Weinende Helden in der Ilias

 
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DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2020/01/02

Justine Diemke                                                                                          7

Weinende Helden in der Ilias

Einleitung                                          Das Tränenmotiv in der Ilias

In der Ilias weinen die Protagonisten mindes-       Die Ilias behandelt die gewaltsamen Konflikte
tens ein Mal, und zwar nicht nur die Ehefrauen,     der Adelsschicht sowie deren Auswirkungen auf
sondern auch die Helden selbst, darunter Achill,    die Gemeinschaft. Die Handlung setzt im neun-
Agamemnon und Patroklos. Die häufigen Trä-          ten Kriegsjahr ein und schildert mit zahlreichen
nen der homerischen Helden sind eklatant und        Retardationen das Ende des Krieges. Sie um-
stoßen in den Schriften Platons auf Kritik.1 Be-    fasst den Zorn und die Kampfenthaltung des
sonders problematisch sieht Platon das Klagen       Achill, den Tod von Patroklos und damit den
von Männern im sepulkralen Kontext, welches         Wendepunkt in Achills zuvor passivem Verhalten
einen Gegenpol zur Männlichkeit darstellt. Doch     sowie die anschließende Rache an Hektor. Der
nicht nur Platon, auch die Tragödiendichter ver-    letzte Gesang schließt mit einem emotionalen
spotten die Tränen der homerischen Helden.2         Übereinkommen zwischen Priamos und Achill.
Obwohl das Epos eine fiktive Welt darstellt, ist    Geweint wird, unabhängig von den Gesängen,
es recht unwahrscheinlich, dass der Dichter ein     an insgesamt 48 Stellen, wobei der Held Achill
emotionales Verhalten, welches in keiner Weise      am häufigsten Tränen vergießt.5 Sie treten das
mit den damaligen Konventionen übereinstimmt,       erste Mal mit Achills Zorn gegen Agamemnon
wiedergibt. Die Epen handeln von Helden, wel-       auf und erreichen ihren Höhepunkt im 19. Ge-
che nicht nur Normen setzen, sondern als Leit-      sang, als Patroklos von Hektor getötet wird.
bilder fungieren oder auch kritisiert werden.3      Doch nicht nur Achill, auch zahlreiche andere
    Die Untersuchung bietet einen emotionsge-       Entscheidungsträger bringen ihre Emotionen
schichtlichen Zugang zu den homerischen Epen,       durch Tränen zum Ausdruck. Obwohl die Tränen
der in der Forschung bisher vernachlässigt          im Einzelnen unterschiedlich motiviert sind, ist
wurde.4 Für die Beschreibung von Tränen lassen      die insgesamt hohe Emotionsladung der Helden
sich unterschiedliche Faktoren konstatieren, die    der neunjährigen Kriegshandlung geschuldet.
an bestimmte Situationen gebunden sind. Für das     Da Defätismus mit den heroischen Wertvorstel-
Verständnis von Tränen ist entscheidend, wieso      lungen nicht kompatibel ist, werden der Tod und
und für wen sie offen gezeigt werden dürfen. Es     das Leid auf dem Schlachtfeld zum repräsenta-
ist zu klären, welche Art von Tränen vorliegt und   tiven Bild des Epos. Im Folgenden soll das Trä-
in welchem Ausmaß sie der Dichter rühmt oder        nenmotiv systematisch ausgewertet werden.
problematisiert, genauso, mit welchen sozialen
Gruppen und welchem Geschlecht sie in Ver-
bindung gebracht werden. Daran schließt sich
die Frage, ob Tränen in den Epen problemati-
                                                    Zorn
siert und kritisiert werden. Hierfür werden die
unterschiedlichen Gründe für Tränen in der Ilias    Der heldische Zorn ist das Grundthema der Ilias
– Zorn, Verzweiflung, Abschiedsszenen, Trauer       und generiert gleichzeitig Tränen. Im Trojani-
und Hikesie – in einzelnen Kapiteln untersucht.     schen Krieg führt dieser Zorn zu gewaltigen
Dabei kann die Untersuchung des Tränenmotivs        Racheaktionen, welche in vielen Fällen erst mit
als Indikator für Wertvorstellungen und Normen      Blutrache ein Ende finden (Latacz, Homers Ilias
der jeweiligen Gesellschaften in der Archaik die-   12-13). Der Grund für die Entstehung von Zorn
nen. Die Untersuchung des Tränenmotivs soll zu      ist die Verletzung von τιμή, für deren Rekompen-
einem besseren Verständnis einzelner Motive         sation der Betroffene zur Rache aufgefordert
und Handlungsweisen des Protagonisten beitra-       wird. Das Epos verwendet drei unterschiedliche
gen.                                                Begriffe für Zorn: χόλος, κότος und μῆνις.6 χόλος

helden. heroes. héros.
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    wird am häufigsten genannt und beschreibt ei-        seinem Kontrahenten Gewalt anzuwenden. Die
    nen schnell aufflammenden Zorn, der den Hel-         Gewalttat kann durch Athene verhindert werden,
    den zu sofortigen Aktionen verleitet und in den      woraufhin der Held Rache übt, indem er Kampf-
    meisten Fällen durch eine Kränkung hervor-           enthaltung als Druckmittel nutzt. Aus Wut zieht
    gerufen wird. κότος definiert den langsam auf-       er sich aus der Menge zurück und setzt sich ans
    kommenden Zorn, der bis zu seiner Satisfaktion       Meer. In der Einsamkeit vergießt er Tränen:
    andauert. μῆνις impliziert den göttlichen Groll,7
    der gleichzeitig als Verlangen oder antreibende         Aber Achill setzte sich weinend alsbald,
    Kraft interpretiert werden kann. Das Prooimion          abseits von den Gefährten, an den Strand
    der Ilias beginnt mit dem Zorn des Helden Achill,       der grauen Salzflut und blickte auf das
    μῆνις, der hier einen anhaltenden, nicht nachlas-       grenzlose Meer.11
    senden Groll (Latacz, Homers Ilias 13) wegen
    erlittener Kränkung impliziert. Achills übergroßes   Die Isolierung Achills impliziert keine neue Wer-
    Maß an Zorn ist angeboren, wie Patroklos im          tung von männlichen Tränen, sondern entspricht
    neunten Gesang referiert (Hom. II. 9, 255),          dem menschlichen Bedürfnis nach räumlicher
    welchen der Protagonist nicht regulieren kann.       Distanz gegenüber dem Hauptverantwortlichen
    Gleichzeitig wird der Leser mit dem ersten Tränen-   seiner Kränkung. Sowohl in der Ilias als auch in
    ausbruch des Achill konfrontiert:                    der Odyssee (Hom. Od. 5, 152-154) gibt es ähn-
                                                         liche Szenen, in denen die Helden ihre Tränen
       Verunehrt, denn er nahm und hat mein              in Einsamkeit vergießen. Beide ziehen sich ans
       Ehrengeschenk, das er selbst mir fort-            Meer zurück und wenden sich in ihren verzwei-
       nahm! So sprach er Tränen vergießend.8            felten Momenten nur noch an die Götter. Das
                                                         Zurückziehen ans Meer erfolgt nicht zufällig; so
    Während der Heldenzorn in der Regel gegen            soll Achills Mutter, die Nereide Thetis, auf das
    Feinde gerichtet ist, wendet sich Achills Zorn ge-   Weinen ihres Sohnes aufmerksam werden. Ihre
    gen seinen eigenen Gefährten. Der Verantwortli-      Aufgabe besteht darin, ihren Sohn zu trösten
    che für die Kränkung ist Agamemnon, der durch        und seinen Groll gegen Agamemnon zu schmä-
    die Wegnahme von Achills erbeuteter Jungfrau         lern. Achill vertraut ihr seinen Gram an und
    Briseis den Helden entehrt. Um den Zorn des          bittet seine Mutter um Unterstützung für seine
    Apollon zu beschwichtigen, musste Agamemnon          Vergeltungsaktion gegen Agamemnon. Als Kom-
    einer Restitution der geraubten Priestertochter      pensation für seine Kränkung fordert Achill die
    Chryseis zustimmen. Da Apollon dem Heer eine         Wiederherstellung seiner verletzten Ehre. Dass
    Seuche gesendet hat, blieb Agamemnon keine           bei der Wegnahme des Beutemädchens per-
    andere Wahl, als die Tochter des Priesters zu-       sönliche Gefühle im Hintergrund stehen, wird im
    rückzugeben. Um seinen persönlichen Verlust          neunten Gesang deutlich, als Achill vor Odys-
    zu kompensieren, bemächtigt sich der Heer-           seus auf seine Liebe zu Briseis zu sprechen
    führer nun Achills Siegesbeute. Das Verhalten        kommt (Hom. II. 9, 340-344). Auch Thetis’ trös-
    des Agamemnon zieht eine Kränkung des Hel-           tende Worte werden von Tränen begleitet. Die
    den nach sich und impliziert den Verlust von         Tränen der Thetis antizipieren das bevorstehen-
    Achills Ehre. Die Kränkung und der Ehrverlust        de Schicksal ihres Sohnes. Sein verzweifelter
    manifestieren sich nicht nur in der Wegnah-          Zustand erinnert Thetis dabei an das über ihren
    me seines Besitzes,9 sondern auch durch den          Sohn verhängte Unheil. Auch beim nächsten
    Verlust von γέρας und damit seines Ansehens          Gefühlsausbruch des Achill, der erst im 18. Ge-
    (Horn 150), welches an Besitz und Vermögen           sang aufkommt und bis zum letzten Gesang
    des Helden gebunden ist. Agamemnon verstößt          dem Tod seines Gefährten Patroklos gewidmet
    als Heerführer nicht nur gegen die gesellschaftli-   ist, dient Thetis ihrem Sohn als Trostspenderin.
    chen Normen, sondern bricht insbesondere sei-
    ne Vertrauenswürdigkeit gegenüber Achill (152).
    Die psychische Verletzung Achills unterminiert
    dessen moralischen Verpflichtungen gegen-
                                                         Verzweiflung
    über dem Heer; von nun an begegnet Achill dem
    Schicksal seiner Gefährten mit Gleichgültigkeit.     Der Krieg bringt die Helden mehrfach in verzwei-
    Die Tränen sind das Resultat seines Zorns, der       felte Situationen, auf die die Protagonisten – aus
    durch die Verletzung der Ehre10 und des Anse-        unserer modernen Sicht unheroisch – nämlich
    hens effiziert wird. Um erneut an einer Wert-        mit Tränen reagieren. Doch der Gefühlsausbruch
    schätzung teilhaftig zu werden, trachtet der Held    in einer prekären Kriegslage entspricht der Re-
    nach Ehrbezeugungen. Um dieses Ziel zu errei-        alität und soll dem Rezipienten die Grausamkeit
    chen, schreckt er nicht davor zurück, gegenüber      des Krieges vor Augen führen.

                                                                                      helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias

                                                                                                         9
Mit der Unterstützung des Zeus kommt es zu           das resignierte Verhalten des Heerführers in-
einem weiteren Vordringen der Trojaner. Zeus         direkt kritisiert, was für Agamemnon allerdings
verhindert das Eingreifen der anderen Göt-           keine machtpolitischen Restriktionen nach sich
ter, um sein Versprechen an Thetis zu erfüllen.      zieht.
Das Verhalten der Griechen wird während der              Ganz anders wird mit Thersites verfahren,
Kriegshandlungen von Unentschlossenheit und          der im zweiten Buch das griechische Heer zur
Verzweiflung begleitet. Nach einer weiteren Nie-     Heimkehr auffordert und sich damit gegen den
derlage gegen die Trojaner ist der Kampfwille        Willen der Heerführer wendet.13 Obwohl Aga-
der Griechen endgültig gebrochen, woraufhin          memnon und Thersites von einem ähnlichen Mo-
am Abend eine Versammlung einberufen wird.           tivationsfaktor – der Rückkehr – bewegt werden,
Wie aussichtslos die Lage auf Agamemnon wirkt,       liegt Thersites’ Tränen eine völlig andere Moti-
wird deutlich, wenn er die Griechen auffordert,      vation zugrunde. Er kritisiert die eigennützige
den Krieg zu beenden und in die Heimat zurück-       Kriegsführung des Agamemnon und fordert die
zukehren. Der Defätismus des Heerführers Aga-        Soldaten zum Handeln gegen die Heerführer
memnon wird durch Tränen externalisiert, als er      auf. Thersites’ äußeres Erscheinungsbild steht in
sich in einer Rede an die Truppe wendet:             großer Diskrepanz zum homerischen Kanon von
                                                     männlicher Schönheit. Seine körperlichen Män-
   Und auf stand Agamemnon, Tränen ver-              gel werden mit Feigheit assoziiert (Monsacré
   gießend, dem dunklen Quell gleich, der            53; Hallliwell 281) und bilden einen scharfen
   sein trübes Gewässer vom steilen Felsen           Kontrast zu dem Ideal des schönen und starken
   herabgießt.12                                     Helden. In diesem Fall kommt es zu einer sozia-
                                                     len Degradierung des Soldaten, der keine über-
Der Vergleich mit der Quelle soll an dieser Stelle   legene Stärke akzentuieren kann und mit seinem
die Intensität des Weinens unterstreichen. Die       Ungehorsam gegenüber den Mächtigen dem
dunkle Farbe der Quelle impliziert eine Konno-       heroischen Wertesystem widerspricht. Nachdem
tation mit Tod und Gefahr (Monsacré 168), mit        Thersites die Führungsqualitäten des Agamem-
denen Agamemnon die Niederlage assoziiert.           non öffentlich missbilligt hat, wendet Odysseus
Agamemnon zeigt seine Tränen offen vor sei-          körperliche Gewalt gegen den verhassten Dema-
nen Soldaten. Diese kritisieren ihn dafür nicht,     gogen an. Als Odysseus ihm mit einem Zepter
sondern nehmen Agamemnons Entscheidung               auf den Rücken schlägt, bricht er in Tränen aus:
mit Erleichterung auf. Da der Wirkungsgrad von
Tränen, welche von einem Entscheidungsträger            Also sprach er und schlug mit dem Zep-
vor seinen Soldaten offen gezeigt werden, sehr          ter ihm Rücken und Schultern, dass er
hoch ist, wird Agamemnon die Demoralisierung            sich krümmte vor Schmerz, und reichlich
der Soldaten einkalkuliert haben. Agamemnons            entflossen ihm Tränen. Blutig erhob sich
Tränen akzentuieren nicht nur die hoffnungslose         sofort eine schwellende Strieme am Rü-
Lage der Griechen, sondern auch den gebro-              cken, unter dem goldenen Stab, er setzte
chenen Kampfwillen des Heerführers. Während             sich hin, voller Schrecken, leidend, ver-
im römischen Raum Tränen von Feldherren als             störten Gesichts, und wischte sich ab die
probates Mittel dienten, um die Soldaten zum            Tränen. Aber wie alle auch zürnten, sie
Bleiben zu bewegen (Hagen 109-110), fordern             lachten doch herzlich darüber […].14
Agamemnons Tränen die Soldaten zum Rück-
zug auf. Die Szene stellt die Integrität des Heer-   Nach Arnould sind die Tränen des Thersites
führers in Frage, da dieser seine Soldaten zu        die unmittelbare Reaktion auf die körperlichen
ruhmlosen Handlungen auffordert (Classen             Verletzungen, welche der Dichter präzise be-
30). Das Vergießen von Tränen erreicht die ge-       schreibt: σμῶδιξ δ᾽ αἱματόεσσα μεταφρένου
wünschte Wirkung und sorgt unter den Soldaten        ἐξυπανέστη (Hom. Il. 2, 267; siehe Arnould 20;
für Aufbruchsstimmung. Dass Agamemnons               Waern 225). Damit wäre impliziert, dass Tränen
Verhalten als Entscheidungsträger an der Stelle      als Reaktion auf physische Verletzungen negativ
deviant ist, ergibt sich aus den folgenden Gegen-    konnotiert sind, womit eine weitere Bloßstellung
reden. Diomedes stellt sich gegen Agamemnon          des Demagogen erzielt wurde. Der Umstand,
und deklariert einen Rückzug als feige. Den          dass die Helden an keiner Stelle Tränen wegen
Griechen wird daraufhin die Wahl überlassen,         Kriegsverletzungen vergießen, stützt Arnoulds
entweder mit Agamemnon Troja zu verlassen            These. Da Thersites allerdings in seinem Auftre-
oder mit Diomedes gegen den Feind weiterzu-          ten und seiner sozialen Position dem heroischen
kämpfen. Da das Heroentum den Kampf bis zum          Kanon widerspricht, fungieren seine Tränen nur
Tod vorzieht, entscheiden sich die Soldaten für      als zusätzliche Diffamierung seiner Person.
die Wiederaufnahme des Kampfes. Damit wird           Den Tränen des Demagogen wird durch ihren

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     Auslöser bewusst eine heroische Note entzogen.       gegenüber Achill akzentuiert und sich als Vater-
     Thersites weint nicht wie die anderen Feldherren     figur präsentiert. Mit rhetorischem Geschick ver-
     aus Verzweiflung über persönliches Scheitern.        sucht er positive Gefühle beim Protagonisten zu
     Seine Tränen sind das Resultat körperlicher Ge-      generieren, um den Zorn des Helden zu mildern.
     walteinwirkung und werden daher mit Feigheit         Doch Achill ist zu keinerlei Empathie fähig und
     assoziiert. Die erniedrigende Behandlung des         lässt von seinem Vorhaben nicht ab. Als Achill
     Thersites wird durch das Verlachen seitens der       weiterhin die Teilnahme am Kampf verweigert
     Soldaten forciert, welche damit ihre dezidier-       und Phoinix stattdessen die Abreise aus Troja
     te Einstellung zu der Auflehnung des Thersites       vorschlägt, bricht Phoinix in Tränen aus:
     demonstrieren. Die Möglichkeit einer Rebellion
     unter den Soldaten wird verhindert, indem der           […] und spät erst sprach unter ihnen der
     Unruhestifter diffamiert und verspottet wird. Das       Alte, der Rosstreiber Phoinix, in Tränen
     Verhalten des Odysseus zielt damit auf die Auf-         ausbrechend, denn er fürchtete sehr für
     rechterhaltung der Ordnung. Die Misshandlung            die Schiffe der Achaier.16
     des Demagogen dient der Abschreckung vor sei-
     nem ordnungswidrigen Verhalten (Schmidt 143).        Phoinix ist sich der Folgen der Kriegshandlungen
         Das Effizieren von Tränen in verzweifelten       im Falle einer Abreise des Achill bewusst. Auffal-
     Situationen ist nicht nur personenbezogen, son-      lend ist die am Anfang erwähnte Beschreibung
     dern wird in gleicher Weise auch kollektiv mani-     von Phoinix’ Tränen als δάκρυ᾽ ἀναπρήσας,
     festiert. Im dreizehnten Buch wird den Griechen      welche die emotionale Intensität betonen. Die
     ihre hoffnungslose Situation bewusst, was sie        zurückgewiesene Bittgesandtschaft soll an der
     mit Tränen bekunden:                                 Stelle die ausweglose Situation der Griechen vor
                                                          Augen führen. Obwohl der Dichter die Tränen
        […] und zugleich war es ihnen im Mut ein          auf die verzweifelte Situation bezieht, können
        Kummer, die Troer zu sehen, die die gro-          die Tränen auch als taktischer Zug des Phoinix
        ße Mauer überstiegen hatten in Haufen.            gelesen werden. Durch die Tränen appelliert der
        Wie sie diese sahen, vergossen sie Trä-           Erzieher an das Mitgefühl Achills, das ihm nach
        nen unter den Brauen, meinten sie doch,           der gescheiterten Argumentationsstrategie als
        sie würden nicht entrinnen aus dem Un-            einziges Mittel bleibt, um Achill umzustimmen.
        heil.15                                               Als Zeus das Schlachtgeschehen zuguns-
                                                          ten der Trojaner wendet, scheint die Lage für
     Die Tränen der Soldaten werden an dieser Stel-       die Griechen aussichtslos. Hektor kann zu dem
     le nicht mit Feigheit oder Schwäche assoziiert,      Schiff des Protesilaos vordringen, was unter den
     sondern spiegeln eine menschliche Reaktion           Soldaten Panik hervorruft (Hom. II. 15, 699-701).
     auf eine aussichtslose Situation wider und an-       Patroklos wird mit vielen verwundeten Gefähr-
     tizipieren gleichzeitig ihr Schicksal. Interessant   ten konfrontiert und zieht sich aus der Schlacht
     an der Stelle ist die situativ bedingte Äußerung     zurück, um den resignierten Eurypylos zu ver-
     von Tränen. Die Soldaten befinden sich inmitten      sorgen. Auffallend ist die geringe Anzahl von
     einer Kampfhandlung, als sie vor ihrem Gegner        Verwundeten, welche in Diskrepanz zu der gro-
     zu weinen anfangen. Dass ihr Verhalten nicht als     ßen Anzahl an Kriegstoten steht.17 Das Leid der
     deviant eingestuft wird, zeigt der Umstand, dass     Griechen wird stattdessen durch die detailreiche
     die Soldaten keine Anstalten machen, ihre Trä-       Beschreibung der Wunden illustriert. Erschüt-
     nen zurückzuhalten.                                  tert von der immensen Anzahl an Kriegstoten
         Nach dem Streit mit Agamemnon ist Achill         sowie dem Leid der Verwundeten, entscheidet
     nicht bereit, in Troja zu bleiben. Um eine Aus-      sich Patroklos, Achill um Hilfe zu bitten. Als er
     söhnung mit Agamemnon herbeizuführen                 Achill antrifft, kann er sich nicht beherrschen und
     und den Helden für die Wiederaufnahme des            bricht in Tränen aus. Für die Beschreibung von
     Kampfes zu gewinnen, wird sein Erzieher Phoi-        Patroklos’ Tränen bedient sich der Dichter eines
     nix, als Mitglied der πρεσβεία, zu Achill gesandt.   Gleichnisses:
     Durch die Wiedergabe von Kindheitserinnerun-
     gen versucht Phoinix eine emotionale Nähe zu            Aber Patroklos trat zum Hirten der Völker
     dem Protagonisten herzustellen und die Span-            Achill, heiße Tränen vergießend, und glich
     nung zu entladen. Die Kindheitserinnerungen             der finsteren Quelle, die von steilem Ge-
     enthalten humorvolle Anekdoten über Achills             klipp ergießt ihr dunkles Gewässer. Mit-
     Kindheit, welche eine Gefühlsregung evozieren           leid fasste darob den göttlichen schnel-
     sollen. Die psychologische Tiefe dieser Szene           len Achill und er hob seine Stimme und
     wird noch deutlicher, als Phoinix mit Verweis auf       sprach die geflügelten Worte: Sprich, was
     seine eigene Kinderlosigkeit seine Zuneigung            weinst du, mein Patroklos? Gleich einem

                                                                                        helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias

                                                    Abschiedsszenen                                        11
   kindischen Mägdlein, das da neben der
   Mutter läuft und: Nimm mich! Sie bittet,
   fest an ihr Kleid sich klammernd, den
   Gang der Eilenden hemmend, weinend               Bevor die Helden in die Schlacht ziehen, neh-
   blickt es hinauf, bis die Mutter es nimmt in     men sie von ihren Familien Abschied, der in den
   die Arme. So vergießt auch du, Patroklos,        meisten Fällen von Tränen begleitet wird. Das
   die perlende Träne.18                            Bedauern über den Aufbruch wird vor allem
                                                    dann emotional gesteigert, wenn ein Wieder-
Gleichnisse aus der Kinderwelt werden in den        sehen nicht gewährleistet ist. Das letzte Treffen
Epen oft verwendet, um die Grausamkeit des          zwischen Hektor und seiner Frau Andromache
Krieges zu akzentuieren (Waern 227-228).            sowie seinem Sohn Astyanax avanciert zu einer
Achills Vergleich zwischen Patroklos und ei-        berühmten Abschiedsszene, in der die Bedeu-
nem weinenden Mädchen zielt nicht auf eine          tung der Polis und der Familie explizit betont
Diffamierung des Patroklos, sondern drückt das      wird. Damit wird nicht eine antizipatorische
Mitgefühl des Achill gegenüber seinem Freund        Spannung in Bezug auf den Tod des Protagonis-
aus (Föllinger 183; Monsacré 82, Anm. 219; Van      ten aufgebaut, sondern eine emotionsgeladene
Wees/Fisher 14). Der Vergleich setzt eine Intimi-   Rahmenhandlung zwischen den grausamen
tät zwischen beiden Protagonisten voraus und        Schlachtbeschreibungen geschaffen.19 Hektors
impliziert ein Schutzverhältnis. Achill übernimmt   Gattin Andromache bekundet ihren Abschieds-
die Rolle der mitleidenden Mutter. Das Weinen       schmerz mit Tränen, welche hier den Tod des
des Mädchens postuliert einen gewissen An-          Helden antizipieren.20 In einer Rede illustriert
spruch an die Mutter, in den Arm genommen zu        sie ihre Angst vor einem Verlust und bittet ihren
werden. Auch Patroklos’ Tränen stellen einen        Gatten verzweifelt, die Familie nicht zu verlas-
Anspruch an Achill. In ähnlicher Weise wie die      sen. Andromaches Wunsch nach dem Erhalt der
Mutter die Trauer ihres Kindes durch die Erfül-     Familie steht in Diskrepanz zu den Erwartungen
lung seiner Forderungen kalmieren kann, hat         eines heroischen Kriegers. Das Einsetzen weib-
Achill die Möglichkeit, seinem Gefährten durch      licher Tränen kann gleichzeitig an das Mitleid
seine Teilnahme an der Schlacht Schutz zu bie-      ihrer Männer appellieren und die Hoffnung auf
ten, da er das Unglück der Griechen mit seinem      eine Umstimmung erhöhen.21 Hektor betont an-
Eingreifen abwenden könnte. Die Stelle erinnert     schließend das Schicksal seiner Familie und ak-
an die oben besprochene Szene des weinenden         zentuiert gleichzeitig seine Pflicht als Verteidiger
Achill bei seiner Mutter Thetis, welche er auch     und Beschützer der Polis. Die heroische Pflicht
um Hilfe bittet. Patroklos weint nicht um das       wird dem friedlichen Familienleben vorgezogen.
kommende Unglück der Griechen, sondern um           Nach dem Abschied zieht sich Andromache in
die vielen Toten und Verwundeten der vergange-      ihr Haus zurück und bekundet ihren Verlust mit
nen Kämpfe, die er vor Achill aufzählt und deren    Tränen:
Anblick er besonders ausgesetzt ist (Hom. II. 16,
20-29). Indem Patroklos die Verwundung der             Schon aber war sie nach Hause geeilt,
besten Kämpfer in den Vordergrund stellt, be-          die Gattin, häufig zurück sich wendend
tont er die Notwendigkeit von Achills Teilnahme        und quellende Tränen vergießend. Bald
am Schlachtgeschehen. Die Tränen implizieren           erreichte sie nun die schöne, prangende
hiermit nicht nur eine innere Verzweiflung des         Wohnung Hektors, des Männermörders,
Helden, sondern appellieren an das Mitgefühl           und traf die Mägde versammelt dort im
des Achill, um diesen zu einer Teilnahme an der        Gemach, und allen erweckte Jammer und
Schlacht zu überreden. Obwohl Achill mit dem           Klage, lebend noch ward Hektor beweint
Gleichnis andeutet, Patroklos’ Forderungen ent-        in seinem Palaste, denn sie glaubten, er
gegenzukommen, entscheidet er sich letztlich           würde nimmer zurück aus dem Kampfe.22
gegen die Teilnahme an der Schlacht und lässt
stattdessen Patroklos mit seiner Rüstung in den     Interessant ist die Durchführung der Trauerklage
Kampf ziehen. Das Gleichnis dient damit der         um den bevorstehenden Tod Hektors. Die kol-
Vorwegnahme des bevorstehenden Todes des            lektive Klage soll nicht zuletzt auf den Tod des
Patroklos. Achill versagt in seiner Mutterrolle,    Helden vorausweisen und die Abschiedsszene
indem er den Tränen seines Freundes nicht ge-       dramaturgisch pointieren.
recht wird. Stattdessen akzentuiert Achill seine    Tränen haben damit nicht nur eine rein schmü-
Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal sei-       ckende und proleptische, sondern auch eine
nes engsten Gefährten. Er gestattet ihm die Teil-   taktische Funktion, welche allerdings gegenüber
nahme am nächsten Kampfzug, der schließlich         den Erwartungen und Verpflichtungen eines Sol-
zum Tod des Patroklos führt.                        daten keine Wirkung zeigen.

helden. heroes. héros.
Justine Diemke

12
     Trauer um die Toten                                  zu Suizidgedanken, sodass ihm Antilochos die
                                                          Hände festhalten muss.24 Die Schmerzens-
                                                          bekundung übersteigt alles Vergleichbare und
     Trauer ist eine individuelle Ausdrucksform einer     wird daher in der Forschung auf ein homosexuel-
     Verlusterfahrung. Nach Freud (200) muss sich         les Verhältnis zwischen Patroklos und Achill zu-
     der Trauernde zur Überwindung seiner Trauer          rückgeführt, welches jedoch an keiner Stelle im
     das belastende Ereignis wiederholt in Erinne-        Epos angedeutet wird.25 Jonathan Shay betont
     rung rufen. Schafft es der Betroffene nicht, das     die besonderen Kriegsumstände, welche durch
     Ereignis zu verarbeiten, wird die Trauer patho-      eine enge Beziehung im Kampfeinsatz und den
     logisch und mündet in Melancholie. Um dies zu        Zusammenhalt zu einem intimen Verhältnis bei-
     vermeiden, wurden Trauerrituale in den Trauer-       der Protagonisten geführt hätten. Horn konsta-
     prozess eingebunden. Trauer ist hierbei nicht im-    tiert ein institutionalisiertes Basileus-Terapon-
     mer ein Produkt persönlicher Gefühle oder eines      Verhältnis zwischen beiden Protagonisten, womit
     empfundenen Schmerzes, sondern impliziert die        Achill zum Schutz seines Gefährten verpflichtet
     pflichtbewusste Erfüllung von rituellen Handlun-     sei (Horn 185). Choitz betont Patroklos’ Rolle als
     gen. Assmann (17) zufolge evozieren die Trauer-      Nachfolger von Achills Oikos sowie als Vormund
     riten einen kulturell bedingten Heilungsprozess.     für seinen Sohn Neoptolemos (108-109). Darü-
     Das Weinen ist für den Trauerprozess sympto-         ber hinaus kann Achills seelische Erschütterung
     matisch. Meuli (353-385) spricht von einem von       auf ein empfundenes Familienverhältnis beider
     der „Sitte gebotenen Pflichtweinen“, welches in      Protagonisten zurückgeführt werden (Horn 185;
     vielen Fällen affektiv generiert und übersteigert    Shay 40-43; Latacz, Mythos Troia 131). Die ex-
     praktiziert wird. Die Teilnahme an Trauerritualen    zessive Trauer des Achill ist für einen Krieger,
     demonstriert den Wunsch zur Wiederherstellung        der seinen engsten Gefährten verloren hat,
     einer durch den Tod erodierten Ordnung. Ri-          kein außergewöhnliches Verhalten (Shay 114;
     tuale verlangen Tränen, die auch ein Ventil für      Hölscher 39; West 326). Er leidet unter Schlaf-
     andere Lasten werden können. Das Ritual wird         entzug, fastet und entzieht sich dem sexuellen
     damit zum Zufluchtsort, an dem alle Sorgen ent-      Vergnügen (Grethlein 122). Während die restli-
     lastet werden können. So müssen die Tränen           chen Protagonisten ihre Trauer über Patroklos’
     nicht unbedingt nur dem Verstorbenen gelten,         Tod in spontanen Situationen sowie im Rah-
     sondern können auch andere Ursachen haben.           men der Totenklage kundgeben, trauert Achill
     Oftmals werden für eine Totenprozession Klage-       auch während der Kampfhandlung um seinen
     weiber eingesetzt, um während der Prozession         Freund (Anastassiou 11-12). Doch auch für das
     exzessive Trauer zu evozieren. Die Tränen er-        exzessive Trauern gelten im Kriegszustand an-
     halten einen besonderen Stellenwert, indem sie       dere Regeln als im Friedensfall. Als der Held ge-
     gegenüber dem Verstorbenen Würde und Ehre            schwächt in den Kampf ziehen möchte, wird er
     betonen. Daher kann Achill keine Ruhe finden,        von Odysseus auf sein nonkonformes Verhalten
     solange Patroklos ohne Bestattung und Toten-         hingewiesen:
     klage bei den Schiffen liegt (Hom. II. 22, 379).
     Der Tod ist ein wesentlicher Bestandteil der Ilias      […] denn allzu viele fallen schnell aufei-
     und findet mehr Beachtung als der Krieg per se          nander den ganzen Tag, wann könnte da
     (Griffin 85-102; Horn 136). Der heroische Ver-          einer vom Kummer sich erholen? Nein,
     haltenskodex zieht den Tod auf dem Schlacht-            wir sollen den Toten bestatten, sobald er
     feld dem ewigen Leben vor und stellt das hohe           gestorben. Fest, mit gelassenen Herzen
     Alter als mühevoll und eine Last dar (Hom. II. 5,       und einen Tag beweinen, und all die, wel-
     153; 8, 103; 18, 434; 23, 644; 23, 623).                che vom verhassten Krieg übrigbleiben,
         Achills zahlreiche Tränenausbrüche gel-             müssen der Speis und des Tranks geden-
     ten ab dem 18. Gesang allein dem Tod sei-               ken, damit wir noch stärker mit feindlichen
     nes Gefährten Patroklos, der den Höhepunkt              Männern kämpfen immerfort.26
     der gesamten Ilias bildet. Die Todesnachricht
     wird ihm von Antilochos, mit dem er eine enge        Obwohl in Kriegszeiten gewöhnlich wenig Raum
     Freundschaft pflegt, überbracht. Tränen kön-         für die ordentliche Bestattung der Kriegstoten
     nen angesichts von Achills übermenschlichem          bleibt, wird hier jedem Toten nicht nur eine Be-
     Schmerz und seiner Erschütterung der über-           stattung, sondern gleichzeitig eine Trauerklage
     brachten Nachricht nicht mehr gerecht werden.23      gewährt. Allerdings müssen die Kampfhand-
     Um der Intensität seines Schmerzes Ausdruck          lungen zeitnah wiederaufgenommen werden,
     zu verleihen, reagiert Achill auf den Tod seines     weshalb die Trauerzeit einen Tag nicht über-
     Freundes mit Klagegesten und rauft sich die          schreiten soll. Odysseus problematisiert damit
     Haare. Der unerträgliche Schmerz steigert sich       das persistente Trauerverhalten der Soldaten,

                                                                                       helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias

                                                                                                           13
welches ihre Leistungsfähigkeit reduziert. Eine       Tränen Ausdruck zu verleihen. Als die Pferde
prolongierte Trauer muss nicht immer durch Trä-       von dem Tod ihres Besitzers erfahren, weinen
nen bekundet werden, sondern kann sich wie            sie über den Verlust und aus Sehnsucht nach
im Falle des Achill durch Nahrungsdeprivation         Patroklos. Antilochos versetzt die Nachricht vom
äußern. Das heißt nicht, dass Achill zu keinen        Tod des Patroklos in Sprachlosigkeit:
Tränen mehr fähig ist. Seine Trauer über Patro-
klos hält bis zum letzten Buch an und wird durch         Und Antilochos entsetzte sich, als er die
die Nähe zum Toten wie beim Anblick der Leiche           Rede hörte, und Sprachlosigkeit, wortlo-
oder durch Erinnerungen immer wieder evoziert:           se, ergriff ihn lange, und die Augen füllten
                                                         sich ihm mit Tränen […] und ihn, den Trä-
   Indessen Achill weinte, seines Gefähr-                nen vergießenden, trugen die Füße aus
   ten gedenkend, noch unberührt von des                 dem Kampf, um dem Peleus-Sohn Achill
   Schlummers allbezwingter Macht, er                    das schlimme Wort zu melden.29
   wälzte sich hierhin und dorthin, immer
   sich sehnend nach Patroklos’ Kraft und             Obwohl Antilochos mit Patroklos weder ver-
   adliger Mannheit, und in Gedanken, wie-            wandt ist noch, wie Achill, in einem engeren
   viel sie gemeinsam erlebt und erduldet             Verhältnis steht, ist er durch die Nachricht kon-
   […] dessen eingedenk vergoss er reich-             sterniert. Antilochos befindet sich mitten auf dem
   liche Tränen.27                                    Schlachtfeld, als er von Menelaos von Patroklos’
                                                      Tod erfährt. Dabei unterbindet er seine Trauer-
Die häufige Reminiszenz an seinen Gefährten           bekundung nicht, sondern lässt seinen Tränen
löst bei dem Protagonisten ἄλγεα aus und führt        freien Lauf. Die Stelle ist ein weiterer Beleg da-
zu einer besonders starken emotionalen Reak-          für, dass die Soldaten ihre Tränen während der
tion. Seine Trauer wird nicht nur durch Tränen,       Kampfhandlungen nicht zurückhalten mussten.
sondern durch exzessive Körpergesten, wie das             In ähnlicher Weise wie die Helden trauert die
Herumwälzen auf dem Boden, bekundet. Um               gefangene Briseis, als sie mit dem Tod des Pa-
das innere Leid zu lindern, wendet er sich wieder     troklos konfrontiert wird (Hom. II. 19, 287-300).
an Thetis. Vor seiner Mutter offenbart er seine in-   Ihre Tränen sind keine Reaktion auf die Todes-
nerste Verzweiflung. Er bereut nicht nur, auf die     nachricht, sondern werden durch die Konfronta-
Welt gekommen zu sein, sondern äußert seinen          tion mit dem entstellten Leichnam des Patroklos
Wunsch zu sterben. Aus der Klage spricht ein          bedingt, während ihre Klage von lautem Klage-
Schuldgefühl des Achill, seinen Gefährten nicht       geschrei zu Tränen übergeht. Due begründet
beschützt zu haben. Die Begegnung mit ihrem           Briseis’ Trauer gegenüber Patroklos’ Tod als
Sohn rührt die Meeresnymphe erneut zu Tränen.         normale Reaktion auf einen familiären Verlust,
Diese gelten nicht dem Verlust des Patroklos,         da sie Patroklos zu einem gewissen Grad als
sondern antizipieren das bevorstehende Schick-        Vaterfigur beklagt.30 Mit der Trauerklage ver-
sal ihres Sohnes. Anschließend bittet sie He-         sucht Briseis ihre Stellung in der griechischen
phaistos unter Tränen, für ihren Sohn Waffen zu       Gemeinschaft zu legitimieren, indem sie ihre
schmieden. Dass Tränen im Rahmen eines Bitt-          Trauer nicht nur durch Tränen, sondern, wie es
gestus wirkungsvoll eingesetzt werden, konnte         die Tradition verlangt, forciert durch Klagegesten
bereits gezeigt werden. Tränen haben in diesem        zum Ausdruck bringt. Nach Petersmann (8) ist
Zusammenhang die Funktion, die Entscheidung           Briseis’ Trauer auf das enge Verhältnis zu Patro-
des Gottes positiv zu beeinflussen. Kurz vor der      klos zurückzuführen. Da Briseis in dem Moment
Übergabe der geschmiedeten Waffen wirft sich          allerding ihre schmerzvolle Vergangenheit proji-
Achill über die Leiche des Patroklos und fängt        ziert, müssen ihre Tränen als Ausdruck ihres ei-
an zu weinen (Hom. Il. 19, 4-6). Erst der Anblick     genen Leids verstanden werden. Die Trauer von
der von Hephaistos geschmiedeten Waffen kann          Achill und Briseis korreliert ab einem gewissen
den Helden zum Handeln bewegen, indem Ge-             Punkt, da sie auf den Anblick des toten Gefähr-
fühle der Aggression und Rachelust überhand-          ten in gleicher Weise mit Geschrei und Tränen
nehmen.28 Der Verlust seines Gefährten wird           reagieren.31 Auch die Klage wird komplementär
zum entscheidenden Motivationsfaktor seiner           zum Ausdruck gegeben, indem sie ihre zerstör-
Racheaktion gegen Hektor. Ein Großteil des            ten Hoffnungen auf eine familiäre Verbundenheit
Kriegsepos widmet sich im Folgenden Achills           akzentuieren.32 Im Unterschied zu der Toten-
Sühnung von Patroklos’ Tod.                           klage der Briseis kann Achill seine Trauer über
    Nicht nur Achill, auch zahlreiche andere          Patroklos emotional übersteigern. Nach Loh-
Protagonisten wohnen der Klage über den Tod           mann (20) stehen die beiden Klagen in bewuss-
des Patroklos unter Tränen bei. Plötzlich erhal-      ter Wechselwirkung, um Achills Trauer über die
ten auch Tiere die Fähigkeit, ihrer Trauer durch      der Briseis emporzuheben, da für Achill der Tod

helden. heroes. héros.
Justine Diemke

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     seines Gefährten das größte Unglück darstellt.           jammerte drüben, Tränen vergießend […]
     Damit lässt sich eine geschlechterspezifische            so sprachen die beiden weinend zu ihrem
     Darstellung der Trauer, wie sie Monsacré postu-          Sohn.34
     liert, abstreiten.
          Neu ist die Beschreibung der Tränen des          Während sich Priamos die Haare rauft, entblößt
     Antilochos und des Achill als δάκρυα θερμὰ            die Mutter vor ihrem Sohn die Brust (Hom. Il. 22,
     (Hom. Il. 18, 234-235; Hom. Il. 18, 16-17). Die       77-90). Das Entblößungsmotiv soll nicht nur ihre
     Idee der Wärme, die mit dem Wachstum und der          Mutterschaft symbolisieren, sondern das enge
     Fruchtbarkeit verbunden ist, steht in Relation zu     Mutter-Kind-Verhältnis hervorheben.35 Hektor soll
     der biologischen Vorstellung von Tränen in den        daran erinnert werden, wie viel Mühe seine Erzie-
     späteren Schriften des Aristoteles (Aristot. probl.   hung mit sich brachte. Beide Elternteile versuchen
     959b20-30). Die Wärme der Tränen ist nicht nur        auf das Handeln ihres Sohnes Einfluss zu nehmen,
     Ausdruck ihrer Vitalität, sondern scheint dem         doch lässt sich Hektor nicht von seinem Vorhaben
     Leid der Protagonisten eine besondere Qualität        abbringen. Der gleiche Handlungsstrang ist auf
     zu verleihen (Monsacré). Auch während der Lei-        der Seite der Griechen zu erkennen. Ähnlich wie
     chenbergung vergießen die Argeier heiße Trä-          Hekabe beweint Thetis den bevorstehenden Tod
     nen. Die Leichenbergung während der verein-           ihres Sohnes (Hom. Il. 18, 428; Hom. Il. 1, 413-
     barten Waffenruhe bleibt ein fester Bestandteil       416; Hom. Il. 18, 94). Im letzten Buch erreicht die
     des Kriegsgeschehens (Shay 99). Die Leichen           Schmerzbekundung über den Tod der Gefallenen
     werden nicht nur vom Schlachtfeld gebracht,           ihren Höhepunkt, als nicht nur die Griechen ihren
     sondern gewaschen und gepflegt. Die Möglich-          Helden beweinen, sondern die Trojaner um den
     keit, seine Gefährten nochmals zu sehen und sie       Verlust ihres Helden Hektor in die affektive Toten-
     zu ehren, verringert nach Shay (106) ein Trau-        klage einstimmen. Die emotionale Erschütte-
     ma bei den Hinterbliebenen. Die gemeinsame            rung des Priamos erreicht im Vergleich zu Achills
     Trauer der Soldaten begünstigt den Zusammen-          Trauerbekundung eine neue Intensität: Als er
     halt zwischen den Gefährten,33 der, anders als        vom Tod seines Sohnes erfährt, wälzt er sich in
     heute, keine Anonymität kannte. Es ist evident,       Kot. Sein Leid wird in erster Linie nicht nur ver-
     dass der zur Verfügung stehende Freiraum für          bal, sondern auch durch exzessive Gesten und
     den Abschied eine wichtige Komponente bildet,         Klagen geäußert. Für den Schmerz über Hektors
     doch muss das enge Verhältnis zwischen den            Tod verwendet der Dichter den Ausdruck ἄχος
     Soldaten auf den Erfolg des Trauerprozesses           ὀξὺ (Hom. II. 22, 225), während der Tod der an-
     kontraproduktiv gewirkt haben. Mit dem Ziel, die      deren Söhne nur mit ἄχνυμαι charakterisiert wird
     Bedeutung des Trauerprozesses für die Menta-          (Anastassiou 19). Die Trauerklage kann hier dem
     lität der Soldaten zu ergründen, vergleicht Shay      Schmerz über den Tod Hektors nicht mehr ge-
     (96-97) den Trauerprozess im Vietnamkrieg mit         recht werden und löst bei Priamos den Wunsch
     dem in der Ilias. Er bemerkt, dass die mangeln-       aus, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sowohl
     de Trauerarbeit in Vietnam – wo männliche Trä-        der Tod Hektors als auch der Patroklos’ wird in
     nen mit Gefahr und Schwäche assoziiert wurden         dem Moment, als die Todesnachricht eintrifft, be-
     – die Hauptursache für die psychischen Erkran-        weint, sowie im Rahmen der Trauerklage, in der
     kungen der Veteranen darstellt (ebd. 108-109).        Tränen als religiöse Verpflichtung fungieren. In
     In der Ilias impliziert die offene Zurschaustellung   beiden Fällen avanciert die Trauerbekundung zur
     von Tränen keine Verweichlichung der Protago-         Massentrauer:
     nisten. Dort wird den Soldaten die Bestattung
     und Trauerklage für jeden Toten gestattet. Hier-         Also sprach er, da klagten sie alle, geführt
     bei lässt Shay allerdings die Kritik des Odysseus        von Achill. Dreimal lenkten sie rings um
     außer Acht, der die Auswirkungen einer anhal-            den Toten die mähnigen Rosse, weinend,
     tenden Trauer auf die Kampfleistung der Solda-           und Thetis erregte der Klage Sehnsucht ih-
     ten problematisiert, welche aus diesem Grund in          nen, feucht wurde der Sand und feucht die
     späterer Zeit reglementiert werden muss.                 Waffen der Männer von Tränen.36
          Bevor Hektor in seine letzte Schlacht zieht,
     wird der Tod von seinen Eltern durch eine Trauer-     Die Tränen gelten nicht nur Patroklos und Hek-
     klage präfiguriert. Der Schmerz wird in unter-        tor allein, sondern jedem, den sie zu Hause zu-
     schiedlicher Weise geäußert:                          rückgelassen haben (Hom. II. 19, 338-339). Die
                                                           Totenklage führt zu einem kollektiven Erinne-
        […] so sprach der Greis und raufte die             rungsprozess, worin Tränen illustrativ eingesetzt
        grauen Haare mit den Händen und riss sie           werden. Es mag zunächst überraschen, dass
        sich vom Kopf, doch dem Hektor beredete            die männlichen Protagonisten häufiger über den
        er nicht den Mut. Die Mutter aber wieder           Tod ihrer Gefährten weinen als die Ehefrauen

                                                                                         helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias

                                                                                                             15
und Mütter.37 Andromache beweint den Tod ihres            [Priamos] weinte häufig, zusammenge-
Ehegatten an zwei Stellen: beim Anblick des ent-          kauert vor den Füßen des Achill, aber
stellten Leichnams (Hom. Il. 6, 405) – ein Motiv          Achill weinte um seinen Vater, und ein
der Nähe, welches bereits oben konstatiert wur-           andermal wieder um Patroklos, und ein
de – sowie während der Totenklage (Hom. Il. 22,           Stöhnen erhob sich von ihnen durch das
515). Der Trauer seiner Mutter Hekabe wird nur            Haus.40
beim Empfang der Todesnachricht und während
der Totenklage Ausdruck verliehen (Hom. Il. 22,        Für einen kurzen Moment kommt es zu einer en-
437), während Priamos’ Leid durch wiederkeh-           gen Verbundenheit der Feinde, die den Protago-
rende Tränenausbrüche hervorgehoben wird.              nisten das gemeinsame Trauern und die einzige
Die Trauer der Frauen wird in den meisten Fällen       erfolgreiche Hikesie ermöglicht. Beide teilen das
nicht individuell, sondern kollektiv geäußert. Die     gleiche Schicksal: den grausamen Tod eines
Tränen von Helena, Andromache und Hekabe               geliebten Menschen. Während der gegenseiti-
sind Bestandteil der Trauerklage. Das geringere        gen Anteilnahme ihres Leids hat der Hass kei-
Vorkommen von weinenden Frauen ist nicht nur           ne Bedeutung mehr. Für einen kurzen Moment
auf die Unterrepräsentation von weiblichen Cha-        sind die Grenzen der Feindschaft durchbrochen,
rakteren zurückzuführen, sondern auch auf ihren        woraufhin der Konsens mit einem gemeinsamen
geringen Redeanteil in der Ilias. Selbst Astyanax,     Mahl besiegelt wird. Die bloße Parallelität ihrer
dem als Kleinkind das Urteilsvermögen noch ver-        Schicksale mildert den Schmerz beider Protago-
wehrt ist, reagiert auf den Tod seines Vaters mit      nisten und evoziert weitere Erinnerungen an das
Tränen: δεδάκρυνται δὲ παρειαί (Hom. Il. 22, 491;      eigene Leid. So befällt Achill plötzlich das Ver-
499-500).                                              langen, seinen Vater zu beweinen: πατρὸς ὑφ᾽
    In der emotionalsten Szene der gesamten Ilias      ἵμερον ὦρσε γόοιο (Hom. Il. 24, 510-512). Der
– dem Gespräch zwischen Achill und Priamos –           Anblick des Priamos erinnert Achill an seinen ei-
ermöglichen Tränen eine räumliche und konflikt-        genen Vater Peleus, der seinen Sohn auch nicht
freie Nähe zwischen beiden Kontrahenten. Um            mehr wiedersehen wird.41 Priamos schafft es,
eine Rückgabe des Leichnams seines Sohnes zu           Achill von der Rückgabe des Leichnams zu über-
realisieren, bleibt Priamos nichts anderes übrig,      zeugen, und bringt die Leiche vor das Haus, um
als Achill mittels einer materiellen Rekompensa-       die Menge zur Klage aufzufordern. Die Menge
tion um die Freigabe des Leichnams zu bitten.          soll ausgiebig weinen, bevor die Leiche wegge-
Gegen den Willen seiner Familie und Gefährten          bracht wird (Hom. Il. 24, 713-717). Die Klage-
fasst Priamos den Entschluss, das Lager des            rede für den Verstorbenen, welche von Tränen
Feindes zu betreten, um die Rückgabe der Lei-          begleitet wird, übernehmen Andromache, Heka-
che zu erbitten. Priamos agiert als Supplikant und     be und Helena.42 Die Trauerklage, die für beide
ist bereit, sich vor dem Feind zu erniedrigen (Horn    Toten öffentlich zelebriert wird, dient der Kathar-
229). Wie gefährlich dieses Unterfangen für Pria-      sis und Ehrerweisung für die Toten. Dabei wird
mos ist, wird von seinen Gefährten hervorgeho-         nicht die Bedeutung der Toten für Troja hervor-
ben. Die zahlreichen Tränen, die er bereits über       gehoben, sondern das Schicksal der Frauen
den Tod seines Sohnes vergossen hat, haben             thematisiert. Dass die Durchführung der Trauer-
ihm noch keine Linderung verschafft:                   klage eine große gesellschaftliche Relevanz hat,
                                                       wird daran deutlich, dass die Kampfhandlungen
   Hektor! Dass er doch gestorben wäre in              für die Bestattung und das Beweinen der Toten
   meinen Armen! So hätten wir beide uns ge-           unterbrochen werden. Ihre Trauer wird gleichzei-
   sättigt an Weinen und Klagen, die Mutter,           tig zum Vorwand, um eine emotionale Erregung,
   die ihn gebar, die Unglückselige, wie auch          die auf das persönliche Schicksal bezogen ist,
   ich selber. So sprach er weinend […].38             zu externalisieren.
                                                           Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
Die Befreiung von seinem Schmerz kann erst             Tränen im Trauerkontext in der Ilias eine übliche
durch die Inbesitznahme des Leichnams und da-          und von der Gesellschaft geforderte Reaktion
mit der Durchführung der Totenklage erfolgen.          darstellen. Die Trauerklage beschränkt sich auf
Die Anteilnahme, mit der Achill seinem Bittflehen      den Tod zweier bedeutender und hochrangi-
begegnet, wurde in der Forschung immer wieder          ger Heerführer, was die Dimension der Trauer
thematisiert.39 Auch für Achill stellt die Begegnung   verständlicher macht. Der Umfang der Trauer-
eine persönliche Überwindung dar und führt ihm         prozession akzentuiert nicht nur deren Loyalität,
die Erinnerungen an den Tod des Patroklos und          sondern wird zum Ausdruck ihrer symbolischen
seines Vaters erneut vor Augen. Es folgt ein pa-       Macht.
thetischer Moment, welcher der Szene eine inti-
me Pointe verleiht:

helden. heroes. héros.
Justine Diemke

16
     Hikesie                                              persönlicher Rache (Zanker 48-59). Im Falle der
                                                          beiden Brüder Peisandros und Hippolochos liegt
                                                          der individuelle Wert ihrer Ermordung höher als
     Eine weitere Funktion von Tränen lässt sich          der ihrer Schonung. Da ihr Vater Antimachos für
     in Hikesie-Szenen erkennen. In der Ilias wird        den Tod des Odysseus und Menelaos plädiert hat,
     Angst direkt vor dem Feind gezeigt, besonders        müssen seine beiden Söhne nun einem Rache-
     in Augenblicken, in dem sich die Person in Le-       akt zum Opfer fallen. Der Drang nach einer Wie-
     bensgefahr befindet und Gnade erbittet. Das          derherstellung der verletzten Ehre erhält in den
     Hikesie-Verhalten ist in der Ilias unheroisch und    Epen größeres Gewicht als die Bereicherung
     lässt sich nur bei den Trojanern beobachten. In      durch materielle Güter. Damit evoziert der Ein-
     der Ilias kommt es in zwei Fällen zur Gefangen-      satz von rhetorischen Mitteln und emotionalen
     nahme von Feinden, welche in ähnlicher Weise         Gesten in solchen Fällen beim Gegner kein Mit-
     gegenüber dem Feind mit Bittflehen reagieren.        leid.
     Hierbei erfolgt eine Selbsterniedrigung des Sup-
     plikanten, die sich in der Anerkennung der Über-
     legenheit des Gegenübers äußert (Horn 106).
     Dolon, der im Lager der Achaier als Spion ge-
                                                          Fazit
     fangen genommen wird, bittet unter Tränen um
     seine Freilassung (Hom. II. 10, 454-455). Da es      Die historische Interpretation der Epen auf
     sich beim Bittsteller um einen Kontrahenten han-     Grundlage einer neuen Methode, dem emotions-
     delt, dürfen die Tränen kein Mitgefühl beim Hel-     geschichtlichen Zugang, konnte zu einem neuen
     den erzeugen (Kim 57). Zur Hikesie gehört au-        Kenntnisgewinn der Epen beitragen. Tränen
     ßerdem eine Gegenleistung des Bittstellers, wie      dienen nicht nur der dramaturgischen Aus-
     etwa eine materielle Rekompensation in Form          schmückung der Epen, sondern bilden reale
     von Lösegeld. Obwohl Odysseus ihm Schonung           Handlungsmuster ab. Im Epos sind Tränen nicht
     in Aussicht gestellt hat, wird Dolon im troischen    geschlechtsspezifisch und postulieren standar-
     Lager getötet.                                       disierte Reaktionsmuster, die in keiner Diskre-
         Die Brüder Peisandros und Hippolochos, die       panz zu den gesellschaftlichen Normen stehen.
     ebenfalls gefangengenommen wurden, versu-            Die Tränen von Männern sind kein Zeichen von
     chen, dem Feind die Vorteile einer Freilassung       Schwäche und tun dem Heldentum keinen Ab-
     zu demonstrieren. Doch die versprochenen             bruch. In der Ilias weinen die Protagonisten,
     Reichtümer reichen nicht aus, um sich aus der        wenn ihnen das Wichtigste genommen wird: die
     Gefangenschaft freizukaufen:                         Ehre und der Ruhm. Darüber hinaus signalisie-
                                                          ren Tränen Angst und Verzweiflung während der
        Fange uns lebend, Atreus-Sohn! Und                Kampfhandlungen. In den meisten Fällen sind
        nimm angemessene Lösung! Viele Kost-              Tränen in das Ritual der Trauerklage eingebun-
        barkeiten liegen in des Antimachos Häu-           den und fungieren als religiöse Pflicht gegenüber
        sern, Erz und Gold und vielbearbeitetes           dem Verstorbenen. Darüber hinaus erfüllen Trä-
        Eisen: Davon wird dir gern der Vater uner-        nen eine proleptische Funktion, indem sie den
        messliche Lösung geben […] so sprachen            Tod der Helden präfigurieren. Im Trauerkontext
        die beiden weinend zu dem König.43                lässt sich ein geschlechtsbedingter Unterschied
                                                          (Monsacré) des emotionalen Ausdruckes kaum
     Mit ihren Tränen appellieren sie an das Mitge-       konstatieren. In den Totenfeiern wird neben den
     fühl ihres Gegners, um eine Freilassung zu er-       Klagesängerinnen der Threnos auch auf die
     wirken.44 In ähnlicher Weise bittet Priamos Achill   Männer übertragen. Der Klagegesang wird von
     unter Tränen um die Rückgabe des Leichnams           den Ehefrauen und Müttern praktiziert, wobei er
     seines Sohnes. Die Tränen von Peisandros und         in der Ilias nur im letzten Buch reflektiert wird.
     Hippolochos erreichen nicht die gewünschte               Während die Tränen in der Ilias zum Heroen-
     Wirkung, Agamemnon lehnt die Supplikation ab.        tum dazugehören, werden sie in der Tragödie für
     Die Folge ist die Ermordung beider Söhne des         den Ruhm des Helden als gefährlich eingestuft.
     Antimachos durch Agamemnon. Da die verspro-          Männer, die trotzdem weinen, werden verspottet
     chenen Gegenstände des Bittstellers für den          und als Frauen degradiert.45 Die Reglementie-
     Helden einen Ehrgewinn und eine materielle Be-       rung von Tränen beschränkt sich – ähnlich wie in
     reicherung bringen können, liegt der Erfolg einer    der Odyssee – auf den Trauerkontext. Anders als
     Hikesie durchaus im Bereich des Möglichen. So        im Falle der Penelope ist auch den Frauen das
     verschont Achill die Söhne des Priamos Anti-         anhaltende Trauern nicht mehr gestattet.46 Die-
     phos und Isos. Ein abgelehntes Gesuch steht          se Pflicht zur Emotionskontrolle findet sich be-
     hingegen in einem kausalen Zusammenhang mit          reits in der Odyssee, worin der Held permanent

                                                                                       helden. heroes. héros.
Weinende Helden in der Ilias

                                                                                                                                    17
in Tränen ausbricht. Die fatalen Auswirkungen                       8 Hom. Il. 1, 356-361: ἠτίμησεν: ἑλὼν γὰρ ἔχει γέρας αὐτὸς
                                                                    ἀπούρας ὣς φάτο δάκρυ χέων.
des Krieges werden durch Tränen manifestiert
und verlangen eine strengere Reglementierung                        9 So ist die Frau nur ein Vorwand, die Schmähung durch
                                                                    Agamemnon der Grund für die Tränen, siehe Monsacré 139-
in bestimmten Situationen wie etwa an Festta-
                                                                    140; Arnould 53.
gen oder nach dem Nachtmahl. Doch nicht nur
                                                                    10 Zum Begriff: Horn 99.
Tränen, auch andere Emotionen müssen in der
Odyssee zurückgehalten werden. Während der                          11 Hom. Il. 1, 348-350: αὐτὰρ Ἀχιλλεὺς δακρύσας ἑτάρων
                                                                    ἄφαρ ἕζετο νόσφι λιασθείς, θῖν᾽ ἔφ᾽ ἁλὸς πολιῆς, ὁρόων ἐπ᾽
Zorn in der Ilias den Grundstrang der Handlung                      ἀπείρονα πόντον.
bildet, wird er in der Odyssee stark abgewertet.
                                                                    12 Hom. Il. 9, 13-14: ἂν δ᾽ Ἀγαμέμνων ἵστατο δάκρυ χέων
Die emotionale Selbstkontrolle korreliert mit der                   ὥς τε κρήνη μελάνυδρος ἥ τε κατ᾽ αἰγίλιπος πέτρης δνοφερὸν
zunehmenden Institutionalisierung der Gesell-                       χέει ὕδωρ.
schaft, welche auf die Kanalisierung von Emo-                       13 Die Thersites-Szene wurde in der Forschung mehrfach
tionen und die Kontrolle von Gewalt zielt. Eine                     diskutiert. Olshausen (132) sieht das Auflehnen des Thersi-
ausführliche Untersuchung zu Tränen in der                          tes als Umsturzversuch. Hellmann spricht von gewöhnlichen
                                                                    Zuständen, welche auf allgemeine Zustimmung stoßen. Da-
Tragödie und ein Vergleich mit den Epen wäre
                                                                    mit, dass Thersites’ Verhalten zu einem Zusammensturz der
damit ein reizvoller Ansatz für eine Studie.                        sozialen Ordnung führen kann, rechtfertigt Odysseus sein
                                                                    Verhalten, siehe Schmidt; Lincoln; Seibel. Für Geschnitzer,
Justine Diemke ist wissenschaftliche Mitar-                         Scott (25-27) und Nicolai (100) ist die Szene unproblema-
beiterin am Arbeitsbereich Alte Geschichte der                      tisch, da sie das Unrecht des Thersites bereits durch sein
Universität Hamburg. In ihrer Dissertation be-                      Äußeres betont sehen. Sagan (38) sieht Thersites als Kari-
                                                                    katur des Helden.
schäftigt sie sich mit der Darstellung und Be-
wertung von depressiven Erkrankungen in der                         14 Hom. Il. 2, 265-270: ὣς ἄρ᾽ ἔφη, σκήπτρῳ δὲ μετάφρενον
                                                                    ἠδὲ καὶ ὤμω πλῆξεν: ὃ δ᾽ ἰδνώθη, θαλερὸν δέ οἱ ἔκπεσε
griechischen und römischen Literatur.                               δάκρυ: σμῶδιξ δ᾽ αἱματόεσσα μεταφρένου ἐξυπανέστη
                                                                    σκήπτρου ὕπο χρυσέου: ὃ δ᾽ ἄρ᾽ ἕζετο τάρβησέν τε, ἀλγήσας
1 Plat. rep. 388a. Nach Platon ist jegliche Art von Emotio-         δ᾽ ἀχρεῖον ἰδὼν ἀπομόρξατο δάκρυ. οἳ δὲ καὶ ἀχνύμενοί περ
nen ein Hindernis für rationales Handeln, weswegen er eine          ἐπ᾽ αὐτῷ ἡδὺ γέλασσαν.
Unterdrückung der Affekte postuliert, siehe Erler 35.
                                                                    15 Hom. Il. 13, 86-88: καί σφιν ἄχος κατὰ θυμὸν ἐγίγνετο
2 Eur. Hel. 947-948; Soph. Ai. 317-322. Das emotional ge-           δερκομένοισι, Τρῶας, τοὶ μέγα τεῖχος ὑπερκατέβησαν ὁμίλῳ.
prägte Verhalten der Helden steht in klarer Diskrepanz zur          τοὺς οἵ γ᾽ εἰσορόωντες ὑπ᾽ ὀφρύσι δάκρυα λεῖβον, οὐ γὰρ
propagierten Selbstkontrolle der klassischen Zeit.                  ἔφαν φεύξεσθαι ὑπ᾽ ἐκ κακοῦ.
3 Zum Begriff des Heldentums, siehe Meyer/von den Hoff              16 Hom. Il. 9, 432-433: ὀψὲ δὲ δὴ μετέειπε γέρων ἱππηλάτα
9-14. So agieren die Helden als Exemplum idealer Verhal-            Φοῖνιξ δάκρυ᾽ ἀναπρήσας: περὶ γὰρ δίε νηυσὶν Ἀχαιῶν.
tensnormen, welche selber aus vergangener Erzählung
                                                                    17 Durchschnittlich kommt auf acht Tote ein Verwundeter,
stammen.
                                                                    siehe Shay 181.
4 Einen ersten Versuch, die Bedeutung von Tränen zu eru-
                                                                    18 Hom. Il. 16, 2-11: Πάτροκλος δ᾽ Ἀχιλῆϊ παρίστατο ποιμένι
ieren, hat Hélène Monsacré in ihrer Monografie Les larmes
                                                                    λαῶν δάκρυα θερμὰ χέων ὥς τε κρήνη μελάνυδρος ἥ τε κατ᾽
d’Achille – héros, femme et souffrance chez Homère für die
                                                                    αἰγίλιπος πέτρης δνοφερὸν χέει ὕδωρ. τὸν δὲ ἰδὼν ᾤκτιρε
Ilias unternommen. Dominique Arnould greift in seiner Mono-
                                                                    ποδάρκης δῖος Ἀχιλλεύς, καί μιν φωνήσας ἔπεα πτερόεντα
grafie Le rire et les larmes dans la littérature grecque die Trä-
                                                                    προσηύδα: τίπτε δεδάκρυσαι Πατρόκλεες, ἠΰτε κούρη νηπίη,
nen der homerischen Helden an einigen Stellen auf, indem
                                                                    ἥ θ᾽ ἅμα μητρὶ θέουσ᾽ ἀνελέσθαι ἀνώγει εἱανοῦ ἁπτομένη,
er die narrative Bedeutung von Tränen in der griechischen
                                                                    καί τ᾽ ἐσσυμένην κατερύκει, δακρυόεσσα δέ μιν ποτιδέρκεται,
Literatur erfasst. Der lange Zeit vernachlässigte Forschungs-
                                                                    ὄφρ᾽ ἀνέληται: τῇ ἴκελος Πάτροκλε τέρεν κατὰ δάκρυον εἴβεις.
bereich wurde von Sabine Föllinger in den 2000er Jahren
wieder aufgenommen. In ihrem Aufsatz „Tears and Crying              19 Der Abschied eines Soldaten von seiner Familie ist ein
in Archaic Greek Poetry“ fasst Föllinger das unterschiedli-         zentrales Thema in der archaischen und frühklassischen Va-
che Vorkommen von Tränen in den homerischen Epen zu-                senmalerei. In diesen Abschiedsszenen von Frau und Ange-
sammen. Für Föllinger sind Tränen gattungsspezifisch, was           hörigen sollen die Wehrbereitschaft sowie die Erwartung der
sie an einem Fragment des Archilochos zu zeigen versucht.           Polis demonstriert werden. Doch anders als in der Literatur
Unter anderem Blickwinkel beschäftigt sich Hans van Wees            wird die Frau hier emotionslos dargestellt, siehe Van Wees,
in seinem Aufsatz „A Brief History Of Tears“ mit Tränen in          Warriors.
der archaischen Zeit, die im Trauerkontext zum Ausdruck
                                                                    20 Hom. Il. 5, 495-496: ἄλοχος δὲ φίλη οἶκον δὲ βεβήκει,
gebracht werden. Van Wees kann sowohl anhand ikonogra-
                                                                    ἐντροπαλιζομένη, θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέουσα.
phischer Darstellungen als auch literarischer Quellen einen
entscheidenden Wandel in der Trauerklage zwischen beiden            21 In Rom wird den Frauen geraten, Tränen einzusetzen,
Geschlechtern konstatieren.                                         um ihre Männer zu erweichen, siehe Ov. am. 1, 8, 83; 1, 7,
                                                                    58.
5 Insgesamt acht Mal: Hom. Il. 1, 348-350; Hom. Il. 1, 356-
361; Hom. Il. 18, 73; Hom. Il. 18, 234-235; Hom. Il. 19, 4-6;       22 Hom. II. 6, 495-502: ἄλοχος δὲ φίλη οἶκον δὲ βεβήκει
Hom. Il. 19, 338; Hom. Il. 24, 4-9; Hom. Il. 24, 510-512.           ἐντροπαλιζομένη, θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέουσα. αἶψα δ᾽
                                                                    ἔπειθ᾽ ἵκανε δόμους εὖ ναιετάοντας Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο,
6 μῆνις wird mit Groll übersetzt. Zu den Definitionen siehe
                                                                    κιχήσατο δ᾽ ἔνδοθι πολλὰς ἀμφιπόλους, τῇσιν δὲ γόον
Adkins; Cairns; Considine.
                                                                    πάσῃσιν ἐνῶρσεν. αἳ μὲν ἔτι ζωὸν γόον Ἕκτορα ᾧ ἐνὶ οἴκῳ:
7 Die Verwendung des Terminus soll an der Stelle nicht              οὐ γάρ μιν ἔτ᾽ ἔφαντο ὑπότροπον ἐκ πολέμοιο ἵξεσθαι.
die göttliche Erscheinung des Protagonisten, sondern die
                                                                    23 Das Motiv der Tränenlosigkeit bei zu großem Schmerz
besondere Nähe zu Zeus zum Ausdruck bringen, siehe La-
                                                                    findet auch Niederschlag in der römischen Literatur, etwa bei
tacz, Homers Ilias 13.
                                                                    Sen. Tro. 409; Cic. Tusc. 3, 63; Lucan. 7, 43.

helden. heroes. héros.
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