In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. Zugleich zu Vorsorgeprinzip und überschätzten Klimaszenarien ...

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Zeitschrift für Sozialen Fortschritt
      2018 | Vol. 7, No. 2, p. 73-85

                  In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen
                  und ihre Auflösung. Zugleich zu Vorsorgeprinzip und überschätzten
                  Klimaszenarien.

                                               Felix Ekardt, Anika Zorn und Jutta Wieding*
            Zusammenfassung
            Das Pariser Klima-Abkommen vom Dezember 2015 erfährt öffentlich viel Kritik. Dabei wird seine äußerst ambi-
            tionierte Zielsetzung übersehen, die die globale Erwärmung verbindlich auf 1,5–1,8 Grad gegenüber vorindust-
            riellem Niveau begrenzt. Der Beitrag zeigt in der Schnittmenge offener naturwissenschaftlicher Prognosefragen
            mit dem rechtlichen Vorsorgeprinzip auf, dass damit ein Weg zu globalen Nullemissionen innerhalb kürzerer
            Zeit als meist angenommen rechtsverbindlich vorgeschrieben ist. Ferner wird deutlich, dass die Politik sogar auf
            eine Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze ausgerichtet werden muss – und dass rechtlich gesehen bei Existenzfragen
            wie dem Klimawandel nur eine Politik, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Temperaturgrenze einhält,
            zulässig ist. Das stellt auch die vermeintlichen Klimavorreiter EU und Deutschland vor große Herausforderun-
            gen. Nach dem Gesagten müssen Deutschland und die EU im Rahmen der regelmäßigen Anpassung der eigenen
            Reduktionszusagen gemäß dem Paris-Abkommen ihre Verpflichtungen rasch und drastisch nachschärfen.

            Schlagwörter: Paris-Abkommen, Klimawandel, Klimaschutz, Menschenrechte, Vorsorgeprinzip, Klimasze-
            narien

                  Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. On
                  precautionary principle and overrated climate scenarios.
            Abstract
            The Paris Agreement of December 2015 is subject to much criticism. This however neglects its very ambitious
            objective which limits global warming legally binding to 1.5 to 1.8 degrees in comparison to pre-industrial levels.
            This article shows, based on the overlap of unanswered questions for prognoses in natural science and the legal
            precautionary principle, that this objective indicates a legal imperative towards zero emissions globally within a
            short timeframe. Furthermore, it becomes apparent, that policies need to be focussed on achieving the 1.5-degree-
            temperature limit. And from a legal standpoint with regard to existential matters only those policies are justified
            that are fit to contribute to reaching the temperature limit with high certainty. This creates a big challenge even
            for the alleged forerunners of climate policies Germany and EU. Because, according to the objective, EU and
            Germany have to raise the level of ambition in their climate policies rapidly and drastically.

            Keywords: Paris Agreement, climate change, climate protection, human rights, precautionary principle,
            climate scenarios

                *Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A. (felix.ekardt@uni-rostock.de) leitet die Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klima-
                politik (FNK) in Leipzig und Berlin (www.nachhaltigkeit-gerechtigkeit-klima.de) und lehrt Öffentliches Recht und Rechts-
                philosophie an der Universität Rostock, wo jeweils Jutta Wieding, M.A. mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung
                zum weiteren Themenfeld dieses Beitrags promoviert und Anika Zorn, B.Sc. in verschiedenen Projekten tätig ist. Dieser
                Text entstand im Rahmen einer vom Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. finanzierten Studie und des vom BMBF
                finanzierten Projekts BIOACID zur Ozeanversauerung.

           2018 | 		                     | Innsbruck
           Momentum Quarterly I ISSN 2226-5538 I momentum-quarterly.org
           Vol. 7, No 2 I DOI 10.15203/momentumquarterly.vol7.no2.p71-85

           Beiträge in Momentum Quarterly stehen unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung.

1. Problemstellung und Grundlagen des                                      mehr zu verhindernden Klimawandel (Adaptation)
    Paris-Abkommens und seiner rechtlichen                                 und finanzielle Hilfen für vom Klimawandel geschä-
    Verbindlichkeit                                                        digte Staaten (Loss and Damage) verstärkt in den Blick
                                                                           zu nehmen. Vielfältig diskutiert wird seitdem, dass
Die Erde steht, so lautet eine gut fundierte, von einem                    die Detailregelungen des Abkommens vage und die
breiten naturwissenschaftlichen Konsens getragene                          konkreten Emissionsreduktionszusagen der Staaten
Einschätzung (IPCC 2014a; IPCC 2014b; im Überblick                         in der Höhe freiwillig und durch eine Vielzahl offener
Ekardt 2016a: § 1 B.), vor einer einschneidenden glo-                      Berechnungs- und Verfahrensfragen durchlöchert sind
balen Erwärmung um 3 bis 6 Grad Celsius gegenüber                          (näher m.w.N.: Ekardt/Wieding 2016).
vorindustriellem Niveau im Laufe des 21. Jahrhunderts,                          Doch vorliegend soll weniger dieser allseits bear-
die durch (primär) menschlich verursachte hohe Treib-                      beitete Punkt weiter betrachtet als vielmehr gefragt
hausgasausstöße ausgelöst wird, im Kern – neben Land-                      werden, worin das übergreifende Ziel selbst besteht.
nutzungsaspekten – durch eine starke Nutzung fossiler                      Es geht um die Analyse des rechtlich verbindlichen
Brennstoffe in Bereichen wie Energieerzeugung, Pro-                        Ziels einer globalen Erwärmungsbegrenzung auf
duktion, Landwirtschaft, Gebäudewärme, Stromver-                           „deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindust-
sorgung und Mobilität. Allein um die Stromversorgung                       riellen Niveau“ verbunden mit „Anstrengungen …,
geht es also keinesfalls, auch wenn sich die Debatte                       um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius über
in Deutschland darauf mitunter stark konzentriert.                         dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ (Art. 2
Ein Klimawandel in besagter Größenordnung droht                            PA). Gleichzeitig heißt es in Art. 4 Abs. 1 PA: „Zum
nach zitiertem naturwissenschaftlich-ökonomischem                          Erreichen des in Artikel 2 genannten langfristigen
Kenntnisstand massive ökonomische Schäden, große                           Temperaturziels sind die Vertragsparteien bestrebt, so
Migrationsbewegungen, existenzielle Gefährdungen                           bald wie möglich den weltweiten Scheitelpunkt der
für Millionen Menschen und in letzter Instanz gewalt-                      Emissionen von Treibhausgasen zu erreichen …, um
same Auseinandersetzungen um schwindende Res-                              in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleich-
sourcen wie Nahrung und Wasser auszulösen. Noch                            gewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von
relativ wenig wird öffentlich wahrgenommen, dass es                        Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher
mit der Reduktion von Treibhausgasemissionen (und                          Gase durch Senken“ herzustellen. Betrachtet man diese
fossilen Brennstoffen) zugleich um die entscheidende                       beiden unstreitig rechtsverbindlichen Zielnormen von
Gegenmaßnahme gegen die Ozeanversauerung als                               einem physikalischen respektive meteorologischen
weiteres Umweltproblem geht. Jene Emissionen sind                          Standpunkt aus, ergeben sich potenziell Widersprüche,
damit auch ursächlich für die oft flagrante Gefährdung                     weil Art. 2 PA eine viel frühere Dekarbonisierung als
mariner Ökosysteme.1                                                       Art. 4 PA verlangen könnte.
     Im Dezember 2015 haben sich die Staaten weltweit                           Eine rechtsinterpretative Analyse (näher zu dieser
auf ein neues globales Klimaschutzabkommen geeinigt.                       weltweit praktizierten juristischen Methode: Ekardt
Allseits wird das Paris-Abkommen (Paris Agreement/                         2016a: § 1 D. III. 3.2) von Art. 2 und 4 PA bei gleichzeiti-
nachstehend meist PA) enthusiastisch begrüßt, beson-                       ger Rezeption des naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
ders weil schon das Zustandekommen irgendeiner Ver-                        standes auf dem Wege einer Literaturanalyse dazu, was
einbarung im Vorfeld deutlich bezweifelt worden war;                       solche Ziele denn konkret an Emissionsreduktionen
gleichzeitig wird seine Wirksamkeit bezweifelt. Gene-                      erfordern, ermöglicht deshalb erst eine Aussage, wozu
rell wird allen Staaten weltweit aufgegeben, die Bemü-                     sich die Staaten in Paris eigentlich verpflichtet haben
hungen um den Klimaschutz zu intensivieren und auch                        – und wie etwaige dabei entstandene Widersprüche
Maßnahmen der Anpassung an einen teilweise nicht                           aufgelöst werden können und müssen. Eine Untersu-

      1     Ein weiterer Faktor für die Ozeanversauerung in                     2     Rechtsnormen werden grammatisch, systematisch,
Gestalt von Schadstoffemissionen geht zentral auf den Ein-                 teleologisch und historisch interpretiert, also nach ihrem
satz fossiler Brennstoffe in Industrie, Mobilität und Landwirt-            Wortsinn, nach ihrem Verhältnis zu anderen Rechtsnormen,
schaft zurück. Damit handelt es sich bei Ozeanversauerung                  nach ihrem Zweck und nach ihrer Entstehungsgeschichte. In
und Klimawandel um eng verschnittene Probleme – wobei                      aller Regel kommen primär die grammatische und systema-
letzterer die Degradation mariner Ökosysteme weiter voran-                 tische Auslegung zur Anwendung, weil die beiden anderen
treibt. Näheres zur Ozeanversauerung und ihrer Governance:                 Zugänge mit verschiedenen Problemen verbunden sind;
Ekardt/ Zorn 2018.                                                         näher m.w.N.: Ekardt 2016a: § 1 D. III. 3.

                                             2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress

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Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution.

chung dazu verspricht also deutlicher als bislang zu                       dieses Ziel einfach abgeschenkt werden darf. Vielmehr
zeigen, wo sich die Staaten der Welt künftig mit ihren                     müssen tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, die
Emissionsreduktionen hinbewegen müssen. Gemäß                              weitere Reduktionen im Vergleich zu einer Grenze
Art. 3, 4 PA müssen die in regelmäßigen Abständen zu                       von 1,7 oder 1,8 Grad versprechen. Wie weitreichend
überprüfenden staatlichen Zusagen stets der Umset-                         genau diese Anstrengungen sein müssen, wird zwar
zung des Langfristziels dienen, und entsprechen sie                        vom Wortlaut her nicht explizit ausgeführt. Die Entste-
ihm nicht, ist rechtlich schrittweise ihre Anpassung an                    hungsgeschichte, also der Hergang der Pariser Klima-
das Langfristziel geboten. All dem widmet sich deshalb                     verhandlungen, legt aber nahe, dass es im Kern darauf
der vorliegende Beitrag. In diesem Kontext stellen sich                    ankommen soll, dass real versucht werden soll, die 1,5
auch Fragen danach, was uns Klimaszenarien sagen                           Grad zu erreichen, sofern dies nicht unmöglich ist. Wir
können, wie mit Unsicherheiten umzugehen ist und                           werden in Abschnitt 4 noch sehen, dass es für diese
was unter dem vergleichsmaßstäblichen „vorindust-                          Deutung der „Anstrengung“ eine ergänzende grund-
riellen Niveau“ zu verstehen ist, das in Art. 2 PA zum                     rechtliche Rechtfertigung gibt.
                    3
Rechtsbegriff wird.                                                             Inhaltlich wird damit in Art. 2 PA eine Aussage
                                                                           getroffen, die sich von der bisher in den Verhand-
2. Widerspruch zwischen Art. 2 und Art. 4 PA –                             lungen und in der Öffentlichkeit meist diskutierten
    Nullemissionen global in wenigen Jahren statt                          Zwei-Grad-Grenze unterscheidet. Dies wird bislang
    Ende des 21. Jahrhunderts?                                             noch relativ wenig bemerkt, hat jedoch potenziell dras-
                                                                           tische Folgen – nämlich kurzfristig nötige drastische
Ob die Erreichung eines Gleichgewichts von Emissio-                        Emissionsreduktionen im globalen Maßstab. Deshalb
nen und Senken bis Ende des 21. Jahrhunderts (Art. 4                       ist der Zeithorizont der „zweiten Hälfte“ des 21. Jahr-
Abs. 1 PA) und die globale Temperaturgrenze von deut-                      hunderts aus Art. 4 Abs. 1 PA möglicherweise nicht
lich unter 2 Grad und Anstrengungen hin zu 1,5 Grad                        ausreichend für die o.g. Temperaturgrenzen. Dem ist
in einem Widerspruch zueinander stehen, hängt teil-                        jetzt näher nachzugehen. Um die von der jeweiligen
weise von empirischen Fragen danach ab, wie viel Zeit                      Temperaturgrenze implizierten Emissionsreduktionen
die Menschheit noch dafür hat, um ihre Emissionen so                       zu ermitteln, wird im IPCC-Kontext jeweils mit Wahr-
zu senken, dass die Temperaturgrenze eingehalten wird                      scheinlichkeiten gerechnet, wobei auch Abschätzungen
(dazu sogleich). Der mögliche Widerspruch beider                           vorgenommen werden, da es um zukünftige Sachver-
Normen hängt aber auch von einer Rechtsinterpretati-                       halte geht und das Globalklima von einer Vielzahl
onsfrage ab, nämlich davon, welche Temperaturgrenze                        relevanter, zudem nicht durchgängig genau bekannter
mit „deutlich unter“ 2 Grad gemeint ist. Deutlich unter                    Faktoren beeinflusst wird (näher zu daraus resultieren-
(oder: weit unter – im Original „well below“) bedarf                       den Problemen siehe Abschnitt 3). Berechnen lässt sich
einer juristischen Auslegung. Der Wortlaut legt, da es                     dies im IPCC-Kontext sodann über Emissionsbudgets,
eben „deutlich“ weniger als 2 Grad, gleichzeitig aber                      Emissionspfade oder ppm- respektive ppb-Konzentra-
                                                                                                                         4
mehr als 1,5 Grad sein muss, etwa 1,7 oder 1,8 Grad                        tionen der Treibhausgase in der Atmosphäre (näher:
als Temperaturgrenze nahe. Dass „Anstrengungen“ in                         Buhofer 2016).
Richtung der 1,5-Grad-Grenze unternommen werden                                 Bereits das Ziel einer Temperaturbegrenzung auf
müssen, kann ferner juristisch nicht heißen, dass                          deutlich unter 2 Grad globale Erwärmung aus Art. 2
                                                                           Abs. 1 PA verlangt global in rund zwei Jahrzehnten
      3   Auch die Debatte über die UN Sustainable Deve-                   Nullemissionen, wenn man die Daten des Weltkli-
lopment Goals 2030 (SDGs; näher: Ekardt 2016a) erfährt                     marates (IPCC) als Zusammenschluss der weltweiten
durch Analysen zum Paris-Abkommen eine normative                           naturwissenschaftlichen Forschung über die dafür
Unterfütterung, eine stärkere Konkretisierung und stärkere
rechtliche Verbindlichkeit. Denn die SDGs, die außerdem
                                                                           noch maximal möglichen globalen Emissionen und
einen Zugang zu moderner Energie für alle, Ernährungssi-                   gleiche Pro-Kopf-Emissionsrechte weltweit zugrunde
cherheit und Zugang zu Wasser einfordern, weisen umfas-
sende Bezüge zum Klimawandel oder vielmehr zu einem
wirksamen Klimaschutz auf, sind gleichzeitig aber als solche                    4     Die Abkürzungen ppm bzw. ppb stehen für parts
nicht rechtsverbindlich, teils nicht sehr bestimmt oder sogar              per million/billion und drücken das Verhältnis zwischen der
in sich widersprüchlich. Letzteres betrifft etwa das Nebenein-             Anzahl von Gasmolekülen zur Gesamtmolekülzahl trockener
ander von Umweltzielen und klassischer Wachstumsausrich-                   Luft aus. 391 ppm bedeuten also 391 CO2-Moleküle pro Milli-
tung.                                                                      onen Luftmoleküle.

                                                        www.momentum-quarterly.org

                                                                      75
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung.

legt; für 1,5 Grad müssten Nullemissionen gar schon                      unterliegen in der Tat immer Unsicherheiten, und wie
rund in einem Jahrzehnt erreicht sein. Vorgerechnet                      dargelegt liefern unterschiedliche Modelle, Annahmen
wird dies mit den IPCC-Daten z. B. von Höhne u. a.                       und Szenarien auch verschiedene Ergebnisse (IPCC
(2016; ähnlich Rahmstorf 2017; Ekardt/Wieding/Henkel                     2014b: 155; Tollefson 2015; Rahmstorf 2017; Peters 2017).
2015; Rogelj u. a. 2016). Aufgrund der Projektionen von                  Eine Gesamtbetrachtung verschiedener Modelle, wie
(oftmals langjährig in der Atmosphäre verbleibenden)                     sie z.B. den IPCC-Berichten zugrunde liegt, versucht
Treibhausgasemissionen und der Erkenntnisse zur                          genau auf dieses Phänomen zu reagieren (Schmidt
Relation von Treibhausgaskonzentration und Global-                       2007; Rahmstorf 2017). Die Modelle in sich sind so
temperatur wird eine Berechnung auf Basis der Daten                      komplex und mit so zahlreichen Annahmen verbun-
von IPCC 2014 vorgenommen, die in eine prognosti-                        den (die zudem für Außenstehende wenig transparent
zierte wahrscheinliche globale Erwärmung übersetzt                       sind), dass es den Rahmen dieses Beitrags sprengen
wird. Es werden Szenarien zugrunde gelegt, die mit                       würde, einen Vergleich aller Einzelheiten zu versuchen.
einer Wahrscheinlichkeit von über 66 % die Zwei-Grad-                    Dennoch könnte man sich vordergründig fragen, ob
Grenze und 50 % eine 1,5-Grad-Erwärmung einhalten,                       die klimapolitisch inaktive Politik dann nicht zumin-
basierend auf einem verbleibenden Budget von rund                        dest im Sinne der für sie günstigsten Berechnung
250 GtCO2 für die 1,5-Grad-Grenze ab dem Jahr 2014                       interpretieren darf. Denn selbst wenn man annimmt,
(Höhne u. a. 2016; IPCC 2014 hatte ab dem früheren                       dass in liberal-demokratischen Verfassungsordnun-
Jahr 2012 – das bereits fünf Jahre verstrichen ist – ver-                gen die Politik ihren Entscheidungen so sorgfältig wie
bleibende 1000 GtCO2 angesetzt für die deutlich höhere                   möglich ermittelte Fakten zugrunde legen muss, liegt
Grenze von 2 Grad; siehe auch Peters 2017). Schaut man                   bereits ohne nähere Betrachtung nahe, dass politische
jenseits des IPCC, finden sich Budgetaussagen mal für                    Spielräume entstehen, wenn die Faktenlage durch
ein grobes Spektrum von 1,5 Grad bis 2 Grad und mal                      Ungewissheiten geprägt ist (Meßerschmidt 2000;
direkt für 2 Grad in der Forschung zwischen 150, 590,                    Ekardt 2016a: § 5 C. II. 2.; Calliess 2001). Im Folgenden
1050 und 1240 GtCO2, wobei sich die Basisjahre unter-                    soll jedoch zweierlei gezeigt werden. Zum einen deuten
scheiden und ferner teils nur Kohlendioxid und teils                     mehrere Faktoren darauf hin, dass die Berechnungen eher
sämtliche Treibhausgase, also Kohlendioxidäquivalente,                   zu großzügig ausfallen, weswegen der Blick primär auf
erfasst sein sollen (zusammenfassend Rahmstorf 2017;                     die kleinen und nicht auf die großzügigen Budgets fallen
Peters 2017; Figueres u.a. 2017; Rogelj u.a. 2017; weitere               muss, wenn eine realistische Prognose gesucht wird. Zum
aktuelle Betrachtungen von Schellnhuber u.a. 2016;                       anderen darf, juristisch betrachtet, die Politik beim Kli-
Rahmstorf/Levermann 2017; Berger u.a. 2016; Canadell                     mawandel wegen dessen existenzieller Bedeutung für die
u.a. 2017; Andersson/Broderick 2017; Steininger/Meyer                    Menschheit kein nennenswertes Risiko eingehen.
2017). Verlangt Art. 2 Abs. 1 PA nach dem Gesagten und                        Zutreffend ist zunächst, dass bei der Berechnung
den zitierten Quellen für 1,5–1,8 Grad als Grenze globale                künftiger Klimaentwicklungen Faktoren involviert sind,
Nullemissionen in rund (abhängig insbesondere auch                       die zu unscharfen Aussagen führen. Generell sind Aus-
von den Emissionspfaden und der angenommenen                             sagen über die Zukunft nie völlig gewiss, was besonders
Klimasensitivität) zehn bis zwanzig Jahren, liegt prima                  angesichts der Komplexität von Nachhaltigkeitsfragen
facie ein Widerspruch zwischen Art. 2 Abs. 1 PA und                      regelmäßig betont wird (Ekardt 2016a: § 5 C. II. 1.).
Art. 4 Abs. 1 PA vor.                                                    Welches Budget errechnet wird, hängt folgerichtig von
                                                                         einer Reihe von Annahmen ab. Ein Faktor von vielen
3. Unschärfen: Bezugsjahr, Wahrscheinlichkeiten,                         für die Unsicherheit in Bezug auf die genaue Klimawir-
    Klimasensitivität, Friktionen von Szenarien                          kung von Emissionen entsteht durch die Speicherka-
    und ein menschenrechtlich gestärktes                                 pazitäten für CO2 in den Ozeanen, die Sammlung von
    Vorsorgeprinzip                                                      kurzlebigen Aerosolen in der Atmosphäre, die zu einer
                                                                         verzögerten Wirkung anthropogener Treibhausgas-
Die Rede von Wahrscheinlichkeiten und von Budgets,                       emissionen führen. Insbesondere Ozeane spielen eine
die aufgrund einer Vielzahl von Annahmen zustande                        zentrale Rolle, da sie sich nur langsam und in mehreren
kommen und sich dementsprechend durchaus unter-                          Schichten erwärmen. Je kälter sie sind, desto höher die
scheiden, erzeugt allerdings die Frage, wie weitgehend                   Speicherkapazität für Treibhausgasemissionen. Positi-
die Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 1 PA denn nun wirk-                    ver Nebeneffekt ist, dass z.B. Methan mit sehr starker
lich ist. Klimamodelle, Schätzungen und Bewertungen                      Klimawirkung im Laufe von zehn Jahren aus der Atmo-

                                           2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress

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Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution.

sphäre verschwindet. Bei einem plötzlichen Stopp von                       zulässigen „deutlich unter 2 Grad“. Rechnet man so,
CO2-Emissionen wiederum würden auch die Aerosole                           landet man nicht nur bei höheren Budgets, sondern
– Schadstoffpartikel – aus der Luft verschwinden und                       man beschönigt auch das Ausmaß der Herausforderung
so den Albedo-Effekt aufheben, sodass es auch dadurch                      – Nullemissionen in kurzer Zeit. Daran geht beispiels-
zumindest kurzfristig zu einer Beschleunigung der                          weise auch der langjährige Diskurs über die Vereinbar-
Erwärmung kommt (näher: Mauritsen/Pincus 2017).                            keit von Wachstum und Umweltschutz vorbei, der eben
Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungsentwicklung                           nicht dieses Ambitionsniveau zugrunde legt (hierzu
wirken als zusätzliche Ursache für Unschärfen in den                       Ekardt 2016a: §1 B. III.; Hoffmann 2015: 12ff.; Jackson
Prognosen (Drouet/Emmerling 2016; breit zu regi-                           2011: 81ff.; Piketty 2015: 29ff.; Moreno/Speich Chassé/
onalen Szenarien auch Rose u.a. 2017). Wesentlich                          Fuhr 2015: 28; wenig kritisch Paqué 2010: 96ff.).
für die Budget-Berechnung ist ferner, ob man von                                 Zweitens ist die Einbeziehung der Nicht-Kohlen-
einer sofortigen Absenkung der Emissionen ausgeht                          dioxid-Emissionen nicht in allen Budgets gegeben.
oder annimmt, dass die Emissionen noch einige Jahre                        Andere Treibhausgase halten sich zwar anders als Koh-
steigen. Zudem ist das Thema Klimaschutz noch mit                          lendioxid nicht lange in der Atmosphäre; dennoch spie-
anderen gesellschaftlichen Großthemen wie Wachstum,                        len auch sie für den Klimawandel eine entscheidende
internationalem Handel, Digitalisierung, Automatisie-                      Rolle (Buhofer 2017). Schließt man aus einem reinen
rung, Globalisierung u.a.m. verflochten, deren genaue                      Kohlendioxid-Budget auf den Handlungsbedarf bei
weitere Entwicklung ebenfalls von vielfältigen und                         Treibhausgasen, verringert man das Ausmaß der Her-
komplexen Zusammenhängen beeinflusst wird. All                             ausforderung künstlich.
das ist nicht grundlegend durch die den Budgetberech-                            Drittens werden Budgetberechnungen auch
nungen zugrunde liegenden Modelle und Szenarien zu                         dadurch relativ großzügig, dass das Referenzjahr des
beheben. Szenarien sind weder eine sichere Prognose,                       „vorindustriellen Niveaus“, das gemäß Art. 2 Abs. 1 PA
noch erschöpfen sie auch nur den Möglichkeitsraum                          gilt, spät datiert wird und dadurch die globale Erwär-
                                                                                                                                   6
künftiger Entwicklungen, und erst recht sind sie nicht                     mung, die bereits erfolgte, geringer eingeschätzt wird.
normativ (weitere Probleme wie die oft nicht offen                         Generell ist ein Referenzpunkt nötig, um überhaupt
gelegten Hintergrundannahmen werden näher betrach-                         einheitliche Berechnungen durchführen zu können.
tet bei Ekardt 2017; exemplarisch trotz umfassender und                    Gängig ist primär ein Basisjahr von 1860 bis 1880 für
gründlicher Arbeiten Bodirsky u.a. 2015 und Wiebe u.a.                     die Berechnung der Temperaturgrenze, doch wird auch
     5
2015 ). Da man bezogen auf die diversen unwägbaren                         1750 genannt (Peters 2017; Rahmstorf 2017). Damit
Ereignisse auch deren Eintrittswahrscheinlichkeit in                       schließt sich die Frage an, wann genau Industrialisie-
der Regel nicht genau kennt, können Budgets ohnehin                        rung respektive eine Zunahme der Emissionen eigent-
nur eine Abschätzung, aber nicht im strengen Sinne                         lich begann. Der IPCC zieht die Grenze zunächst im
eine Berechnung sein, denn mit ungewissen Wahr-                            Jahr 1750 (IPCC 2013: 1456). Berechnungen und Schät-
scheinlichkeiten kann man mathematisch nicht rech-                         zungen bezüglich der Wahrscheinlichkeit der globalen
nen, selbst bei größter Expertise nicht.                                   Durchschnittserwärmung werden indes mit Bezug auf
     Auch wenn man also die Klimazukunft nicht exakt                       das Jahr 1850 bzw. 1870 gemacht, da für die Zeit vor dem
kennt, sprechen dennoch wie angedeutet einige starke                       19. Jahrhundert nur sehr wenige Daten von Tempera-
Anhaltspunkte dafür, dass innerhalb der verschiedenen                      turmessungen vorliegen und sich diese vorwiegend auf
Abschätzungen eher die kleinen Restbudgets richtig liegen.                 die Nordhalbkugel beschränken (IPCC 2013: 953–1028,
     Erstens beziehen sich viele Berechnungen auf                          1029–1136; IPCC 2014a: 64). Durch den CO2-Anstieg
2 Grad, was mehr ist als die gemäß Art. 2 Abs. 1 PA                        vor 1850 ist eine Temperatursteigerung von 0,1 bis 0,2
                                                                           Grad Celsius zu verzeichnen (Schurer u.a. 2017). Letzt-
     5    Raftery 2017 u.a. gehen davon aus, dass ihre Zahlen              lich ist die Frage, was „vorindustrielles Niveau“ meint,
aufgrund von Vergleichsrechnungen aus der Vergangenheit                    jedoch nicht nur eine freischwebende empirische Dis-
validiert werden können: Das Modell angewandt auf eine
Hochrechnung beginnend von 1950 und 1980 für jeweils die                        6    Einen Überblick über verschiedene Arten von Sze-
nächsten 30 Jahre ergab selbst bei einer großen Emissions-                 narios bietet auch die Seite https://www.iea.org/publications/
steigerung in China zwischen 2000 und 2010 eine 90-prozen-                 scenariosandprojections/. Die IPCC-Daten werden auch zu-
tige Übereinstimmung mit der realen Entwicklung. Ob dies                   sammengestellt auf der Seite https://www.carbonbrief.org/
allerdings über den wesentlich längeren Zeitraum bis Ende                  analysis-only-five-years-left-before-one-point-five-c-budget-
des Jahrhunderts ebenfalls zutreffend ist, ist fraglich.                   is-blown.

                                                        www.momentum-quarterly.org

                                                                      77
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung.

kussion darüber, was zu den jeweiligen Zeiten denn für                   lich unter 2 Grad erreicht (Frieler u.a. 2012; Rahmstorf/
ein Emissionsniveau herrschte. Wenn Art. 2 Abs. 1 PA                     Levermann 2017: 3f.). Eine Zielmarge von 1,5 bis 1,8
als Rechtsdokument den Alltagsbegriff „vorindustriell“                   Grad bewegt sich also keinesfalls in einem ungefährli-
verwendet, erscheint ein Ansetzen bei 1750 geboten.                      chen Bereich, den man deshalb auch nur mit begrenzter
Denn konkret damals begann die industrielle Revo-                        Wahrscheinlichkeit anzusteuern bräuchte.
lution in den westlichen Staaten – und nicht etwa erst                        Im Anschluss an die Darlegungen, dass empirisch-
zwischen 1860 und 1880.                                                  prognostisch ein geringes Budget im genannten Spek-
     Viertens können bisherige Berechnungen auch des-                    trum und somit eine Dekarbonisierung innerhalb
halb als eher zu großzügig erscheinen, wenn man andere                   weniger Jahre als im Lichte des Art. 2 Abs. 1 PA als
Annahmen zur Klimasensitivität trifft. Gleichgewichts-                   gemeint erscheint, lassen sich rechtlich weitere Aussagen
Klimasensitivität (equilibrium climate sensitivity/ECS;                  treffen. Dass die genannten Umstände für das Ansetzen
näher: Buhofer 2016) beschreibt den Temperaturanstieg                    einer möglichst geringen Schädigungswahrscheinlich-
bei einer Verdopplung der CO2-Äquivalente in der                         keit und ergo für einen möglichst raschen drastischen
Atmosphäre und ist damit entscheidend für Klima-                         Klimaschutz in der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 PA
modelle und schlussendlich auch für die in Art. 2 Abs.                   sprechen, ergibt sich juristisch aus zwei Gesichtspunkten.
1 PA geforderte Erwärmungsbegrenzung (IPCC 2013:                              Zum einen gilt, dass die Politik sich nicht mit 1,7 bis
1451). Laut IPCC (2013: 16) liegt die ECS wahrschein-                    1,8 Grad zufrieden geben darf, sondern versuchen muss,
lich zwischen 1,5 und 4,5 Grad Celsius. Neuere Studien                   die 1,5 Grad zu halten. Denn wie gesagt: Dass „Anstren-
von Friedrich u.a. (2016) und Storelvmo u.a. (2016)                      gungen“ in Richtung der 1,5-Grad-Grenze unternom-
legen nahe, dass die ECS unterschätzt wurde und eher                     men werden müssen, kann juristisch nicht heißen, dass
im oberen Bereich dieser Spanne oder gar darüber                         dieses Ziel einfach abgeschenkt werden darf. Vielmehr
liegt. So kam bei paläoklimatischen Untersuchungen                       müssen tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, die
heraus, dass die Klimasensitivität vom Klimazustand                      weitere Reduktionen im Vergleich zu einer Grenze von
abhängt und in Warmphasen (wie der jetzigen) signifi-                    1,7 oder 1,8 Grad versprechen.
kant höhere Werte annimmt – nach den Berechnungen                             Zum anderen weisen menschenrechtliche Verpflich-
von Friedrich u.a. (2016) 4,88 Grad Celsius, was die                     tungen zum Klimaschutz, zum Schutz der elementaren
IPCC-Spannweite deutlich überschreitet. Ein weiterer                     Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Exis-
Unsicherheitsfaktor bei der Bestimmung der ECS ist                       tenzminimum, in diese Richtung (ausführlich dazu
die Bewölkung, da diese den Strahlungshaushalt der                       Ekardt 2016a: §§ 4, 5; Rajamani 2010; Knox 2013; Skilling-
Erde maßgeblich mitbestimmt. Storelvmo u.a. (2016)                       ton 2012; Verheyen 2005; allgemein zum Umweltschutz
kommen bei einer Studie zu dem Ergebnis, dass deut-                      auch Unnerstall 1999; Schmidt-Radefeldt 2000; Calliess
lich mehr Solarstrahlung nicht, wie bisher angenom-                      2001; Koch 2000). Diese Verpflichtung wird zugleich
men, von den Wolken zurück in das All reflektiert wird,                  explizit in der Präambel des Paris-Abkommens in Erin-
sondern die Wolkenschicht durchdringt und damit die                      nerung gerufen – wissend darum, dass eine globale
Erde stärker erwärmt. Je nach Bewölkung kann eine                        Erwärmung, die die Nahrungs- und Wasserversorgung
bis zu 1,3 Kelvin höhere Klimasensitivität auftreten als                 beeinträchtigen und damit (neben Naturkatastrophen)
bisher erwartet (Mauritsen/Pincus 2017).                                 Migrationsbewegungen und Kriege um schwindende
     Fünftens basieren die Budgetberechnungen darauf,                    Ressourcen wahrscheinlicher machen kann, die Grund-
eine relativ große Wahrscheinlichkeit der Verfehlung                     lagen der menschlichen Zivilisation in Gefahr bringen
der jeweiligen Temperaturgrenze hinzunehmen. Jedoch                      kann. Zwar unterliegen menschliche Verpflichtungen in
ist es bei einer existenziellen Bedrohung wie dem Kli-                   puncto Klimaschutz prima facie Spielräumen der Staa-
mawandel prima facie verblüffend, sich mit Schutz-                       ten (wegen der gegenläufigen Freiheitsrechte etwa von
wahrscheinlichkeiten wie 50 oder 66 % zu begnügen                        Unternehmen und Konsumierenden), die lediglich durch
(auch wenn hundertprozentige Sicherheit für in der                       einzuhaltende Abwägungsregeln eingegrenzt werden.
Zukunft liegende Sachverhalte naheliegenderweise                         Eine Abwägungsregel lautet jedoch, dass der politische
nicht zu erreichen sein wird). Insoweit ist auch zu                      Entscheidungsspielraum dort endet, wo ein politisches
bedenken: Einige kritische Klima-Umschlagpunkte wie                      Tun oder Unterlassen das freiheitlich-demokratische
das Schmelzen des Grönländischen oder Westantarkti-                      System als solches zu gefährden beginnt (näher: Ekardt
schen Eisschildes oder für die Korallenbleiche werden                    2016a: § 5 C. I.; zu weiteren Regeln ferner Calliess 2001
wahrscheinlich schon bei einer Erwärmung von deut-                       und Susnjar 2010). Just dies droht ein im eben geschil-

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Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution.

derten Sinne ungebremster Klimawandel zu tun. Damit                       verschiedener Budgetberechnungen verbleibenden zehn
ist ein strenger Klimaschutz menschenrechtlich geboten.                   bis zwanzig Jahren für jene Dekarbonisierung eher zu
      Dies wirft natürlich wiederum die Frage auf, wie                    großzügig bemessen (dazu, dass eine solche Aussage
stark und wie schnell dafür die Emissionen reduziert                      wegen der bestehenden Unsicherheiten und aus Gewal-
werden müssen. Und es liegt auch auf der Hand, dass die                   tenteilungsgründen nicht exakt quantifiziert werden
geschilderten Entwicklungen denkbar, aber keineswegs                      kann, sondern parlamentarische Spielräume verblei-
sicher sind. Jedoch schützen die Grundrechte auch vor                     ben, siehe Ekardt 2016a: § 5 B.-C.; Calliess 2001; Susn-
möglichen und nicht nur vor sicheren Gefährdungen,                        jar 2010; Ekardt 2018; zur Frage der Wirtschaftlichkeit
sofern die Gefährdung im Eintrittszeitpunkt sonst irre-                   eines Dekarbonisierungspfades verglichen mit einem
versibel wäre (und genau so wäre es für den Klimawan-                     Business-as-usual mit möglichen katastrophalen Folgen
del). Denn sonst liefe der Grundrechtsschutz leer (Koch                   Ekardt 2016b).
2000; Ekardt 2016a: § 5 C. II. 2.). Die Menschenrechte
enthalten also auch ein Vorsorgeprinzip; selbst wenn                      4. Rechtliche Auflösung des Verhältnisses zwischen
man dies bestreiten würde, wäre jedenfalls unstreitig,                         Art. 2 und Art. 4 PA
dass das Vorsorgeprinzip (auch) unabhängig von den
Menschenrechten im nationalen, EU- und Völkerrecht                        Inhaltlich wird mit Art. 2 PA also eine sehr ambitio-
existiert, sichtbar z.B. in der Klimarahmenkonvention in                  nierte Aussage getroffen. Und es wird eine Aussage
Art. 3 Abs. 3 KRK, im Vertrag über die Arbeitsweise der                   getroffen, die sich von der bisher in den Verhand-
EU in Art. 191 AEUV oder im deutschen Grundgesetz in                      lungen und in der Öffentlichkeit meist diskutierten
Art. 20a GG. Vorsorge meint Vorkehrungen angesichts                       Zwei-Grad-Grenze unterscheidet. Dies wird bislang
von langfristigen, kumulativen oder ungewissen Scha-                      noch relativ wenig bemerkt, hat jedoch wie gesehen
densverläufen (Arndt 2009; Maurmann 2008; Monien                          drastische Folgen – nämlich kurzfristig nötige dras-
2014; konkret zu seiner Reichweite Ekardt 2016a: § 5 C.                   tische Emissionsreduktionen im globalen Maßstab.
II. 2.). Genau darum geht es beim Klimawandel. Dies-                      Das in Art. 2 Abs. 1 PA zusätzlich genannte Ziel von
bezüglich macht der menschenrechtliche Bezug nur                          Anstrengungen, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu
noch deutlicher, was dem Vorsorgeprinzip auch sonst                       begrenzen, verschärft diese ohnehin schon markante
inhärent ist: Je größer das drohende Schadensausmaß                       Aussage weiter. Wenn es die Vertragsstaaten gemäß
im Eintrittsfall sein würde, desto weitreichender ist der                 Art. 4 Abs. 1 PA „beabsichtigen“, den Höhepunkt der
gebotene Schutz, auch zu Lasten der genannten kon-                        Emissionen „möglichst“ bald zu erreichen und es in
kurrierenden Güter wie der wirtschaftlichen Freiheit.                     der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zu schaffen,
Bei existenziellen Gefahren genügen deshalb keine                         ihre Emissionen vollständig zu neutralisieren, reicht
moderaten Wahrscheinlichkeiten für deren Abwehr,                          das für die Erfüllung des Art. 2 Abs. 1 PA also nicht
auch wenn hundertprozentige Sicherheit bezogen auf                        aus. Angesichts des Regelungswiderspruchs zwischen
zukünftige Vorgänge naturgemäß nicht erreichbar ist.                      Art. 2 Abs. 1 und 4 Abs. 1 PA ist rechtsinterpretativ die
Es ist in der Budgetdebatte damit rechtlich geboten, von                  Vorrangigkeit zu ermitteln. Dabei sprechen mehrere
den eher pessimistischen Zahlen auszugehen und dem-                       Argumente für eine Vorrangigkeit des Art. 2 Abs. 1 PA.
entsprechend weitgehende Anstrengungen (weltweit)                         Es handelt sich dabei im Wesentlichen um eine sys-
                                                  7
zur kurzfristigen Dekarbonisierung zu ergreifen. Folg-                    tematische Auslegung, also um eine Norminterpreta-
lich sind selbst die im letzten Abschnitt im Querschnitt                  tion, die den Zusammenhang verschiedener Normen
                                                                          untereinander bedenkt.
     7     Ferner kann man mithilfe der aus den menschen-                      Für die Vorrangigkeit des Art. 2 Abs. 1 PA spricht
rechtlichen Freiheits- und Freiheitsvoraussetzungsgarantien               erstens, dass es sich um die übergreifende Zielnorm des
ableitbaren Abwägungsregeln (Geeignetheit, Erforderlich-
keit, Leistungsfähigkeit, Verursacherprinzip u.a.m.) neben
                                                                          Paris-Abkommens handelt. Art. 4 PA widmet sich, dem
der gemeinsamen Klimaschutzpflicht sogar eine ungefähre                   nachgeordnet, stattdessen den konkreten Strategien zur
Lastenverteilung zwischen den Staaten ableiten. Da die                    Umsetzung dieses Ziels. Dass dieses Umsetzungsver-
Länder der EU, beispielsweise Deutschland, bislang pro Kopf               hältnis besteht, wird in Art. 3 und 4 Abs. 1 PA zweimal
besonders hohe Emissionen hatten, die sich oft noch in der                ausdrücklich angesprochen. Der Orientierungspunkt
Atmosphäre befinden, verstärkt das den Handlungsdruck
hierzulande – über das Gesagte hinaus – noch weiter. Näher                und damit die höherrangige Norm ist ergo Art. 2 PA.
dazu Ekardt/Wieding/Henkel 2015; Rahmstorf 2017; Ekardt                        Zweitens: Normhistorisch und vom Normzweck
2016a: § 5 C. IV. – und ferner kurz im letzten Abschnitt.                 her ist Art. 4 Abs. 1 PA (auch wenn er vom Wortlaut

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Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung.

her für alle Staaten gilt, denn dort ist von „Parties“ die               globale Erwärmung zulassen würden. Gemäß Art. 31
Rede) vor allem so gemeint, dass die Entwicklungs-                       Abs. 3 Wiener Vertragsrechts-Konvention (WVRK)
und Schwellenländer (nicht aber die Industrieländer)                     ist eine solche systematische Interpretation des Paris-
noch Zeit haben sollen für ihre Emissionsreduktionen                     Abkommens im Lichte eines anderen völkerrechtlichen
(das zeigt auch Art. 4 Abs. 4 PA). Auch für die Entwick-                 Vertrags ausdrücklich ein Teil des Interpretationsaktes.
lungsländer lässt sich dies – siehe oben – allerdings so                 Das Gesagte gilt umso mehr, als menschenrechtliche
nicht durchhalten, weil sonst wiederum Art. 2 Abs. 1                     Garantien wie dargelegt in die gleiche Richtung weisen.
PA verletzt wäre. Jedenfalls verdeutlicht der Gesichts-                       Auf eines ist am Rande noch hinzuweisen. Eine
punkt, dass hier primär eine Staatengruppe gemeint                       ausdrückliche Aussage zu einem Ausstieg aus den
ist, allerdings zweierlei: Art. 4 Abs. 1 PA hat eher einen               fossilen Brennstoffen bei Strom, Wärme, Mobilität,
operativen und dienenden Charakter. Und speziell für                     Kunststoffen und Mineraldünger zugunsten von
die Industriestaaten kann man stark bezweifeln, ob für                   erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Suffizienz
sie der Art. 4 Abs. 1 PA überhaupt eine zu Art. 2 Abs. 1                 findet sich in Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 PA nicht, obwohl
PA konträre Aussage treffen will.                                        genau hier der zentrale strategische Ansatzpunkt für
      Ein drittes, systematisches Argument kann man                      Klimaschutz liegt. Die dortige Vorgabe, Emissionen zu
wie folgt formulieren: Würde man das Normverhält-                        neutralisieren, könnte statt eines Ausstiegs aus Öl, Gas
nis zugunsten des Art. 4 interpretieren, würde Art. 2                    und Kohle vordergründig als Einladung zu Geo-Engi-
verletzt werden. Interpretiert man dagegen zugunsten                     neering-Maßnahmen verstanden werden. Gemeint
des Art. 2, wird Art. 4 nicht verletzt – er wird dann                    sind damit insbesondere Eingriffe in die Atmosphäre
eher überboten, denn Art. 4 PA fundiert kein Verbot,                     oder die Ozeane (oder die unterirdische Speicherung
schneller zu sein als dort vorgegeben. Die Formu-                        von abgeschiedenem CO2 etwa aus Kohlekraftwerken),
lierung „deutlich unter zwei Grad gehalten“ in Art. 2                    um die Sonneneinstrahlung zu reduzieren oder mehr
PA unterstreicht auch, dass die Emissionen nicht erst                    Treibhausgase zu binden. Die Diskussion darüber ist zu
beliebig steigen und sodann wieder auf jenes Tempera-                    komplex, um hier en passant aufgenommen zu werden.
turmaß zurückgeführt werden dürfen. Art. 3 PA macht                      Doch spätestens wenn sich solche Optionen als ganz
deutlich, dass die Nationalstaaten dem Ziel aus Art. 2                   oder im Wesentlichen undurchführbar erweisen, bleibt
PA eben durch eine sukzessive Steigerung ihres Ambi-                     nur der fossile Ausstieg und der Übergang zu 100 %
tionsniveaus (zum bisherigen Niveau der Anstrengun-                      erneuerbaren Energien, eine gesteigerte Energieef-
gen sogleich) gerecht werden müssen. Es heißt dort:                      fizienz und ggf. auch Suffizienz (und auf im Umfang
„Zur Verwirklichung des in Art. 2 genannten Zieles                       begrenzte, dafür aber direkt verfügbare Techniken der
dieses Übereinkommens sind von allen Vertragspar-                        Kompensation wie Aufforstungen oder Wiedervernäs-
teien als national festgelegte Beiträge zu der weltweiten                sung von Mooren). Und genau davon ist jedenfalls im
Reaktion auf Klimaänderungen ehrgeizige Anstren-                         Zeithorizont des Art. 2 Abs. 1 PA auszugehen. Denn
gungen im Sinne der Artikel 4, 7, 9, 10, 11 und 13 zu                    entsprechende Technologien stehen aktuell nicht
unternehmen und zu übermitteln. Die Anstrengungen                        marktreif zur Verfügung – womit sich auch mögliche
aller Vertragsparteien werden im Laufe der Zeit eine                     Diskussionen über Kosten und Risiken weitgehend
Steigerung darstellen.“                                                  erübrigen. Letztere wären nötig, um die selbst bei
      Für das Primat von Art. 2 PA gegenüber Art. 4                      einem vollständigen fossilen Ausstieg und weiteren
PA spricht noch ein vierter, systematischer Umstand.                     Änderungen (wie einer stärker pflanzlichen Ernäh-
Gemeint ist, dass das Paris-Abkommen rechtssyste-                        rung) verbleibenden Restemissionen zu kompensieren
matisch als Konkretisierung der Klimarahmenkon-                          (zur Kontroverse um Negativemissionen UNEP 2016;
vention respektive als umsetzender Rechtsakt in deren                    Ekardt 2016a: § 1 B.; Höhne u.a. 2016: 11 f.; Smith u.a.
Rahmen auftritt. Insbesondere Art. 2 KRK verpflichtet                    2016; Hennig 2017).
die Staaten als übergreifende Zielnorm des gesamten                           Das Gesagte wird auch nicht dadurch hinfällig,
Klimavölkerrechts zur Vermeidung gefährlicher an-                        dass die Zielerreichung des Art. 2 Abs. 1 PA schlicht
thropogener Störungen des globalen Klimas. Diese Stö-                    unmöglich ist und sich damit die Frage nach dem
rung kann nach dem Gesagten jedoch nur vermieden                         Verhältnis der Normen vermeintlich auf andere Weise
werden, wenn Art. 2 Abs. 1 PA gegenüber Art. 4 Abs.                      erledigt. Unmögliches ist rechtlich zwar nie geschuldet,
1 PA interpretativ der Vorrang gegeben wird, weil die                    wie andernorts ausführlicher gezeigt wurde (Ekardt
Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 PA eben eine substanzielle                    2016a: § 3 G.). Unmöglich ist die Zielerreichung des

                                           2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress

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Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution.

Art. 2 Abs. 1 PA jedoch wahrscheinlich nicht, wie wir                     5. Pariser Langfristziel, EU-Klimapolitik und die
sahen: Das wäre sie nur, wenn die Erreichung natur-                            Wachstumsdebatte
gesetzlich unmöglich wäre, selbst in einem Extremfall
wie dem sofortigen Aussterben der Menschheit. Nicht                       Ungeachtet des somit einschneidenden und rechtsver-
erübrigen lassen sich diese Fragen durch das beliebte                     bindlichen Ziels einer globalen Erwärmungsbegren-
Statement, man solle gar nicht über Ziele reden. Denn                     zung auf 1,5 bis 1,8 Grad sind die nationalen Beiträge
Art. 2 Abs. 1 PA gilt rechtsverbindlich (kritisch zu Tem-                 bisher nicht ausreichend, die Angaben des Abkom-
peraturgrenzen Knutti u.a. 2016). Ebenfalls fehlgehen                     mens zu finanziellen Unterstützungen vage und mög-
würde es, wenn man darauf verweist, dass Zielbestim-                      liche Sanktionsmechanismen schlicht nicht vorhanden
mungen im Recht nicht immer verbindlich sind; denn                        (näher dazu und zum Folgenden m.w.N.: Ekardt/
Art. 2 Abs. 1 PA ist, anders als sonstige Ziele wie allge-                Wieding 2016; Ekardt 2016; ferner Hennig 2017; avant
mein der Klimaschutz, präzise und unmissverständlich                      la lettre Becker/Richter 2015). Im Wesentlichen sämtli-
formuliert, und außerdem machen Art. 3 und 4 Abs.                         che Staaten werden mit ihren bisherigen Klimazielen
1 PA deutlich, dass Art. 2 Abs. 1 PA die verbindliche                     und erst recht ihren Instrumenten jene ambitionierten
Grundlage für alle Klimaschutzmaßnahmen ist. Erst                         Temperaturgrenzen weit verfehlen. Der Emissions Gap
recht kein Gegenargument wäre es, darauf zu verwei-                       Report des UN-Umweltprogramms evaluiert, ob die
sen, dass die meisten Staaten sich den Art. 2 Abs. 1 PA                   Summe der bisher eingereichten NDCs ausreicht, um
vielleicht als bloße unverbindliche Lyrik vorgestellt                     die für die Ziele des Paris-Abkommens notwendige
haben, als sie ihm zustimmten; denn im Recht gilt der                     Trendwende im Klimaschutz herbeizuführen. Dabei
Wortlaut von Normen und nicht das, was sie bei einer                      wurde als Grundlage einerseits die 2-Grad-Marke
entstehungsgeschichtlichen Motivforschung ergeben.                        (noch nicht angepasst an Art. 2 PA: „deutlich unter“
     Mancher mag abschließend fragen: Wird das                            2 Grad) und andererseits die angestrebten 1,5 Grad-
Paris-Abkommen durch den angekündigten US-                                Begrenzung genommen und die bisherigen Anstren-
Austritt nicht ohnehin hinfällig? Art. 28 PA sagt dazu:                   gungen als unzureichend aufgewiesen (UNEP 2016;
„(1) Eine Vertragspartei kann jederzeit nach Ablauf von                   UNEP 2017; ferner z.B. Höhne u.a. 2016; Rogelj u.a.
drei Jahren nach dem Zeitpunkt, zu dem dieses Über-                       2016; Ekardt/Wieding/Henkel 2015; siehe auch Figueres
einkommen für sie in Kraft getreten ist, durch eine                       u.a. 2017).
an den Verwahrer gerichtete schriftliche Notifikation                          Wenn man zwischen den Staaten ferner die meis-
von diesem Übereinkommen zurücktreten. (2) Der                            tens diskutierten menschenrechtlich-abwägenden
Rücktritt wird nach Ablauf eines Jahres nach dem Ein-                     Verteilungsmaßstäbe (primär Leistungsfähigkeit und
gang der Rücktrittsnotifikation beim Verwahrer oder                       historische Verantwortung im Sinne bisher erfolgter
zu einem gegebenenfalls in der Rücktrittsnotifikation                     Emissionen seit 1990, siehe dazu auch Art. 4 Abs. 4
genannten späteren Zeitpunkt wirksam.“ Wobei der                          und 9 Abs. 3 PA) annimmt, müssen die EU-Länder wie
Austritt den Gesamtbestand des Abkommens nicht tan-                       etwa Deutschland eigentlich mehr Emissionen redu-
giert, weil kein Außerkrafttreten vorgesehen ist, wenn                    zieren, als sie aktuell überhaupt ausstoßen. Dies klang
das Inkrafttreten einmal erfolgt ist. Wenn man dagegen                    bereits kurz an und würde dann zweistellige jährliche
die Ratifikation durch die USA als solche bestreitet,                     Milliarden-Zahlungspflichten zur Unterstützung der
wäre ein Austritt sofort möglich. Dies ist allerdings bis-                Emissionsreduktion im globalen Süden bedeuten, mög-
lang nicht geschehen. Ob dieses Bestreiten, wenn die                      licherweise noch begleitet von ebenfalls hohen Zah-
Ratifikation (wie im Oktober 2016 geschehen) schon                        lungen für Adaptation und Klimawandelfolgeschäden;
hinterlegt wurde, völkerrechtlich überhaupt einen                         dabei ergeben sich bereits für eine Zwei-Grad-Grenze
Austritt erreichen kann und zugleich womöglich das                        plus eine eher geringe Erreichungswahrscheinlichkeit
ganze Abkommen wegen nunmehr geringerer erfasster                         einer 1,5-Grad-Grenze und ein Zieljahr 2050 in einer
globaler Emissionsmengen als nicht wirksam in Kraft                       Berechnung minus 162 % Emissionsreduktionsver-
getreten erscheinen lässt, ist zudem sehr zweifelhaft.                    pflichtungen etwa für Deutschland (unter Verwendung
Ungeachtet dieser rechtlichen Betrachtung ist es für                      der Daten aus IPCC 2014 und Schellnhuber 2015 im
die Wirksamkeit des Paris-Abkommens ersichtlich                           Einzelnen vorgerechnet bei Ekardt/Wieding/Henkel
ungünstig, wenn Staaten mit hohen Emissionen sich                         2015: 6ff.). Dies ergibt dann übersetzt z.B. Nullemissi-
aus dem internationalen Klimaschutz zurückzuziehen                        onen plus zweistellige jährliche Milliarden-Zahlungs-
versuchen.                                                                pflichten allein schon für die Mitigation im globalen

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Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung.

Süden. Geht man nach dem Paris-Abkommen nun-                              die sich in Wirklichkeit in – wenn man die Konsum-
mehr von „deutlich unter 2 Grad“ oder sogar 1,5 Grad                      emissionen pro Kopf ermittelt – gestiegene Emissionen
aus, verschärft das die Zahlen weiter.8 Die Zielverfeh-                   verkehren (zur Vermeidung von Wiederholungen sei
lung bezogen auf Art. 2 Abs. 1 PA durch Staaten wie                       erneut verwiesen auf die nähere Darlegung m.w.N. bei
Deutschland und den Staatenbund EU (aber letztlich                        Ekardt 2016a: § 1 B. III.; Ekardt 2016b; Becker/Richter
auch durch praktisch alle anderen Staaten) ist bereits                    2015). Wie die EU gemeinsam mit anderen Vorreiter-
in Art. 3, 4 PA angelegt, weil es gemessen an der sehr                    staaten durch eine gründliche Revision des ohnehin
ambitionierten verbindlichen Zielsetzung des Art. 2                       stark reformbedürftigen Emissionshandels mit sodann
Abs. 1 PA etwas kontradiktorisch wirkt, den Staaten                       strengeren und sukzessive anziehenden Caps sowie
zunächst nur freiwillige nationale Emissionsreduktio-                     einer Erfassung sämtlicher fossiler Brennstoffe auf der
nen als Umsetzung der allgemeinen Zielstellung abzu-                      ersten Handelsstufe statt nur in einzelnen Sektoren
verlangen, die allerdings später nachgebessert werden                     (kombiniert mit Border Adjustments) diese Situation
müssen. Nach dem Gesagten müssen Deutschland und                          grundlegend verändern könnte, wird hier zur Ver-
die EU ergo ihre Verpflichtungen rasch und drastisch                      meidung von Wiederholungen nicht erneut dargelegt
nachschärfen (andere Staaten allerdings auch).                            (siehe m.w.N. Ekardt 2016a: § 6 E.; Hennig 2017; Bosn-
      Schon für die Vergangenheit ist die Rede vom                        jak 2015; teilweise auch von Bredow 2013; allgemein zu
Klimavorreiter EU bzw. Deutschland keineswegs so                          ökonomischen Instrumenten auch Ekardt 2016b).
berechtigt, wie allgemein angenommen wird (kri-                                Eine naheliegende Erklärung, warum (jenseits
tisch Becker/Richter, Momentum Quarterly 2015:                            komplexer verhaltenswissenschaftlicher Erklärungen;
3ff.; Hennig 2017; Ekardt 2016a: § 1 B. III.; Moreno/                     dazu Ekardt 2016a: § 2; Ekardt 2017) die Reichweite des
Speich Chassé/Fuhr, Carbon Metrics, 2015: 13ff.; Ekardt                   Art. 2 Abs. 1 PA konsequent verdrängt wird, dürfte die
2016b). Das manifestiert sich bereits darin, dass auch                    Folgende sein, die andernorts näher ausgeführt wurde
diese Vertragsparteien in Paris nicht viel zu einem                       und hier deshalb lediglich in Erinnerung gerufen sei
besseren Verhandlungsergebnis, als es soeben geschil-                     (dazu und zum gesamten vorliegenden Abschnitt Jack-
dert wurde, beigetragen haben. Die EU hat in Paris als                    son 2011; Paech 2012; Ekardt 2016a: § 1 B. V.; Ekardt
(supra-)nationalen Klimaschutzbeitrag im Sinne von                        2016b; Hennig 2017; Stengel 2011; Scheidler 2015). Die
Art. 4 Abs. 2 PA Treibhausgasemissionen von minus 40                      völkerrechtlich verbindlichen Temperaturgrenzen
% bis 2030 versprochen. Hinter der von der EU gleich-                     aus Art. 2 Abs. 1 PA könnten, wenn sie denn noch
zeitig mitgeforderten o.g. Temperaturgrenze bleibt dies                   umgesetzt würden, sukzessive in eine Welt ohne Wirt-
weit zurück. Hätten westliche Industriestaaten indes                      schaftswachstum führen. Klimaschutz und Wachstum
deutlich stärkere Reduktionsziele und eine stärkere                       sind zwar nach verbreiteter (und wohl zutreffender)
finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer im                       Einschätzung kompatibel, solange man allein bessere
Rahmen von Mitigation, Adaptation sowie Loss and                          Technik wie erneuerbare Energien und Energieeffizi-
Damage angeboten, wären auch klarere Klimaschutz-                         enz zur Ersetzung der fossilen Brennstoffe bei Strom,
verpflichtungen für die Staaten weltweit denkbar gewe-                    Wärme, Treibstoff usw. avisiert, denn neue Technik
sen. Hintergrund ist, dass die EU und Deutschland trotz                   als solche kann man kurz gesagt verkaufen und damit
der selbst zugeschriebenen positiven Rolle unverändert                    Wachstum schaffen. Trotz aller Unvorhersehbar-
pro Kopf bei um ein Vielfaches überhöhten Emissionen                      keit der (auch technischen und verstärkt dienstleis-
stehen, wenn man die genannten Temperaturgrenzen                          tungswirtschaftlichen und damit emissionsärmeren)
in den Blick nimmt. Auch die (auf absolut hohem                           Zukunft erreicht man allein mit Technik jedoch die
Niveau erfolgten) relativen Emissionsreduktionen seit                     genannten Ziele aus einer Reihe von Gründen wohl
1990 beruhen wesentlich auf statistischen Schönungen,                     eher nicht. Die zwei wichtigsten sind: Die Herausfor-
                                                                          derung ist angesichts der knappen Zeit bis Ende der
     8     Die Frage, mit welchen Strategien solche Reduktio-             2020er- bzw. Ende der 2030er-Jahre schlicht zu groß;
nen zu erreichen wären, was also technische Konsistenz- und               für manche Emissionen (etwa in der Landwirtschaft)
Effizienzlösungen leisten können, was Suffizienz leistet und              fehlen auch technische Optionen. Die mitunter mono-
was negative Emissionstechnologien leisten könnten (mit                   thematische Ausrichtung der aktuellen Umwelt(rechts)
welchen Vor- oder Nachteilen), ist kein näherer Gegenstand
der vorliegenden Untersuchung; näher z.B. Ekardt 2016a;                   debatte auf das Klimathema verdeckt zudem: Andere
Ekardt 2018a und kurz oben zu den negativen Emissionen –                  Umweltprobleme wie die Degradation von Böden und
sowie unten zu den Grenzen von Technik.                                   Ökosystemen gefährden den Menschen ebenfalls auf

                                            2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress

                                                                     82
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution.

Dauer existenziell und müssen gleichzeitig angegangen                      Bodirsky, B./Rolinski, S./Biewald, A./Weindl, I./Popp, A./
                                                                               Lotze-Campen, H. (2015): Global Food Demand Scena-
werden. Die umweltfachlich naheliegende Lösung, den                                           st
                                                                               rios for the 21 Century. PLOS ONE, 10 (11). DOI:10.1371
Nutzungsdruck auf Natur, Böden etc. zu reduzieren,
                                                                           Bosnjak, N. (2015): Ein Emissionshandelssystem der ersten
lässt sich noch weniger rein technisch ausführen als ein                       Handelsstufe. Rechtliche, politische und ökonomische As-
wirksamer Klimaschutz. Neben grüner Technik gehört                             pekte eines Gesetzgebungsvorschlags. Marburg: Metropo-
zum Klimaschutz unter dem Paris-Abkommen damit                                 lis.
wohl neben technischen Maßnahmen auch (!) ein                              von Bredow, H. (2013): Energieeffizienz als Rechts- und Steu-
genügsamerer Lebensstil. Weniger Urlaubsflüge, weni-                           erungsproblem. Unter besonderer Berücksichtigung der
ger tierische Nahrungsmittel (deren Produktion bisher                          erneuerbaren Energien. Marburg: Metropolis.
rund vier Fünftel der weltweiten Agrarflächen bean-                        Buhofer, S. (2017): Der Klimawandel und die internationale
                                                                              Klimapolitik in Zahlen. München: Oekom.
sprucht), weniger Autos u.a.m. implizieren indes ein
                                                                           Calliess, C. (2001): Rechtsstaat und Umweltstaat. Tübingen:
Ende der Wachstumsgesellschaft. Umgekehrt jedoch
                                                                                Mohr Siebeck.
hängen am Wirtschaftswachstum bislang zentrale
                                                                           Canadell, P./Le Quéré, C./Peters, G. (2017): We can still keep
gesellschaftliche Institutionen wie der Arbeitsmarkt,                          global warming below 2°C – but the hard work is about to
das Renten- und das Bankensystem (näher: Ekardt                                start. The Conversation. Online: https://theconversation.
2016a: § 1 B V.).                                                              com/we-can-still-keep-global-warming-below-2-but-
     Insofern gibt das rechtsverbindliche Pariser                              the-hard-work-is-about-to-start-72075 [02.08.2017].
Langfristziel den Staaten nicht nur sukzessive, aber                       Drouet, L/ Emmerling, J. (2016): Climate policy under socio-
drastische Aufbesserungen ihrer nationalen Redukti-                            economic scenario uncertainty. Environmental Model-
                                                                               ling & Software, 79, 334–342.
onszusagen auf. Sie erzwingt auch eine umfassende Dis-
                                                                           Ekardt, F. (2018): Ökonomische Bewertung – Kosten-Nutzen-
kussion über die Zukunft menschlichen Wirtschaftens
                                                                               Analyse – ökonomische Ethik. Eine Kritik unter beson-
und Zusammenlebens, der nicht weiter ausgewichen                               derer Berücksichtigung von Nachhaltigkeit und Klima-
werden kann. Wenn aktuell seit der Bonner Klima-                               schutz. Marburg: Metropolis, i.E.
konferenz vom November 2017 angestrebt wird, diese                         Ekardt, F./Zorn, A. (2018): Ozeanversauerung, Meeresum-
nötigen Nachbesserungen in verkleinerten Gesprächs-                            weltrecht, Klimavölkerrecht und die Menschenrechte,
runden – nach dem der Fidschi-Sprache entlehnten                               Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts, i.E.
Talanoa-Prinzip – auf den Weg zu bringen, so bleibt zu                     Ekardt, F. (2017): Rezension zu Dieckhoff, Modellierte Zu-
                                                                               kunft und Dieckhoff/Leuschner, Die Energiewende und
hoffen, dass die mit alledem umrissene Problemdimen-
                                                                               ihre Modelle, Zeitschrift für Umweltpolitik und Umwelt-
sion adäquat aufgegriffen wird.                                                recht, 3, 282–285.
                                                                           Ekardt, F./Wieding, J. (2016): Rechtlicher Aussagegehalt des
                                                                               Paris-Abkommen – eine Analyse der einzelnen Artikel.
Literatur                                                                      Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, Sonder-
                                                                               heft, 36–57.
Anderson, K./Broderick, J. (2017): Natural Gas and Climate
                                                                           Ekardt, F. (2016a): Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, recht-
   Change. Online: http://www.foeeurope.org/sites/default/
                                                                               liche, politische und transformative Zugänge – am Beispiel
   files/extractive_industries/2017/natural_gas_and_cli-
                                                                               von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel.
   mate_change_anderson_broderick_october2017.pdf
                                                                               3. Auflage (= 2. Aufl. der Neuausgabe) Baden-Baden:
   [12.12.2017].
                                                                               Nomos.
Arndt, B. (2009): Das Vorsorgeprinzip in der Europäischen
                                                                           Ekardt, F. (2016b): Zur Verteidigung ökonomischer Politik-
    Union. Tübingen: Mohr Siebeck.
                                                                               instrumente gegen ihre Freunde und Kritiker: Analysen
Bauriedl, S. (Hg.) (2016): Wörterbuch Klimadebatte. Bielefeld:                 des Hauptinstruments der Transformation zur Nachhal-
    Transcript.                                                                tigkeit. Momentum Quarterly, 5 (4), 224–242.
Becker, B./Richter, C. (2015): Klimaschutz in Deutschland                  Ekardt, F./Wieding, J./Henkel, M. (2015): Climate Justice 2015
    – Realität oder Rhetorik? Momentum Quarterly, 4 (1),                       – BUNDposition. Berlin. Online: https://www.bund.net/
    3–20.                                                                      service/publikationen/detail/publication/climate-justi-
Berger, J./Günther, D./Hain, B. (2016): Das Übereinkommen                      ce-2015/ [02.10.2017].
    von Paris – ein wichtiger Wegweiser für eine lebenswerte               Figueres, C. u.a. (2017): Three years to safeguard our cli-
    Zukunft und einen Politikwandel in Deutschland. Zeit-                      mate. Nature, 546 (7660). Online: https://www.nature.
    schrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, Sonderheft,                     com/news/three-years-to-safeguard-our-climate-1.22201
    4–12.                                                                      [21.10.2017].
                                                                           Friedrich, T./Timmermann, A./Tigchelaar, M./Timm, O./
                                                                                Ganopolski, A. (2016): Nonlinear climate sensitivity and

                                                        www.momentum-quarterly.org

                                                                      83
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