Weinende Helden in der Ilias
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DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2020/01/02 Justine Diemke 7 Weinende Helden in der Ilias Einleitung Das Tränenmotiv in der Ilias In der Ilias weinen die Protagonisten mindes- Die Ilias behandelt die gewaltsamen Konflikte tens ein Mal, und zwar nicht nur die Ehefrauen, der Adelsschicht sowie deren Auswirkungen auf sondern auch die Helden selbst, darunter Achill, die Gemeinschaft. Die Handlung setzt im neun- Agamemnon und Patroklos. Die häufigen Trä- ten Kriegsjahr ein und schildert mit zahlreichen nen der homerischen Helden sind eklatant und Retardationen das Ende des Krieges. Sie um- stoßen in den Schriften Platons auf Kritik.1 Be- fasst den Zorn und die Kampfenthaltung des sonders problematisch sieht Platon das Klagen Achill, den Tod von Patroklos und damit den von Männern im sepulkralen Kontext, welches Wendepunkt in Achills zuvor passivem Verhalten einen Gegenpol zur Männlichkeit darstellt. Doch sowie die anschließende Rache an Hektor. Der nicht nur Platon, auch die Tragödiendichter ver- letzte Gesang schließt mit einem emotionalen spotten die Tränen der homerischen Helden.2 Übereinkommen zwischen Priamos und Achill. Obwohl das Epos eine fiktive Welt darstellt, ist Geweint wird, unabhängig von den Gesängen, es recht unwahrscheinlich, dass der Dichter ein an insgesamt 48 Stellen, wobei der Held Achill emotionales Verhalten, welches in keiner Weise am häufigsten Tränen vergießt.5 Sie treten das mit den damaligen Konventionen übereinstimmt, erste Mal mit Achills Zorn gegen Agamemnon wiedergibt. Die Epen handeln von Helden, wel- auf und erreichen ihren Höhepunkt im 19. Ge- che nicht nur Normen setzen, sondern als Leit- sang, als Patroklos von Hektor getötet wird. bilder fungieren oder auch kritisiert werden.3 Doch nicht nur Achill, auch zahlreiche andere Die Untersuchung bietet einen emotionsge- Entscheidungsträger bringen ihre Emotionen schichtlichen Zugang zu den homerischen Epen, durch Tränen zum Ausdruck. Obwohl die Tränen der in der Forschung bisher vernachlässigt im Einzelnen unterschiedlich motiviert sind, ist wurde.4 Für die Beschreibung von Tränen lassen die insgesamt hohe Emotionsladung der Helden sich unterschiedliche Faktoren konstatieren, die der neunjährigen Kriegshandlung geschuldet. an bestimmte Situationen gebunden sind. Für das Da Defätismus mit den heroischen Wertvorstel- Verständnis von Tränen ist entscheidend, wieso lungen nicht kompatibel ist, werden der Tod und und für wen sie offen gezeigt werden dürfen. Es das Leid auf dem Schlachtfeld zum repräsenta- ist zu klären, welche Art von Tränen vorliegt und tiven Bild des Epos. Im Folgenden soll das Trä- in welchem Ausmaß sie der Dichter rühmt oder nenmotiv systematisch ausgewertet werden. problematisiert, genauso, mit welchen sozialen Gruppen und welchem Geschlecht sie in Ver- bindung gebracht werden. Daran schließt sich die Frage, ob Tränen in den Epen problemati- Zorn siert und kritisiert werden. Hierfür werden die unterschiedlichen Gründe für Tränen in der Ilias Der heldische Zorn ist das Grundthema der Ilias – Zorn, Verzweiflung, Abschiedsszenen, Trauer und generiert gleichzeitig Tränen. Im Trojani- und Hikesie – in einzelnen Kapiteln untersucht. schen Krieg führt dieser Zorn zu gewaltigen Dabei kann die Untersuchung des Tränenmotivs Racheaktionen, welche in vielen Fällen erst mit als Indikator für Wertvorstellungen und Normen Blutrache ein Ende finden (Latacz, Homers Ilias der jeweiligen Gesellschaften in der Archaik die- 12-13). Der Grund für die Entstehung von Zorn nen. Die Untersuchung des Tränenmotivs soll zu ist die Verletzung von τιμή, für deren Rekompen- einem besseren Verständnis einzelner Motive sation der Betroffene zur Rache aufgefordert und Handlungsweisen des Protagonisten beitra- wird. Das Epos verwendet drei unterschiedliche gen. Begriffe für Zorn: χόλος, κότος und μῆνις.6 χόλος helden. heroes. héros.
Justine Diemke 8 wird am häufigsten genannt und beschreibt ei- seinem Kontrahenten Gewalt anzuwenden. Die nen schnell aufflammenden Zorn, der den Hel- Gewalttat kann durch Athene verhindert werden, den zu sofortigen Aktionen verleitet und in den woraufhin der Held Rache übt, indem er Kampf- meisten Fällen durch eine Kränkung hervor- enthaltung als Druckmittel nutzt. Aus Wut zieht gerufen wird. κότος definiert den langsam auf- er sich aus der Menge zurück und setzt sich ans kommenden Zorn, der bis zu seiner Satisfaktion Meer. In der Einsamkeit vergießt er Tränen: andauert. μῆνις impliziert den göttlichen Groll,7 der gleichzeitig als Verlangen oder antreibende Aber Achill setzte sich weinend alsbald, Kraft interpretiert werden kann. Das Prooimion abseits von den Gefährten, an den Strand der Ilias beginnt mit dem Zorn des Helden Achill, der grauen Salzflut und blickte auf das μῆνις, der hier einen anhaltenden, nicht nachlas- grenzlose Meer.11 senden Groll (Latacz, Homers Ilias 13) wegen erlittener Kränkung impliziert. Achills übergroßes Die Isolierung Achills impliziert keine neue Wer- Maß an Zorn ist angeboren, wie Patroklos im tung von männlichen Tränen, sondern entspricht neunten Gesang referiert (Hom. II. 9, 255), dem menschlichen Bedürfnis nach räumlicher welchen der Protagonist nicht regulieren kann. Distanz gegenüber dem Hauptverantwortlichen Gleichzeitig wird der Leser mit dem ersten Tränen- seiner Kränkung. Sowohl in der Ilias als auch in ausbruch des Achill konfrontiert: der Odyssee (Hom. Od. 5, 152-154) gibt es ähn- liche Szenen, in denen die Helden ihre Tränen Verunehrt, denn er nahm und hat mein in Einsamkeit vergießen. Beide ziehen sich ans Ehrengeschenk, das er selbst mir fort- Meer zurück und wenden sich in ihren verzwei- nahm! So sprach er Tränen vergießend.8 felten Momenten nur noch an die Götter. Das Zurückziehen ans Meer erfolgt nicht zufällig; so Während der Heldenzorn in der Regel gegen soll Achills Mutter, die Nereide Thetis, auf das Feinde gerichtet ist, wendet sich Achills Zorn ge- Weinen ihres Sohnes aufmerksam werden. Ihre gen seinen eigenen Gefährten. Der Verantwortli- Aufgabe besteht darin, ihren Sohn zu trösten che für die Kränkung ist Agamemnon, der durch und seinen Groll gegen Agamemnon zu schmä- die Wegnahme von Achills erbeuteter Jungfrau lern. Achill vertraut ihr seinen Gram an und Briseis den Helden entehrt. Um den Zorn des bittet seine Mutter um Unterstützung für seine Apollon zu beschwichtigen, musste Agamemnon Vergeltungsaktion gegen Agamemnon. Als Kom- einer Restitution der geraubten Priestertochter pensation für seine Kränkung fordert Achill die Chryseis zustimmen. Da Apollon dem Heer eine Wiederherstellung seiner verletzten Ehre. Dass Seuche gesendet hat, blieb Agamemnon keine bei der Wegnahme des Beutemädchens per- andere Wahl, als die Tochter des Priesters zu- sönliche Gefühle im Hintergrund stehen, wird im rückzugeben. Um seinen persönlichen Verlust neunten Gesang deutlich, als Achill vor Odys- zu kompensieren, bemächtigt sich der Heer- seus auf seine Liebe zu Briseis zu sprechen führer nun Achills Siegesbeute. Das Verhalten kommt (Hom. II. 9, 340-344). Auch Thetis’ trös- des Agamemnon zieht eine Kränkung des Hel- tende Worte werden von Tränen begleitet. Die den nach sich und impliziert den Verlust von Tränen der Thetis antizipieren das bevorstehen- Achills Ehre. Die Kränkung und der Ehrverlust de Schicksal ihres Sohnes. Sein verzweifelter manifestieren sich nicht nur in der Wegnah- Zustand erinnert Thetis dabei an das über ihren me seines Besitzes,9 sondern auch durch den Sohn verhängte Unheil. Auch beim nächsten Verlust von γέρας und damit seines Ansehens Gefühlsausbruch des Achill, der erst im 18. Ge- (Horn 150), welches an Besitz und Vermögen sang aufkommt und bis zum letzten Gesang des Helden gebunden ist. Agamemnon verstößt dem Tod seines Gefährten Patroklos gewidmet als Heerführer nicht nur gegen die gesellschaftli- ist, dient Thetis ihrem Sohn als Trostspenderin. chen Normen, sondern bricht insbesondere sei- ne Vertrauenswürdigkeit gegenüber Achill (152). Die psychische Verletzung Achills unterminiert dessen moralischen Verpflichtungen gegen- Verzweiflung über dem Heer; von nun an begegnet Achill dem Schicksal seiner Gefährten mit Gleichgültigkeit. Der Krieg bringt die Helden mehrfach in verzwei- Die Tränen sind das Resultat seines Zorns, der felte Situationen, auf die die Protagonisten – aus durch die Verletzung der Ehre10 und des Anse- unserer modernen Sicht unheroisch – nämlich hens effiziert wird. Um erneut an einer Wert- mit Tränen reagieren. Doch der Gefühlsausbruch schätzung teilhaftig zu werden, trachtet der Held in einer prekären Kriegslage entspricht der Re- nach Ehrbezeugungen. Um dieses Ziel zu errei- alität und soll dem Rezipienten die Grausamkeit chen, schreckt er nicht davor zurück, gegenüber des Krieges vor Augen führen. helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias 9 Mit der Unterstützung des Zeus kommt es zu das resignierte Verhalten des Heerführers in- einem weiteren Vordringen der Trojaner. Zeus direkt kritisiert, was für Agamemnon allerdings verhindert das Eingreifen der anderen Göt- keine machtpolitischen Restriktionen nach sich ter, um sein Versprechen an Thetis zu erfüllen. zieht. Das Verhalten der Griechen wird während der Ganz anders wird mit Thersites verfahren, Kriegshandlungen von Unentschlossenheit und der im zweiten Buch das griechische Heer zur Verzweiflung begleitet. Nach einer weiteren Nie- Heimkehr auffordert und sich damit gegen den derlage gegen die Trojaner ist der Kampfwille Willen der Heerführer wendet.13 Obwohl Aga- der Griechen endgültig gebrochen, woraufhin memnon und Thersites von einem ähnlichen Mo- am Abend eine Versammlung einberufen wird. tivationsfaktor – der Rückkehr – bewegt werden, Wie aussichtslos die Lage auf Agamemnon wirkt, liegt Thersites’ Tränen eine völlig andere Moti- wird deutlich, wenn er die Griechen auffordert, vation zugrunde. Er kritisiert die eigennützige den Krieg zu beenden und in die Heimat zurück- Kriegsführung des Agamemnon und fordert die zukehren. Der Defätismus des Heerführers Aga- Soldaten zum Handeln gegen die Heerführer memnon wird durch Tränen externalisiert, als er auf. Thersites’ äußeres Erscheinungsbild steht in sich in einer Rede an die Truppe wendet: großer Diskrepanz zum homerischen Kanon von männlicher Schönheit. Seine körperlichen Män- Und auf stand Agamemnon, Tränen ver- gel werden mit Feigheit assoziiert (Monsacré gießend, dem dunklen Quell gleich, der 53; Hallliwell 281) und bilden einen scharfen sein trübes Gewässer vom steilen Felsen Kontrast zu dem Ideal des schönen und starken herabgießt.12 Helden. In diesem Fall kommt es zu einer sozia- len Degradierung des Soldaten, der keine über- Der Vergleich mit der Quelle soll an dieser Stelle legene Stärke akzentuieren kann und mit seinem die Intensität des Weinens unterstreichen. Die Ungehorsam gegenüber den Mächtigen dem dunkle Farbe der Quelle impliziert eine Konno- heroischen Wertesystem widerspricht. Nachdem tation mit Tod und Gefahr (Monsacré 168), mit Thersites die Führungsqualitäten des Agamem- denen Agamemnon die Niederlage assoziiert. non öffentlich missbilligt hat, wendet Odysseus Agamemnon zeigt seine Tränen offen vor sei- körperliche Gewalt gegen den verhassten Dema- nen Soldaten. Diese kritisieren ihn dafür nicht, gogen an. Als Odysseus ihm mit einem Zepter sondern nehmen Agamemnons Entscheidung auf den Rücken schlägt, bricht er in Tränen aus: mit Erleichterung auf. Da der Wirkungsgrad von Tränen, welche von einem Entscheidungsträger Also sprach er und schlug mit dem Zep- vor seinen Soldaten offen gezeigt werden, sehr ter ihm Rücken und Schultern, dass er hoch ist, wird Agamemnon die Demoralisierung sich krümmte vor Schmerz, und reichlich der Soldaten einkalkuliert haben. Agamemnons entflossen ihm Tränen. Blutig erhob sich Tränen akzentuieren nicht nur die hoffnungslose sofort eine schwellende Strieme am Rü- Lage der Griechen, sondern auch den gebro- cken, unter dem goldenen Stab, er setzte chenen Kampfwillen des Heerführers. Während sich hin, voller Schrecken, leidend, ver- im römischen Raum Tränen von Feldherren als störten Gesichts, und wischte sich ab die probates Mittel dienten, um die Soldaten zum Tränen. Aber wie alle auch zürnten, sie Bleiben zu bewegen (Hagen 109-110), fordern lachten doch herzlich darüber […].14 Agamemnons Tränen die Soldaten zum Rück- zug auf. Die Szene stellt die Integrität des Heer- Nach Arnould sind die Tränen des Thersites führers in Frage, da dieser seine Soldaten zu die unmittelbare Reaktion auf die körperlichen ruhmlosen Handlungen auffordert (Classen Verletzungen, welche der Dichter präzise be- 30). Das Vergießen von Tränen erreicht die ge- schreibt: σμῶδιξ δ᾽ αἱματόεσσα μεταφρένου wünschte Wirkung und sorgt unter den Soldaten ἐξυπανέστη (Hom. Il. 2, 267; siehe Arnould 20; für Aufbruchsstimmung. Dass Agamemnons Waern 225). Damit wäre impliziert, dass Tränen Verhalten als Entscheidungsträger an der Stelle als Reaktion auf physische Verletzungen negativ deviant ist, ergibt sich aus den folgenden Gegen- konnotiert sind, womit eine weitere Bloßstellung reden. Diomedes stellt sich gegen Agamemnon des Demagogen erzielt wurde. Der Umstand, und deklariert einen Rückzug als feige. Den dass die Helden an keiner Stelle Tränen wegen Griechen wird daraufhin die Wahl überlassen, Kriegsverletzungen vergießen, stützt Arnoulds entweder mit Agamemnon Troja zu verlassen These. Da Thersites allerdings in seinem Auftre- oder mit Diomedes gegen den Feind weiterzu- ten und seiner sozialen Position dem heroischen kämpfen. Da das Heroentum den Kampf bis zum Kanon widerspricht, fungieren seine Tränen nur Tod vorzieht, entscheiden sich die Soldaten für als zusätzliche Diffamierung seiner Person. die Wiederaufnahme des Kampfes. Damit wird Den Tränen des Demagogen wird durch ihren helden. heroes. héros.
Justine Diemke 10 Auslöser bewusst eine heroische Note entzogen. gegenüber Achill akzentuiert und sich als Vater- Thersites weint nicht wie die anderen Feldherren figur präsentiert. Mit rhetorischem Geschick ver- aus Verzweiflung über persönliches Scheitern. sucht er positive Gefühle beim Protagonisten zu Seine Tränen sind das Resultat körperlicher Ge- generieren, um den Zorn des Helden zu mildern. walteinwirkung und werden daher mit Feigheit Doch Achill ist zu keinerlei Empathie fähig und assoziiert. Die erniedrigende Behandlung des lässt von seinem Vorhaben nicht ab. Als Achill Thersites wird durch das Verlachen seitens der weiterhin die Teilnahme am Kampf verweigert Soldaten forciert, welche damit ihre dezidier- und Phoinix stattdessen die Abreise aus Troja te Einstellung zu der Auflehnung des Thersites vorschlägt, bricht Phoinix in Tränen aus: demonstrieren. Die Möglichkeit einer Rebellion unter den Soldaten wird verhindert, indem der […] und spät erst sprach unter ihnen der Unruhestifter diffamiert und verspottet wird. Das Alte, der Rosstreiber Phoinix, in Tränen Verhalten des Odysseus zielt damit auf die Auf- ausbrechend, denn er fürchtete sehr für rechterhaltung der Ordnung. Die Misshandlung die Schiffe der Achaier.16 des Demagogen dient der Abschreckung vor sei- nem ordnungswidrigen Verhalten (Schmidt 143). Phoinix ist sich der Folgen der Kriegshandlungen Das Effizieren von Tränen in verzweifelten im Falle einer Abreise des Achill bewusst. Auffal- Situationen ist nicht nur personenbezogen, son- lend ist die am Anfang erwähnte Beschreibung dern wird in gleicher Weise auch kollektiv mani- von Phoinix’ Tränen als δάκρυ᾽ ἀναπρήσας, festiert. Im dreizehnten Buch wird den Griechen welche die emotionale Intensität betonen. Die ihre hoffnungslose Situation bewusst, was sie zurückgewiesene Bittgesandtschaft soll an der mit Tränen bekunden: Stelle die ausweglose Situation der Griechen vor Augen führen. Obwohl der Dichter die Tränen […] und zugleich war es ihnen im Mut ein auf die verzweifelte Situation bezieht, können Kummer, die Troer zu sehen, die die gro- die Tränen auch als taktischer Zug des Phoinix ße Mauer überstiegen hatten in Haufen. gelesen werden. Durch die Tränen appelliert der Wie sie diese sahen, vergossen sie Trä- Erzieher an das Mitgefühl Achills, das ihm nach nen unter den Brauen, meinten sie doch, der gescheiterten Argumentationsstrategie als sie würden nicht entrinnen aus dem Un- einziges Mittel bleibt, um Achill umzustimmen. heil.15 Als Zeus das Schlachtgeschehen zuguns- ten der Trojaner wendet, scheint die Lage für Die Tränen der Soldaten werden an dieser Stel- die Griechen aussichtslos. Hektor kann zu dem le nicht mit Feigheit oder Schwäche assoziiert, Schiff des Protesilaos vordringen, was unter den sondern spiegeln eine menschliche Reaktion Soldaten Panik hervorruft (Hom. II. 15, 699-701). auf eine aussichtslose Situation wider und an- Patroklos wird mit vielen verwundeten Gefähr- tizipieren gleichzeitig ihr Schicksal. Interessant ten konfrontiert und zieht sich aus der Schlacht an der Stelle ist die situativ bedingte Äußerung zurück, um den resignierten Eurypylos zu ver- von Tränen. Die Soldaten befinden sich inmitten sorgen. Auffallend ist die geringe Anzahl von einer Kampfhandlung, als sie vor ihrem Gegner Verwundeten, welche in Diskrepanz zu der gro- zu weinen anfangen. Dass ihr Verhalten nicht als ßen Anzahl an Kriegstoten steht.17 Das Leid der deviant eingestuft wird, zeigt der Umstand, dass Griechen wird stattdessen durch die detailreiche die Soldaten keine Anstalten machen, ihre Trä- Beschreibung der Wunden illustriert. Erschüt- nen zurückzuhalten. tert von der immensen Anzahl an Kriegstoten Nach dem Streit mit Agamemnon ist Achill sowie dem Leid der Verwundeten, entscheidet nicht bereit, in Troja zu bleiben. Um eine Aus- sich Patroklos, Achill um Hilfe zu bitten. Als er söhnung mit Agamemnon herbeizuführen Achill antrifft, kann er sich nicht beherrschen und und den Helden für die Wiederaufnahme des bricht in Tränen aus. Für die Beschreibung von Kampfes zu gewinnen, wird sein Erzieher Phoi- Patroklos’ Tränen bedient sich der Dichter eines nix, als Mitglied der πρεσβεία, zu Achill gesandt. Gleichnisses: Durch die Wiedergabe von Kindheitserinnerun- gen versucht Phoinix eine emotionale Nähe zu Aber Patroklos trat zum Hirten der Völker dem Protagonisten herzustellen und die Span- Achill, heiße Tränen vergießend, und glich nung zu entladen. Die Kindheitserinnerungen der finsteren Quelle, die von steilem Ge- enthalten humorvolle Anekdoten über Achills klipp ergießt ihr dunkles Gewässer. Mit- Kindheit, welche eine Gefühlsregung evozieren leid fasste darob den göttlichen schnel- sollen. Die psychologische Tiefe dieser Szene len Achill und er hob seine Stimme und wird noch deutlicher, als Phoinix mit Verweis auf sprach die geflügelten Worte: Sprich, was seine eigene Kinderlosigkeit seine Zuneigung weinst du, mein Patroklos? Gleich einem helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias Abschiedsszenen 11 kindischen Mägdlein, das da neben der Mutter läuft und: Nimm mich! Sie bittet, fest an ihr Kleid sich klammernd, den Gang der Eilenden hemmend, weinend Bevor die Helden in die Schlacht ziehen, neh- blickt es hinauf, bis die Mutter es nimmt in men sie von ihren Familien Abschied, der in den die Arme. So vergießt auch du, Patroklos, meisten Fällen von Tränen begleitet wird. Das die perlende Träne.18 Bedauern über den Aufbruch wird vor allem dann emotional gesteigert, wenn ein Wieder- Gleichnisse aus der Kinderwelt werden in den sehen nicht gewährleistet ist. Das letzte Treffen Epen oft verwendet, um die Grausamkeit des zwischen Hektor und seiner Frau Andromache Krieges zu akzentuieren (Waern 227-228). sowie seinem Sohn Astyanax avanciert zu einer Achills Vergleich zwischen Patroklos und ei- berühmten Abschiedsszene, in der die Bedeu- nem weinenden Mädchen zielt nicht auf eine tung der Polis und der Familie explizit betont Diffamierung des Patroklos, sondern drückt das wird. Damit wird nicht eine antizipatorische Mitgefühl des Achill gegenüber seinem Freund Spannung in Bezug auf den Tod des Protagonis- aus (Föllinger 183; Monsacré 82, Anm. 219; Van ten aufgebaut, sondern eine emotionsgeladene Wees/Fisher 14). Der Vergleich setzt eine Intimi- Rahmenhandlung zwischen den grausamen tät zwischen beiden Protagonisten voraus und Schlachtbeschreibungen geschaffen.19 Hektors impliziert ein Schutzverhältnis. Achill übernimmt Gattin Andromache bekundet ihren Abschieds- die Rolle der mitleidenden Mutter. Das Weinen schmerz mit Tränen, welche hier den Tod des des Mädchens postuliert einen gewissen An- Helden antizipieren.20 In einer Rede illustriert spruch an die Mutter, in den Arm genommen zu sie ihre Angst vor einem Verlust und bittet ihren werden. Auch Patroklos’ Tränen stellen einen Gatten verzweifelt, die Familie nicht zu verlas- Anspruch an Achill. In ähnlicher Weise wie die sen. Andromaches Wunsch nach dem Erhalt der Mutter die Trauer ihres Kindes durch die Erfül- Familie steht in Diskrepanz zu den Erwartungen lung seiner Forderungen kalmieren kann, hat eines heroischen Kriegers. Das Einsetzen weib- Achill die Möglichkeit, seinem Gefährten durch licher Tränen kann gleichzeitig an das Mitleid seine Teilnahme an der Schlacht Schutz zu bie- ihrer Männer appellieren und die Hoffnung auf ten, da er das Unglück der Griechen mit seinem eine Umstimmung erhöhen.21 Hektor betont an- Eingreifen abwenden könnte. Die Stelle erinnert schließend das Schicksal seiner Familie und ak- an die oben besprochene Szene des weinenden zentuiert gleichzeitig seine Pflicht als Verteidiger Achill bei seiner Mutter Thetis, welche er auch und Beschützer der Polis. Die heroische Pflicht um Hilfe bittet. Patroklos weint nicht um das wird dem friedlichen Familienleben vorgezogen. kommende Unglück der Griechen, sondern um Nach dem Abschied zieht sich Andromache in die vielen Toten und Verwundeten der vergange- ihr Haus zurück und bekundet ihren Verlust mit nen Kämpfe, die er vor Achill aufzählt und deren Tränen: Anblick er besonders ausgesetzt ist (Hom. II. 16, 20-29). Indem Patroklos die Verwundung der Schon aber war sie nach Hause geeilt, besten Kämpfer in den Vordergrund stellt, be- die Gattin, häufig zurück sich wendend tont er die Notwendigkeit von Achills Teilnahme und quellende Tränen vergießend. Bald am Schlachtgeschehen. Die Tränen implizieren erreichte sie nun die schöne, prangende hiermit nicht nur eine innere Verzweiflung des Wohnung Hektors, des Männermörders, Helden, sondern appellieren an das Mitgefühl und traf die Mägde versammelt dort im des Achill, um diesen zu einer Teilnahme an der Gemach, und allen erweckte Jammer und Schlacht zu überreden. Obwohl Achill mit dem Klage, lebend noch ward Hektor beweint Gleichnis andeutet, Patroklos’ Forderungen ent- in seinem Palaste, denn sie glaubten, er gegenzukommen, entscheidet er sich letztlich würde nimmer zurück aus dem Kampfe.22 gegen die Teilnahme an der Schlacht und lässt stattdessen Patroklos mit seiner Rüstung in den Interessant ist die Durchführung der Trauerklage Kampf ziehen. Das Gleichnis dient damit der um den bevorstehenden Tod Hektors. Die kol- Vorwegnahme des bevorstehenden Todes des lektive Klage soll nicht zuletzt auf den Tod des Patroklos. Achill versagt in seiner Mutterrolle, Helden vorausweisen und die Abschiedsszene indem er den Tränen seines Freundes nicht ge- dramaturgisch pointieren. recht wird. Stattdessen akzentuiert Achill seine Tränen haben damit nicht nur eine rein schmü- Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal sei- ckende und proleptische, sondern auch eine nes engsten Gefährten. Er gestattet ihm die Teil- taktische Funktion, welche allerdings gegenüber nahme am nächsten Kampfzug, der schließlich den Erwartungen und Verpflichtungen eines Sol- zum Tod des Patroklos führt. daten keine Wirkung zeigen. helden. heroes. héros.
Justine Diemke 12 Trauer um die Toten zu Suizidgedanken, sodass ihm Antilochos die Hände festhalten muss.24 Die Schmerzens- bekundung übersteigt alles Vergleichbare und Trauer ist eine individuelle Ausdrucksform einer wird daher in der Forschung auf ein homosexuel- Verlusterfahrung. Nach Freud (200) muss sich les Verhältnis zwischen Patroklos und Achill zu- der Trauernde zur Überwindung seiner Trauer rückgeführt, welches jedoch an keiner Stelle im das belastende Ereignis wiederholt in Erinne- Epos angedeutet wird.25 Jonathan Shay betont rung rufen. Schafft es der Betroffene nicht, das die besonderen Kriegsumstände, welche durch Ereignis zu verarbeiten, wird die Trauer patho- eine enge Beziehung im Kampfeinsatz und den logisch und mündet in Melancholie. Um dies zu Zusammenhalt zu einem intimen Verhältnis bei- vermeiden, wurden Trauerrituale in den Trauer- der Protagonisten geführt hätten. Horn konsta- prozess eingebunden. Trauer ist hierbei nicht im- tiert ein institutionalisiertes Basileus-Terapon- mer ein Produkt persönlicher Gefühle oder eines Verhältnis zwischen beiden Protagonisten, womit empfundenen Schmerzes, sondern impliziert die Achill zum Schutz seines Gefährten verpflichtet pflichtbewusste Erfüllung von rituellen Handlun- sei (Horn 185). Choitz betont Patroklos’ Rolle als gen. Assmann (17) zufolge evozieren die Trauer- Nachfolger von Achills Oikos sowie als Vormund riten einen kulturell bedingten Heilungsprozess. für seinen Sohn Neoptolemos (108-109). Darü- Das Weinen ist für den Trauerprozess sympto- ber hinaus kann Achills seelische Erschütterung matisch. Meuli (353-385) spricht von einem von auf ein empfundenes Familienverhältnis beider der „Sitte gebotenen Pflichtweinen“, welches in Protagonisten zurückgeführt werden (Horn 185; vielen Fällen affektiv generiert und übersteigert Shay 40-43; Latacz, Mythos Troia 131). Die ex- praktiziert wird. Die Teilnahme an Trauerritualen zessive Trauer des Achill ist für einen Krieger, demonstriert den Wunsch zur Wiederherstellung der seinen engsten Gefährten verloren hat, einer durch den Tod erodierten Ordnung. Ri- kein außergewöhnliches Verhalten (Shay 114; tuale verlangen Tränen, die auch ein Ventil für Hölscher 39; West 326). Er leidet unter Schlaf- andere Lasten werden können. Das Ritual wird entzug, fastet und entzieht sich dem sexuellen damit zum Zufluchtsort, an dem alle Sorgen ent- Vergnügen (Grethlein 122). Während die restli- lastet werden können. So müssen die Tränen chen Protagonisten ihre Trauer über Patroklos’ nicht unbedingt nur dem Verstorbenen gelten, Tod in spontanen Situationen sowie im Rah- sondern können auch andere Ursachen haben. men der Totenklage kundgeben, trauert Achill Oftmals werden für eine Totenprozession Klage- auch während der Kampfhandlung um seinen weiber eingesetzt, um während der Prozession Freund (Anastassiou 11-12). Doch auch für das exzessive Trauer zu evozieren. Die Tränen er- exzessive Trauern gelten im Kriegszustand an- halten einen besonderen Stellenwert, indem sie dere Regeln als im Friedensfall. Als der Held ge- gegenüber dem Verstorbenen Würde und Ehre schwächt in den Kampf ziehen möchte, wird er betonen. Daher kann Achill keine Ruhe finden, von Odysseus auf sein nonkonformes Verhalten solange Patroklos ohne Bestattung und Toten- hingewiesen: klage bei den Schiffen liegt (Hom. II. 22, 379). Der Tod ist ein wesentlicher Bestandteil der Ilias […] denn allzu viele fallen schnell aufei- und findet mehr Beachtung als der Krieg per se nander den ganzen Tag, wann könnte da (Griffin 85-102; Horn 136). Der heroische Ver- einer vom Kummer sich erholen? Nein, haltenskodex zieht den Tod auf dem Schlacht- wir sollen den Toten bestatten, sobald er feld dem ewigen Leben vor und stellt das hohe gestorben. Fest, mit gelassenen Herzen Alter als mühevoll und eine Last dar (Hom. II. 5, und einen Tag beweinen, und all die, wel- 153; 8, 103; 18, 434; 23, 644; 23, 623). che vom verhassten Krieg übrigbleiben, Achills zahlreiche Tränenausbrüche gel- müssen der Speis und des Tranks geden- ten ab dem 18. Gesang allein dem Tod sei- ken, damit wir noch stärker mit feindlichen nes Gefährten Patroklos, der den Höhepunkt Männern kämpfen immerfort.26 der gesamten Ilias bildet. Die Todesnachricht wird ihm von Antilochos, mit dem er eine enge Obwohl in Kriegszeiten gewöhnlich wenig Raum Freundschaft pflegt, überbracht. Tränen kön- für die ordentliche Bestattung der Kriegstoten nen angesichts von Achills übermenschlichem bleibt, wird hier jedem Toten nicht nur eine Be- Schmerz und seiner Erschütterung der über- stattung, sondern gleichzeitig eine Trauerklage brachten Nachricht nicht mehr gerecht werden.23 gewährt. Allerdings müssen die Kampfhand- Um der Intensität seines Schmerzes Ausdruck lungen zeitnah wiederaufgenommen werden, zu verleihen, reagiert Achill auf den Tod seines weshalb die Trauerzeit einen Tag nicht über- Freundes mit Klagegesten und rauft sich die schreiten soll. Odysseus problematisiert damit Haare. Der unerträgliche Schmerz steigert sich das persistente Trauerverhalten der Soldaten, helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias 13 welches ihre Leistungsfähigkeit reduziert. Eine Tränen Ausdruck zu verleihen. Als die Pferde prolongierte Trauer muss nicht immer durch Trä- von dem Tod ihres Besitzers erfahren, weinen nen bekundet werden, sondern kann sich wie sie über den Verlust und aus Sehnsucht nach im Falle des Achill durch Nahrungsdeprivation Patroklos. Antilochos versetzt die Nachricht vom äußern. Das heißt nicht, dass Achill zu keinen Tod des Patroklos in Sprachlosigkeit: Tränen mehr fähig ist. Seine Trauer über Patro- klos hält bis zum letzten Buch an und wird durch Und Antilochos entsetzte sich, als er die die Nähe zum Toten wie beim Anblick der Leiche Rede hörte, und Sprachlosigkeit, wortlo- oder durch Erinnerungen immer wieder evoziert: se, ergriff ihn lange, und die Augen füllten sich ihm mit Tränen […] und ihn, den Trä- Indessen Achill weinte, seines Gefähr- nen vergießenden, trugen die Füße aus ten gedenkend, noch unberührt von des dem Kampf, um dem Peleus-Sohn Achill Schlummers allbezwingter Macht, er das schlimme Wort zu melden.29 wälzte sich hierhin und dorthin, immer sich sehnend nach Patroklos’ Kraft und Obwohl Antilochos mit Patroklos weder ver- adliger Mannheit, und in Gedanken, wie- wandt ist noch, wie Achill, in einem engeren viel sie gemeinsam erlebt und erduldet Verhältnis steht, ist er durch die Nachricht kon- […] dessen eingedenk vergoss er reich- sterniert. Antilochos befindet sich mitten auf dem liche Tränen.27 Schlachtfeld, als er von Menelaos von Patroklos’ Tod erfährt. Dabei unterbindet er seine Trauer- Die häufige Reminiszenz an seinen Gefährten bekundung nicht, sondern lässt seinen Tränen löst bei dem Protagonisten ἄλγεα aus und führt freien Lauf. Die Stelle ist ein weiterer Beleg da- zu einer besonders starken emotionalen Reak- für, dass die Soldaten ihre Tränen während der tion. Seine Trauer wird nicht nur durch Tränen, Kampfhandlungen nicht zurückhalten mussten. sondern durch exzessive Körpergesten, wie das In ähnlicher Weise wie die Helden trauert die Herumwälzen auf dem Boden, bekundet. Um gefangene Briseis, als sie mit dem Tod des Pa- das innere Leid zu lindern, wendet er sich wieder troklos konfrontiert wird (Hom. II. 19, 287-300). an Thetis. Vor seiner Mutter offenbart er seine in- Ihre Tränen sind keine Reaktion auf die Todes- nerste Verzweiflung. Er bereut nicht nur, auf die nachricht, sondern werden durch die Konfronta- Welt gekommen zu sein, sondern äußert seinen tion mit dem entstellten Leichnam des Patroklos Wunsch zu sterben. Aus der Klage spricht ein bedingt, während ihre Klage von lautem Klage- Schuldgefühl des Achill, seinen Gefährten nicht geschrei zu Tränen übergeht. Due begründet beschützt zu haben. Die Begegnung mit ihrem Briseis’ Trauer gegenüber Patroklos’ Tod als Sohn rührt die Meeresnymphe erneut zu Tränen. normale Reaktion auf einen familiären Verlust, Diese gelten nicht dem Verlust des Patroklos, da sie Patroklos zu einem gewissen Grad als sondern antizipieren das bevorstehende Schick- Vaterfigur beklagt.30 Mit der Trauerklage ver- sal ihres Sohnes. Anschließend bittet sie He- sucht Briseis ihre Stellung in der griechischen phaistos unter Tränen, für ihren Sohn Waffen zu Gemeinschaft zu legitimieren, indem sie ihre schmieden. Dass Tränen im Rahmen eines Bitt- Trauer nicht nur durch Tränen, sondern, wie es gestus wirkungsvoll eingesetzt werden, konnte die Tradition verlangt, forciert durch Klagegesten bereits gezeigt werden. Tränen haben in diesem zum Ausdruck bringt. Nach Petersmann (8) ist Zusammenhang die Funktion, die Entscheidung Briseis’ Trauer auf das enge Verhältnis zu Patro- des Gottes positiv zu beeinflussen. Kurz vor der klos zurückzuführen. Da Briseis in dem Moment Übergabe der geschmiedeten Waffen wirft sich allerding ihre schmerzvolle Vergangenheit proji- Achill über die Leiche des Patroklos und fängt ziert, müssen ihre Tränen als Ausdruck ihres ei- an zu weinen (Hom. Il. 19, 4-6). Erst der Anblick genen Leids verstanden werden. Die Trauer von der von Hephaistos geschmiedeten Waffen kann Achill und Briseis korreliert ab einem gewissen den Helden zum Handeln bewegen, indem Ge- Punkt, da sie auf den Anblick des toten Gefähr- fühle der Aggression und Rachelust überhand- ten in gleicher Weise mit Geschrei und Tränen nehmen.28 Der Verlust seines Gefährten wird reagieren.31 Auch die Klage wird komplementär zum entscheidenden Motivationsfaktor seiner zum Ausdruck gegeben, indem sie ihre zerstör- Racheaktion gegen Hektor. Ein Großteil des ten Hoffnungen auf eine familiäre Verbundenheit Kriegsepos widmet sich im Folgenden Achills akzentuieren.32 Im Unterschied zu der Toten- Sühnung von Patroklos’ Tod. klage der Briseis kann Achill seine Trauer über Nicht nur Achill, auch zahlreiche andere Patroklos emotional übersteigern. Nach Loh- Protagonisten wohnen der Klage über den Tod mann (20) stehen die beiden Klagen in bewuss- des Patroklos unter Tränen bei. Plötzlich erhal- ter Wechselwirkung, um Achills Trauer über die ten auch Tiere die Fähigkeit, ihrer Trauer durch der Briseis emporzuheben, da für Achill der Tod helden. heroes. héros.
Justine Diemke 14 seines Gefährten das größte Unglück darstellt. jammerte drüben, Tränen vergießend […] Damit lässt sich eine geschlechterspezifische so sprachen die beiden weinend zu ihrem Darstellung der Trauer, wie sie Monsacré postu- Sohn.34 liert, abstreiten. Neu ist die Beschreibung der Tränen des Während sich Priamos die Haare rauft, entblößt Antilochos und des Achill als δάκρυα θερμὰ die Mutter vor ihrem Sohn die Brust (Hom. Il. 22, (Hom. Il. 18, 234-235; Hom. Il. 18, 16-17). Die 77-90). Das Entblößungsmotiv soll nicht nur ihre Idee der Wärme, die mit dem Wachstum und der Mutterschaft symbolisieren, sondern das enge Fruchtbarkeit verbunden ist, steht in Relation zu Mutter-Kind-Verhältnis hervorheben.35 Hektor soll der biologischen Vorstellung von Tränen in den daran erinnert werden, wie viel Mühe seine Erzie- späteren Schriften des Aristoteles (Aristot. probl. hung mit sich brachte. Beide Elternteile versuchen 959b20-30). Die Wärme der Tränen ist nicht nur auf das Handeln ihres Sohnes Einfluss zu nehmen, Ausdruck ihrer Vitalität, sondern scheint dem doch lässt sich Hektor nicht von seinem Vorhaben Leid der Protagonisten eine besondere Qualität abbringen. Der gleiche Handlungsstrang ist auf zu verleihen (Monsacré). Auch während der Lei- der Seite der Griechen zu erkennen. Ähnlich wie chenbergung vergießen die Argeier heiße Trä- Hekabe beweint Thetis den bevorstehenden Tod nen. Die Leichenbergung während der verein- ihres Sohnes (Hom. Il. 18, 428; Hom. Il. 1, 413- barten Waffenruhe bleibt ein fester Bestandteil 416; Hom. Il. 18, 94). Im letzten Buch erreicht die des Kriegsgeschehens (Shay 99). Die Leichen Schmerzbekundung über den Tod der Gefallenen werden nicht nur vom Schlachtfeld gebracht, ihren Höhepunkt, als nicht nur die Griechen ihren sondern gewaschen und gepflegt. Die Möglich- Helden beweinen, sondern die Trojaner um den keit, seine Gefährten nochmals zu sehen und sie Verlust ihres Helden Hektor in die affektive Toten- zu ehren, verringert nach Shay (106) ein Trau- klage einstimmen. Die emotionale Erschütte- ma bei den Hinterbliebenen. Die gemeinsame rung des Priamos erreicht im Vergleich zu Achills Trauer der Soldaten begünstigt den Zusammen- Trauerbekundung eine neue Intensität: Als er halt zwischen den Gefährten,33 der, anders als vom Tod seines Sohnes erfährt, wälzt er sich in heute, keine Anonymität kannte. Es ist evident, Kot. Sein Leid wird in erster Linie nicht nur ver- dass der zur Verfügung stehende Freiraum für bal, sondern auch durch exzessive Gesten und den Abschied eine wichtige Komponente bildet, Klagen geäußert. Für den Schmerz über Hektors doch muss das enge Verhältnis zwischen den Tod verwendet der Dichter den Ausdruck ἄχος Soldaten auf den Erfolg des Trauerprozesses ὀξὺ (Hom. II. 22, 225), während der Tod der an- kontraproduktiv gewirkt haben. Mit dem Ziel, die deren Söhne nur mit ἄχνυμαι charakterisiert wird Bedeutung des Trauerprozesses für die Menta- (Anastassiou 19). Die Trauerklage kann hier dem lität der Soldaten zu ergründen, vergleicht Shay Schmerz über den Tod Hektors nicht mehr ge- (96-97) den Trauerprozess im Vietnamkrieg mit recht werden und löst bei Priamos den Wunsch dem in der Ilias. Er bemerkt, dass die mangeln- aus, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sowohl de Trauerarbeit in Vietnam – wo männliche Trä- der Tod Hektors als auch der Patroklos’ wird in nen mit Gefahr und Schwäche assoziiert wurden dem Moment, als die Todesnachricht eintrifft, be- – die Hauptursache für die psychischen Erkran- weint, sowie im Rahmen der Trauerklage, in der kungen der Veteranen darstellt (ebd. 108-109). Tränen als religiöse Verpflichtung fungieren. In In der Ilias impliziert die offene Zurschaustellung beiden Fällen avanciert die Trauerbekundung zur von Tränen keine Verweichlichung der Protago- Massentrauer: nisten. Dort wird den Soldaten die Bestattung und Trauerklage für jeden Toten gestattet. Hier- Also sprach er, da klagten sie alle, geführt bei lässt Shay allerdings die Kritik des Odysseus von Achill. Dreimal lenkten sie rings um außer Acht, der die Auswirkungen einer anhal- den Toten die mähnigen Rosse, weinend, tenden Trauer auf die Kampfleistung der Solda- und Thetis erregte der Klage Sehnsucht ih- ten problematisiert, welche aus diesem Grund in nen, feucht wurde der Sand und feucht die späterer Zeit reglementiert werden muss. Waffen der Männer von Tränen.36 Bevor Hektor in seine letzte Schlacht zieht, wird der Tod von seinen Eltern durch eine Trauer- Die Tränen gelten nicht nur Patroklos und Hek- klage präfiguriert. Der Schmerz wird in unter- tor allein, sondern jedem, den sie zu Hause zu- schiedlicher Weise geäußert: rückgelassen haben (Hom. II. 19, 338-339). Die Totenklage führt zu einem kollektiven Erinne- […] so sprach der Greis und raufte die rungsprozess, worin Tränen illustrativ eingesetzt grauen Haare mit den Händen und riss sie werden. Es mag zunächst überraschen, dass sich vom Kopf, doch dem Hektor beredete die männlichen Protagonisten häufiger über den er nicht den Mut. Die Mutter aber wieder Tod ihrer Gefährten weinen als die Ehefrauen helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias 15 und Mütter.37 Andromache beweint den Tod ihres [Priamos] weinte häufig, zusammenge- Ehegatten an zwei Stellen: beim Anblick des ent- kauert vor den Füßen des Achill, aber stellten Leichnams (Hom. Il. 6, 405) – ein Motiv Achill weinte um seinen Vater, und ein der Nähe, welches bereits oben konstatiert wur- andermal wieder um Patroklos, und ein de – sowie während der Totenklage (Hom. Il. 22, Stöhnen erhob sich von ihnen durch das 515). Der Trauer seiner Mutter Hekabe wird nur Haus.40 beim Empfang der Todesnachricht und während der Totenklage Ausdruck verliehen (Hom. Il. 22, Für einen kurzen Moment kommt es zu einer en- 437), während Priamos’ Leid durch wiederkeh- gen Verbundenheit der Feinde, die den Protago- rende Tränenausbrüche hervorgehoben wird. nisten das gemeinsame Trauern und die einzige Die Trauer der Frauen wird in den meisten Fällen erfolgreiche Hikesie ermöglicht. Beide teilen das nicht individuell, sondern kollektiv geäußert. Die gleiche Schicksal: den grausamen Tod eines Tränen von Helena, Andromache und Hekabe geliebten Menschen. Während der gegenseiti- sind Bestandteil der Trauerklage. Das geringere gen Anteilnahme ihres Leids hat der Hass kei- Vorkommen von weinenden Frauen ist nicht nur ne Bedeutung mehr. Für einen kurzen Moment auf die Unterrepräsentation von weiblichen Cha- sind die Grenzen der Feindschaft durchbrochen, rakteren zurückzuführen, sondern auch auf ihren woraufhin der Konsens mit einem gemeinsamen geringen Redeanteil in der Ilias. Selbst Astyanax, Mahl besiegelt wird. Die bloße Parallelität ihrer dem als Kleinkind das Urteilsvermögen noch ver- Schicksale mildert den Schmerz beider Protago- wehrt ist, reagiert auf den Tod seines Vaters mit nisten und evoziert weitere Erinnerungen an das Tränen: δεδάκρυνται δὲ παρειαί (Hom. Il. 22, 491; eigene Leid. So befällt Achill plötzlich das Ver- 499-500). langen, seinen Vater zu beweinen: πατρὸς ὑφ᾽ In der emotionalsten Szene der gesamten Ilias ἵμερον ὦρσε γόοιο (Hom. Il. 24, 510-512). Der – dem Gespräch zwischen Achill und Priamos – Anblick des Priamos erinnert Achill an seinen ei- ermöglichen Tränen eine räumliche und konflikt- genen Vater Peleus, der seinen Sohn auch nicht freie Nähe zwischen beiden Kontrahenten. Um mehr wiedersehen wird.41 Priamos schafft es, eine Rückgabe des Leichnams seines Sohnes zu Achill von der Rückgabe des Leichnams zu über- realisieren, bleibt Priamos nichts anderes übrig, zeugen, und bringt die Leiche vor das Haus, um als Achill mittels einer materiellen Rekompensa- die Menge zur Klage aufzufordern. Die Menge tion um die Freigabe des Leichnams zu bitten. soll ausgiebig weinen, bevor die Leiche wegge- Gegen den Willen seiner Familie und Gefährten bracht wird (Hom. Il. 24, 713-717). Die Klage- fasst Priamos den Entschluss, das Lager des rede für den Verstorbenen, welche von Tränen Feindes zu betreten, um die Rückgabe der Lei- begleitet wird, übernehmen Andromache, Heka- che zu erbitten. Priamos agiert als Supplikant und be und Helena.42 Die Trauerklage, die für beide ist bereit, sich vor dem Feind zu erniedrigen (Horn Toten öffentlich zelebriert wird, dient der Kathar- 229). Wie gefährlich dieses Unterfangen für Pria- sis und Ehrerweisung für die Toten. Dabei wird mos ist, wird von seinen Gefährten hervorgeho- nicht die Bedeutung der Toten für Troja hervor- ben. Die zahlreichen Tränen, die er bereits über gehoben, sondern das Schicksal der Frauen den Tod seines Sohnes vergossen hat, haben thematisiert. Dass die Durchführung der Trauer- ihm noch keine Linderung verschafft: klage eine große gesellschaftliche Relevanz hat, wird daran deutlich, dass die Kampfhandlungen Hektor! Dass er doch gestorben wäre in für die Bestattung und das Beweinen der Toten meinen Armen! So hätten wir beide uns ge- unterbrochen werden. Ihre Trauer wird gleichzei- sättigt an Weinen und Klagen, die Mutter, tig zum Vorwand, um eine emotionale Erregung, die ihn gebar, die Unglückselige, wie auch die auf das persönliche Schicksal bezogen ist, ich selber. So sprach er weinend […].38 zu externalisieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Die Befreiung von seinem Schmerz kann erst Tränen im Trauerkontext in der Ilias eine übliche durch die Inbesitznahme des Leichnams und da- und von der Gesellschaft geforderte Reaktion mit der Durchführung der Totenklage erfolgen. darstellen. Die Trauerklage beschränkt sich auf Die Anteilnahme, mit der Achill seinem Bittflehen den Tod zweier bedeutender und hochrangi- begegnet, wurde in der Forschung immer wieder ger Heerführer, was die Dimension der Trauer thematisiert.39 Auch für Achill stellt die Begegnung verständlicher macht. Der Umfang der Trauer- eine persönliche Überwindung dar und führt ihm prozession akzentuiert nicht nur deren Loyalität, die Erinnerungen an den Tod des Patroklos und sondern wird zum Ausdruck ihrer symbolischen seines Vaters erneut vor Augen. Es folgt ein pa- Macht. thetischer Moment, welcher der Szene eine inti- me Pointe verleiht: helden. heroes. héros.
Justine Diemke 16 Hikesie persönlicher Rache (Zanker 48-59). Im Falle der beiden Brüder Peisandros und Hippolochos liegt der individuelle Wert ihrer Ermordung höher als Eine weitere Funktion von Tränen lässt sich der ihrer Schonung. Da ihr Vater Antimachos für in Hikesie-Szenen erkennen. In der Ilias wird den Tod des Odysseus und Menelaos plädiert hat, Angst direkt vor dem Feind gezeigt, besonders müssen seine beiden Söhne nun einem Rache- in Augenblicken, in dem sich die Person in Le- akt zum Opfer fallen. Der Drang nach einer Wie- bensgefahr befindet und Gnade erbittet. Das derherstellung der verletzten Ehre erhält in den Hikesie-Verhalten ist in der Ilias unheroisch und Epen größeres Gewicht als die Bereicherung lässt sich nur bei den Trojanern beobachten. In durch materielle Güter. Damit evoziert der Ein- der Ilias kommt es in zwei Fällen zur Gefangen- satz von rhetorischen Mitteln und emotionalen nahme von Feinden, welche in ähnlicher Weise Gesten in solchen Fällen beim Gegner kein Mit- gegenüber dem Feind mit Bittflehen reagieren. leid. Hierbei erfolgt eine Selbsterniedrigung des Sup- plikanten, die sich in der Anerkennung der Über- legenheit des Gegenübers äußert (Horn 106). Dolon, der im Lager der Achaier als Spion ge- Fazit fangen genommen wird, bittet unter Tränen um seine Freilassung (Hom. II. 10, 454-455). Da es Die historische Interpretation der Epen auf sich beim Bittsteller um einen Kontrahenten han- Grundlage einer neuen Methode, dem emotions- delt, dürfen die Tränen kein Mitgefühl beim Hel- geschichtlichen Zugang, konnte zu einem neuen den erzeugen (Kim 57). Zur Hikesie gehört au- Kenntnisgewinn der Epen beitragen. Tränen ßerdem eine Gegenleistung des Bittstellers, wie dienen nicht nur der dramaturgischen Aus- etwa eine materielle Rekompensation in Form schmückung der Epen, sondern bilden reale von Lösegeld. Obwohl Odysseus ihm Schonung Handlungsmuster ab. Im Epos sind Tränen nicht in Aussicht gestellt hat, wird Dolon im troischen geschlechtsspezifisch und postulieren standar- Lager getötet. disierte Reaktionsmuster, die in keiner Diskre- Die Brüder Peisandros und Hippolochos, die panz zu den gesellschaftlichen Normen stehen. ebenfalls gefangengenommen wurden, versu- Die Tränen von Männern sind kein Zeichen von chen, dem Feind die Vorteile einer Freilassung Schwäche und tun dem Heldentum keinen Ab- zu demonstrieren. Doch die versprochenen bruch. In der Ilias weinen die Protagonisten, Reichtümer reichen nicht aus, um sich aus der wenn ihnen das Wichtigste genommen wird: die Gefangenschaft freizukaufen: Ehre und der Ruhm. Darüber hinaus signalisie- ren Tränen Angst und Verzweiflung während der Fange uns lebend, Atreus-Sohn! Und Kampfhandlungen. In den meisten Fällen sind nimm angemessene Lösung! Viele Kost- Tränen in das Ritual der Trauerklage eingebun- barkeiten liegen in des Antimachos Häu- den und fungieren als religiöse Pflicht gegenüber sern, Erz und Gold und vielbearbeitetes dem Verstorbenen. Darüber hinaus erfüllen Trä- Eisen: Davon wird dir gern der Vater uner- nen eine proleptische Funktion, indem sie den messliche Lösung geben […] so sprachen Tod der Helden präfigurieren. Im Trauerkontext die beiden weinend zu dem König.43 lässt sich ein geschlechtsbedingter Unterschied (Monsacré) des emotionalen Ausdruckes kaum Mit ihren Tränen appellieren sie an das Mitge- konstatieren. In den Totenfeiern wird neben den fühl ihres Gegners, um eine Freilassung zu er- Klagesängerinnen der Threnos auch auf die wirken.44 In ähnlicher Weise bittet Priamos Achill Männer übertragen. Der Klagegesang wird von unter Tränen um die Rückgabe des Leichnams den Ehefrauen und Müttern praktiziert, wobei er seines Sohnes. Die Tränen von Peisandros und in der Ilias nur im letzten Buch reflektiert wird. Hippolochos erreichen nicht die gewünschte Während die Tränen in der Ilias zum Heroen- Wirkung, Agamemnon lehnt die Supplikation ab. tum dazugehören, werden sie in der Tragödie für Die Folge ist die Ermordung beider Söhne des den Ruhm des Helden als gefährlich eingestuft. Antimachos durch Agamemnon. Da die verspro- Männer, die trotzdem weinen, werden verspottet chenen Gegenstände des Bittstellers für den und als Frauen degradiert.45 Die Reglementie- Helden einen Ehrgewinn und eine materielle Be- rung von Tränen beschränkt sich – ähnlich wie in reicherung bringen können, liegt der Erfolg einer der Odyssee – auf den Trauerkontext. Anders als Hikesie durchaus im Bereich des Möglichen. So im Falle der Penelope ist auch den Frauen das verschont Achill die Söhne des Priamos Anti- anhaltende Trauern nicht mehr gestattet.46 Die- phos und Isos. Ein abgelehntes Gesuch steht se Pflicht zur Emotionskontrolle findet sich be- hingegen in einem kausalen Zusammenhang mit reits in der Odyssee, worin der Held permanent helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias 17 in Tränen ausbricht. Die fatalen Auswirkungen 8 Hom. Il. 1, 356-361: ἠτίμησεν: ἑλὼν γὰρ ἔχει γέρας αὐτὸς ἀπούρας ὣς φάτο δάκρυ χέων. des Krieges werden durch Tränen manifestiert und verlangen eine strengere Reglementierung 9 So ist die Frau nur ein Vorwand, die Schmähung durch Agamemnon der Grund für die Tränen, siehe Monsacré 139- in bestimmten Situationen wie etwa an Festta- 140; Arnould 53. gen oder nach dem Nachtmahl. Doch nicht nur 10 Zum Begriff: Horn 99. Tränen, auch andere Emotionen müssen in der Odyssee zurückgehalten werden. Während der 11 Hom. Il. 1, 348-350: αὐτὰρ Ἀχιλλεὺς δακρύσας ἑτάρων ἄφαρ ἕζετο νόσφι λιασθείς, θῖν᾽ ἔφ᾽ ἁλὸς πολιῆς, ὁρόων ἐπ᾽ Zorn in der Ilias den Grundstrang der Handlung ἀπείρονα πόντον. bildet, wird er in der Odyssee stark abgewertet. 12 Hom. Il. 9, 13-14: ἂν δ᾽ Ἀγαμέμνων ἵστατο δάκρυ χέων Die emotionale Selbstkontrolle korreliert mit der ὥς τε κρήνη μελάνυδρος ἥ τε κατ᾽ αἰγίλιπος πέτρης δνοφερὸν zunehmenden Institutionalisierung der Gesell- χέει ὕδωρ. schaft, welche auf die Kanalisierung von Emo- 13 Die Thersites-Szene wurde in der Forschung mehrfach tionen und die Kontrolle von Gewalt zielt. Eine diskutiert. Olshausen (132) sieht das Auflehnen des Thersi- ausführliche Untersuchung zu Tränen in der tes als Umsturzversuch. Hellmann spricht von gewöhnlichen Zuständen, welche auf allgemeine Zustimmung stoßen. Da- Tragödie und ein Vergleich mit den Epen wäre mit, dass Thersites’ Verhalten zu einem Zusammensturz der damit ein reizvoller Ansatz für eine Studie. sozialen Ordnung führen kann, rechtfertigt Odysseus sein Verhalten, siehe Schmidt; Lincoln; Seibel. Für Geschnitzer, Justine Diemke ist wissenschaftliche Mitar- Scott (25-27) und Nicolai (100) ist die Szene unproblema- beiterin am Arbeitsbereich Alte Geschichte der tisch, da sie das Unrecht des Thersites bereits durch sein Universität Hamburg. In ihrer Dissertation be- Äußeres betont sehen. Sagan (38) sieht Thersites als Kari- katur des Helden. schäftigt sie sich mit der Darstellung und Be- wertung von depressiven Erkrankungen in der 14 Hom. Il. 2, 265-270: ὣς ἄρ᾽ ἔφη, σκήπτρῳ δὲ μετάφρενον ἠδὲ καὶ ὤμω πλῆξεν: ὃ δ᾽ ἰδνώθη, θαλερὸν δέ οἱ ἔκπεσε griechischen und römischen Literatur. δάκρυ: σμῶδιξ δ᾽ αἱματόεσσα μεταφρένου ἐξυπανέστη σκήπτρου ὕπο χρυσέου: ὃ δ᾽ ἄρ᾽ ἕζετο τάρβησέν τε, ἀλγήσας 1 Plat. rep. 388a. Nach Platon ist jegliche Art von Emotio- δ᾽ ἀχρεῖον ἰδὼν ἀπομόρξατο δάκρυ. οἳ δὲ καὶ ἀχνύμενοί περ nen ein Hindernis für rationales Handeln, weswegen er eine ἐπ᾽ αὐτῷ ἡδὺ γέλασσαν. Unterdrückung der Affekte postuliert, siehe Erler 35. 15 Hom. Il. 13, 86-88: καί σφιν ἄχος κατὰ θυμὸν ἐγίγνετο 2 Eur. Hel. 947-948; Soph. Ai. 317-322. Das emotional ge- δερκομένοισι, Τρῶας, τοὶ μέγα τεῖχος ὑπερκατέβησαν ὁμίλῳ. prägte Verhalten der Helden steht in klarer Diskrepanz zur τοὺς οἵ γ᾽ εἰσορόωντες ὑπ᾽ ὀφρύσι δάκρυα λεῖβον, οὐ γὰρ propagierten Selbstkontrolle der klassischen Zeit. ἔφαν φεύξεσθαι ὑπ᾽ ἐκ κακοῦ. 3 Zum Begriff des Heldentums, siehe Meyer/von den Hoff 16 Hom. Il. 9, 432-433: ὀψὲ δὲ δὴ μετέειπε γέρων ἱππηλάτα 9-14. So agieren die Helden als Exemplum idealer Verhal- Φοῖνιξ δάκρυ᾽ ἀναπρήσας: περὶ γὰρ δίε νηυσὶν Ἀχαιῶν. tensnormen, welche selber aus vergangener Erzählung 17 Durchschnittlich kommt auf acht Tote ein Verwundeter, stammen. siehe Shay 181. 4 Einen ersten Versuch, die Bedeutung von Tränen zu eru- 18 Hom. Il. 16, 2-11: Πάτροκλος δ᾽ Ἀχιλῆϊ παρίστατο ποιμένι ieren, hat Hélène Monsacré in ihrer Monografie Les larmes λαῶν δάκρυα θερμὰ χέων ὥς τε κρήνη μελάνυδρος ἥ τε κατ᾽ d’Achille – héros, femme et souffrance chez Homère für die αἰγίλιπος πέτρης δνοφερὸν χέει ὕδωρ. τὸν δὲ ἰδὼν ᾤκτιρε Ilias unternommen. Dominique Arnould greift in seiner Mono- ποδάρκης δῖος Ἀχιλλεύς, καί μιν φωνήσας ἔπεα πτερόεντα grafie Le rire et les larmes dans la littérature grecque die Trä- προσηύδα: τίπτε δεδάκρυσαι Πατρόκλεες, ἠΰτε κούρη νηπίη, nen der homerischen Helden an einigen Stellen auf, indem ἥ θ᾽ ἅμα μητρὶ θέουσ᾽ ἀνελέσθαι ἀνώγει εἱανοῦ ἁπτομένη, er die narrative Bedeutung von Tränen in der griechischen καί τ᾽ ἐσσυμένην κατερύκει, δακρυόεσσα δέ μιν ποτιδέρκεται, Literatur erfasst. Der lange Zeit vernachlässigte Forschungs- ὄφρ᾽ ἀνέληται: τῇ ἴκελος Πάτροκλε τέρεν κατὰ δάκρυον εἴβεις. bereich wurde von Sabine Föllinger in den 2000er Jahren wieder aufgenommen. In ihrem Aufsatz „Tears and Crying 19 Der Abschied eines Soldaten von seiner Familie ist ein in Archaic Greek Poetry“ fasst Föllinger das unterschiedli- zentrales Thema in der archaischen und frühklassischen Va- che Vorkommen von Tränen in den homerischen Epen zu- senmalerei. In diesen Abschiedsszenen von Frau und Ange- sammen. Für Föllinger sind Tränen gattungsspezifisch, was hörigen sollen die Wehrbereitschaft sowie die Erwartung der sie an einem Fragment des Archilochos zu zeigen versucht. Polis demonstriert werden. Doch anders als in der Literatur Unter anderem Blickwinkel beschäftigt sich Hans van Wees wird die Frau hier emotionslos dargestellt, siehe Van Wees, in seinem Aufsatz „A Brief History Of Tears“ mit Tränen in Warriors. der archaischen Zeit, die im Trauerkontext zum Ausdruck 20 Hom. Il. 5, 495-496: ἄλοχος δὲ φίλη οἶκον δὲ βεβήκει, gebracht werden. Van Wees kann sowohl anhand ikonogra- ἐντροπαλιζομένη, θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέουσα. phischer Darstellungen als auch literarischer Quellen einen entscheidenden Wandel in der Trauerklage zwischen beiden 21 In Rom wird den Frauen geraten, Tränen einzusetzen, Geschlechtern konstatieren. um ihre Männer zu erweichen, siehe Ov. am. 1, 8, 83; 1, 7, 58. 5 Insgesamt acht Mal: Hom. Il. 1, 348-350; Hom. Il. 1, 356- 361; Hom. Il. 18, 73; Hom. Il. 18, 234-235; Hom. Il. 19, 4-6; 22 Hom. II. 6, 495-502: ἄλοχος δὲ φίλη οἶκον δὲ βεβήκει Hom. Il. 19, 338; Hom. Il. 24, 4-9; Hom. Il. 24, 510-512. ἐντροπαλιζομένη, θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέουσα. αἶψα δ᾽ ἔπειθ᾽ ἵκανε δόμους εὖ ναιετάοντας Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο, 6 μῆνις wird mit Groll übersetzt. Zu den Definitionen siehe κιχήσατο δ᾽ ἔνδοθι πολλὰς ἀμφιπόλους, τῇσιν δὲ γόον Adkins; Cairns; Considine. πάσῃσιν ἐνῶρσεν. αἳ μὲν ἔτι ζωὸν γόον Ἕκτορα ᾧ ἐνὶ οἴκῳ: 7 Die Verwendung des Terminus soll an der Stelle nicht οὐ γάρ μιν ἔτ᾽ ἔφαντο ὑπότροπον ἐκ πολέμοιο ἵξεσθαι. die göttliche Erscheinung des Protagonisten, sondern die 23 Das Motiv der Tränenlosigkeit bei zu großem Schmerz besondere Nähe zu Zeus zum Ausdruck bringen, siehe La- findet auch Niederschlag in der römischen Literatur, etwa bei tacz, Homers Ilias 13. Sen. Tro. 409; Cic. Tusc. 3, 63; Lucan. 7, 43. helden. heroes. héros.
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