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Zeitschrift für Sozialen Fortschritt 2018 | Vol. 7, No. 2, p. 73-85 In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. Zugleich zu Vorsorgeprinzip und überschätzten Klimaszenarien. Felix Ekardt, Anika Zorn und Jutta Wieding* Zusammenfassung Das Pariser Klima-Abkommen vom Dezember 2015 erfährt öffentlich viel Kritik. Dabei wird seine äußerst ambi- tionierte Zielsetzung übersehen, die die globale Erwärmung verbindlich auf 1,5–1,8 Grad gegenüber vorindust- riellem Niveau begrenzt. Der Beitrag zeigt in der Schnittmenge offener naturwissenschaftlicher Prognosefragen mit dem rechtlichen Vorsorgeprinzip auf, dass damit ein Weg zu globalen Nullemissionen innerhalb kürzerer Zeit als meist angenommen rechtsverbindlich vorgeschrieben ist. Ferner wird deutlich, dass die Politik sogar auf eine Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze ausgerichtet werden muss – und dass rechtlich gesehen bei Existenzfragen wie dem Klimawandel nur eine Politik, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Temperaturgrenze einhält, zulässig ist. Das stellt auch die vermeintlichen Klimavorreiter EU und Deutschland vor große Herausforderun- gen. Nach dem Gesagten müssen Deutschland und die EU im Rahmen der regelmäßigen Anpassung der eigenen Reduktionszusagen gemäß dem Paris-Abkommen ihre Verpflichtungen rasch und drastisch nachschärfen. Schlagwörter: Paris-Abkommen, Klimawandel, Klimaschutz, Menschenrechte, Vorsorgeprinzip, Klimasze- narien Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. On precautionary principle and overrated climate scenarios. Abstract The Paris Agreement of December 2015 is subject to much criticism. This however neglects its very ambitious objective which limits global warming legally binding to 1.5 to 1.8 degrees in comparison to pre-industrial levels. This article shows, based on the overlap of unanswered questions for prognoses in natural science and the legal precautionary principle, that this objective indicates a legal imperative towards zero emissions globally within a short timeframe. Furthermore, it becomes apparent, that policies need to be focussed on achieving the 1.5-degree- temperature limit. And from a legal standpoint with regard to existential matters only those policies are justified that are fit to contribute to reaching the temperature limit with high certainty. This creates a big challenge even for the alleged forerunners of climate policies Germany and EU. Because, according to the objective, EU and Germany have to raise the level of ambition in their climate policies rapidly and drastically. Keywords: Paris Agreement, climate change, climate protection, human rights, precautionary principle, climate scenarios *Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A. (felix.ekardt@uni-rostock.de) leitet die Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klima- politik (FNK) in Leipzig und Berlin (www.nachhaltigkeit-gerechtigkeit-klima.de) und lehrt Öffentliches Recht und Rechts- philosophie an der Universität Rostock, wo jeweils Jutta Wieding, M.A. mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung zum weiteren Themenfeld dieses Beitrags promoviert und Anika Zorn, B.Sc. in verschiedenen Projekten tätig ist. Dieser Text entstand im Rahmen einer vom Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. finanzierten Studie und des vom BMBF finanzierten Projekts BIOACID zur Ozeanversauerung. 2018 | | Innsbruck Momentum Quarterly I ISSN 2226-5538 I momentum-quarterly.org Vol. 7, No 2 I DOI 10.15203/momentumquarterly.vol7.no2.p71-85 Beiträge in Momentum Quarterly stehen unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. 1. Problemstellung und Grundlagen des mehr zu verhindernden Klimawandel (Adaptation) Paris-Abkommens und seiner rechtlichen und finanzielle Hilfen für vom Klimawandel geschä- Verbindlichkeit digte Staaten (Loss and Damage) verstärkt in den Blick zu nehmen. Vielfältig diskutiert wird seitdem, dass Die Erde steht, so lautet eine gut fundierte, von einem die Detailregelungen des Abkommens vage und die breiten naturwissenschaftlichen Konsens getragene konkreten Emissionsreduktionszusagen der Staaten Einschätzung (IPCC 2014a; IPCC 2014b; im Überblick in der Höhe freiwillig und durch eine Vielzahl offener Ekardt 2016a: § 1 B.), vor einer einschneidenden glo- Berechnungs- und Verfahrensfragen durchlöchert sind balen Erwärmung um 3 bis 6 Grad Celsius gegenüber (näher m.w.N.: Ekardt/Wieding 2016). vorindustriellem Niveau im Laufe des 21. Jahrhunderts, Doch vorliegend soll weniger dieser allseits bear- die durch (primär) menschlich verursachte hohe Treib- beitete Punkt weiter betrachtet als vielmehr gefragt hausgasausstöße ausgelöst wird, im Kern – neben Land- werden, worin das übergreifende Ziel selbst besteht. nutzungsaspekten – durch eine starke Nutzung fossiler Es geht um die Analyse des rechtlich verbindlichen Brennstoffe in Bereichen wie Energieerzeugung, Pro- Ziels einer globalen Erwärmungsbegrenzung auf duktion, Landwirtschaft, Gebäudewärme, Stromver- „deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindust- sorgung und Mobilität. Allein um die Stromversorgung riellen Niveau“ verbunden mit „Anstrengungen …, geht es also keinesfalls, auch wenn sich die Debatte um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius über in Deutschland darauf mitunter stark konzentriert. dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ (Art. 2 Ein Klimawandel in besagter Größenordnung droht PA). Gleichzeitig heißt es in Art. 4 Abs. 1 PA: „Zum nach zitiertem naturwissenschaftlich-ökonomischem Erreichen des in Artikel 2 genannten langfristigen Kenntnisstand massive ökonomische Schäden, große Temperaturziels sind die Vertragsparteien bestrebt, so Migrationsbewegungen, existenzielle Gefährdungen bald wie möglich den weltweiten Scheitelpunkt der für Millionen Menschen und in letzter Instanz gewalt- Emissionen von Treibhausgasen zu erreichen …, um same Auseinandersetzungen um schwindende Res- in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleich- sourcen wie Nahrung und Wasser auszulösen. Noch gewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von relativ wenig wird öffentlich wahrgenommen, dass es Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher mit der Reduktion von Treibhausgasemissionen (und Gase durch Senken“ herzustellen. Betrachtet man diese fossilen Brennstoffen) zugleich um die entscheidende beiden unstreitig rechtsverbindlichen Zielnormen von Gegenmaßnahme gegen die Ozeanversauerung als einem physikalischen respektive meteorologischen weiteres Umweltproblem geht. Jene Emissionen sind Standpunkt aus, ergeben sich potenziell Widersprüche, damit auch ursächlich für die oft flagrante Gefährdung weil Art. 2 PA eine viel frühere Dekarbonisierung als mariner Ökosysteme.1 Art. 4 PA verlangen könnte. Im Dezember 2015 haben sich die Staaten weltweit Eine rechtsinterpretative Analyse (näher zu dieser auf ein neues globales Klimaschutzabkommen geeinigt. weltweit praktizierten juristischen Methode: Ekardt Allseits wird das Paris-Abkommen (Paris Agreement/ 2016a: § 1 D. III. 3.2) von Art. 2 und 4 PA bei gleichzeiti- nachstehend meist PA) enthusiastisch begrüßt, beson- ger Rezeption des naturwissenschaftlichen Erkenntnis- ders weil schon das Zustandekommen irgendeiner Ver- standes auf dem Wege einer Literaturanalyse dazu, was einbarung im Vorfeld deutlich bezweifelt worden war; solche Ziele denn konkret an Emissionsreduktionen gleichzeitig wird seine Wirksamkeit bezweifelt. Gene- erfordern, ermöglicht deshalb erst eine Aussage, wozu rell wird allen Staaten weltweit aufgegeben, die Bemü- sich die Staaten in Paris eigentlich verpflichtet haben hungen um den Klimaschutz zu intensivieren und auch – und wie etwaige dabei entstandene Widersprüche Maßnahmen der Anpassung an einen teilweise nicht aufgelöst werden können und müssen. Eine Untersu- 1 Ein weiterer Faktor für die Ozeanversauerung in 2 Rechtsnormen werden grammatisch, systematisch, Gestalt von Schadstoffemissionen geht zentral auf den Ein- teleologisch und historisch interpretiert, also nach ihrem satz fossiler Brennstoffe in Industrie, Mobilität und Landwirt- Wortsinn, nach ihrem Verhältnis zu anderen Rechtsnormen, schaft zurück. Damit handelt es sich bei Ozeanversauerung nach ihrem Zweck und nach ihrer Entstehungsgeschichte. In und Klimawandel um eng verschnittene Probleme – wobei aller Regel kommen primär die grammatische und systema- letzterer die Degradation mariner Ökosysteme weiter voran- tische Auslegung zur Anwendung, weil die beiden anderen treibt. Näheres zur Ozeanversauerung und ihrer Governance: Zugänge mit verschiedenen Problemen verbunden sind; Ekardt/ Zorn 2018. näher m.w.N.: Ekardt 2016a: § 1 D. III. 3. 2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress 74
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. chung dazu verspricht also deutlicher als bislang zu dieses Ziel einfach abgeschenkt werden darf. Vielmehr zeigen, wo sich die Staaten der Welt künftig mit ihren müssen tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, die Emissionsreduktionen hinbewegen müssen. Gemäß weitere Reduktionen im Vergleich zu einer Grenze Art. 3, 4 PA müssen die in regelmäßigen Abständen zu von 1,7 oder 1,8 Grad versprechen. Wie weitreichend überprüfenden staatlichen Zusagen stets der Umset- genau diese Anstrengungen sein müssen, wird zwar zung des Langfristziels dienen, und entsprechen sie vom Wortlaut her nicht explizit ausgeführt. Die Entste- ihm nicht, ist rechtlich schrittweise ihre Anpassung an hungsgeschichte, also der Hergang der Pariser Klima- das Langfristziel geboten. All dem widmet sich deshalb verhandlungen, legt aber nahe, dass es im Kern darauf der vorliegende Beitrag. In diesem Kontext stellen sich ankommen soll, dass real versucht werden soll, die 1,5 auch Fragen danach, was uns Klimaszenarien sagen Grad zu erreichen, sofern dies nicht unmöglich ist. Wir können, wie mit Unsicherheiten umzugehen ist und werden in Abschnitt 4 noch sehen, dass es für diese was unter dem vergleichsmaßstäblichen „vorindust- Deutung der „Anstrengung“ eine ergänzende grund- riellen Niveau“ zu verstehen ist, das in Art. 2 PA zum rechtliche Rechtfertigung gibt. 3 Rechtsbegriff wird. Inhaltlich wird damit in Art. 2 PA eine Aussage getroffen, die sich von der bisher in den Verhand- 2. Widerspruch zwischen Art. 2 und Art. 4 PA – lungen und in der Öffentlichkeit meist diskutierten Nullemissionen global in wenigen Jahren statt Zwei-Grad-Grenze unterscheidet. Dies wird bislang Ende des 21. Jahrhunderts? noch relativ wenig bemerkt, hat jedoch potenziell dras- tische Folgen – nämlich kurzfristig nötige drastische Ob die Erreichung eines Gleichgewichts von Emissio- Emissionsreduktionen im globalen Maßstab. Deshalb nen und Senken bis Ende des 21. Jahrhunderts (Art. 4 ist der Zeithorizont der „zweiten Hälfte“ des 21. Jahr- Abs. 1 PA) und die globale Temperaturgrenze von deut- hunderts aus Art. 4 Abs. 1 PA möglicherweise nicht lich unter 2 Grad und Anstrengungen hin zu 1,5 Grad ausreichend für die o.g. Temperaturgrenzen. Dem ist in einem Widerspruch zueinander stehen, hängt teil- jetzt näher nachzugehen. Um die von der jeweiligen weise von empirischen Fragen danach ab, wie viel Zeit Temperaturgrenze implizierten Emissionsreduktionen die Menschheit noch dafür hat, um ihre Emissionen so zu ermitteln, wird im IPCC-Kontext jeweils mit Wahr- zu senken, dass die Temperaturgrenze eingehalten wird scheinlichkeiten gerechnet, wobei auch Abschätzungen (dazu sogleich). Der mögliche Widerspruch beider vorgenommen werden, da es um zukünftige Sachver- Normen hängt aber auch von einer Rechtsinterpretati- halte geht und das Globalklima von einer Vielzahl onsfrage ab, nämlich davon, welche Temperaturgrenze relevanter, zudem nicht durchgängig genau bekannter mit „deutlich unter“ 2 Grad gemeint ist. Deutlich unter Faktoren beeinflusst wird (näher zu daraus resultieren- (oder: weit unter – im Original „well below“) bedarf den Problemen siehe Abschnitt 3). Berechnen lässt sich einer juristischen Auslegung. Der Wortlaut legt, da es dies im IPCC-Kontext sodann über Emissionsbudgets, eben „deutlich“ weniger als 2 Grad, gleichzeitig aber Emissionspfade oder ppm- respektive ppb-Konzentra- 4 mehr als 1,5 Grad sein muss, etwa 1,7 oder 1,8 Grad tionen der Treibhausgase in der Atmosphäre (näher: als Temperaturgrenze nahe. Dass „Anstrengungen“ in Buhofer 2016). Richtung der 1,5-Grad-Grenze unternommen werden Bereits das Ziel einer Temperaturbegrenzung auf müssen, kann ferner juristisch nicht heißen, dass deutlich unter 2 Grad globale Erwärmung aus Art. 2 Abs. 1 PA verlangt global in rund zwei Jahrzehnten 3 Auch die Debatte über die UN Sustainable Deve- Nullemissionen, wenn man die Daten des Weltkli- lopment Goals 2030 (SDGs; näher: Ekardt 2016a) erfährt marates (IPCC) als Zusammenschluss der weltweiten durch Analysen zum Paris-Abkommen eine normative naturwissenschaftlichen Forschung über die dafür Unterfütterung, eine stärkere Konkretisierung und stärkere rechtliche Verbindlichkeit. Denn die SDGs, die außerdem noch maximal möglichen globalen Emissionen und einen Zugang zu moderner Energie für alle, Ernährungssi- gleiche Pro-Kopf-Emissionsrechte weltweit zugrunde cherheit und Zugang zu Wasser einfordern, weisen umfas- sende Bezüge zum Klimawandel oder vielmehr zu einem wirksamen Klimaschutz auf, sind gleichzeitig aber als solche 4 Die Abkürzungen ppm bzw. ppb stehen für parts nicht rechtsverbindlich, teils nicht sehr bestimmt oder sogar per million/billion und drücken das Verhältnis zwischen der in sich widersprüchlich. Letzteres betrifft etwa das Nebenein- Anzahl von Gasmolekülen zur Gesamtmolekülzahl trockener ander von Umweltzielen und klassischer Wachstumsausrich- Luft aus. 391 ppm bedeuten also 391 CO2-Moleküle pro Milli- tung. onen Luftmoleküle. www.momentum-quarterly.org 75
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. legt; für 1,5 Grad müssten Nullemissionen gar schon unterliegen in der Tat immer Unsicherheiten, und wie rund in einem Jahrzehnt erreicht sein. Vorgerechnet dargelegt liefern unterschiedliche Modelle, Annahmen wird dies mit den IPCC-Daten z. B. von Höhne u. a. und Szenarien auch verschiedene Ergebnisse (IPCC (2016; ähnlich Rahmstorf 2017; Ekardt/Wieding/Henkel 2014b: 155; Tollefson 2015; Rahmstorf 2017; Peters 2017). 2015; Rogelj u. a. 2016). Aufgrund der Projektionen von Eine Gesamtbetrachtung verschiedener Modelle, wie (oftmals langjährig in der Atmosphäre verbleibenden) sie z.B. den IPCC-Berichten zugrunde liegt, versucht Treibhausgasemissionen und der Erkenntnisse zur genau auf dieses Phänomen zu reagieren (Schmidt Relation von Treibhausgaskonzentration und Global- 2007; Rahmstorf 2017). Die Modelle in sich sind so temperatur wird eine Berechnung auf Basis der Daten komplex und mit so zahlreichen Annahmen verbun- von IPCC 2014 vorgenommen, die in eine prognosti- den (die zudem für Außenstehende wenig transparent zierte wahrscheinliche globale Erwärmung übersetzt sind), dass es den Rahmen dieses Beitrags sprengen wird. Es werden Szenarien zugrunde gelegt, die mit würde, einen Vergleich aller Einzelheiten zu versuchen. einer Wahrscheinlichkeit von über 66 % die Zwei-Grad- Dennoch könnte man sich vordergründig fragen, ob Grenze und 50 % eine 1,5-Grad-Erwärmung einhalten, die klimapolitisch inaktive Politik dann nicht zumin- basierend auf einem verbleibenden Budget von rund dest im Sinne der für sie günstigsten Berechnung 250 GtCO2 für die 1,5-Grad-Grenze ab dem Jahr 2014 interpretieren darf. Denn selbst wenn man annimmt, (Höhne u. a. 2016; IPCC 2014 hatte ab dem früheren dass in liberal-demokratischen Verfassungsordnun- Jahr 2012 – das bereits fünf Jahre verstrichen ist – ver- gen die Politik ihren Entscheidungen so sorgfältig wie bleibende 1000 GtCO2 angesetzt für die deutlich höhere möglich ermittelte Fakten zugrunde legen muss, liegt Grenze von 2 Grad; siehe auch Peters 2017). Schaut man bereits ohne nähere Betrachtung nahe, dass politische jenseits des IPCC, finden sich Budgetaussagen mal für Spielräume entstehen, wenn die Faktenlage durch ein grobes Spektrum von 1,5 Grad bis 2 Grad und mal Ungewissheiten geprägt ist (Meßerschmidt 2000; direkt für 2 Grad in der Forschung zwischen 150, 590, Ekardt 2016a: § 5 C. II. 2.; Calliess 2001). Im Folgenden 1050 und 1240 GtCO2, wobei sich die Basisjahre unter- soll jedoch zweierlei gezeigt werden. Zum einen deuten scheiden und ferner teils nur Kohlendioxid und teils mehrere Faktoren darauf hin, dass die Berechnungen eher sämtliche Treibhausgase, also Kohlendioxidäquivalente, zu großzügig ausfallen, weswegen der Blick primär auf erfasst sein sollen (zusammenfassend Rahmstorf 2017; die kleinen und nicht auf die großzügigen Budgets fallen Peters 2017; Figueres u.a. 2017; Rogelj u.a. 2017; weitere muss, wenn eine realistische Prognose gesucht wird. Zum aktuelle Betrachtungen von Schellnhuber u.a. 2016; anderen darf, juristisch betrachtet, die Politik beim Kli- Rahmstorf/Levermann 2017; Berger u.a. 2016; Canadell mawandel wegen dessen existenzieller Bedeutung für die u.a. 2017; Andersson/Broderick 2017; Steininger/Meyer Menschheit kein nennenswertes Risiko eingehen. 2017). Verlangt Art. 2 Abs. 1 PA nach dem Gesagten und Zutreffend ist zunächst, dass bei der Berechnung den zitierten Quellen für 1,5–1,8 Grad als Grenze globale künftiger Klimaentwicklungen Faktoren involviert sind, Nullemissionen in rund (abhängig insbesondere auch die zu unscharfen Aussagen führen. Generell sind Aus- von den Emissionspfaden und der angenommenen sagen über die Zukunft nie völlig gewiss, was besonders Klimasensitivität) zehn bis zwanzig Jahren, liegt prima angesichts der Komplexität von Nachhaltigkeitsfragen facie ein Widerspruch zwischen Art. 2 Abs. 1 PA und regelmäßig betont wird (Ekardt 2016a: § 5 C. II. 1.). Art. 4 Abs. 1 PA vor. Welches Budget errechnet wird, hängt folgerichtig von einer Reihe von Annahmen ab. Ein Faktor von vielen 3. Unschärfen: Bezugsjahr, Wahrscheinlichkeiten, für die Unsicherheit in Bezug auf die genaue Klimawir- Klimasensitivität, Friktionen von Szenarien kung von Emissionen entsteht durch die Speicherka- und ein menschenrechtlich gestärktes pazitäten für CO2 in den Ozeanen, die Sammlung von Vorsorgeprinzip kurzlebigen Aerosolen in der Atmosphäre, die zu einer verzögerten Wirkung anthropogener Treibhausgas- Die Rede von Wahrscheinlichkeiten und von Budgets, emissionen führen. Insbesondere Ozeane spielen eine die aufgrund einer Vielzahl von Annahmen zustande zentrale Rolle, da sie sich nur langsam und in mehreren kommen und sich dementsprechend durchaus unter- Schichten erwärmen. Je kälter sie sind, desto höher die scheiden, erzeugt allerdings die Frage, wie weitgehend Speicherkapazität für Treibhausgasemissionen. Positi- die Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 1 PA denn nun wirk- ver Nebeneffekt ist, dass z.B. Methan mit sehr starker lich ist. Klimamodelle, Schätzungen und Bewertungen Klimawirkung im Laufe von zehn Jahren aus der Atmo- 2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress 76
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. sphäre verschwindet. Bei einem plötzlichen Stopp von zulässigen „deutlich unter 2 Grad“. Rechnet man so, CO2-Emissionen wiederum würden auch die Aerosole landet man nicht nur bei höheren Budgets, sondern – Schadstoffpartikel – aus der Luft verschwinden und man beschönigt auch das Ausmaß der Herausforderung so den Albedo-Effekt aufheben, sodass es auch dadurch – Nullemissionen in kurzer Zeit. Daran geht beispiels- zumindest kurzfristig zu einer Beschleunigung der weise auch der langjährige Diskurs über die Vereinbar- Erwärmung kommt (näher: Mauritsen/Pincus 2017). keit von Wachstum und Umweltschutz vorbei, der eben Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungsentwicklung nicht dieses Ambitionsniveau zugrunde legt (hierzu wirken als zusätzliche Ursache für Unschärfen in den Ekardt 2016a: §1 B. III.; Hoffmann 2015: 12ff.; Jackson Prognosen (Drouet/Emmerling 2016; breit zu regi- 2011: 81ff.; Piketty 2015: 29ff.; Moreno/Speich Chassé/ onalen Szenarien auch Rose u.a. 2017). Wesentlich Fuhr 2015: 28; wenig kritisch Paqué 2010: 96ff.). für die Budget-Berechnung ist ferner, ob man von Zweitens ist die Einbeziehung der Nicht-Kohlen- einer sofortigen Absenkung der Emissionen ausgeht dioxid-Emissionen nicht in allen Budgets gegeben. oder annimmt, dass die Emissionen noch einige Jahre Andere Treibhausgase halten sich zwar anders als Koh- steigen. Zudem ist das Thema Klimaschutz noch mit lendioxid nicht lange in der Atmosphäre; dennoch spie- anderen gesellschaftlichen Großthemen wie Wachstum, len auch sie für den Klimawandel eine entscheidende internationalem Handel, Digitalisierung, Automatisie- Rolle (Buhofer 2017). Schließt man aus einem reinen rung, Globalisierung u.a.m. verflochten, deren genaue Kohlendioxid-Budget auf den Handlungsbedarf bei weitere Entwicklung ebenfalls von vielfältigen und Treibhausgasen, verringert man das Ausmaß der Her- komplexen Zusammenhängen beeinflusst wird. All ausforderung künstlich. das ist nicht grundlegend durch die den Budgetberech- Drittens werden Budgetberechnungen auch nungen zugrunde liegenden Modelle und Szenarien zu dadurch relativ großzügig, dass das Referenzjahr des beheben. Szenarien sind weder eine sichere Prognose, „vorindustriellen Niveaus“, das gemäß Art. 2 Abs. 1 PA noch erschöpfen sie auch nur den Möglichkeitsraum gilt, spät datiert wird und dadurch die globale Erwär- 6 künftiger Entwicklungen, und erst recht sind sie nicht mung, die bereits erfolgte, geringer eingeschätzt wird. normativ (weitere Probleme wie die oft nicht offen Generell ist ein Referenzpunkt nötig, um überhaupt gelegten Hintergrundannahmen werden näher betrach- einheitliche Berechnungen durchführen zu können. tet bei Ekardt 2017; exemplarisch trotz umfassender und Gängig ist primär ein Basisjahr von 1860 bis 1880 für gründlicher Arbeiten Bodirsky u.a. 2015 und Wiebe u.a. die Berechnung der Temperaturgrenze, doch wird auch 5 2015 ). Da man bezogen auf die diversen unwägbaren 1750 genannt (Peters 2017; Rahmstorf 2017). Damit Ereignisse auch deren Eintrittswahrscheinlichkeit in schließt sich die Frage an, wann genau Industrialisie- der Regel nicht genau kennt, können Budgets ohnehin rung respektive eine Zunahme der Emissionen eigent- nur eine Abschätzung, aber nicht im strengen Sinne lich begann. Der IPCC zieht die Grenze zunächst im eine Berechnung sein, denn mit ungewissen Wahr- Jahr 1750 (IPCC 2013: 1456). Berechnungen und Schät- scheinlichkeiten kann man mathematisch nicht rech- zungen bezüglich der Wahrscheinlichkeit der globalen nen, selbst bei größter Expertise nicht. Durchschnittserwärmung werden indes mit Bezug auf Auch wenn man also die Klimazukunft nicht exakt das Jahr 1850 bzw. 1870 gemacht, da für die Zeit vor dem kennt, sprechen dennoch wie angedeutet einige starke 19. Jahrhundert nur sehr wenige Daten von Tempera- Anhaltspunkte dafür, dass innerhalb der verschiedenen turmessungen vorliegen und sich diese vorwiegend auf Abschätzungen eher die kleinen Restbudgets richtig liegen. die Nordhalbkugel beschränken (IPCC 2013: 953–1028, Erstens beziehen sich viele Berechnungen auf 1029–1136; IPCC 2014a: 64). Durch den CO2-Anstieg 2 Grad, was mehr ist als die gemäß Art. 2 Abs. 1 PA vor 1850 ist eine Temperatursteigerung von 0,1 bis 0,2 Grad Celsius zu verzeichnen (Schurer u.a. 2017). Letzt- 5 Raftery 2017 u.a. gehen davon aus, dass ihre Zahlen lich ist die Frage, was „vorindustrielles Niveau“ meint, aufgrund von Vergleichsrechnungen aus der Vergangenheit jedoch nicht nur eine freischwebende empirische Dis- validiert werden können: Das Modell angewandt auf eine Hochrechnung beginnend von 1950 und 1980 für jeweils die 6 Einen Überblick über verschiedene Arten von Sze- nächsten 30 Jahre ergab selbst bei einer großen Emissions- narios bietet auch die Seite https://www.iea.org/publications/ steigerung in China zwischen 2000 und 2010 eine 90-prozen- scenariosandprojections/. Die IPCC-Daten werden auch zu- tige Übereinstimmung mit der realen Entwicklung. Ob dies sammengestellt auf der Seite https://www.carbonbrief.org/ allerdings über den wesentlich längeren Zeitraum bis Ende analysis-only-five-years-left-before-one-point-five-c-budget- des Jahrhunderts ebenfalls zutreffend ist, ist fraglich. is-blown. www.momentum-quarterly.org 77
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. kussion darüber, was zu den jeweiligen Zeiten denn für lich unter 2 Grad erreicht (Frieler u.a. 2012; Rahmstorf/ ein Emissionsniveau herrschte. Wenn Art. 2 Abs. 1 PA Levermann 2017: 3f.). Eine Zielmarge von 1,5 bis 1,8 als Rechtsdokument den Alltagsbegriff „vorindustriell“ Grad bewegt sich also keinesfalls in einem ungefährli- verwendet, erscheint ein Ansetzen bei 1750 geboten. chen Bereich, den man deshalb auch nur mit begrenzter Denn konkret damals begann die industrielle Revo- Wahrscheinlichkeit anzusteuern bräuchte. lution in den westlichen Staaten – und nicht etwa erst Im Anschluss an die Darlegungen, dass empirisch- zwischen 1860 und 1880. prognostisch ein geringes Budget im genannten Spek- Viertens können bisherige Berechnungen auch des- trum und somit eine Dekarbonisierung innerhalb halb als eher zu großzügig erscheinen, wenn man andere weniger Jahre als im Lichte des Art. 2 Abs. 1 PA als Annahmen zur Klimasensitivität trifft. Gleichgewichts- gemeint erscheint, lassen sich rechtlich weitere Aussagen Klimasensitivität (equilibrium climate sensitivity/ECS; treffen. Dass die genannten Umstände für das Ansetzen näher: Buhofer 2016) beschreibt den Temperaturanstieg einer möglichst geringen Schädigungswahrscheinlich- bei einer Verdopplung der CO2-Äquivalente in der keit und ergo für einen möglichst raschen drastischen Atmosphäre und ist damit entscheidend für Klima- Klimaschutz in der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 PA modelle und schlussendlich auch für die in Art. 2 Abs. sprechen, ergibt sich juristisch aus zwei Gesichtspunkten. 1 PA geforderte Erwärmungsbegrenzung (IPCC 2013: Zum einen gilt, dass die Politik sich nicht mit 1,7 bis 1451). Laut IPCC (2013: 16) liegt die ECS wahrschein- 1,8 Grad zufrieden geben darf, sondern versuchen muss, lich zwischen 1,5 und 4,5 Grad Celsius. Neuere Studien die 1,5 Grad zu halten. Denn wie gesagt: Dass „Anstren- von Friedrich u.a. (2016) und Storelvmo u.a. (2016) gungen“ in Richtung der 1,5-Grad-Grenze unternom- legen nahe, dass die ECS unterschätzt wurde und eher men werden müssen, kann juristisch nicht heißen, dass im oberen Bereich dieser Spanne oder gar darüber dieses Ziel einfach abgeschenkt werden darf. Vielmehr liegt. So kam bei paläoklimatischen Untersuchungen müssen tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, die heraus, dass die Klimasensitivität vom Klimazustand weitere Reduktionen im Vergleich zu einer Grenze von abhängt und in Warmphasen (wie der jetzigen) signifi- 1,7 oder 1,8 Grad versprechen. kant höhere Werte annimmt – nach den Berechnungen Zum anderen weisen menschenrechtliche Verpflich- von Friedrich u.a. (2016) 4,88 Grad Celsius, was die tungen zum Klimaschutz, zum Schutz der elementaren IPCC-Spannweite deutlich überschreitet. Ein weiterer Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Exis- Unsicherheitsfaktor bei der Bestimmung der ECS ist tenzminimum, in diese Richtung (ausführlich dazu die Bewölkung, da diese den Strahlungshaushalt der Ekardt 2016a: §§ 4, 5; Rajamani 2010; Knox 2013; Skilling- Erde maßgeblich mitbestimmt. Storelvmo u.a. (2016) ton 2012; Verheyen 2005; allgemein zum Umweltschutz kommen bei einer Studie zu dem Ergebnis, dass deut- auch Unnerstall 1999; Schmidt-Radefeldt 2000; Calliess lich mehr Solarstrahlung nicht, wie bisher angenom- 2001; Koch 2000). Diese Verpflichtung wird zugleich men, von den Wolken zurück in das All reflektiert wird, explizit in der Präambel des Paris-Abkommens in Erin- sondern die Wolkenschicht durchdringt und damit die nerung gerufen – wissend darum, dass eine globale Erde stärker erwärmt. Je nach Bewölkung kann eine Erwärmung, die die Nahrungs- und Wasserversorgung bis zu 1,3 Kelvin höhere Klimasensitivität auftreten als beeinträchtigen und damit (neben Naturkatastrophen) bisher erwartet (Mauritsen/Pincus 2017). Migrationsbewegungen und Kriege um schwindende Fünftens basieren die Budgetberechnungen darauf, Ressourcen wahrscheinlicher machen kann, die Grund- eine relativ große Wahrscheinlichkeit der Verfehlung lagen der menschlichen Zivilisation in Gefahr bringen der jeweiligen Temperaturgrenze hinzunehmen. Jedoch kann. Zwar unterliegen menschliche Verpflichtungen in ist es bei einer existenziellen Bedrohung wie dem Kli- puncto Klimaschutz prima facie Spielräumen der Staa- mawandel prima facie verblüffend, sich mit Schutz- ten (wegen der gegenläufigen Freiheitsrechte etwa von wahrscheinlichkeiten wie 50 oder 66 % zu begnügen Unternehmen und Konsumierenden), die lediglich durch (auch wenn hundertprozentige Sicherheit für in der einzuhaltende Abwägungsregeln eingegrenzt werden. Zukunft liegende Sachverhalte naheliegenderweise Eine Abwägungsregel lautet jedoch, dass der politische nicht zu erreichen sein wird). Insoweit ist auch zu Entscheidungsspielraum dort endet, wo ein politisches bedenken: Einige kritische Klima-Umschlagpunkte wie Tun oder Unterlassen das freiheitlich-demokratische das Schmelzen des Grönländischen oder Westantarkti- System als solches zu gefährden beginnt (näher: Ekardt schen Eisschildes oder für die Korallenbleiche werden 2016a: § 5 C. I.; zu weiteren Regeln ferner Calliess 2001 wahrscheinlich schon bei einer Erwärmung von deut- und Susnjar 2010). Just dies droht ein im eben geschil- 2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress 78
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. derten Sinne ungebremster Klimawandel zu tun. Damit verschiedener Budgetberechnungen verbleibenden zehn ist ein strenger Klimaschutz menschenrechtlich geboten. bis zwanzig Jahren für jene Dekarbonisierung eher zu Dies wirft natürlich wiederum die Frage auf, wie großzügig bemessen (dazu, dass eine solche Aussage stark und wie schnell dafür die Emissionen reduziert wegen der bestehenden Unsicherheiten und aus Gewal- werden müssen. Und es liegt auch auf der Hand, dass die tenteilungsgründen nicht exakt quantifiziert werden geschilderten Entwicklungen denkbar, aber keineswegs kann, sondern parlamentarische Spielräume verblei- sicher sind. Jedoch schützen die Grundrechte auch vor ben, siehe Ekardt 2016a: § 5 B.-C.; Calliess 2001; Susn- möglichen und nicht nur vor sicheren Gefährdungen, jar 2010; Ekardt 2018; zur Frage der Wirtschaftlichkeit sofern die Gefährdung im Eintrittszeitpunkt sonst irre- eines Dekarbonisierungspfades verglichen mit einem versibel wäre (und genau so wäre es für den Klimawan- Business-as-usual mit möglichen katastrophalen Folgen del). Denn sonst liefe der Grundrechtsschutz leer (Koch Ekardt 2016b). 2000; Ekardt 2016a: § 5 C. II. 2.). Die Menschenrechte enthalten also auch ein Vorsorgeprinzip; selbst wenn 4. Rechtliche Auflösung des Verhältnisses zwischen man dies bestreiten würde, wäre jedenfalls unstreitig, Art. 2 und Art. 4 PA dass das Vorsorgeprinzip (auch) unabhängig von den Menschenrechten im nationalen, EU- und Völkerrecht Inhaltlich wird mit Art. 2 PA also eine sehr ambitio- existiert, sichtbar z.B. in der Klimarahmenkonvention in nierte Aussage getroffen. Und es wird eine Aussage Art. 3 Abs. 3 KRK, im Vertrag über die Arbeitsweise der getroffen, die sich von der bisher in den Verhand- EU in Art. 191 AEUV oder im deutschen Grundgesetz in lungen und in der Öffentlichkeit meist diskutierten Art. 20a GG. Vorsorge meint Vorkehrungen angesichts Zwei-Grad-Grenze unterscheidet. Dies wird bislang von langfristigen, kumulativen oder ungewissen Scha- noch relativ wenig bemerkt, hat jedoch wie gesehen densverläufen (Arndt 2009; Maurmann 2008; Monien drastische Folgen – nämlich kurzfristig nötige dras- 2014; konkret zu seiner Reichweite Ekardt 2016a: § 5 C. tische Emissionsreduktionen im globalen Maßstab. II. 2.). Genau darum geht es beim Klimawandel. Dies- Das in Art. 2 Abs. 1 PA zusätzlich genannte Ziel von bezüglich macht der menschenrechtliche Bezug nur Anstrengungen, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu noch deutlicher, was dem Vorsorgeprinzip auch sonst begrenzen, verschärft diese ohnehin schon markante inhärent ist: Je größer das drohende Schadensausmaß Aussage weiter. Wenn es die Vertragsstaaten gemäß im Eintrittsfall sein würde, desto weitreichender ist der Art. 4 Abs. 1 PA „beabsichtigen“, den Höhepunkt der gebotene Schutz, auch zu Lasten der genannten kon- Emissionen „möglichst“ bald zu erreichen und es in kurrierenden Güter wie der wirtschaftlichen Freiheit. der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zu schaffen, Bei existenziellen Gefahren genügen deshalb keine ihre Emissionen vollständig zu neutralisieren, reicht moderaten Wahrscheinlichkeiten für deren Abwehr, das für die Erfüllung des Art. 2 Abs. 1 PA also nicht auch wenn hundertprozentige Sicherheit bezogen auf aus. Angesichts des Regelungswiderspruchs zwischen zukünftige Vorgänge naturgemäß nicht erreichbar ist. Art. 2 Abs. 1 und 4 Abs. 1 PA ist rechtsinterpretativ die Es ist in der Budgetdebatte damit rechtlich geboten, von Vorrangigkeit zu ermitteln. Dabei sprechen mehrere den eher pessimistischen Zahlen auszugehen und dem- Argumente für eine Vorrangigkeit des Art. 2 Abs. 1 PA. entsprechend weitgehende Anstrengungen (weltweit) Es handelt sich dabei im Wesentlichen um eine sys- 7 zur kurzfristigen Dekarbonisierung zu ergreifen. Folg- tematische Auslegung, also um eine Norminterpreta- lich sind selbst die im letzten Abschnitt im Querschnitt tion, die den Zusammenhang verschiedener Normen untereinander bedenkt. 7 Ferner kann man mithilfe der aus den menschen- Für die Vorrangigkeit des Art. 2 Abs. 1 PA spricht rechtlichen Freiheits- und Freiheitsvoraussetzungsgarantien erstens, dass es sich um die übergreifende Zielnorm des ableitbaren Abwägungsregeln (Geeignetheit, Erforderlich- keit, Leistungsfähigkeit, Verursacherprinzip u.a.m.) neben Paris-Abkommens handelt. Art. 4 PA widmet sich, dem der gemeinsamen Klimaschutzpflicht sogar eine ungefähre nachgeordnet, stattdessen den konkreten Strategien zur Lastenverteilung zwischen den Staaten ableiten. Da die Umsetzung dieses Ziels. Dass dieses Umsetzungsver- Länder der EU, beispielsweise Deutschland, bislang pro Kopf hältnis besteht, wird in Art. 3 und 4 Abs. 1 PA zweimal besonders hohe Emissionen hatten, die sich oft noch in der ausdrücklich angesprochen. Der Orientierungspunkt Atmosphäre befinden, verstärkt das den Handlungsdruck hierzulande – über das Gesagte hinaus – noch weiter. Näher und damit die höherrangige Norm ist ergo Art. 2 PA. dazu Ekardt/Wieding/Henkel 2015; Rahmstorf 2017; Ekardt Zweitens: Normhistorisch und vom Normzweck 2016a: § 5 C. IV. – und ferner kurz im letzten Abschnitt. her ist Art. 4 Abs. 1 PA (auch wenn er vom Wortlaut www.momentum-quarterly.org 79
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. her für alle Staaten gilt, denn dort ist von „Parties“ die globale Erwärmung zulassen würden. Gemäß Art. 31 Rede) vor allem so gemeint, dass die Entwicklungs- Abs. 3 Wiener Vertragsrechts-Konvention (WVRK) und Schwellenländer (nicht aber die Industrieländer) ist eine solche systematische Interpretation des Paris- noch Zeit haben sollen für ihre Emissionsreduktionen Abkommens im Lichte eines anderen völkerrechtlichen (das zeigt auch Art. 4 Abs. 4 PA). Auch für die Entwick- Vertrags ausdrücklich ein Teil des Interpretationsaktes. lungsländer lässt sich dies – siehe oben – allerdings so Das Gesagte gilt umso mehr, als menschenrechtliche nicht durchhalten, weil sonst wiederum Art. 2 Abs. 1 Garantien wie dargelegt in die gleiche Richtung weisen. PA verletzt wäre. Jedenfalls verdeutlicht der Gesichts- Auf eines ist am Rande noch hinzuweisen. Eine punkt, dass hier primär eine Staatengruppe gemeint ausdrückliche Aussage zu einem Ausstieg aus den ist, allerdings zweierlei: Art. 4 Abs. 1 PA hat eher einen fossilen Brennstoffen bei Strom, Wärme, Mobilität, operativen und dienenden Charakter. Und speziell für Kunststoffen und Mineraldünger zugunsten von die Industriestaaten kann man stark bezweifeln, ob für erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Suffizienz sie der Art. 4 Abs. 1 PA überhaupt eine zu Art. 2 Abs. 1 findet sich in Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 PA nicht, obwohl PA konträre Aussage treffen will. genau hier der zentrale strategische Ansatzpunkt für Ein drittes, systematisches Argument kann man Klimaschutz liegt. Die dortige Vorgabe, Emissionen zu wie folgt formulieren: Würde man das Normverhält- neutralisieren, könnte statt eines Ausstiegs aus Öl, Gas nis zugunsten des Art. 4 interpretieren, würde Art. 2 und Kohle vordergründig als Einladung zu Geo-Engi- verletzt werden. Interpretiert man dagegen zugunsten neering-Maßnahmen verstanden werden. Gemeint des Art. 2, wird Art. 4 nicht verletzt – er wird dann sind damit insbesondere Eingriffe in die Atmosphäre eher überboten, denn Art. 4 PA fundiert kein Verbot, oder die Ozeane (oder die unterirdische Speicherung schneller zu sein als dort vorgegeben. Die Formu- von abgeschiedenem CO2 etwa aus Kohlekraftwerken), lierung „deutlich unter zwei Grad gehalten“ in Art. 2 um die Sonneneinstrahlung zu reduzieren oder mehr PA unterstreicht auch, dass die Emissionen nicht erst Treibhausgase zu binden. Die Diskussion darüber ist zu beliebig steigen und sodann wieder auf jenes Tempera- komplex, um hier en passant aufgenommen zu werden. turmaß zurückgeführt werden dürfen. Art. 3 PA macht Doch spätestens wenn sich solche Optionen als ganz deutlich, dass die Nationalstaaten dem Ziel aus Art. 2 oder im Wesentlichen undurchführbar erweisen, bleibt PA eben durch eine sukzessive Steigerung ihres Ambi- nur der fossile Ausstieg und der Übergang zu 100 % tionsniveaus (zum bisherigen Niveau der Anstrengun- erneuerbaren Energien, eine gesteigerte Energieef- gen sogleich) gerecht werden müssen. Es heißt dort: fizienz und ggf. auch Suffizienz (und auf im Umfang „Zur Verwirklichung des in Art. 2 genannten Zieles begrenzte, dafür aber direkt verfügbare Techniken der dieses Übereinkommens sind von allen Vertragspar- Kompensation wie Aufforstungen oder Wiedervernäs- teien als national festgelegte Beiträge zu der weltweiten sung von Mooren). Und genau davon ist jedenfalls im Reaktion auf Klimaänderungen ehrgeizige Anstren- Zeithorizont des Art. 2 Abs. 1 PA auszugehen. Denn gungen im Sinne der Artikel 4, 7, 9, 10, 11 und 13 zu entsprechende Technologien stehen aktuell nicht unternehmen und zu übermitteln. Die Anstrengungen marktreif zur Verfügung – womit sich auch mögliche aller Vertragsparteien werden im Laufe der Zeit eine Diskussionen über Kosten und Risiken weitgehend Steigerung darstellen.“ erübrigen. Letztere wären nötig, um die selbst bei Für das Primat von Art. 2 PA gegenüber Art. 4 einem vollständigen fossilen Ausstieg und weiteren PA spricht noch ein vierter, systematischer Umstand. Änderungen (wie einer stärker pflanzlichen Ernäh- Gemeint ist, dass das Paris-Abkommen rechtssyste- rung) verbleibenden Restemissionen zu kompensieren matisch als Konkretisierung der Klimarahmenkon- (zur Kontroverse um Negativemissionen UNEP 2016; vention respektive als umsetzender Rechtsakt in deren Ekardt 2016a: § 1 B.; Höhne u.a. 2016: 11 f.; Smith u.a. Rahmen auftritt. Insbesondere Art. 2 KRK verpflichtet 2016; Hennig 2017). die Staaten als übergreifende Zielnorm des gesamten Das Gesagte wird auch nicht dadurch hinfällig, Klimavölkerrechts zur Vermeidung gefährlicher an- dass die Zielerreichung des Art. 2 Abs. 1 PA schlicht thropogener Störungen des globalen Klimas. Diese Stö- unmöglich ist und sich damit die Frage nach dem rung kann nach dem Gesagten jedoch nur vermieden Verhältnis der Normen vermeintlich auf andere Weise werden, wenn Art. 2 Abs. 1 PA gegenüber Art. 4 Abs. erledigt. Unmögliches ist rechtlich zwar nie geschuldet, 1 PA interpretativ der Vorrang gegeben wird, weil die wie andernorts ausführlicher gezeigt wurde (Ekardt Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 PA eben eine substanzielle 2016a: § 3 G.). Unmöglich ist die Zielerreichung des 2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress 80
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. Art. 2 Abs. 1 PA jedoch wahrscheinlich nicht, wie wir 5. Pariser Langfristziel, EU-Klimapolitik und die sahen: Das wäre sie nur, wenn die Erreichung natur- Wachstumsdebatte gesetzlich unmöglich wäre, selbst in einem Extremfall wie dem sofortigen Aussterben der Menschheit. Nicht Ungeachtet des somit einschneidenden und rechtsver- erübrigen lassen sich diese Fragen durch das beliebte bindlichen Ziels einer globalen Erwärmungsbegren- Statement, man solle gar nicht über Ziele reden. Denn zung auf 1,5 bis 1,8 Grad sind die nationalen Beiträge Art. 2 Abs. 1 PA gilt rechtsverbindlich (kritisch zu Tem- bisher nicht ausreichend, die Angaben des Abkom- peraturgrenzen Knutti u.a. 2016). Ebenfalls fehlgehen mens zu finanziellen Unterstützungen vage und mög- würde es, wenn man darauf verweist, dass Zielbestim- liche Sanktionsmechanismen schlicht nicht vorhanden mungen im Recht nicht immer verbindlich sind; denn (näher dazu und zum Folgenden m.w.N.: Ekardt/ Art. 2 Abs. 1 PA ist, anders als sonstige Ziele wie allge- Wieding 2016; Ekardt 2016; ferner Hennig 2017; avant mein der Klimaschutz, präzise und unmissverständlich la lettre Becker/Richter 2015). Im Wesentlichen sämtli- formuliert, und außerdem machen Art. 3 und 4 Abs. che Staaten werden mit ihren bisherigen Klimazielen 1 PA deutlich, dass Art. 2 Abs. 1 PA die verbindliche und erst recht ihren Instrumenten jene ambitionierten Grundlage für alle Klimaschutzmaßnahmen ist. Erst Temperaturgrenzen weit verfehlen. Der Emissions Gap recht kein Gegenargument wäre es, darauf zu verwei- Report des UN-Umweltprogramms evaluiert, ob die sen, dass die meisten Staaten sich den Art. 2 Abs. 1 PA Summe der bisher eingereichten NDCs ausreicht, um vielleicht als bloße unverbindliche Lyrik vorgestellt die für die Ziele des Paris-Abkommens notwendige haben, als sie ihm zustimmten; denn im Recht gilt der Trendwende im Klimaschutz herbeizuführen. Dabei Wortlaut von Normen und nicht das, was sie bei einer wurde als Grundlage einerseits die 2-Grad-Marke entstehungsgeschichtlichen Motivforschung ergeben. (noch nicht angepasst an Art. 2 PA: „deutlich unter“ Mancher mag abschließend fragen: Wird das 2 Grad) und andererseits die angestrebten 1,5 Grad- Paris-Abkommen durch den angekündigten US- Begrenzung genommen und die bisherigen Anstren- Austritt nicht ohnehin hinfällig? Art. 28 PA sagt dazu: gungen als unzureichend aufgewiesen (UNEP 2016; „(1) Eine Vertragspartei kann jederzeit nach Ablauf von UNEP 2017; ferner z.B. Höhne u.a. 2016; Rogelj u.a. drei Jahren nach dem Zeitpunkt, zu dem dieses Über- 2016; Ekardt/Wieding/Henkel 2015; siehe auch Figueres einkommen für sie in Kraft getreten ist, durch eine u.a. 2017). an den Verwahrer gerichtete schriftliche Notifikation Wenn man zwischen den Staaten ferner die meis- von diesem Übereinkommen zurücktreten. (2) Der tens diskutierten menschenrechtlich-abwägenden Rücktritt wird nach Ablauf eines Jahres nach dem Ein- Verteilungsmaßstäbe (primär Leistungsfähigkeit und gang der Rücktrittsnotifikation beim Verwahrer oder historische Verantwortung im Sinne bisher erfolgter zu einem gegebenenfalls in der Rücktrittsnotifikation Emissionen seit 1990, siehe dazu auch Art. 4 Abs. 4 genannten späteren Zeitpunkt wirksam.“ Wobei der und 9 Abs. 3 PA) annimmt, müssen die EU-Länder wie Austritt den Gesamtbestand des Abkommens nicht tan- etwa Deutschland eigentlich mehr Emissionen redu- giert, weil kein Außerkrafttreten vorgesehen ist, wenn zieren, als sie aktuell überhaupt ausstoßen. Dies klang das Inkrafttreten einmal erfolgt ist. Wenn man dagegen bereits kurz an und würde dann zweistellige jährliche die Ratifikation durch die USA als solche bestreitet, Milliarden-Zahlungspflichten zur Unterstützung der wäre ein Austritt sofort möglich. Dies ist allerdings bis- Emissionsreduktion im globalen Süden bedeuten, mög- lang nicht geschehen. Ob dieses Bestreiten, wenn die licherweise noch begleitet von ebenfalls hohen Zah- Ratifikation (wie im Oktober 2016 geschehen) schon lungen für Adaptation und Klimawandelfolgeschäden; hinterlegt wurde, völkerrechtlich überhaupt einen dabei ergeben sich bereits für eine Zwei-Grad-Grenze Austritt erreichen kann und zugleich womöglich das plus eine eher geringe Erreichungswahrscheinlichkeit ganze Abkommen wegen nunmehr geringerer erfasster einer 1,5-Grad-Grenze und ein Zieljahr 2050 in einer globaler Emissionsmengen als nicht wirksam in Kraft Berechnung minus 162 % Emissionsreduktionsver- getreten erscheinen lässt, ist zudem sehr zweifelhaft. pflichtungen etwa für Deutschland (unter Verwendung Ungeachtet dieser rechtlichen Betrachtung ist es für der Daten aus IPCC 2014 und Schellnhuber 2015 im die Wirksamkeit des Paris-Abkommens ersichtlich Einzelnen vorgerechnet bei Ekardt/Wieding/Henkel ungünstig, wenn Staaten mit hohen Emissionen sich 2015: 6ff.). Dies ergibt dann übersetzt z.B. Nullemissi- aus dem internationalen Klimaschutz zurückzuziehen onen plus zweistellige jährliche Milliarden-Zahlungs- versuchen. pflichten allein schon für die Mitigation im globalen www.momentum-quarterly.org 81
Ekardt, Zorn, Wieding: In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. Süden. Geht man nach dem Paris-Abkommen nun- die sich in Wirklichkeit in – wenn man die Konsum- mehr von „deutlich unter 2 Grad“ oder sogar 1,5 Grad emissionen pro Kopf ermittelt – gestiegene Emissionen aus, verschärft das die Zahlen weiter.8 Die Zielverfeh- verkehren (zur Vermeidung von Wiederholungen sei lung bezogen auf Art. 2 Abs. 1 PA durch Staaten wie erneut verwiesen auf die nähere Darlegung m.w.N. bei Deutschland und den Staatenbund EU (aber letztlich Ekardt 2016a: § 1 B. III.; Ekardt 2016b; Becker/Richter auch durch praktisch alle anderen Staaten) ist bereits 2015). Wie die EU gemeinsam mit anderen Vorreiter- in Art. 3, 4 PA angelegt, weil es gemessen an der sehr staaten durch eine gründliche Revision des ohnehin ambitionierten verbindlichen Zielsetzung des Art. 2 stark reformbedürftigen Emissionshandels mit sodann Abs. 1 PA etwas kontradiktorisch wirkt, den Staaten strengeren und sukzessive anziehenden Caps sowie zunächst nur freiwillige nationale Emissionsreduktio- einer Erfassung sämtlicher fossiler Brennstoffe auf der nen als Umsetzung der allgemeinen Zielstellung abzu- ersten Handelsstufe statt nur in einzelnen Sektoren verlangen, die allerdings später nachgebessert werden (kombiniert mit Border Adjustments) diese Situation müssen. Nach dem Gesagten müssen Deutschland und grundlegend verändern könnte, wird hier zur Ver- die EU ergo ihre Verpflichtungen rasch und drastisch meidung von Wiederholungen nicht erneut dargelegt nachschärfen (andere Staaten allerdings auch). (siehe m.w.N. Ekardt 2016a: § 6 E.; Hennig 2017; Bosn- Schon für die Vergangenheit ist die Rede vom jak 2015; teilweise auch von Bredow 2013; allgemein zu Klimavorreiter EU bzw. Deutschland keineswegs so ökonomischen Instrumenten auch Ekardt 2016b). berechtigt, wie allgemein angenommen wird (kri- Eine naheliegende Erklärung, warum (jenseits tisch Becker/Richter, Momentum Quarterly 2015: komplexer verhaltenswissenschaftlicher Erklärungen; 3ff.; Hennig 2017; Ekardt 2016a: § 1 B. III.; Moreno/ dazu Ekardt 2016a: § 2; Ekardt 2017) die Reichweite des Speich Chassé/Fuhr, Carbon Metrics, 2015: 13ff.; Ekardt Art. 2 Abs. 1 PA konsequent verdrängt wird, dürfte die 2016b). Das manifestiert sich bereits darin, dass auch Folgende sein, die andernorts näher ausgeführt wurde diese Vertragsparteien in Paris nicht viel zu einem und hier deshalb lediglich in Erinnerung gerufen sei besseren Verhandlungsergebnis, als es soeben geschil- (dazu und zum gesamten vorliegenden Abschnitt Jack- dert wurde, beigetragen haben. Die EU hat in Paris als son 2011; Paech 2012; Ekardt 2016a: § 1 B. V.; Ekardt (supra-)nationalen Klimaschutzbeitrag im Sinne von 2016b; Hennig 2017; Stengel 2011; Scheidler 2015). Die Art. 4 Abs. 2 PA Treibhausgasemissionen von minus 40 völkerrechtlich verbindlichen Temperaturgrenzen % bis 2030 versprochen. Hinter der von der EU gleich- aus Art. 2 Abs. 1 PA könnten, wenn sie denn noch zeitig mitgeforderten o.g. Temperaturgrenze bleibt dies umgesetzt würden, sukzessive in eine Welt ohne Wirt- weit zurück. Hätten westliche Industriestaaten indes schaftswachstum führen. Klimaschutz und Wachstum deutlich stärkere Reduktionsziele und eine stärkere sind zwar nach verbreiteter (und wohl zutreffender) finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer im Einschätzung kompatibel, solange man allein bessere Rahmen von Mitigation, Adaptation sowie Loss and Technik wie erneuerbare Energien und Energieeffizi- Damage angeboten, wären auch klarere Klimaschutz- enz zur Ersetzung der fossilen Brennstoffe bei Strom, verpflichtungen für die Staaten weltweit denkbar gewe- Wärme, Treibstoff usw. avisiert, denn neue Technik sen. Hintergrund ist, dass die EU und Deutschland trotz als solche kann man kurz gesagt verkaufen und damit der selbst zugeschriebenen positiven Rolle unverändert Wachstum schaffen. Trotz aller Unvorhersehbar- pro Kopf bei um ein Vielfaches überhöhten Emissionen keit der (auch technischen und verstärkt dienstleis- stehen, wenn man die genannten Temperaturgrenzen tungswirtschaftlichen und damit emissionsärmeren) in den Blick nimmt. Auch die (auf absolut hohem Zukunft erreicht man allein mit Technik jedoch die Niveau erfolgten) relativen Emissionsreduktionen seit genannten Ziele aus einer Reihe von Gründen wohl 1990 beruhen wesentlich auf statistischen Schönungen, eher nicht. Die zwei wichtigsten sind: Die Herausfor- derung ist angesichts der knappen Zeit bis Ende der 8 Die Frage, mit welchen Strategien solche Reduktio- 2020er- bzw. Ende der 2030er-Jahre schlicht zu groß; nen zu erreichen wären, was also technische Konsistenz- und für manche Emissionen (etwa in der Landwirtschaft) Effizienzlösungen leisten können, was Suffizienz leistet und fehlen auch technische Optionen. Die mitunter mono- was negative Emissionstechnologien leisten könnten (mit thematische Ausrichtung der aktuellen Umwelt(rechts) welchen Vor- oder Nachteilen), ist kein näherer Gegenstand der vorliegenden Untersuchung; näher z.B. Ekardt 2016a; debatte auf das Klimathema verdeckt zudem: Andere Ekardt 2018a und kurz oben zu den negativen Emissionen – Umweltprobleme wie die Degradation von Böden und sowie unten zu den Grenzen von Technik. Ökosystemen gefährden den Menschen ebenfalls auf 2018 | Vol. 7 (2) Zeitschrift für Sozialen Fortschritt · Journal for Societal Progress 82
Ekardt, Zorn, Wieding: Zero emissions in 10 years? Contradictions in Paris Agreement and their solution. Dauer existenziell und müssen gleichzeitig angegangen Bodirsky, B./Rolinski, S./Biewald, A./Weindl, I./Popp, A./ Lotze-Campen, H. (2015): Global Food Demand Scena- werden. Die umweltfachlich naheliegende Lösung, den st rios for the 21 Century. PLOS ONE, 10 (11). DOI:10.1371 Nutzungsdruck auf Natur, Böden etc. zu reduzieren, Bosnjak, N. (2015): Ein Emissionshandelssystem der ersten lässt sich noch weniger rein technisch ausführen als ein Handelsstufe. Rechtliche, politische und ökonomische As- wirksamer Klimaschutz. Neben grüner Technik gehört pekte eines Gesetzgebungsvorschlags. Marburg: Metropo- zum Klimaschutz unter dem Paris-Abkommen damit lis. wohl neben technischen Maßnahmen auch (!) ein von Bredow, H. (2013): Energieeffizienz als Rechts- und Steu- genügsamerer Lebensstil. Weniger Urlaubsflüge, weni- erungsproblem. Unter besonderer Berücksichtigung der ger tierische Nahrungsmittel (deren Produktion bisher erneuerbaren Energien. Marburg: Metropolis. rund vier Fünftel der weltweiten Agrarflächen bean- Buhofer, S. (2017): Der Klimawandel und die internationale Klimapolitik in Zahlen. München: Oekom. sprucht), weniger Autos u.a.m. implizieren indes ein Calliess, C. (2001): Rechtsstaat und Umweltstaat. Tübingen: Ende der Wachstumsgesellschaft. Umgekehrt jedoch Mohr Siebeck. hängen am Wirtschaftswachstum bislang zentrale Canadell, P./Le Quéré, C./Peters, G. (2017): We can still keep gesellschaftliche Institutionen wie der Arbeitsmarkt, global warming below 2°C – but the hard work is about to das Renten- und das Bankensystem (näher: Ekardt start. The Conversation. Online: https://theconversation. 2016a: § 1 B V.). com/we-can-still-keep-global-warming-below-2-but- Insofern gibt das rechtsverbindliche Pariser the-hard-work-is-about-to-start-72075 [02.08.2017]. Langfristziel den Staaten nicht nur sukzessive, aber Drouet, L/ Emmerling, J. (2016): Climate policy under socio- drastische Aufbesserungen ihrer nationalen Redukti- economic scenario uncertainty. Environmental Model- ling & Software, 79, 334–342. onszusagen auf. Sie erzwingt auch eine umfassende Dis- Ekardt, F. (2018): Ökonomische Bewertung – Kosten-Nutzen- kussion über die Zukunft menschlichen Wirtschaftens Analyse – ökonomische Ethik. Eine Kritik unter beson- und Zusammenlebens, der nicht weiter ausgewichen derer Berücksichtigung von Nachhaltigkeit und Klima- werden kann. Wenn aktuell seit der Bonner Klima- schutz. Marburg: Metropolis, i.E. konferenz vom November 2017 angestrebt wird, diese Ekardt, F./Zorn, A. (2018): Ozeanversauerung, Meeresum- nötigen Nachbesserungen in verkleinerten Gesprächs- weltrecht, Klimavölkerrecht und die Menschenrechte, runden – nach dem der Fidschi-Sprache entlehnten Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts, i.E. Talanoa-Prinzip – auf den Weg zu bringen, so bleibt zu Ekardt, F. (2017): Rezension zu Dieckhoff, Modellierte Zu- kunft und Dieckhoff/Leuschner, Die Energiewende und hoffen, dass die mit alledem umrissene Problemdimen- ihre Modelle, Zeitschrift für Umweltpolitik und Umwelt- sion adäquat aufgegriffen wird. recht, 3, 282–285. Ekardt, F./Wieding, J. (2016): Rechtlicher Aussagegehalt des Paris-Abkommen – eine Analyse der einzelnen Artikel. Literatur Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, Sonder- heft, 36–57. Anderson, K./Broderick, J. (2017): Natural Gas and Climate Ekardt, F. (2016a): Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, recht- Change. Online: http://www.foeeurope.org/sites/default/ liche, politische und transformative Zugänge – am Beispiel files/extractive_industries/2017/natural_gas_and_cli- von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel. mate_change_anderson_broderick_october2017.pdf 3. Auflage (= 2. Aufl. der Neuausgabe) Baden-Baden: [12.12.2017]. Nomos. Arndt, B. (2009): Das Vorsorgeprinzip in der Europäischen Ekardt, F. (2016b): Zur Verteidigung ökonomischer Politik- Union. Tübingen: Mohr Siebeck. instrumente gegen ihre Freunde und Kritiker: Analysen Bauriedl, S. (Hg.) (2016): Wörterbuch Klimadebatte. Bielefeld: des Hauptinstruments der Transformation zur Nachhal- Transcript. tigkeit. Momentum Quarterly, 5 (4), 224–242. Becker, B./Richter, C. (2015): Klimaschutz in Deutschland Ekardt, F./Wieding, J./Henkel, M. (2015): Climate Justice 2015 – Realität oder Rhetorik? Momentum Quarterly, 4 (1), – BUNDposition. Berlin. Online: https://www.bund.net/ 3–20. service/publikationen/detail/publication/climate-justi- Berger, J./Günther, D./Hain, B. (2016): Das Übereinkommen ce-2015/ [02.10.2017]. von Paris – ein wichtiger Wegweiser für eine lebenswerte Figueres, C. u.a. (2017): Three years to safeguard our cli- Zukunft und einen Politikwandel in Deutschland. Zeit- mate. Nature, 546 (7660). 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