleich entstehen durch die Nutzung digitaler Technologien neue Abhängigkeiten, vgl. dazu Lindinger 2022. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass lediglich 2,6 Prozent der Engagierten ihre Tätigkeit „überwiegend oder ausschließlich im Internet“ ausüben (vgl. Simonson et al. 2021: 14–15). Dies bleibt allerdings nur eine ungefähre Größe, da Digitalisierung weit mehr als das Internet umfasst, doch unterstreicht die Aussage die Bedeutung des Analogen. 6 Vgl. Lindinger 2022. 7 Eine Liste der Interviewpartner:innen findet sich unter „Dank und Verzeichnis der Interviews“ auf S. 18.
über die gute Ordnung von heute abschließend zu ent- GEMEINWOHL: ERSTE ANNÄ- scheiden. HERUNG AN EINEN SCHLÜS- „Das Besondere am Begriff Gemein- SELBEGRIFF wohl ist, dass er die Spannung aushält, Der Begriff des Gemeinwohls prägt seit jeher gesell- dass die Menschen unmittelbar etwas schaftspolitische Debatten. Im Mittelpunkt steht das mit ihm verbinden und er zugleich die Streben nach Gemeinwohl. Wie dies im Einzelnen aufzu- notwendige Offenheit mitbringt, um fassen ist, wird im Folgenden erläutert. Zunächst wird dargestellt, wieso wir heutzutage bei Gemeinwohl wie ihn im gesellschaftlichen Diskurs im- selbstverständlich an Engagement und Zivilgesellschaft mer wieder aushandeln zu können.“ denken, in früheren Zeiten aber primär an den Staat und Theresa Züger, Leiterin Public Interest AI am HIIG dessen Aufgaben gedacht wurde. Hauptteil Gemeinwohlkonzepte begleiten die Philosophie- und Umgekehrt kann der Begriff aber auch nicht beliebig sein, Ideengeschichte seit der Auseinandersetzung mit dem da er doch Menschen hinter sich versammelt, weil sie mit Gemeinwesen in Gestalt der Polis8 oder später des Staa- ihm Vorstellungen und Handlungsimpulse des Guten ver- tes. Ursprünglich konzentrierten sich die Ansätze dabei binden. Auch sind in einer freiheitlichen Demokratie be- auf eine Bindung und Bändigung staatlichen Handelns. stimmte Fundamental- und Verfassungsgüter (z. B. Men- Indem ein innerer Zusammenhang von politischem Han- schenwürde, Wahlrecht, Meinungsfreiheit) nicht verhan- deln und Gemeinwohlverpflichtung formuliert wurde, delbar und entziehen sich beispielsweise in ihrem Kern erfuhr der Staat gleichermaßen Rechtfertigung und Be- selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber. grenzung seines Handelns: Weil bzw. sofern er gemein- wohlorientiert agierte, durfte er Entscheidungen treffen „Gemeinwohl ist etwas grundlegend und Freiheiten beschränken. Für das heutige Verständ- Demokratisches.“ nis der Rolle des Staates als (möglicher) zentraler Ge- Henriette Litta, Geschäftsführerin der Open Know- meinwohl-Akteur waren zwei gegensätzliche historische ledge Foundation Entwicklungen prägend: zum einen der Missbrauch des Begriffs im Nationalsozialismus, um eine menschen- verachtende Politik zu legitimieren,9 zum anderen der Wohlfahrtsstaat, der idealtypisch soziale Sicherung und „Gemeinwohl ist der ethisch-philoso- Daseinsvorsorge für alle aus einer Hand bieten sollte. phische Versuch, ein gutes Leben für Letzterer geriet zunehmend unter wirtschaftlichen Druck und soziale Leistungen wurden abgebaut. Dadurch er- alle, also für die gesamte Menschheit, öffneten sich Bedarfe und Räume für gemeinnützige Tä- aber auch Tiere und Natur zu errei- tigkeiten.10 Zugleich nahmen die Themen und Formen chen.“ zivilgesellschaftlichen Engagements sowie ihre gesell- Daniel Bartel, Regionalsprecher Nordrhein-West- schaftspolitischen Gestaltungsansprüche vor allem seit falen für SEND e. V. den 1980er-Jahren zu.11 So können sich viele von uns heutzutage weder Debatten ohne zivilgesellschaftliche Beteiligung noch eine funktionierende Gemeinschaft und Daseinsvorsorge ohne Engagement vorstellen. Verbindet man die beiden Positionen, so ergeben sich ein Kern und ein verhandelbarer Randbereich. Im Kern Aber was bedeutet der Begriff Gemeinwohl nun konkret? steht das eingangs genannte Handeln zum Wohl der Ge- Als Konzept, das mehrere tausend Jahre und viele Ge- meinschaft. Das bedeutet, dass (reine) Privatnützigkeit sellschaften überdauert hat, muss er flexibel sein. Man als Handlungsmaxime ausgeschlossen ist. Zum Wohl der kann sich ein Chamäleon vorstellen, das seit archaischen freiheitlich-demokratischen Gemeinschaft zählen dabei Zeiten die Menschheitsgeschichte begleitet und je nach essenzielle Grundwerte wie Würde, Freiheit, Gleichheit, Diskurslage die Farbe wechselt. Um im Bild zu bleiben: Teilhabe und ein Mindestmaß an politischen Rechten, Gibt es einen Kern, der das Chamäleon ausmacht? Wer aber auch Gewaltenteilung sowie sozialstaatliche Leis- entscheidet zudem über die jeweilige Farbe? tungen und Umweltschutz. Dieser Kern ist als solcher nicht verhandelbar, befindet sich aber weiterhin auf einer Bestimmte Schulen der Philosophie würden an dieser gewissen Abstraktionsebene und muss in fairen Verfah- Stelle das skizzierte Bild kritisieren, da dessen Vertre- ren konkretisiert werden.13 Der Randbereich des Gemein- ter:innen von einem festen, substanziellen Gemeinwohl- wohls ist von jeder Gemeinschaft neu auszuhandeln. Das begriff ausgehen und deshalb die Flexibilität bestreiten.12 bedeutet vor allem, dass in den jeweiligen Gemeinschaf- In einer demokratischen Gesellschaft vermag ein solcher ten über die „richtigen“ Ziele und Instrumente verhan- Zugang nicht zu überzeugen, da es weder einer Gruppe delt und entschieden werden muss: von großen Fragen von Weisen noch der Gesellschaft von gestern obliegt, nach der Organisation und Strukturierung von Gemein- 8 Polis war in der Antike der Begriff einer staatlichen Struktur, die eher über die ihr zugehörigen Menschen als über ein fest umrissenes Gebiet definiert wurde und die im Vergleich zu heute deutlich weniger Aufgaben und Befugnisse hatte. Von Polis leitet sich der Begriff politisch ab. 9 Siehe dazu Hofmann 2002: 27 f. und Hiebaum 2020: 1-5. Siehe dort auch zu liberalen und sozialdemokratischen Zugängen zur prämodernen staatlichen Rolle in Bezug auf das Gemeinwohl. Vgl. außerdem 4 10 Theresa Züger, HIIG, Interview. Zum historischen Kontext des Entstehens von gemeinnützigem Handeln siehe Schauhoff & Bott 2010: Rn 2022. 11 Schon 1970 konstatierte Häberle, der Wohlfahrtsstaat sei in die Gesellschaft „abgewandert“, Häberle 1970: 68, 85 f. 12 Siehe dazu Blum 2020. 13 Was im Einzelfall „fair“ bedeutet, muss wiederum definiert werden. Dabei muss die „gleiche Freiheit“ der Diskursteilnehmenden als Kern erfüllt werden.
schaft, Wirtschaft und Infrastruktur bis hin zu kleinteilige- Technologisch versteht man unter Digitalisierung den ren Fragestellungen wie nach der Verfügbarkeit öffentli- Vorgang, Informationen in maschinenlesbare Daten cher Räume für Gemeinschaft und Engagement sowie der umzuwandeln und zu speichern sowie die maschinelle Gestaltung eines angemessenen öffentlichen Personen- Datenverarbeitung, -übermittlung und -kombination. nahverkehrs (ÖPNV) in ländlichen Räumen. Wesentliche Schnittstelle zwischen Mensch und Daten sind Computer, die Datenverarbeitung automatisiert vor- nehmen können. Jeder Computer kann heutzutage an Vertiefung: Gemeinwohl im (Ge- das Internet angeschlossen werden, wodurch eine welt- meinnützigkeits-)Recht weite Vernetzung von Daten, Datenverarbeitungsprozes- sen und menschlichen User:innen erfolgt.16 Das Recht verhält sich offen und greift Gemeinwohl ver- schiedentlich, etwa unter dem Begriff „öffentliche Belan- Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung ge“ oder „Allgemeinwohl“, auf.14 sind mannigfaltig und können hier nur angerissen wer- den. Kommunikation ändert sich von Grund auf. Das Hauptteil Das Gemeinnützigkeitsrecht definiert förderfähige Zwe- Internet ist zu einem fundamentalen gesellschaftlichen cke und Organisationen mit Blick auf ihre „Förderung der Diskursraum geworden. Es existiert nicht ein gemeinsa- Allgemeinheit“ und hat damit einen klaren Bezug zum mer Diskursstrang, sondern unendlich viele Diskurse und Gemeinwohl. Allerdings findet es keine abschließende Teilöffentlichkeiten bestehen nebeneinander. Kommuni- Definition, formuliert aber konkrete Anforderungen für kationsplattformen kommt eine besondere Bedeutung die Gewährung des Gemeinnützigkeitsstatus. So sind für Meinungsäußerung, -austausch und -bildung zu, sie die Rechtsformen begrenzt (v. a. der Verein ist im Enga- gelten als „digitale Räume der Gesellschaft“.17 Der Zu- gementbereich relevant) und ein gemeinnütziger Zweck gang zum Diskurs und gleiche Teilhabemöglichkeiten im Sinne der Abgabenordnung muss verfolgt werden. müssen das Ziel sein, werden aber in jüngster Zeit durch Alle Überschüsse müssen dem Vereinszweck zugutekom- Hass im Netz und Desinformation sowie durch ungleiche men. In der Folge ist ein Verein steuerbefreit und hat die Teilhabechancen erschwert. Da jede:r Sender:in sein Möglichkeit, Spenden und Zuwendungen anzunehmen. kann, wird öffentliche Kommunikation vielfältiger, wo- Aus diesem Grund sind Tätigkeiten, die keinem der be- durch vor allem traditionelle Leitmedien wie Zeitungen günstigten Zwecke zuzuordnen sind, ausgeschlossen. oder Fernseh- bzw. Rundfunksender ihre Alleinstellung Zu ihnen zählen derzeit unter anderem der Bürgerbus verloren haben. Auch die private und berufliche Kommu- und die Vermittlung von Engagement, aber auch über- nikation finden zunehmend und in erheblichen Teilen via wiegend politisch gefärbte Tätigkeiten, wie das Beispiel Messenger, E-Mail und Kommunikations-18 oder Kollabo- Attac zeigt.15 rationsplattformen19 statt. Dabei ist zu beachten, dass das Gemeinnützigkeitsrecht Die Bereitstellung und der Abruf von Informationen Teil der Abgabenordnung und damit Teil des Steuer- wurden revolutioniert. Das Internet zeigt das Potenzial rechts ist. Es hat keinen allgemeinen und abschließen- eines umfassenden Wissensaustauschs in allen Lebens- den Anspruch auf die Festlegung gemeinwohlorientier- bereichen bis hinein in Bildungsinstitutionen wie Schule ten Handelns. Dennoch reichen die Wirkungen über das und Universität.20 Alltag und Konsum sind durch das In- Steuerrecht hinaus, da bestimmte Förderlandschaften ternet und soziale Medien geprägt. Sie sind Plattform der an die Gemeinnützigkeit der Antragstellenden geknüpft zwischenmenschlichen Kommunikation und Organisa- werden. tion der eigenen Mobilität, aber auch der Gestaltung von Freizeit und Konsum. Auch die Bereiche Wirtschaft und (Zusammen-)Arbeit haben sich unter dem Eindruck der WAS IST DIGITALISIERUNG? Digitalisierung gewandelt: Digitale Kompetenzen sind in WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT fast allen Berufsfeldern erforderlich, neue digital- und datenbasierte Geschäftsmodelle entstehen und Zusam- SIE? menarbeit kann dank Kommunikations- und Kollabora- tionsplattformen zunehmend von unterschiedlichen Or- Die Digitalisierung ist für unsere heutige Gesellschaft von ten aus geschehen. Die Auswirkungen auf Gemeinwohl, höchster Bedeutung, kaum ein Lebensbereich ist nicht Gemeinwohlgüter, Gemeinwohlakteur:innen und den von Digitalisierung betroffen. Sie ist strukturierendes Diskurs werden im folgenden Kapitel dargestellt. Merkmal unserer Zeit, weshalb auch vom digitalen Zeit- alter gesprochen wird. 14 Vgl. paradigmatisch § 1 Abs. 5 und Abs. 6 Baugesetzbuch. 15 Bürgerbussen wurde in bestimmten Fällen die Gemeinnützigkeit aberkannt, wenn deren Zielgruppen nicht auf einige wie ältere Menschen oder Jugendliche beschränkt waren, sondern alle Bevölkerungs- gruppen davon profitierten, vgl. Bosse 2018. Dem aktivistischen Verein Attac wurde 2014 die Gemeinnützigkeit aberkannt mit der Begründung, dass die Organisation zu parteipolitisch agieren und die Förderung des gemeinnützigen Zwecks nicht im Vordergrund stehen würde. Eine Übersicht über die Entwicklungen in diesem Fall findet sich auf https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/attac/ (letzter Abruf: 17.01.2022); vgl. auch die wesentlichen Ergebnisse in BMFSFJ 2020: 32. 16 Vgl. dazu Müller-Brehm et al. 2020: 4 f. 17 Beining 2017: 25 ff. Siehe ferner zu dem Aspekt Haas 2020a. 18 Hier sind neben den besonders marktmächtigen Plattformen wie WhatsApp, Twitter, Instagram und Facebook auch Alternativen mit – nach heutigem Stand – freundlicheren Nutzungsbedingungen wie Signal, Threema oder Element zu nennen. 19 Neben Plattformen wie Slack, Google oder MS-Teams sind Mattermost, WeChange, Discord und Rocket.Chat verfügbar. 5 20 Zu den Herausforderungen und Handlungsoptionen von Schulen im digitalen Zeitalter – gerade unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie – vgl. Denker et al. 2021.
▶ Dank digitaler Kommunikationsmittel kann Engage- GEMEINWOHL IM DIGITALEN ment dezentral erfolgen. Dadurch ist es möglich, ZEITALTER sowohl in eher klassischen Gruppen mitzuwirken als auch sich gezielter und punktueller zu engagieren. Als Das Gemeinwohl in seinen vielschichtigen Formen wird Beispiele können eine dezentrale Kollaboration bei durch die Digitalisierung erheblich geprägt: Es ent- der Wissenssammlung (z. B. Wikipedia) oder das Ein- stehen neue Handlungsformen und Möglichkeiten der bringen einer hohen Fachlichkeit zu einem bestimm- Selbstorganisation dank digitaler Kommunikation und ten Thema in Organisationen angeführt werden.22 Zusammenarbeit, neue gesellschaftspolitische Themen wie digitale Teilhabe oder Künstliche Intelligenz (KI) und ▶ Die Außenkommunikation und Diskursteilnah- schließlich neue Voraussetzungen für Engagement im me kann dank des Internets neu aufgestellt werden: digitalen Zeitalter. Anhand dieser drei Dimensionen wird von der Internetseite über die Nutzung sozialer Me- der Begriff „Gemeinwohl im digitalen Zeitalter“ entfal- dien bis zur Teilnahme an einschlägigen Engagement- tet. Bei aller Bedeutung der Digitalisierung bleibt für die Plattformen. Somit kann am öffentlichen Diskurs teil- Hauptteil Gemeinwohl-Akteur:innen der analoge Raum von funda- genommen, können neue Mitglieder, Interessierte mentaler Bedeutung, weshalb im Anschluss ein Spotlight und Verbündete gefunden und allgemein die Sicht- auf die Bedeutung des analogen Raums für das Gemein- barkeit der eigenen Arbeit erhöht werden. Eine gelin- wohl im digitalen Zeitalter gerichtet wird. gende Außenkommunikation ist äußerst anspruchs- voll, weshalb in der Regel technisch, redaktionell und strategisch agiert wird.23 Dies gilt insbesondere dann, Neue Handlungsmöglichkeiten für wenn journalistisch vorgegangen werden soll und Ak- Engagement und Zivilgesellschaft teur:innen die digitalen Möglichkeiten mit einem Ge- meinwohlanspruch verknüpfen und so wertebasierte Die Handlungsmöglichkeiten von Engagement- und zivil- Orientierung bieten möchten (Non-Profit-Journa- gesellschaftlichen Akteur:innen haben sich in vielfacher lismus). Als Beispiele können politikorange.de, Wi- Hinsicht erweitert, wie im Folgenden skizziert wird. 21 An kinews oder der Online-Bügersender TIDE genannt dieser Stelle wird noch nicht zwischen „klassischen“ und werden.24 „digitalspezifischen“ Akteur:innen unterschieden. Eine solche Differenzierung erfolgt unter „Akteur:innen des ▶ Die Möglichkeiten des Agendasettings und der Kam- Gemeinwohls“ auf S. 9 der vorliegenden Studie. Mit den pagnenarbeit werden durch das Internet erheblich Chancen der Digitalisierung gehen neue Anforderungen erweitert. Neben der Öffentlichkeitsarbeit als Teil der einher, etwa bestimmte Kompetenzen, um die Möglich- Außenkommunikation kann etwa auf Petitionsporta- keiten ausschöpfen oder auch nur die gestellten Erwar- le wie openPetition oder das des Deutschen Bundes- tungen erfüllen zu können. Dieser Aspekt wird unter „Vo- tags25 zurückgegriffen werden, um bestimmte The- raussetzungen für Engagement im digitalen Zeitalter“ men voranzubringen. erneut aufgegriffen. ▶ Neue Finanzierungs- und Unterstützungsmöglich- ▶ Die Selbstorganisation und Binnenkommunika- keiten basieren auf der Hilfe einer breiten Öffent- tion erfolgt zunehmend per E-Mail, Messenger und lichkeit, etwa das Crowdfunding. Hierfür stellen das Kommunikations- und Kollaborationsplattformen. Internet und entsprechende Plattformen das nötige Die parallele Kommunikation auf mehreren Plattfor- Werkzeug bereit.26 men und die Ablage von Dateien und Informationen an verschiedenen Orten gehören zu typischen Mög- ▶ Neue Formen politischer Teilhabe und Transparenz lichkeiten, aber auch zu den Herausforderungen. entstehen. Unter den Schlagworten Open Govern- Anwendungen für Text- und Tabellenverarbeitung, ment und ePartizipation wird zum einen ein neues zur Mitgliederorganisation und teils auch zum Custo- Verhältnis von Staat und (Zivil-)Gesellschaft dahinge- mer-Relationship-Management können als Beispiele hend ausgehandelt, dass Staatlichkeit Offenheit und genannt werden. Dabei kann Digitalisierung es auch Transparenz an den Tag legt und sich für Beteiligung ermöglichen, die Mitsprache innerhalb einer Organi- und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft öff- sation zu öffnen und etwaige Hierarchien abzubauen. net. Zum anderen wird dies auf kommunaler Ebene etwa in teilhabeorientierten Prozessen von Planung, „Die Digitalisierung bietet uns die Stadtgestaltung, Leitbilderarbeitung und Bürger- Chance, alte Strukturen zu hinterfra- haushalten umgesetzt. Digitalisierung wird als Chan- ce und Mittel einer Bürgerzentrierung des staatlichen gen und die Kultur innerhalb der Orga- Handelns begriffen.27 Zugleich wird Transparenz zivil- nisation zu erneuern.“ gesellschaftlich eingefordert und über Online-Platt- Henning Pape, Abteilungsleiter Organisationsent- formen zu bestimmten Themen hergestellt (z. B. Ab- wicklung im Landessportbund Niedersachsen geordnetenWatch oder FragdenStaat28). 21 Vgl. auch BMFSFJ 2020: 100 ff. 22 Zur kollaborativen Problemlösung siehe Haas 2020c. 23 Zur Bedeutung vgl. BMFSFJ 2020: 34 f. 6 24 25 Vgl. https://politikorange.de/, https://de.wikinews.org/wiki/Hauptseite und https://www.tidenet.de/mitmachen/deine-eigene-sendung (letzter Abruf: 17.01.2022). Vgl. https://www.openpetition.de/ bzw. https://epetitionen.bundestag.de/ (letzter Abruf: 17.01.2022). 26 Beispiele sind Fairplaid (https://www.fairplaid.org/), Startnext (https://www.startnext.com/) und Betterplace (https://www.betterplace.org/) (letzter Abruf: 17.01.2022). 27 Siehe Baack et al. 2019. 28 Vgl. https://www.abgeordnetenwatch.de/ und https://fragdenstaat.de/ (letzter Abruf: 17.01.2022).
▶ Die Flut an Informationen in Datenform bietet auch digitalen Kompetenzen und Ressourcen benötigen die der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, datenbasiert Bürger:innen, aber auch Organisationen oder der Staat? und damit informierter zu agieren. Die strukturierte Wie muss Bildung gedacht und digitale Bildung in die Analyse von Daten kann in allen Bereichen relevant Schulen gebracht werden? Wie sollen Wissen und geis- sein, zum einen zum Erkennen oder Fundieren von tiges Eigentum in der digitalen Gesellschaft angegangen gesellschaftlichen Problemlagen sowie möglicher Lö- werden? Wie sehen die Chancen und Erfordernisse von sungen29. Dabei können quantitative Analysen – und Open Source, Open License und Open Access aus? Inwie- dabei etwaige Korrelationen – Ausgangspunkt für die fern müssen Leistungsschutzrechte gegen offene Daten- Ableitung von kausalen Zusammenhängen sein. Zum nutzung abgewogen werden? anderen kommt sie bei der Analyse der eigenen Wirk- samkeit zum Einsatz, beispielsweise bezüglich der er- reichten Personen im Internet oder bei Veranstaltun- Neue Voraussetzungen für Engage- gen. Diese Handlungsmöglichkeit setzt nicht nur gute ment (im digitalen Zeitalter) Hauptteil verfügbare Daten, sondern auch ein hohes Maß an Datenkompetenz (sogenannte Data Literacy) voraus. Engagement im digitalen Zeitalter erfordert andere Vo- raussetzungen, um digitale Möglichkeiten nutzen und neue Themen angemessen begleiten zu können. Auch Neue Themenfelder: Gemeinwohl- wenn auf die „Akteur:innen des Gemeinwohls“ im nächs- diskurse zur Digitalisierung ten Kapitel näher eingegangen wird, sollen an dieser Stel- le grundsätzliche Erkenntnisse zu den Voraussetzungen Der zunehmende Anspruch der Zivilgesellschaft, gesell- von Engagement formuliert werden: schaftspolitische Themen mitzugestalten, zeigt sich stärker denn je bei der Digitalisierung. 30 Wie soll Digita- ▶ Zugang zu digitaler Infrastruktur und digitalen lisierung aussehen, wie kann sie gemeinwohlorientiert Anwendungen: Ohne schnelles Internet, Endgeräte gestaltet werden? Welche Werte müssen dem zugrunde und EDV-Anwendungen können die Chancen, die die liegen, welche Verfahren der Teilhabe braucht es? Dabei Digitalisierung bietet, nicht genutzt werden. Sie sind wird einerseits Digitalisierung unter dem Zielbild des Ge- die sogenannten Schlüsselgüter der Digitalisierung.32 meinwohls verhandelt, andererseits aber auch Gemein- Ebenso müssen Zugänge zu Kommunikations- und wohl unter dem Eindruck der Digitalisierung. Digitalisie- Kollaborationsplattformen vorhanden sein, die den rung ist gesellschaftlich so bedeutsam, dass die Frage funktionalen Ansprüchen von Engagement, aber nach einer guten gesellschaftlichen Ordnung nicht be- auch den Prinzipien von Privatsphäre und Offenheit antwortet werden kann, ohne Digitalisierung angemes- (z. B. Open Data, Open Source oder Open License) ge- sen zu betrachten. Zu diesem Zweck werden schlaglicht- recht werden. artig aktuelle gemeinwohlrelevante Themen dargestellt. ▶ Digitale Kompetenzen: Um die Möglichkeiten von Wie soll die Netzkultur aussehen, wie sollen Medienpoli- digitaler Selbstorganisation und Kommunikation, tik und Medienrechte gestaltet werden? Wie begegnen von Außenkommunikation und Kampagnenarbeit so- wir Hass im Netz, wie regulieren wir Plattformen mit wie von neuen Finanzierungs-, Teilhabe- und Diskurs- Blick auf ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Dis- möglichkeiten abschätzen, bewerten und bewusst kurs, ihre strukturellen Wettbewerbsprobleme31 und wahrnehmen zu können, bedarf es umfassender di- ihren kommerziell getriebenen Umgang mit Interessen gitaler Kompetenzen.33 und Daten der Nutzer:innen? Werden alternative, ge- meinwohlorientierte soziale Medien benötigt? Wie gehen ▶ Haltung: Engagement muss sich fortwährend zur Di- wir mit den Potenzialen von KI und (teil-)automatisierten gitalisierung und ihren verschiedenen Ausprägungen Entscheidungsmechanismen um, wie mit den Risiken verhalten. Dies reicht von Fragen nach der Nutzung mächtiger Mustererkennung und schwer kontrollierbarer ethisch akzeptabler EDV-Anwendungen und Platt- algorithmischer Entscheidungen? Wie können Menschen formen über die Verwendung digitaler Teilhabemög- insgesamt befähigt werden, selbstbestimmt und unter lichkeiten bei der Vereinsorganisation bis hin zur Achtung ihrer Privatsphäre das Internet und die anderen Reflexion über die Auswirkungen der Digitalisierung Chancen der Digitalisierung zu nutzen? Wie stellen sich auf das eigene Handlungsfeld. Das Engagement in na- staatliche Sicherheitsinteressen und Freiheitsverspre- hezu allen Bereichen ist betroffen, etwa der Bereiche chen in Zeiten von Internet und zunehmenden Datenspu- zwischenmenschliche Begegnung, Umweltschutz, ren dar? Wie können wir den fairen Zugang zum Internet, Migration, freiwillige Feuerwehr und Katastrophen- zu Endgeräten und Anwendungen, zu digitalen Angebo- schutz. ten und digitalen Diskursen sicherstellen? Welche Rolle kann hierbei Civic Tech, also technologische Ansätze, die Engagement und Beteiligung fördern, spielen? Welche 29 Teilweise wird dies unter dem Konzept der sozialen Innovation diskutiert. 30 Siehe BMFSFJ 2020: 92-94 und Haas 2020b. 31 Strukturelle Wettbewerbsprobleme treten wegen der sogenannten Netzwerkeffekte auf, bei denen die Attraktivität einer Kommunikationsplattform mit der Anzahl an persönlichen Kontakten steigt und einen Wechsel auf eine andere, weniger beliebte Plattform erschwert. 32 Zur digitalen Teilhabe siehe Beining 2017: 10 ff., ferner Bieling/ Möhring-Hesse 2020. Einen Überblick über moderne Commons jenseits des Digitalen bietet Sievers-Glotzbach 2020. 33 Einen Überblick zur „Initiative Digitale Bildung“ der Bundesregierung gibt es unter: https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/alle-informationen-zum-digitalen-lehren-und-lernen/alle-informationen-zum- 7 digitalen-lehren-und-lernen-bmbf (letzter Abruf: 17.01.2022).
▶ Ressourcen, Ausstattung und personelle Kontinui- Digitale Engagementformen können – und wollen – ana- tät: Der Zugang zu den Möglichkeiten der Digitalisie- loges Handeln nicht ersetzen. Sie ergänzen sie jedoch, rung und der angemessene Umgang mit Digitalisie- bilden den Ausgangspunkt einiger gemeinwohlorientier- rung setzt entsprechende Ressourcen und eine neue ter Handlungen und können helfen, wichtige soziale Be- Kontinuität bei den Organisationen voraus. Das Wis- dürfnisse zu decken. Bei allen Veränderungen, die das di- sen um die digitale Organisiertheit, die Wissensstruk- gitale Zeitalter auch für gemeinwohlorientiertes Handeln tur sowie vorhandene EDV-Anwendungen und -Lizen- mit sich bringt, wäre es daher falsch, digitale und analoge zen der Organisation ist tendenziell spezialisiert und Aktivitäten als getrennt voneinander gegenüberzustel- bei wenigen Personen konzentriert. Gleiches gilt für len. Beide Aktionsformen existieren als Teil derselben die Pflege von digitalen Auftritten und Netzwerken. Welt und verfolgen das gleiche Ziel, nämlich langfristig Da dies im digitalen Zeitalter beinahe alle Gemein- positive Wirkungen für die Gesellschaft zu erzielen. Die wohl-Akteur:innen betrifft, muss überdacht werden, Kernbedeutung des Gemeinwohls bleibt – trotz Digita- wie man Engagement ermöglichen kann. Dabei beto- lisierung – gleich, auch wenn gemeinwohlorientiertes nen die Interviewpartner:innen zwei Aspekte: Struk- Handeln im digitalen Zeitalter in einem veränderten Rah- Hauptteil turförderung von Gemeinwohl-Organisationen sowie men stattfindet.37 Schaffung bzw. Ausbau hauptamtlicher Unterstüt- zungsleistungen für ehrenamtliche Strukturen. „Digitalisierung kann das Handeln von Gemeinwohl-Akteuren noch wirkmäch- Spotlight: „Analoges“ Engagement tiger und am Menschen orientiert ma- im digitalen Zeitalter chen.“ Pavel Richter, zum Interviewzeitpunkt Leiter Di- Viele Formen gerade des „klassischen“ Engagements gitalstrategie beim Bundesverband Deutscher sind weiterhin auf den persönlichen Kontakt zwischen Stiftungen, jetzt Berater für Digitalisierung und Menschen ausgelegt, sei es in der Sportfreizeit, bei der Gemeinwohl Verteilung von Sachspenden, bei Rettungseinsätzen oder bei der Nachbarschaftshilfe.34 Auch Vereine im kul- turellen Bereich – beispielsweise Musik- oder Theater- Fazit zu Gemeinwohl im digitalen gruppen – funktionieren vor allem vor Ort und im direk- Zeitalter ten Austausch miteinander. Besondere Relevanz erhält der persönliche Kontakt immer dann, wenn es um Da- Der Begriff des Gemeinwohls hat sich in seinem Kern seinsvorsorge oder die soziale Unterstützung in verschie- durch die Digitalisierung nicht geändert. denen Lebenslagen geht, die sich kaum oder gar nicht durch digitale Lösungen ersetzen lassen.35 „Es gibt keinen grundsätzlichen Unter- schied zwischen digitalem und analo- „Menschen kann man nicht über eine gem Gemeinwohl. Es bleibt die Aufga- Online-Konferenz in den Arm nehmen.“ Ursula Braunewell, Vizepräsidentin des Deutschen be, langfristige Entscheidungen zum LandFrauenverbandes e. V. Wohle aller zu treffen.“ Henriette Litta, Geschäftsführerin der Open Know- Gleichzeitig bietet sich gerade an dieser Stelle die Chan- ledge Foundation ce, das eigene gemeinwohlorientierte Handeln durch digitale Formate noch stärker an den individuellen Be- dürfnissen der Menschen auszurichten. Das gelingt etwa durch die vereinfachte Organisation konkreter (nachbar- Zu einer Aufspaltung des Gemeinwohls im analogen und schaftlicher) Hilfe, zum Beispiel das Einkaufen für Men- digitalen Raum kann es nicht kommen, da sie Teil dersel- schen, die dazu selbst nicht (mehr) mobil genug sind.36 ben Welt sind. Allerdings prägt die Digitalisierung die Pro- zesse zur Konkretisierung des Gemeinwohls. Die Digita- „In der Digitalisierung wollen wir lisierung schafft einerseits neue Diskurs- und Debatten- selbstbestimmte Teilhabe ermögli- räume und eröffnet neue Möglichkeiten der Teilhabe an Aushandlungsprozessen. Jede politische Gemeinschaft, chen, das heißt niedrigschwellige An- d. h. vor allem Gemeinden, Kreise, Städte, Länder und gebote bereitstellen. Digital sind das der Bund, kann sich – je nach Stand der Digitalisierung Informationsmöglichkeiten und On- auch ergänzend – digitaler Teilhabeverfahren bedienen. Bei entsprechender Nachfrage müssen digitale Möglich- lineberatungen. Dabei muss es immer keiten angeboten werden. Andererseits sind Aspekte und auch einen analogen Weg zur Hilfestel- Folgen der Digitalisierung Gegenstand der gesellschaftli- lung geben.“ chen Aushandlungsprozesse (vgl. dazu S. 4 f.). Michael Bergmann, zum Interviewzeitpunkt Leiter des Arbeitsbereichs Engagementförderung für den Deutschen Caritasverband in Freiburg, jetzt im Ruhestand 8 34 Vgl. Simonson et al. 2021: 6. 35 Vgl. Hutter et al. 2019: 13. 36 Vgl. Interview Pavel Richter, zum Interviewzeitpunkt Leiter Digitalstrategie beim Bundesverband Deutscher Stiftungen, jetzt Berater für Digitalisierung und Gemeinwohl. 37 Vgl. die Handlungsempfehlung „Hybrides entwickeln statt digital/analog“ in Lindinger 2022: 43–44.
„Die Kernbedeutung des Gemeinwohls hat sich durch die Digitalisierung nicht AKTEUR:INNEN DES GEMEIN- verändert, aber gemeinwohlorientier- WOHLS tes Handeln hat neue Herausforderun- Engagements-, Ehrenamts- und zivilgesellschaftliche Ak- teur:innen zeichnen sich durch einen besonderen Bezug gen bekommen.“ zum Gemeinwohl aus: Sie agieren mit dezidiertem Ge- Michael Bergmann, zum Interviewzeitpunkt Leiter meinwohlanspruch. In Bezug auf die Rolle der Digitalisie- des Arbeitsbereichs Engagementförderung für den rung unterscheidet die Studie, wie einleitend erläutert, Deutschen Caritasverband in Freiburg, jetzt im grundsätzlich zwischen „klassischem“ und „digitalspezi- Ruhestand fischem“ Engagement. Dies wird entlang der dargestell- ten digitalen Handlungsmöglichkeiten ausgeführt: Umgekehrt setzt der zuvor angeführte Gemeinwohl-Be- ▶ Selbstorganisation und Binnenkommunikation Hauptteil griff Akzente für die Digitalisierungsdebatte. Aus dessen Wertesicht muss der Mensch im Mittelpunkt der Digita- ▶ dezentrales Engagement lisierung stehen, wobei er in seiner Gemeinschaftsbezo- genheit und seinem Recht auf Privatsphäre, in seinem ▶ Außenkommunikation und Diskursteilnahme Gestaltungswunsch und in seiner Verletzbarkeit begrif- fen werden muss. Auf der Verfahrensebene müssen alle ▶ Agendasetting und Kampagnenarbeit fair am Diskurs beteiligt werden, es müssen angemesse- ne Verfahren und individuelle Voraussetzungen für eine ▶ Finanzierungs- und Unterstützungsmöglichkeiten Teilhabe geschaffen werden. ▶ politische Teilhabe und Transparenz Zusammenfassend stellt sich Gemeinwohl im digitalen Zeitalter wie folgt dar: ▶ informierter agieren Gemeinwohl ist das Handeln zum Wohl der Gemein- (vgl. ausführlich zu diesen S. 6) schaft. Das bedeutet, dass (reine) Privatnützigkeit als Handlungsmaxime ausgeschlossen ist. Zum Wohl der „Die Digitalisierung ermöglicht viel, freiheitlich-demokratischen Gemeinschaft zählen dabei aber nicht für alle gleich. Es droht eine essenzielle Grundwerte wie Würde, Freiheit, Gleichheit, Teilhabe und ein Mindestmaß an politischen Rechten, Spaltung entlang Digitalkompetenz aber auch Gewaltenteilung sowie sozialstaatliche Leis- und digitaler Infrastruktur.“ tungen und Umweltschutz. Dieser ausgestaltungsbedürf- Michael Bergmann, zum Interviewzeitpunkt Leiter tige Kern muss in fairen Verfahren konkretisiert werden.38 des Arbeitsbereichs Engagementförderung für den Das bedeutet vor allem, dass in den jeweiligen Gemein- Deutschen Caritasverband in Freiburg, jetzt im schaften über die „richtigen“ Ziele und Instrumente be- Ruhestand ratschlagt und entschieden werden muss. (vgl. S. 4) Im digitalen Zeitalter muss die Gesellschaft sich also mit Das „klassische“ Engagement begreift Digitalisierung (al- der Digitalisierung mit all ihren Voraussetzungen und Fol- lenfalls) instrumentell, das heißt als Mittel zum Zweck. gen für Mensch, Gesellschaft und Umwelt auseinander- Die Akteur:innen gehen ihren – vielfältigen – Aufgaben setzen. Da die Digitalisierung eine Strukturveränderung nach und leisten einen unersetzlichen Beitrag zum Ge- unserer Gesellschaft bedeutet, geht es um das Ganze: um meinwohl im digitalen Zeitalter (dazu S. 8). Dabei nutzen elementare gesellschaftliche Teilhabe, das grundsätzli- sie die digitalen Möglichkeiten sehr unterschiedlich. che Verhältnis von Mensch und Maschine (und Umwelt!), um Macht und Gerechtigkeit. Die digitalen Möglichkeiten ▶ „Zurückhaltend skeptische“39 Akteur:innen nutzen und gelebten digitalen Diskurspraktiken sind in den Ver- Tools zur Selbstorganisation und Binnenkommunika- fahren der Aushandlung zu berücksichtigen. tion in der Regel nur punktuell. Möglichkeiten für de- zentrales Engagement werden wegen der Bedeutung persönlicher Treffen nur bedingt genutzt. Digitale Außenkommunikation und Diskursteilnahme finden allenfalls einseitig über Newsletter oder Webseiten statt. Auch die weiteren Handlungsmöglichkeiten werden nicht genutzt. Allerdings haben die mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Herausforde- rungen für das Engagement nach Aussage der Inter- viewpartner:innen in Bezug auf Selbstorganisation und digitales Engagement einen vergleichsweise gro- ßen Schub gegeben, sodass geradein ländlichen Räu- men eine gewisse Öffnung erfolgt ist. 9 38 Was im Einzelfall „fair“ bedeutet, muss wiederum definiert werden. Dabei muss die gleiche Freiheit für alle als Kern erfüllt werden. 39 Die Begrifflichkeiten sind BMFSFJ 2020: 107 ff. entliehen. Dortige Erkenntnisse werden um die Ergebnisse der Interviews und des Workshops ergänzt. Auf Verbände wird im Gegensatz zum Dritten Engage- mentbericht nicht eingegangen, vgl. zu diesen BMFSFJ 2020: 109 f.
▶ „Pragmatisch nutzende“ Organisationen greifen vor „Corporate Social Responsibility hat allem für Selbstorganisation und Binnenkommuni- noch viel ungenutztes Potenzial. Die kation sowie die Außenkommunikation auf digitale Möglichkeiten zurück. Hierbei haben ebenfalls die Expertise innerhalb eines Unterneh- mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Heraus- mens ist unglaublich hoch. Das sollte forderungen für das Engagement eine Ausweitung mehr gefördert werden.“ dieser Aktivitäten bedeutet. Pavel Richter, zum Interviewzeitpunkt Leiter Di- gitalstrategie beim Bundesverband Deutscher Das digitalspezifische Engagement widmet sich der Digi- Stiftungen, jetzt Berater für Digitalisierung und talisierung und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Sie Gemeinwohl nehmen mit Gemeinwohlanspruch am Diskurs zur rich- tigen Gestaltung der Digitalisierung teil, wobei die kon- kreten Themenfelder so vielfältig wie die Digitalisierung „Gerade Unternehmen besitzen einen sind (vgl. dazu „neue Themenfelder“, S. 7). Neben dem Hebel. Sie können Ressourcen einset- Hauptteil Diskurs betreiben sie für ihre Themen Lobbyismus, sie tragen also zivilgesellschaftliche Positionen in Entschei- zen – Infrastruktur, Zeit, Personal –, dungsstrukturen, vor allem von Politik und Verwaltung. also eben das, was bei den anderen Teile der digitalspezifischen Akteur:innen fokussieren Organisationen häufig fehlt. Sie haben sich auf die Verbreitung von Wissen und Kompetenzen, sie begreifen sich als Multiplikator:innen. So können vor allem häufig einen größeren Wir- sie eine Brücke zwischen digitalpolitischem Diskurs kungskreis.“ und Engagement vor Ort schlagen. Die Aufgaben lassen Sandy Jahn, Referentin für Bildung und Digitalkom- sich damit zwei Gruppen von Organisationen zuordnen, petenzen bei der Initiative D21 den „aktiv Vordenkenden“ und den „tatkräftig Vermit- telnden“.40 Beide Typen schöpfen die Möglichkeiten der Wirtschaftliche Akteur:innen unterliegen jedoch klas- Digitalisierung bezüglich ihrer Selbstorganisation und sischerweise einer Gewinnmaximierungslogik, die im Binnenkommunikation sowie regelmäßig auch des de- Gegensatz zum heutigen Gemeinwohlverständnis steht. zentralen Engagements umfänglich aus. Ebenso zeigen Gegen diese Logik stellen sich gerade in jüngerer Zeit sie sich bei internetbasierten Formen der Finanzierung zahlreiche (Sozial-)Unternehmer:innen, Organisationen und Unterstützung aktiv. und Denkschulen wie die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) oder SEND e. V., die einen Gemeinwohlanspruch für die ▶ „Aktiv vordenkende“ Akteur:innen fokussieren sich Wirtschaft formulieren und umsetzen. Dazwischen gibt darüber hinaus auf Diskursprägung und Lobbyismus es zahlreiche Unternehmen, die Interesse an einem min- und veröffentlichen zum Beispiel Diskussionspapiere destens partiell gemeinwohlorientierten Wirtschaften, zu ihren Themen und Positionen. Zusätzlich nutzen etwa auf Projektbasis, haben. Aus Sicht des Gemein- sie strategisch neue Möglichkeiten der politischen wohls müsste dem Engagementsektor ein Zugang zu den Teilhabe. Ressourcen ermöglicht werden, ohne dass dies von den Unternehmen instrumentalisiert wird, etwa zu reinem ▶ „Tatkräftig vermittelnde“ Organisationen verwenden Marketing (vgl. dazu die Folgerungen auf S.16). digitale Tools für ihre Vermittlungsarbeit und machen in Teilen insbesondere die Ermöglichung eines infor- Staatliche Akteur:innen prägen die Engagementarbeit mierteren, datenbasierten Engagements zu ihrer Auf- erheblich. Das Vereins- und Ehrenamtsrecht, das Gemein- gabe.41 nützigkeitsrecht und die Ausgestaltung von Förderland- schaften, aber auch Aspekte wie das Datenschutzrecht, Daneben schaffen auch wirtschaftliche Akteur:innen Regelungen zu Zugang und Nutzung von sozialen Medien und staatliche Stellen Voraussetzungen gelingender Di- und zu Open Data und Open Government bestimmen den gitalisierung und bestimmen maßgeblich die Chancen Handlungsrahmen beinahe aller Gemeinwohl-Organisa- und Möglichkeiten von Engagement. Wirtschaftliche tionen. Nicht zuletzt deshalb sind einige dieser Themen Akteur:innen bringen viele Ressourcen mit, die für das Gegenstand gesellschaftspolitischer Debatten. Daneben Engagement von großer Hilfe wären, unter anderem treten staatliche Akteur:innen als Partner:innen auf: von Geld, Personal, Know-how, Lizenzen und Produkte, In- kommunalen Projekten bis hin zu Engagementplatt- novationskraft sowie Räumlichkeiten. Sie ermöglichen formen aus der Hand des Bundes.42 Schließlich stehen die digitale Teilhabe der Engagierten, wenn sie vielen Engagement und staatliche Leistungen im Bereich der Engagierten mit einem umfangreichen Wissenstransfer Daseinsvorsorge in einer gewissen Wechselbeziehung, zu Digitalisierungsprozessen oder zum Netzausbau wei- da besonders in den Fällen, in denen die staatliche Da- terhelfen oder indem sie konkrete zivilgesellschaftliche seinsvorsorge nicht den Ansprüchen der Gesellschaft Akteur:innen unterstützen. entspricht, Engagierte einspringen. Auf diese Weise ent- stehen soziale Beratungsangebote, Bürgerbusse und Strukturen genossenschaftlicher Nahversorgung. 40 BMFSFJ 2020: 106–107. 41 Beispiel ist hier CorrelAid, das laut eigener Aussage ein „gemeinnütziges Netzwerk von Data-Science-begeisterten Menschen [ist], die die Welt mithilfe von Data Science verändern wollen“, URL: https:// correlaid.org/about/ (letzter Abruf: 17.01.2022). 10 42 Vgl. etwa die Civic Innovation Platform, https://www.civic-innovation.de/start (letzter Abruf: 22.11.21).
Gleichzeitig zeigt sich, dass in ländlichen Regionen nur FOKUS LÄNDLICHE RÄUME ein kleiner Anteil von 14 Prozent der Engagierten durch Hauptamtliche unterstützt wird. Dem stehen 35 Prozent Ländliche Räume nehmen je nach Definition rund 70 Pro- in städtischen Regionen gegenüber. Für Vereine, die eine zent der Fläche Deutschlands ein. Jedoch leben dort nur bedeutende Gruppe von Gemeinwohl-Akteur:innen sind, 30 Prozent der Bevölkerung.43 Diese Gegenden unter- bedeutet dies: Die allermeisten Vereine in ländlichen liegen einem besonderen demografischen Wandel, der Gegenden werden ausschließlich von ehrenamtlichen durch eine Überalterung gekoppelt mit dem Wegzug Mitarbeiter:innen getragen, die eine entsprechend hohe insbesondere junger Menschen geprägt ist.44 Teilwei- Arbeitslast erwartet.46 Zudem nimmt die Anzahl der Ver- se bestehen erhebliche Lücken in der Daseinsvorsorge, eine in den letzten Jahren ab, auch wenn das Engage- namentlich in der Verfügbarkeit bzw. Erreichbarkeit von ment-Niveau weiterhin vergleichsweise hoch ist.47 Ärzt:innen, Schulen und Bildung, Kultur, Sport und Frei- zeit, Pflegeeinrichtungen, Nahversorgung sowie Begeg- Über den Stand der Digitalisierung des ländlichen Ehren- nung und Sozialem. Für die Deckung alltäglicher Bedarfe amts gibt es bislang relativ wenig Informationen, wes- Hauptteil müssen größere Distanzen zurückgelegt werden. Dabei halb das Bundesministerium für Ernährung und Land- fehlt es regelmäßig an ausreichenden Angeboten des wirtschaft (BMEL) derzeit Forschungsprojekte zu diesem ÖPNV. Thema finanziert.48 Bekannt ist jedoch, dass die Digitali- sierung in ländlichen Regionen im Vergleich zu anderen Diese Rahmenbedingungen zeigen deutlich, welche Ge- Räumen aufgrund des schlechteren Zugangs zu (schnel- meinwohlthemen in diesen Regionen bereits jetzt von lem) Internet gehemmt wird. In ländlichen Gebieten liegt Bedeutung sind und zukünftig an Relevanz dazugewin- die Internet-Anschlussrate mit mindestens 50 Mbit/s bei nen werden. Tatsächlich sehen Gemeinwohl-Akteur:in- 73 Prozent und damit weit unter derjenigen städtischer nen aus ländlichen Bereichen an erster Stelle die Da- Haushalte mit 97 Prozent.49 seinsvorsorge und dabei insbesondere die Bereitstellung sozialer Dienste und Einrichtungen. Dem folgen Bildung Jugendliche gelten als ein Schlüssel für die Digitalisie- und Wertevermittlung, die Stärkung des gesellschaft- rung von Engagement und Ehrenamt. Erhebungen zei- lichen Zusammenhalts und die Schaffung von Chancen- gen, dass sie vor allem auf dem Land vergleichsweise gleichheit sowie die Bereitstellung digitaler und analoger stark auf die Digitalisierung zur Ausübung ihrer ehren- Infrastruktur. Ebenfalls hervorgehoben wurde der Bedarf amtlichen Tätigkeiten zurückgreifen: ein Viertel von ih- an Engagementförderung.45 nen übt Engagement überwiegend oder vollständig über digitale Medien aus.50 Diese Tendenz, Engagement vor Engagement und Ehrenamt kommt in ländlichen Räu- allem im digitalen Raum auszuüben, begünstigt ferner, men eine erhebliche Bedeutung für die Sicherstellung dass in ländlichen Regionen überdurchschnittlich viele der Daseinsvorsorge zu. selbstorganisierte ehrenamtliche Gruppen von Jugendli- chen vorzufinden sind.51 Ein Grund für diese Entwicklung „Wenn alle Menschen gleichzeitig ihr scheint darin zu liegen, dass viele Jugendliche keine Mög- Ehrenamt ablegen, würden große Teile lichkeit sehen, sich analog vor Ort zu engagieren.52 unserer Gesellschaft rasant auseinan- Quantitativ die größte Bedeutung unter den Gemein- derbrechen.“ wohl-Akteur:innen haben nach wie vor die traditions- Pauline Lörzer, Beisitzerin Heimatbund Thüringen reichen Vereine, die sich im Allgemeinen mit der Anwen- und Leiterin Museum Camburg dung und Umsetzung digitaler Strategien schwer(er) tun. Für ländliche Räume lässt sich schlussfolgern: „Wenn Bürgerbus-Projekte in ländli- chen Räumen aus der Not heraus Lü- ▶ Ohne Engagement werden viele Bedarfe des alltäg- cken in der Infrastruktur füllen, wird lichen Lebens im ländlichen Raum kaum oder nur schlecht zu decken sein – sei es im Bereich der Mobili- deutlich, wie Verantwortlichkeiten der tät, in dem Bürgerbusse organisiert werden, oder im grundlegenden Daseinsvorsorge leich- Bereich der Lebensmittelversorgung, die über eine terhand und oft ohne angemessene Sharing-Plattform organisiert wird. Daher ist es wich- tig, diese Formen des gemeinwohlorientierten Han- Unterstützung aus der öffentlichen in delns insbesondere in strukturschwachen Regionen zivilgesellschaftliche Hände übergeben weiter und stärker als bisher zu fördern. werden.“ Laura Heym, Programmleitung Zivilgesellschaft & Ehrenamt bei neuland21 43 Vgl. Gilroy et al. 2018: 5, die Autor:innen folgen der Definition des Bundesamts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, wonach dann von „ländlichen Kreisen“ zu sprechen ist, wenn weniger als 150 Einwoh- ner:innen pro Quadratkilometer zu verzeichnen sind und nur wenige Menschen in Groß- und Mittelstädten leben. 44 Vgl. Gilroy et al. 2018: 5. 45 Vgl. Workshop „Ländliche Räume 46 Vgl. Gilroy et al. 2018: 10. 47 Bezogen auf den Anteil sind in ländlichen Regionen mit 41,6 Prozent etwas mehr Menschen ehrenamtlich aktiv als in Städten mit 38,8 Prozent, vgl. Simonson 2021: 12. 48 Vgl. BMEL, Forschungsprojekte zur Digitalisierung auf dem Land gefördert, Artikel, 17.11.2021, URL: https://www.bmel.de/DE/themen/laendliche-regionen/digitales/land-digital/mud-land-digitalisierung- forschung.html (letzter Abruf: 17.01.2022). Dazu gehört u. a. das Projekt „Digitales Engagement auf dem Land – Eine qualitative Bestandsaufnahme individueller und gesellschaftspolitischer Gelingensbe- dingungen für innovative Engagementformen im ländlichen Raum (DIGEL)“ der Evangelischen Hochschule Darmstadt, das 2023 abgeschlossen sein soll, URL: https://www.izgs.de/projekte/digel/ (letzter 11 Abruf: 17.01.2022). 49 Vgl. Spellerberg 2021: 13. 50 Vgl. BMFSFJ 2020: 71-72. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd.: 73.
▶ Mit der Digitalisierung bietet sich in ländlichen Regio- nen eine besondere Chance, weil sie nicht nur jüngere Engagierte anspricht und bindet, sondern darüber hi- naus teilweise Distanzen zwischen Bürger:innen und Gemeinwohl-Akteur:innen, die von den Lebensorten weit entfernt sind, überbrückt. Damit dies gelingen kann, müssen zunächst einmal die technischen Vo- raussetzungen für die Digitalisierung gegeben sein, insbesondere über die zuverlässige Anbindung an einen guten Internetzugang. ▶ Jugendliche in ländlichen Regionen engagieren sich überdurchschnittlich häufig im digitalen Raum. Soll der Nachwuchs auch zukünftig gesichert werden, Hauptteil müssen sich Vereine auf diese neuen Handlungs- und Kommunikationsformen einstellen und innerhalb der eigenen Organisationen digitale Kompetenzen fördern. 12
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