KRAFT, DIE ZUKUNFT FÜR SICH IN ANSPRUCH - Wilhelm Löhe Hochschule

Die Seite wird erstellt Selina Sander
 
WEITER LESEN
KRAFT, DIE ZUKUNFT FÜR SICH IN ANSPRUCH - Wilhelm Löhe Hochschule
K R A F T, D I E Z U K U N F T
                                    FÜR SICH IN ANSPRUCH
                                                           NIMMT
                                                                                                                                    1

                                        F Ü R E I N E M U T I G E E N T S C H E I D U N G S K U LT U R I M U M G A N G M I T
                                                     S O Z I A L E T H I S C H E N D I L E M M ATA D E R C O R O N A - K R I S E

                                                              POSITIONSPAPIER AUS DEM ETHIKINSTITUT DER
                                                                WILHELM LÖHE HOCHSCHULE FÜRTH | MAI 2020

                                                                                                            Prof. Elmar Nass,
Foto von Sven Huls von Pexels

                                                                                               Dr. theol., Dr. soc., phil. Habil.
                                                                                                                 Institutsleiter

                                1
KRAFT, DIE ZUKUNFT FÜR SICH IN ANSPRUCH - Wilhelm Löhe Hochschule
INHALT

    1. Eine freiheitlich christliche Stimme		                                                   4

    2. Aktuelle sozialethische Fragen			                                                        5

    3. Kriterien ethischer Akzeptabilität			                                                    6

    4. Herausforderungen und Positionen		                                                      7
    4.1 Triage					                                                                            7
    4.1.1 Begriff					                                                                         7
    4.1.2 Dilemma der Priorisierung                                                            8
    4.1.3 Ethische Positionen zur Entscheidung                                                 9
    4.2 Sozialkultur                                                                          10
    4.2.1 Social Distancing                                                                   10
    4.2.2 Risiken des Egoismus                                                                11
    4.2.3 Internationale Verantwortung                                                        11
    4.3 Leben oder Wirtschaft                                                                 12
    4.3.1 Ökonomisierter Lebenswert				                                                       12
    4.3.2 Ein mathematisches Kalkül				                                                       13
    4.4 Corona-Bonds						                                                                    14
    4.4.1 Pro                                                                                 14
    4.4.2 Contra						                                                                        15

    5. Problemanzeigen und Orientierungen                                                     16
    5.1 Triage                                                                                16
    5.1.1 Priorisierung ohne Diskriminierung                                                  16
    5.1.2 Jenseits des Utilitarismus                                                          17
    5.1.3 Entscheidung und Glauben                                                            18
    5.2 Sozialkultur                                                                          19
    5.2.1 Hoffnungsbilder					                                                                19
    5.2.2 Enteinsamung					                                                                   19
    5.2.3 Tugendbildung                                                                       20
    5.2.4 Internationale Hilfe                                                                20
    5.3 Leben oder Wirtschaft                                                                 21
    5.3.1 Würdeschutz statt Herdenimmunität                                                   21
    5.3.2 Objektivität als Orientierung                                                       22
    5.4 Corona-Bonds                                                                          23
    5.4.1 Richtige Ziele                                                                      23
    5.4.2 Solidität und Solidarität                                                           23
    5.4.3 Marshallplan statt Corona-Bonds                                                     24

    6. Fazit                                                                                   25

    Abkürzungen                                                                               26
    Quellen                                                                                27/28

2                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
KRAFT, DIE ZUKUNFT FÜR SICH IN ANSPRUCH - Wilhelm Löhe Hochschule
GELEITWORT

    Das Coronavirus stellt uns vor große Herausforderungen und verändert Grundeinstel-
    lungen der Menschen. Das Koordinatensystem der Bürger verschiebt sich. Abstand,
    Rettungsschirm und Homeoffice sind nicht nur Schlagwörter geworden.

    Die Herausforderungen werden in unserer Gesellschaft verschieden diskutiert, je
    nach philosophischer Schule oder politischem Engagement. Die Vielfalt der Positio-
    nen ist nicht übersehbar und spürbar bei manchen Entscheidungen.

    Der Leiter des Ethikinstituts der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth, Prof. Dr. Dr. Elmar
    Nass, regt zur wissenschaftlichen Diskussion an, stellt die verschiedenen Positionen
    dar und gibt Orientierungen aufgrund der christlichen Wertebasis. Folgende sozial-
    ethischen Fragen beleuchtet er: Priorisierung bei Ressourcenmangel (Triage), Solida-
    rität auch im europäischen Kontext, Leben oder Wirtschaft retten?

    Großer Dank gebührt dem Autor Elmar Nass, der mit seinen Ausführun-
    gen zum Gespräch ermuntert. Nicht nur Studierende, sondern auch Synoden,
    Bischofskonferenzen, wissenschaftliche Medien und Politiker sind angefragt zur Dis-
    kussion.

    Ich wünsche gute Resonanz und „Bleiben Sie gesund“.

    Rektor em.
    Prof. Dr. h.c. Hermann Schoenauer, Pfarrer

3                      „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
1. EINE FREIHEITLICH
                         CHRISTLICHE STIMME
Sozialethische Wertediskussionen über die Maßnahmen              Die Entscheidungen in den wichtigen sozialethischen Di-
zur Bewältigung der Corona-Krise stehen noch am An-              lemmata der Corona-Krise sollten nicht einfach den ver-
fang. Wir vermissen hier eine hörbare Position, die eine         meintlichen Experten, Politikern o.a. überlassen werden.
wirtschaftlich vernünftige und christliche Perspektive           Unsere gemeinsame mündige Urteilsbildung ist in einer
miteinander vereint. Diese Lücke wollen wir schlie-ßen.          lebendigen demokratischen Streitkultur gefragt und not-
Der dafür hier vorgelegte Kompass bietet:                        wendig (Frick 2017). Wir richten uns mit diesem Positi-
» die Identifizierung zentraler ethischer Fragen,                onspapier so nicht allein an Verantwortungsträger in Po-
» transparente Kriterien ethischer Bewertung,                    litik, Gesundheitswesen, Kirchen, Kultur, Wirtschaft und
» die Würdigung und Diskussion von maßgeblichen Posi-            Wissenschaft, sondern ausdrücklich auch an die breite
    tionierungen,                                                Öffentlichkeit. Damit folgen wir der Aufforderung des
» Problemanzeigen und / oder Orientierungsvorschläge.            Deutschen Ethikrates (2020), begründungsstark, werte-
Wir sehen in der Diskussion zahlreiche Bewertungen,              transparent und kontrovers um eine solche Orientierung
die sich etwa aus einer ökonomischen, kantischen, uti-           zu ringen. Wir wollen einer – dem Geist unseres Instituts
litaristischen, sozialistischen, diskursethischen o.a. Wer-      gemäße –freiheitlichen wie einladend christlichen Stim-
tebasis speisen. Dies ist in einer pluralistischen Demo-         me Gehör verschaffen.
kratie legitim. Solche Positionierungen sind nicht neutral       Dabei erheben wir nicht den Anspruch, den Stein der
und damit gesamtgesellschaftlich konsensfähig. Sie alle          Weisen gefunden zu haben für Entscheidungen in allen
fußen auf postulierten weltanschaulichen Axiomen. Des-           möglichen Dilemmata. Vielmehr untersuchen wir vor-
halb gebietet es die wissenschaftliche Redlichkeit, auch         liegende Orientierungen und hinterfragen sie auf der
solchen ethischen Positionen eine Stimme zu geben,               Grundlage unserer Werteperspektive. Hierbei geht es
die nicht wie selbstverständlich säkularer Natur sind.           zum einen darum, Inkonsistenzen oder Unklarheiten sol-
Eine christlich-sozialethische Positionierung darf des-          cher Orientierungen aufzudecken. Zum anderen können
halb einfordern, auf Augenhöhe gehört zu werden, auch            auch konkrete Handlungsempfehlungen zur Diskussion
wenn nicht alle Menschen deren Postulate teilen. Sie             gestellt werden.
versteht sich als ein einladendes Diskussionsangebot
neben anderen.

4                                                       „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
2. AKTUELLE SOZIAL-
                            ETHISCHE FRAGEN
Die aktuelle Corona-Krise konfrontiert uns weltweit und      mit einer Reihe von sozialethischen Dilemmasituationen.
auch in Deutschland neben den damit verbundenen me-          Sie sind unsere Themen. Wesentliche Fragekomplexe
dizinischen, epidemiologischen u.ä. Herausforderungen        sind die folgenden:

              SOZIALETHISCHE FRAGEN

              » Priorisierung zur Bereitstellung intensivmedizinischer Beatmung bei
                Ressourcenmangel

              » Folgen des Lockdowns für die Sozialkultur

              » Leben und/oder Wirtschaft retten?

              » Wirtschaftlicher Aufbau mit oder ohne Corona-Bonds?

5                                                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
3. KRITERIEN ETHISCHER
                            AKZEPTABILITÄT
Nach unserer Überzeugung entspricht es den Grund-
                                                                    EINE CHRISTLICHE POSITIONIERUNG
ideen Sozialer Marktwirtschaft, in ordnungspolitischen
                                                                    ERGÄNZT:
wie sozialethischen Fragestellungen marktwirtschaft-
                                                                    » Die Frage nach den Folgen für die Verantwortung des
liche und christliche Vernunft zusammenzubringen. Wir                 Menschen vor sich, voreinander und vor Gott (als dem
sehen kein Gegeneinander von wirtschaftlicher und et-                 Maß des Guten).
hi-scher Perspektive, sondern halten Lösungen für dann              » Sie unterstellt die in der Gottesebenbildlichkeit des Men-
                                                                      schen begründete unantastbare Würde jedes Menschen
legitim, wenn sie beide Perspektiven gleichermaßen be-
                                                                      vom Anfang des Lebens bis zum Ende.
rücksichtigen. Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie
                                                                    » Sie vertritt das Ideal eines auch affektiven Miteinanders
ist dem Ziel der Menschendienlichkeit verpflichtet, wel-              der Menschen (irenisch-inklusive Idee der Menschheits-
che etwa in den Grundrechten kodifiziert sind.                        familie, einschließlich der Nicht-Christen)

Die ethische Perspektive traut einer marktwirtschaft-             Gesellschaftliche Akzeptanz (etwa die Duldung von
lichen Sicht zugleich eine eigene ethische Kompetenz              Zwangsmaßnahmen) ist kein hinreichen-des Kriterium
zu, indem diese transparent die Verschwendung knapper             ethischer Akzeptabilität. Dafür braucht es vielmehr einen
Ressourcen vermeiden hilft.                                       Abgleich mit der transparent gemachten Wertebasis. Die
                                                                  in diesem Papier vorliegende Bewertung von Geset-zen
Das Werturteil über die Legitimität einer vorgeschlage-           und anderen Regeln im Rahmen der Corona-Krise ist
nen Regel, eines Gesetzes o.a. erfolgt aus der Zusam-             nicht das Ergebnis einer Verfahrensethik, die verschie-
menschau folgender vier Aspekte:                                  dene substantielle ethische Positionen zu einem Kon-
                                                                  sens führen will. Sie ist vielmehr selbst eine substantielle,
                                                                  und damit begründungstransparente Position, ohne die
                                                                  jede Verfahrensethik in die normative Leere liefe.

    WERTEKRITERIEN
    ALLGEMEIN:                                                    Wir bieten damit grundsätzlich eine eigene Position
                                                                  von Akzeptabilität an. Daran messen wir kritisch vorlie-
    » Lösungskompetenz im konkreten Dilemma,
                                                                  gende säkulare und kirchliche Papiere. Diese Stellung-
    » Verteilungsgerechtigkeit knapper Ressourcen,                nahme macht vor allem im Vertrauen des christlichen
    » Folgen für das Menschenbild,                                Glaubens Mut, sich auch unter Unsicherheit den allein
    » Folgen für das Zusammenleben in der Gesellschaft            mit menschlicher Vernunft nicht auflösbaren Dilemmata
                                                                  offen zu stellen und so zu einer optimistischen Entschei-
                                                                  dungskultur zu motivieren, die Zukunft gut zu gestalten.

6                                                        „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4. HERAUSFORDERUNGEN
                        UND POSITIONEN
                                   4.1 TRIAGE
Erklärtes gesellschaftliches Ziel ist die Vermeidung des     Betten mit Beat-mutsgeräten. In Ländern wie Italien
Dilemmas einer Triagierung von bedürftigen COVID-            wurden hierzu entsprechende Regelungen bereits ver-
19-Patienten bei der Vergabe von intensivmedizinischen       öffentlicht und praktiziert (Lübbe 2020).

                                      4.1.1 BEGRIFF

Der Begriff „Triage“ stammt aus der napoleonischen           Hilfe aber vermutlich überleben. Anschließend werden
Kriegführung (Stoecker 2020). In der Versorgung der          diejenigen versorgt, die auch ohne Hilfe vermutlich
verletzten Soldaten ging es darum, bei knappen Pflege-       überleben, deren Überlebenschance man aber so er-
ressourcen die Schlagkraft der Truppe zu optimieren.         höht. Nicht versorgt werden zunächst jene, die auch
In der Rettungs- und Katastrophenmedizin findet eine         ohne Versorgung gute Überlebenschancen haben und
analoge Priorisierung der Pflege bzw. Versorgung statt.      jene, die trotz Versorgung vermutlich sterben werden
Unterschieden werden vier Stufen. Zuerst werden die-         (vgl. Lübbe 2020).
jenigen versorgt, die ohne Hilfe vermutlich sterben, mit

7                                                    „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.1.2 DILEMMA DER PRIORISIERUNG

Das Dilemma der Triagierung besteht in der Verletzung         » In der Priorisierung soll dann nach individueller
des Gebots der Lebenswertindifferenz (Deutscher Ethik-          Erfolgsaussicht der Behandlung (unter Berücksichti-
rat 2020). Dieser Verstoß wird begründet mit der fakti-         gung von Prä- und Ko-Morbidität) vom behandelnden
schen Unmöglichkeit, im Sinne des Prinzips „Ultra posse         interdisziplinären Team entschieden werden (Ärzte,
nemo tenetur“. Es gibt eine exante Priorisierung, wenn          Pflege, ggf. Ethikberater).
bei neuen Patienten die Bettenkapazität nicht ausreicht,
und eine expost-Priorisierung, wenn ein bereits beatme-       » Für die Priorisierung kommen dabei die vier klassi-
ter Patient zugunsten eines schwerer Erkrankten von der         schen Stufen der Triage zur
Intensivstation wieder verlegt wird. Voraussetzung dafür        Anwendung.
ist eine Re-Evaluation des Therapiezieles bei dem dann
Verlegten. Strenge Voraussetzungen für die Anwendung          » Die schließlich nicht Versorgten werden anderweitig
der Triage-Logik in der Versorgung mit Beatmungsgerä-           bestmöglich gepflegt (etwa auf Palliativstationen).
ten von Covid-19-Patienten auf Intensivstati-on sind nach
der Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Verei-        In der Priorisierung sollen nach deutschem Recht Diskri-
nigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (2020) und     minierungen (nach Alter, sozialem Stand, charakterlicher
der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) folgende:         Güte, Rasse, Geschlecht usw.) unbedingt vermieden wer-
                                                              den.
» Keine Benachteiligung von Patienten mit anderen
  Erkrankungen,                                               Es wird deutlich, dass im schlimmsten Fall selbst unter
                                                              Anwendung aller Kriterien eine Priorisierung vorgenom-
» medizinische Indikation der COVID-19 Patienten,             men wird, die Menschenleben kostet, die ohne solche
                                                              Notsituation hätten gerettet werden können.
» vorliegender Patientenwille zur Beatmung,

» fehlende Ausweichmöglichkeit zur
  Versorgung (Ressourcenmangel).

8                                                     „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.1.3 ETHISCHE POSITIONEN ZUR
                             ENTSCHEIDUNG

Für die Versorgung von Covid-19 Patienten werden verschie-           • „Gerechtigkeit, verstanden als Pflicht, knappe Res-
dene Anwendungen solcher Priorisierung vorgeschlagen:                   sourcen so effizient wie möglich einzusetzen und
                                                                        bei Allokationsentscheidungen fair vorzugehen und
» Der Deutsche Ethikrat (2020) lehnt eine expost-Priori-                dabei zugleich der individuell betroffenen PatientIn
  sierung grundsätzlich ab, die diese einer Tötung gleich-              gerecht zu werden.
  komme. Utilitaristische Kriterien werden abgelehnt.                • Nichtschaden, verstanden als primäre Pflicht, durch
» Die DIVI (2020) und die AEM halten im Notfall exante                  Allokationsentscheidungen zu knappen Ressourcen
  und ex-post-Priorisierungen für legitim, ebenso die Ös-               das Versorgungssystem nicht zu gefährden und dabei
  terreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reani-                zugleich keine Behandlungen durchzuführen, welche
  mation und Intensivmedizin (ÖGARI).                                   für die individuell betroffene PatientIn mehr Schaden
» Ralf Stoecker (2020) trägt mögliche Bedenken gegen                    als Nutzen bringen.
  die Vorschläge von DIVI und AEM zusammen. Er fragt:                • Wohltun, verstanden als Pflicht, mit den knappen
                                                                        Ressourcen den größtmöglichen Nutzen für die
    • Sollte das behandelnde Team in der konkreten Ent-
                                                                        größtmögliche Zahl an Betroffenen zu erzielen und
      scheidung entlastet werden? Das spräche für Rege-
                                                                        dabei zugleich jene Maßnahmen zu setzen, welche
      lungen auf höherer oder sogar gesetzlicher Ebene.
                                                                        dem Wohl der individuell betroffene PatientIn am
    • Gibt es überhaupt objektive Kriterien für die so ge-
                                                                        meisten entsprechen.
      nannte Aussichtslosigkeit einer Behandlung?
                                                                     • Autonomie (Respekt gegenüber der anvertrauten
    • Sollten nicht neben der Erfolgsaussicht der Therapie
                                                                        Person), verstanden als Pflicht, die individuell Be-
      doch andere Kriterien einbezogen werden (etwa sozi-
                                                                        troffenen auch in Ausnahmesituationen nicht zum
      ale Verantwortung der Person, Berufe wie z.B. Ärzte
                                                                        bloßen Objekt von Allokationsentscheidungen zu de-
      und Pfleger, Alter o.a.)
                                                                        gradieren und dabei zugleich die Grenzen individueller
    • Öffnet die Re-Evaluation ex-post nicht das Tor zur Tö-
                                                                        Freiheit bei Fremdgefährdung im Blick zu behalten.“
      tung (im Sinne des Deutschen Ethikrates)?
    • Inwieweit wird die psychische Belastung der Ärzte           » Weyma Lübbe (2020) wendet sich ausdrücklich gegen
      und Pflegekräfte mit berücksichtigt? (Care-Ethik).            die utilitaristischen Triage-Empfehlungen der italie-
                                                                    nischen SIAARTI-Mediziner. Diese hatten gefordert:
» Stöcker (2020) hinterfragt auch grundsätzlich die Priori-
                                                                   „Ressourcen, bei denen erhebliche Knappheit eintreten
  sierungskriterien mithilfe verschiedener ethischer Posi-
                                                                    könne, seien zunächst [1] für denjenigen zu reservieren,
  tionen:
                                                                    der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit habe,
    • Der Utilitarismus bietet mit dem Kriterium der höchst-        und zweitens [2] für denjenigen, der mehr Jahre geret-
      möglichen Zahl geretteter Leben oder mit dem QALY-            teten Lebens („più anni di vita salvata“) erreichen könne,
      Kriterium einen transparenten Differenziator. Die Er-         im Blick auf [3] eine Maximierung des Nutzens („dei be-
      rechnung von erfüllten Lebensjahren (QALY) etwa ist           nefici“) für die größte Anzahl der Personen.“ Lübbe hält
      dann das Maß der Entscheidung. Gegen die Anwen-               dagegen:
      dung utilitaristischer Logik aber spreche die Gefahr,
                                                                     • Hierbei handelt es sich um eine Abkehr von der klas-
      dass hier Leben für anderes Leben geopfert werden
                                                                       sischen Triage-Logik. Die Rettung möglichst vieler
      könnte. Dies begründe eine schiefe Bahn. Sie könnte
                                                                       Leben sei ersetzt durch die Maximierung der zu ret-
      in der Forderung münden, wenige Ge-sunde auszu-
                                                                       tenden Lebensjahre.
      weiden zugunsten von vielen Kranken.
                                                                     • So werden die medizinische Bedürftigkeit als Krite-
    • Unter der Überschrift ‚Gerechtigkeit‘ wird von Stoe-
                                                                       rium zurückgestuft und möglicherweise jüngere Men-
      cker ein Gleichheitsgebot angeführt. Um dem Übel
                                                                       schen älteren vorgezogen, obwohl die jüngeren auch
      auszuweichen, dass im Falle der Ressourcenknapp-
                                                                       ohne Behandlung wahrscheinlich überlebt hätten.
      heit dann keiner behandelt wird, könnte ein durch
                                                                     • Kontraktualistisch begründet stellt Lübbe dagegen,
      Erfolgsaussichten gewichtetes Lotterieverfahren zur
                                                                       es müsse an der klassischen Triage-Logik festgehal-
      Anwendung kommen.
                                                                       ten werden.
    • Religiöse Motive sollen aus Empfehlungen für Ent-
                                                                     • Auch solle auf den Nutzenbegriff in der Priorisie-
      scheidungen herausgehalten werden.
                                                                       rungsdiskussion verzichtet werden. Vielmehr sollten
» Die ÖGARI bringt die vier medizinethischen Pflicht-Prin-             Rechte gegeneinander abgewogen werden.
  zipien von Beauchamp / Childress in einer freien Inter-
  pretation zur Anwendung. Es gehe darum,
9                                                        „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.2 SOZIALKULTUR
Die Einschränkung vieler Grundrechte hat Folgen auf die Kultur des Zusammenlebens, individuell, national
und international.

                     4.2.1 SOCIAL DISTANCING

Viele Zwangsmaßnahmen folgen einer Logik des so ge-          bunden. Sterbende und Kranke können kaum besucht
nannten Social Distancing. Das dadurch angestrebte           werden. Wichtige, aber vermeintlich weniger dringen-
Ziel ist ein Abflachen der Infektionskurve soweit, dass      de Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte werden
der Infektionsgrad pro Infizierten dauerhaft unter 1,0       verschoben. Solche Einschränkungen beschneiden als
sinkt. Damit verbunden sind diverse Einschränkungen          Notstandsgesetze wesentlich die Grundrechte. Lang-
mit wirtschaftlichen, aber eben auch darüber hinaus          fristig könnte dadurch die Demokratie gefährdet wer-
gehenden kulturellen Konsequenzen. Öffentliche Got-          den. Sie sind zugleich Nährboden für (auch seelische)
tesdienste, Musik- und Sportevents, politische Kund-         Krank-heiten jenseits von Covid-19 (Deutscher Ethikrat
gebungen, wissenschaftliche Tagungen, Theaterauf-            2020). Wann und wie weit sollen wir also wieder zur
führungen, aber auch private Feiern wurden verboten.         Normalität zurückkehren? Peter Dabrock und Steffen
Kitas, Schulen, und Hochschulen wurden geschlossen.          Augsberg (2020) vom Deutschen Ethikrat empfehlen
Scharfe Beschränkungen gab es für die Bewegungs-             dazu frühzeitige Szenarien. Das motiviere zum Durch-
freiheit und auch private Besuche (etwa auch im Kran-        halten, weil Menschen Hoffnungsbilder brauchen. Sol-
kenhaus, Altenheim etc.). Neben den damit verbunde-          che ersten Öffnungen werden nach günstigen Zahlen
nen wirtschaftlichen Folgen sind Phänomene wie ein           der Infektionsrate inzwischen in Deutschland prak-
weiteres Aufgehen der sozialen Schere (etwa im Bil-          tiziert. Zu solchen Motivationsbildern zählt offenbar
dungsbereich), häusliche Gewalt, Einsamkeit, aus-fal-        auch die Fußball-Bundesliga, weil anders als in anderen
lende Urlaube, fehlende Freizeitangebote (besonders          Sportarten (z.B. Handball) über deren Fortsetzung der
auch für Kinder oder Menschen mit Behinderung), Kom-         Saison mit Geisterspeilen laut nachgedacht wird.
munikation, Bildung, Ablenkung und Lebensfreude ver-

10                                                  „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.2.2 RISIKEN DES EGOISMUS

In Deutschland werden aktuell die Zwangsmaßnahmen           von Natur aus egoistische und empathisch-soziale
noch weitgehend friedlich hingenommen (Deutscher            Motivationen. Den Egoismus durch Umerziehung ge-
Ethikrat 2020). Es zeigten sich auch viele erfreuliche      waltsam auszutreiben, führt in die Diktatur und wird
Initiativen gegenseitiger Hilfe, von denen manche so-       scheitern. Wie also stellt sich unser Miteinander dar,
gar als „Helden des Alltags“ im Fernsehen gewürdigt         wenn die unmittelbare Bedrohungslage durch das Vi-
wurden. Hier offenbarte sich ein Geist des Miteinan-        rus abnimmt und die Menschen sich der Folgeschäden
ders über Generationen hinweg. Andererseits erlebten        mehr und mehr bewusst werden. Könnte es nicht sein,
wir aber auch tumultartige Kampfszenen ums Klopapier        dass hier die so genannte Risikogruppe (vor allem der
oder vor den Einschränkungen Corona-Partys, mit de-         alten Menschen und derer mit Vorerkrankungen) zum
nen sich junge Menschen lustig machten über die Krise.      Sündenbock gemacht wird. Dies könnte nicht nur absur-
Was schon Adam Smith in seiner Theorie der ethischen        de politische Forderungen von Umverteilung, sondern
Gefühle erkannte: Offenbar befinden sich im Menschen        auch gesellschaftliche Spaltung begünstigen.

 4.2.3 INTERNATIONALE VERANTWORTUNG

Vergessen wir auch nicht die internationale Perspekti-      wegen, sondern allein dem Gebot der Menschlichkeit
ve. Der weitere Blick muss auch die armen Regionen der      folgend muss hier dringend vorbeugend und flankierend
Welt in den Blick nehmen. Gerade dort drohen Katast-        geholfen werden. Wie können wir uns hier als Mensch-
rophen ungeahnten Ausmaßes, etwa in Slums, Favelas,         heitsfamilie bewähren? Staatliche Transfers etwa aus
in Gegenden ohne Krankenhäuser und ohne sauberes            Deutschland sind schon in Aussicht gestellt. Reicht
Wasser. Der Ausbruch des Virus dort könnte schnell          das?
neue Fluchtbewegungen auslösen. Aber nicht nur des-

11                                                 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.3 LEBEN ODER WIRTSCHAFT

       4.3.1 ÖKONOMISIERTER LEBENSWERT

Gerade im angelsächsischen Raum hört man immer                  meidbar. Das ist vor allem ein Gewinn für die Zukunft,
wieder das Argument, eine Herdenimmunität müsse                 einschließlich der kommenden Generationen. Noch
das Ziel sein. Etwa der später selbst von Covid-19 be-          größere Schuldenberge bleiben ihnen erspart. Das
troffene britische Premier Boris Johnson oder der Gou-          Gesundheitssystem der Zukunft leidet nicht unter den
verneur des US-Staates Texas Greg Abbot hielten es für          dann ja fehlenden finanziellen Ressourcen. Das rettet
das beste, der Alltag (vor allem der wirtschaftliche) sol-      in Zukunft Menschenleben. Dieser Gewinn an Lebens-
le keinen Zwangsbeschränkungen ausgesetzt werden.               qualität wirkt schon in der Gegenwart, weil jetzt be-
Dadurch werden wirtschaftliche Schäden gemindert                reits Arbeitsplätze gesichert sowie häusliche Gewalt,
und Schuldenpakete möglichst reduziert. Andererseits            Vereinsamung usw. verhindert werden. Auch biete die
muss man aktuell mehr Menschenleben opfern.                     mit der Herdenimmunität ausdrücklich gewünschte
Doch dieses Aufrechnen zwischen Wirtschaft und                  hohe Infektion der Gesellschaft den besten Schutz vor
Menschenleben sei verkürzt, so Toby Young (2020), ein           möglicherwiese weiteren Infektionswellen. Hierbei ist
Befürworter des Konzepts der Herdenimmunität. Denn              zu unterscheiden zwischen dem Modell einer umfas-
bei einer solchen Unterstellung werde Folgendes über-           senden und einer regulierten Herdenimmunität, mit der
sehen: Auch die übrigen negativen Folgen eines Lock-            sich dann zu ihrem Schutz nur alte und andere, beson-
downs, die oben bereits im Abschnitt zur Sozialkultur           ders gefährdete Menschen exklusiv entsprechenden
angesprochen wurden, sind bei einem uneingeschränkt             Zwangsmaßnahmen unterziehen müssen (Deutscher
gesellschaftlichen und ökonomischen Alltag ver-                 Ethikrat 2020).

12                                                     „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.3.2 EIN MATHEMATISCHES KALKÜL

Dem vor allem langfristigen Gewinn an Leben und Le-          so etwa auch gewonnene Lebensjahre durch einen im
bensqualität stehen im Modell der Herdenimmunität            Lockdown schonenderen Umgang mit der Umwelt und
gegenwärtigen Opfer gegenüber, also Menschen, die            weniger Alkoholtote im Pub. Am Ende stehen dann ver-
durch die ungezügelte (oder nur wenig geminderte)            lorene Lebensjahre (gemessen in Geld) gegeneinander.
Infektion starke Leiden ertragen oder sterben. Ob ein        Und Young kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Her-
Lockdown nun gerechtfertigt ist oder nicht, sei also         denimmunität hier langfristig eindeutig lohne. Opfer
nicht eine Frage der Abwägung zwischen Wirtschaft            von Lebensjahren (Menschen) heute werden mehr als
und Leben, sondern zwischen Leben und Leben. Als             kompensiert durch damit gewonnene Lebensjahre der
Maß dafür stellt Young am Beispiel Großbritanniens ei-       Zukunft.
nige Berechnungen an, die die Schuldenpakete ebenso
berück-sichtigen wie den in britischen Pfund bemesse-        Julian Jessop (2020) greift diese Berechnungen auf und
nen Wert von geretteten Lebensjahren. Hier-bei kommt         wendet ein, man käme mit veränderten Zahlenspielen
das utilitaristische Modell des ökonomischen Wertes          vermutlich zu einem anderen Ergebnis der Kosten-Nut-
eines statistischen Lebensjahres (VSLY) zur Anwen-           zen-Analyse. Vor allem aber hält er dieses Verfahren
dung, das (unter Ausschluss des Kriteriums der Lebens-       zur Abwägung von Menschenleben für illegitim. Er ver-
qualität) an das QALY-Kriterium angelehnt ist. Der VSLY      weist darauf, dass eine ähnliche Logik etwa im Zwei-
bemisst nun in Geld die Zahlungsbereitschaft einer           ten Weltkrieg die USA und Großbritannien als Alliier-
bestimmten Kohorte (einer Gesellschaft o.a.) für den         te hätte davon abhalten müssen, eine Landung in der
potentiellen Zugewinn eines Lebensjahres. Mit diesem         Normandie vorzunehmen mit all den Toten. Trotzdem
Wert als Grundlage werden dann die Opfer an Lebens-          sei diese Entscheidung legitim. Es gebe also Werte, die
jahren heute (durch höhere Mortalität bei Herdenimmu-        nicht Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden dür-
nität) mit den zukünftigen Opfern an Lebensjahren (bei       fen, die man nicht in Geld bemessen kann oder darf (vgl.
jetzigem Lockdown) verglichen. Hierbei werden alle           Sandel 2013).
möglichen Sekundär- und Spätfolgen mitberücksichtigt,

13                                                  „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.4 CORONA-BONDS

                                           4.4.1 PRO

So genannte Corona-Bonds (als neu Auflage der                 nachhaltig internationales Vertrauen der Märkte her-
€-Bonds) werden u.a. aktuell in einem Appell des So-          gestellt werden könne. Dies ist offenkundig wesentli-
zialwissenschaftlichen Instituts der EKD als Ausdruck         che Voraussetzung für eine dauerhafte wirtschaftliche
europäischer Solidarität ge-fordert (Lämmlein / Mayert        Erholung nach der Krise. Hier dürfe es keine Unsicher-
2020). Dabei handelt es sich um die Idee einer Anleihe,       heiten geben. Anders als in der €-Schuldenkrise seien
für die alle EU-Staaten gemeinsam haften. Dadurch             jetzt Länder ohne eigenes Verschulden in eine beson-
wird es wirtschaftlich schwächeren Länder (Spanien,           dere Krise geraten. Deshalb dürfe es jetzt auch keine
Italien. Griechenland u.a.) ermöglicht, zu günstigeren        strikten Auflagen geben. Europa müsse zudem aus den
Zinsen auf dem Markt Kapital aufzunehmen. Sie profi-          in jener Krise gemachten Fehlern lernen. Die damaligen
tieren also von der höheren Bonität der reicheren Län-        Hilfspakete der EU und EZB seien als Gängelung emp-
der (wie Deutschland, Österreich, Niederlande u.a.).          funden worden. Das habe zu einer Entsolidarisierung
Vorgeschlagen wird in einer ersten Tranche eine Aus-          geführt, populistische Bewegungen gestärkt und eine
gabehöhe von 1 Bio. € mit einer Laufzeit von 30 Jahren.       Austeritätspolitik verursacht. Gerade diese sei jetzt
Falls das nicht ausreicht, sollten weitere Tranchen fol-      aber schuld daran, dass die Gesundheitssysteme jener
gen. Gerade die davon profitierenden Länder (die zumal        Länder nun nicht für den externen Corona-Schock ge-
gerade von der Corona-Krise besonders betroffen sind)         rüstet sind. Und so seien eigentlich diejenigen, die in
fordern solche Anleihen, während sich Deutschland u.a.        Folge der €-Krise Finanz-Solidität forderten, die jetzt
dagegenstellen. Als Begründung für die Corona-Bonds           Schuldigen an den vielen Toten etwa in Spanien und
wird angeführt, dass diese in besonderer Weise dazu           Italien. Es brauche deshalb nun auch langfristig eine
geeignet sind, den europäischen Geist des Zusammen-           Abkehr von solcher Logik der Solidität hin zu einer mehr
halts zu stärken und den europäischen Binnenmarkt,            oder minder grenzenlosen Solidarität, so wie es in der
von dem auch Deutschland stark profitiert, wieder an-         Schuldenkrise schon Friedehelm Hengsbach (2011) ein-
zukurbeln. Werde diese Chance jetzt vertan, müsse man         forderte. Die Corona-Bonds aber führen nach Ansicht
mit einem weiteren Auseinander-brechen der EU rech-           des SI keineswegs zu einer langfristigen Schuldenuni-
nen, ebenso mit einer langfristigen Rezession auch in         on, weil sie ja zeitlich und sachlich befristet seien.
Deutschland. Als Vorzüge werden genannt, dass nur so

14                                                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.4.2 CONTRA

Gegen eine solche Forderung wendet sich bislang etwa          sich gerade aus dieser Solidaritätsfalle auszuklinken.
die deutsche Regierung, mit ihr freiheitliche Ökonomen        Trotz schwindelerregender Höhen der TARGET-Salden
(Krämer 2020 u.a.). Ihnen erscheint es fraglich, ob die       (935 Mrd. € zum 31.3.2020, vgl. Deutsche Bundesbank
Corona-Bonds tatsächlich alternativlos sind zur Ret-          2020), mit denen etwa Deutschland die Volkswirtschaf-
tung des Projektes Europa. Die damit verbundene Ge-           ten Spaniens und Italiens am Laufen hält, trotz exor-
meinschaftshaftung widerspricht den Prinzipien des            bitanter Anleihekäufen der EZB, die als fiskalpolitisch
Stabilitätspaktes. Es ist keineswegs sicher, dass es          wirksame Eingriffe auch gegen die Europäischen Ver-
sich dabei um ein zeitlich befristetes Projekt handelt.       träge verstoßen, gab es gegenüber Deutschland, das
Die angepeilte Zeitdauer von 30 Jahren mit der Option         davon nicht profitier-te, Beschimpfungen und Hitler-
weiterer Tranchen spricht eine andere Sprache, eben-          Vergleiche. Man kann also das Szenario auch anders
so die Erfahrungen mit den EZB-Anleihekäufen. Immer           deuten: Bei uns punkten Populisten gerade mit dem
wieder wird es neue Gründe geben für Ver-längerungen          Gefühl, als starke Volkswirtschaft gemolken zu wer-
und neue Tranchen. Und es handle sich doch um ein             den, ohne Dank dafür und ohne hinreichende Anstren-
Instrument einer Schuldenunion, was ebenfalls den EU-         gungen anderer Länder, selbst wieder auf die Beine zu
Verträgen widerspricht. Die Frage müsse auch gestellt         kommen. Die Hilfen der Starken werden nun über das
wer-den, ob es tatsächlich der beste Weg ist, grenzen-        Instrument der Corona-Bonds wieder anonymisiert
lose Kredite (oder Ankäufe der EZB) in Aussicht zu stel-      und verschleiert. Ein Geist des familiären Miteinanders,
len, „whatever it costs“. Austeritätspolitik sei dem SI       zu dem eben auch Dankbarkeit gehört, wird so unter-
zufolge schon in der Ver-gangenheit der falsche Weg           miniert. Am Ende ist dann nicht mehr durchschaubar,
gewesen. Aber was ist das neue Paradigma der Zukunft,         wer hier eigentlich wem geholfen hat. Zusammenge-
wenn das Schlimmste der aktuellen Krise überstanden           hörigkeit zu stärken und Populismus zurückzudrängen
ist? Schulden ohne Ende ohne Anreize zur Solidität?           ist aus einer solchen Sicht gerade nicht das Resultat
Das werden auf Dauer auch die starken Volkswirtschaf-         davon, jetzt und in Zukunft das Paradigma der Solidität
ten Europas nicht mittragen können (Nass 2012). Das           und Hilfen in Bonds zu verstecken. In dem Sinne wären
Ergebnis davon ist dann gerade nicht eine Stärkung des        Corona-Bonds nun das falsche Signal. Aber was könnte
Zusammenhalts oder eine Schwächung des Populismus.            dann die Alternative sein?
Im Gegenteil: Großbritannien hat den Exit gewählt, um

15                                                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5. PROBLEMANZEIGEN
                             UND ORIENTIERUNGEN
Es folgen nun einige Problemanzeigen in der Diskussion und Orientierungen.

                                      5.1 TRIAGE
Das Dilemma von konkreten Triage-Entscheidungen soll möglichst durch entsprechende Rahmenbedingungen
der Politik u.a. vermieden werden. Unter diese Bedingung stehen die folgenden Bemerkungen.

5.1.1 PRIORISIERUNG OHNE DISKRIMINIERUNG

» Die Priorisierungsentscheidung sollte möglichst vor Ort          wie ein Kriterium der Aussichtslosigkeit gibt, dann gebie-
getroffen und nicht auf Gesetze oder anonyme Regeln ab-            tet dieses Prinzip der Lebensrettung die Versorgung des
geschoben werden. Hier nehmen Ärzte und Pflegekräfte               Patienten, bei dem Therapieerfolg in Aussicht steht. Eine
wesentliche Verantwortung wahr. Dies gehört zur Entfal-            Abwägung nach bloß vagen Wahrscheinlichkeiten des The-
tung des erfüllten Menschseins. Allgemeinere Empfehlun-            rapieerfolgs hingegen, etwa unter Anwendung der für die
gen ohne einen bindenden Charakter können dabei aber               Zusatznutzenbewertung von Medikamenten und Therapien
eine Hilfe sein.                                                   zur Anwendung kommenden und dort bewährten IQWiG-
                                                                   Kriterien (Mortalität, Morbidität, Nebenwirkungen und
» Ex-post und ex-ante Priorisierung in normativer Hinsicht
                                                                   Lebensqualität), ist hier aber nicht akzeptabel. Weder kann
qualitativ zu unterschieden, überzeugt nicht hinreichend.
                                                                   hier eine Evidenz vorausgesetzt werden, noch sollte damit
Die Folgen solcher Priorisierung sind analog. Folgendes
                                                                   Lebenswürdigkeit gemessen werden. Dies führte dann
Beispiel macht dies plausibel. Zum Vergleich stehen zwei
                                                                   doch wieder zu einer Form abgestufter Menschenwürde.
Verhaltensweisen: Entweder enthalte ich einem Verhun-
                                                                   Eine Anwendung dieses Priorisierungsgebots der Triage
gernden mein Brot, das ich im Überfluss habe, vor, oder ich
                                                                   steht moralisch demnach auf wackeligen Füßen.
nehme ihm sein letztes ab. Im ersten Fall missachte ich das
Naturrecht des Verhungernden zum Überleben, welches                » Bevorzugungen von Patienten mit COVID-19 gegen-
mein Eigentum unbedingt verpflichtet. Im zweiten Fall ist          über Patienten mit anderen, ent-sprechend gravierenden
dieses Vorenthalten noch mit einem Diebstahl verbunden.            Indikationen sind nicht akzeptabel. Dies widerspricht dem
Moralisch besteht kein wesentlicher Unterschied.                   Bedürftigkeitsprinzip. Eine Bevorzugung von bestimmten
                                                                   Berufsgruppen klingt zunächst plausibel, ist aber vom Ver-
» Bei der Anwendung der vier Triage-Stufen zur Priori-
                                                                   ständnis gleicher Würde her nicht akzeptabel. Ver-antwor-
sierung wiegt besonders die Frage schwer, warum Hilfsbe-
                                                                   tungsethisch könnte darüber nachgedacht werden, dass
dürftige, die kaum (oder keine) Aussicht auf Therapieerfolg
                                                                   auch nachgewiesen schuldhaftes Verhalten (etwa bei der
haben, gegenüber weniger Hilfsbedürftigen mit höherem
                                                                   Ansteckung) mitberücksichtigt werden könnte. Doch lässt
Therapieerfolg nachrangig behandelt werden sollen. Hier
                                                                   sich dies in der Praxis wohl schwer umsetzen. Diskriminie-
bleibt zum einen die Frage, ob es tatsächlich ein sicheres
                                                                   rungen von Menschen nach welchen (sozialen o.a.) Krite-
Kriterium für eine mehr oder minder aussichtslose Therapie
                                                                   rien auch immer sind nicht akzeptabel. Dies öffnet ansons-
gibt. Und wenn es sie gäbe: Dann wäre ihre Zurückstellung
                                                                   ten die Tür für eine abgestufte Würdigkeit von Menschen
eine Diskriminierung bei Verletzung des Bedürftigkeitsprin-
                                                                   und das Reden von einem mehr oder weniger lebenswerten
zips. Für diesen Fall kann als objektives Prinzip die Lebens-
                                                                   Leben.
rettung hergenommen werden. Wenn es also so etwas

16                                                        „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.1.2 JENSEITS DES UTILITARISMUS

» Der Utilitarismus als Triage-Kriterium ist abzuleh-         » Das Gerechtigkeitsargument als vorgeschlagene
nen. Ein solches Denken verändert das gesellschaftli-         Alternative zum Utilitarismus von Stoecker (2020) irri-
che Bild von Mensch und Zusammenleben. Es könnten             tiert. Schließlich ist auch der Utilitarismus eine Gerech-
die Opfer Weniger zugunsten Vieler eingefordert wer-          tigkeitsidee. Gerechtigkeit einfach mit Egalitarismus
den. Das entwürdigt und spaltet. Der Wert eines alten         gleichzusetzen, ist zu kurz gedacht. Hier sollte die Be-
Menschen ist (zumal aus christlicher Sicht) nicht gerin-      grifflichkeit überprüft werden.
ger als der eines jungen Menschen. Wer solches Wür-
deverständnis in Frage stellt, verlässt auch den Boden        » Das Wording in der Priorisierung sollte Lübbe
unserer Verfassung. Das QALY-Kriterium in der Priori-         (2000) folgend auf den Nutzenbegriff verzichten, um
sierung diskriminiert auch Menschen mit Behinderung.          eine klare Abgrenzung vom Utilitarismus auch in der
Auch das ist inakzeptabel.                                    Wortwahl kenntlich zu machen (vgl. auch Nass 2020a).

» Triage-Empfehlungen der italienischen SIAARTI-              » Die österreichische Variante der Pflichtenethik inte-
Mediziner wenden das QALY-Kriterium an und opfern             griert individuelle und ökonomische Perspektiven. Die
damit ohne Not Menschenleben, die unter Anwendung             Vielzahl der hier einfließenden Kriterien hilft für kon-
der klassischen Triage-Logik gerettet würden. Das ist         krete Entscheidungen aber wenig. Das Abwägungspro-
inakzeptabel. Die kontraktualistische Begründung von          blem der Prinzipien von Beauchamp und Childress wird
Weyma Lübbe (2020) grenzt sich nicht hinreichend von          noch verschärft. Eine reine Pflichtenethik fördert ein
utilita-ristischem Denken. Mache ich einfach nur die          anonymes Nebeneinander der Menschen, welches dem
Zahl der Überlebenden zum Kriterium, erkläre dies als         Geist eines auch affektiven Miteinanders in unserer Ge-
Nutzen, so könnte dies einem kontraktualistischen Uti-        sellschaft wiederspricht. Dieser soziale Zusammenhalt
litarismus (John Harsanyi) nahekommen. Überzeugen-            ist aber gerade jetzt angesichts zahlreicher Diskrimi-
der als eine kontraktualistische Begründung wä-re es          nierungsdebatten nötiger denn je.
stattdessen, den Schutz von Menschenleben als einen
objektiven Wert zu postulieren, wie es etwa auch eine
christliche (oder kantische) Sozialethik tut.

17                                                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.1.3 ENTSCHEIDUNG UND GLAUBEN

» Die Priorisierung ist eine Entscheidung unter Unsi-          Geist auf den Stationen im Krankenhaus, im Hospiz oder
cherheit. Es bleibt bei sorgfältiger Einhaltung aller un-      Pflegeheim. Hier ist auch Mut für solche Begegnung ge-
strittigen Kriterien für die Entscheidung zwischen Glei-       fragt. Wenn sich jetzt auch Repräsentanten der Kirche
chen das tragische Dilemma, ungleich zu entscheiden.           öffentlich sichtbar an die Seite von Ärzten und Pflege-
Für diese Entscheidung ist es aus religiöser Sicht ge-         kräften stellen, so wäre dies ein wichtiges Symbol da-
boten, dieses letzte Urteil im Gebet in die Hand Gottes        für, an welcher Seite jetzt eine samaritanisch denkende
zu legen.                                                      Kirche steht.

» Nicht-priorisierte Patienten haben den ungeteilten           » Es ist nicht einsichtig, warum religiöse (wie etwa
Anspruch auf eine bestmögliche Versorgung, ggf. auch           christliche) Orientierungen von Stoecker für einen ethi-
im Palliativ- oder Hospizbereich. Die Aufmerksamkeit           schen Entscheidungskompass ausgeschlossen werden.
gerade der Seelsorge richtet sich in besonderer Weise          Sie seien bloß von individueller Gültigkeit, können damit
auf diese Menschen, um ihnen in ihrem Weg beizuste-            nicht Leitfaden einer Handlungs-empfehlung sein. Eine
hen und sie womöglich in ihrer Hoffnung auf ein neues          solche Vorstellung suggeriert die Dominanz säkularer
Leben zu bestärken.                                            über religiöse Ethik. Das ist wissenschaftstheoretisch
                                                               inakzeptabel. Grundinhalte des christlichen Menschen-
» Einen besonderen Beistand durch die Seelsorge                bildes und des christlichen Verständnisses von Verant-
verdienen auch diejenigen, die konkrete Priorisierungs-        wortung haben sehr wohl Orientierungspotential auch
entscheidungen treffen. Damit verbundene Skrupel               für Nicht-Glaubende, so etwa ihre gut be-gründete Vor-
oder Gewissensfragen sind in der Seelsorge aufmerk-            stellung der unantastbaren Würde aller Menschen oder
sam aufzugreifen. Darüber hinaus hilft die Präsenz             eines affektiven gesellschaftlichen Zusammenlebens
der Seelsorge auch unabhängig von solchen Grenz-               (Taylor 2009).
situationen wesentlich zu einem guten, motivierenden

18                                                    „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.2 SOZIALKULTUR

                        5.2.1 HOFFNUNGSBILDER

» Notstandsgesetze zum Lebensschutz sind grund-                 und über die Bundesliga nachgedacht wurde, blieben
sätzlich legitim, wenn Maß gehalten wird. Hierbei               Lockerungen für die Ausrichtung öffentlicher Gottes-
dürfen reine Gewinn- oder Lobbyinteressen nicht die             dienste zu lange Tabu.
Priorisierung bei der Behandlung von Kulturfeldern be-
einflussen. So ist eine Bevorzugung der Fußball-Bun-            » Menschen brauchen Hoffnungsbilder. Das stimmt.
desliga inakzeptabel, ebenso eine Benachteiligung der           Es sollen realistische Perspektiven diskutiert werden.
Kirchen. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, aber doch       Wenn hierbei kulturell aber nur an Demos, Feten, Fuß-
traurig, dass die Einschränkung einer Ausübung der Re-          ball und Ferien gedacht wird, so wird mit der Religion
ligionsfreiheit im Ad-Hoc-Papier des Deutschen Ethik-           ein wesentliches Hoffnungsbild des Men-schen ausge-
rates keine Erwähnung findet. Während also schon                klammert. Dies ist aus christlicher und überhaupt reli-
Geschäfte bis zu einer bestimmten Größe öffneten,               giöser Sicht inakzeptabel.

                            5.2.2 ENTEINSAMUNG
» Das als Gebot formulierte „Social Distancing“ sug-            » Die jetzt verschärfte Einsamkeit alter, aber auch
geriert, soziale Distanz sei ein Wert. Dies ist eine Irre-      sterbender oder trauernden Menschen muss die Ge-
führung, die der Sozialnatur des Menschen wesentlich            sellschaft aufrütteln zu einer besonderen Verantwor-
widerspricht. Deshalb sollte hier eine andere Begriff-          tung gegenüber diesen Menschen. Kreative Ideen zu
lichkeit verwendet werden, die auf den vorüberge-               einer Kultur der Enteinsamung sollten in Zukunft geför-
henden (als solchen auch moralisch unerwünschten)               dert und umgesetzt werden.
Charakter dieser Zwangsmaßnahme hinweist. Andern-
falls könnten sich solche Formen sozialer Distanz ver-
selbständigen und unsere Kultur des Zusammenlebens
deutlich kälter machen (vgl. Jaensch 2020).

19                                                     „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.2.3 TUGENDBILDUNG

» Zur Stärkung individueller Solidarität sind neue Ak-        » Zur Stärkung des Zusammenhalts von Alt und Jung
zente im Bildungssystem notwendig. Ziel kann es dabei         sind entsprechende Projekte (wie Mehr-Generationen-
nicht sein, dem Menschen den Egoismus auszutreiben.           Häuser) und die Festigung von Familienstrukturen mehr
Das wird nicht funktionieren. Dennoch sollte die Förde-       als bisher zu fördern. Der erlebte Zusammenhalt in der
rung der sozial-empathischen Motive des Menschen              Familie ist die Keimzelle für eine Solidarität der Genera-
etwa in der Schule einen neuen Schwerpunkt bilden.            tionen zueinander.
Die einseitige Konzentration auf die so genannten
MINT-Fächer ist ein Fehler, wenn nicht flan-kierend
Charakter- und Tugendbildung gestärkt werden. Dies
sollte eine wesentliche bildungsethische Konsequenz
der Krise sein, um in Zukunft mehr Alltagshelden statt
Exzesse zu erleben.

                  5.2.4 INTERNATIONALE HILFE

» Das Freihalten von Beatmungsplätzen in deutschen            » Die internationale Solidarität zur Hilfe der ärms-
Krankenhäusern ist als voraus-schauende Maßnah-               ten Länder ist gerade jetzt ein dringliches Gebot der
me gedacht, um Triage-Dilemmata zu verhindern. Aus            Menschlichkeit. In der Vergangenheit sind schon zu vie-
einer nationalen Perspektive ist dies verantwortungs-         le Formen der Entwicklungshilfe gescheitert (etwa an
bewusst. Jedoch im Blick auf Nachbarlän-der mit viel          Korruption, Krieg, Terror, Despotismus oder falsch ge-
größeren Problemen hätte man sich mehr und früher             setzten Anreizen). Statt nur in staatliche Institutionen
Solidarität gewünscht. Deutschland hat inzwischen re-         zu setzen, sollten unsere auch öffentlich finanzierten
agiert, einige COVID-19 Patienten aus Nachbarländern          Hilfen besser an vertrauenswürdige Non-Profit-Organi-
in deutschen Intensivstationen behandelt und Schutz-          sationen fließen, die subsidiär mit großer Erfahrung und
kleidung in solche Länder geliefert. Das ist ein Anfang.      Leidenschaft in die Infrastruktur von Gesundheit, Bil-
                                                              dung, sauberem Wasser etc. investieren. Hierbei denke
                                                              ich auch an kirchliche u.a. Hilfswerke oder Ordensge-
                                                              meinschaften mit ihren zahllosen Helfern weltweit.

20                                                   „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.3 LEBEN ODER WIRTSCHAFT

                5.3.1 WÜRDESCHUTZ STATT
                       HERDENIMMUNITÄT

» Die Idee der Herdenimmunität nimmt Opfer von               Ethik von Karl Homann oder der ökonomische Imperia-
Menschen heute in Kauf, um Menschenleben in Zukunft          lismus von Gary Becker u.a. Der Wert der Menschen-
zu retten. Mit dieser eindeutig utilitaristischen Logik      würde wird dort unter Bedingungen ökonomischen
könnte wiederum das Ausweiden eines gesunden Men-            Nutzens definiert und relativiert. Solche normative
schen zugunsten von mehreren Kran-ken begründet              Ökonomik widerspricht dem christlichen (wie kanti-
werden. Diese Logik ist, wie schon oben erklärt, (zumal      schen) Verständnis unbedingter (nicht relativierbarer)
aus christlicher Sicht) inakzeptabel.                        Würde.

» Die Berechnungen von Young suggerieren, es                 » Wer im Menschenleben einen Wert an sich sieht
ginge in der Abwägungsfrage zwischen Lockdown                (wie es eine christliche oder auch kantische Ethik tut),
und Herdenimmunität nicht um ein Gegeneinander von           für den verbietet sich eine Übersetzung dieses Wertes
Leben und Wirtschaft, sondern um ein Abwägen von             in materielle Geldeinheiten. So wird der nicht unbe-
(gegenwärtigem) und (künftigen) Leben. Diese ethisch         dingte Wert dem Kriterium der Verrechenbarkeit unter-
klingende Deutung verkennt aber, dass hier menschli-         geordnet und geopfert. Konsequent könnten so ge-
ches Leben in der Kosten-Nutzen-Abwägung nur noch            samtgesellschaftlich grausame Maßnahmen begründet
sekundär eine Rolle spielt. Am Ende vergleicht Young         werden, etwa mit sozialdarwinistischen Konsequenzen
Geldsummen miteinander, die sich aus den VSLY-Spe-           für alte, sterbende, behinderte Menschen. Denn solche
kulationen ergeben haben. Damit geht es am Ende über-        Mitbürger kosten ja vermeintlich die Gesellschaft jetzt
haupt nicht mehr um den Selbstwert des Lebens, son-          etwas, wobei dieses Geld besser in die Zukunft inves-
dern allein um ökonomisch Messbares. Solches Denken          tiert werden sollte. Solche krude Logik und auch nur
ist eng verbunden mit einer ökonomischen Heuristik,          geöffnete Türen zu einer schiefen Bahn, die solches
die Nutzenbewertung zum Maß auch ethischer Bewer-            Denken ermöglichen, ist menschenverachtend und aufs
tungen machen will. Dazu zählen etwa die ökonomische         schärfste abzulehnen.

21                                                  „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.3.2 OBJEKTIVITÄT ALS ORIENTIERUNG

» Julian Jessop (2020) – in der Argumentationslinie             » Eine ausdrücklich christliche Perspektive berück-
von Michael Sandel – folgend sollte eine ethische Ab-           sichtigt dabei zudem, dass die Zukunft (und deren Le-
wägung von Menschenleben jenseits utilitaristischer             bensqualität) nicht schon heute exakt vorausberechnet
Versuchungen objektive Werte unterstellen, die nicht            werden kann, weil sie zudem mit dem freien Eingreifen
in Geld bewertet werden können, ohne dabei ihren                Gottes rechnet. Dieser lässt sich in seinem Wirken erst
wesentlichen Wert zu verlieren. Die Inkaufnahme von             recht nicht in die Schablone spekulativer Kosten-Nut-
Menschenopfern heute zugunsten kommender Men-                   zen-Spielereien pressen. Dies begründet auch eine Hal-
schenleben verbietet sich auch deshalb. Die so begrün-          tung menschlicher Bescheidenheit und / oder Demut.
dete Idee der Herdenimmunität ist (nicht allein wegen
ihrer Vagheit hinsichtlich der Immunitätswirkung) inak-
zeptabel.

» Das Beispiel von Pater Giuseppe Berardelli, der in
Bergamo sein Beatmungsgerät einem jüngeren COVID-19
Patienten überließ und anschließend starb (o.V. 2020), ist
ein Akt individueller Nächstenliebe, der hoch achtens-
wert ist. Daraus aber eine moralische Pflicht abzulei-
ten, nach der alle in vergleichbarer Situation so handeln
sollten, würde einer utilitaristischen Regel Vorschub
leisten, die die Nächstenliebe pervertiert. Individuelle
Motivation und allgemeine Regel mit ihren Folgen für
Menschenbild und Zusammenleben sind hier – etwa im
Sinne von Immanuel Kant – sauber zu unterscheiden.

22                                                     „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.4 CORONA-BONDS
Der Streit um die Corona-Bonds wirft grundsätzliche finanz- und geldpolitische Fragen auf, die auch über die
aktuelle Krise hinaus von hoher Bedeutung für den Zusammenhalt und Frieden in Europa sind.

                           5.4.1 RICHTIGE ZIELE

» Unstrittig sind die maßgeblichen Ziele, die mit den           » Besondere Hilfen für die besonders stark betroffe-
Corona-Bonds angestrebt werden: Nachhaltige Gesun-              nen europäischen Länder sind frag-los notwendig. An
dung der europäischen Wirtschaft, Vertrauen in Stabi-           dieser Hilfsbereitschaft wird sich tatsächlich die Zu-
lität und Währung, Stärkung des Zusammenhalts und               kunft der Idee Europa maßgeblich erweisen müssen.
Schwächung von Europafeindlichen Strömungen.
                                                                » Die besonderen Probleme der Gesundheitssysteme
» Die Bedenken, ob Corona-Bonds dafür das beste                 etwa in Italien und Spanien jetzt den Geberländern der
Instrument sind, wiegen schwer. Deshalb sollten auch            Schuldenkrise zuzuschieben, ist sachlich verkürzt und
alternative Möglichkeiten bedacht werden.                       wirkt spaltend. Darauf sollte verzichtet werden.

      5.4.2 SOLIDITÄT UND SOLIDARITÄT

» Das Paradigma der wirtschaftlichen Solidität nun              » Ein Grund für aktuelle wirtschaftliche Krisen ist auch
grundsätzlich in Frage zu stellen, widerspricht einer           eine schwache Eigenkapitalaus-stattung mittelstän-
freiheitlichen Gerechtigkeitsidee der Befähigung (Nass          discher Unternehmen. Diese wird überraschend vom
2012). Es müssen neben der solidarischen Hilfe dauerhaft        Deutschen Ethikrat (2020) als „naturgemäß“ bezeich-
Anreize gesetzt werden zu einer so-liden Finanz- und            net, obgleich die Eigenkapitalquote in Deutschland seit
Wirtschaftspolitik, gerade auch in den Krisenländern.           der Jahrtausendwende von 18 auf 31,2 % gestiegen ist
                                                                (Deutscher Mittelstandsbund 2019). Grund dafür sind die
» Mit der anhaltenden Politik des billigen Geldes hat die       wirtschaftlich erfolgreichen Jahre der Vergangenheit.
EZB sich jetzt in dieser Krise ihrer Instrumente beraubt.       Mittelständisches Wirtschaften ist in Deutschland also
Sie wird immer mehr zu einem wirkungslosen Beobach-             keineswegs naturgemäß Spitz auf Knopf genäht. Ohne
ter. Diese zunehmend fehlende Gestaltungskraft der              solchen Rückhalt droht schneller eine In-solvenz. Eine
Geldpolitik muss langfristig behoben werden, damit bei          dauerhafte Nullzinspolitik der EZB hat eine noch nach-
zukünftigen Krisen diese Instrumente wieder wirksam             haltigere Rücklagenbildung hierzulande verhindert. Viel-
greifen. Hierzu braucht es langfristig eine Abkehr von der      mehr kurbelt diese fortwährend Investitionen auf Pump
Null-Zins-Politik mit uferlosen Anleihekäufen.                  an, was in wirtschaftlich schwächeren Ländern jetzt ver-
                                                                heerende Wirkun-gen zeigen kann. In Zukunft müssen
                                                                neue geld- und fiskalpolitische Anreize gesetzt werden.
                                                                Ziel sollte eine auch international wirksame Stärkung der
                                                                Eigenkapitalbil-dung sein, um in künftigen Krisen noch
                                                                besser gewappnet zu sein.

23                                                     „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.4.3 MARSHALLPLAN STATT
                            CORONA-BONDS

Als konkretes Hilfspaket bietet sich eine Art Marshall-      Nehmens, wie es auch in einer Familie üblich ist. Zudem
plan an. Die starken Länder tun sich zusammen und un-        werden dadurch dauerhafte Soliditätsanreize nicht ge-
terstützen so mit hinreichend großen Beträgen die Kri-       mindert. Die Abhängigkeit von der Zinspolitik der EZB
senlän-der im Aufbau des Gesundheitswesens und zur           ist dadurch gekappt, was auf der anderen Seite geldpo-
Revitalisierung der Wirtschaft. Eine solche Maßnahme         litische Handlungsräume eröffnet. Und es besteht bei
ist zeitlich befristet und an klar definierte Maßnahmen      den ärmeren Ländern keine Pflicht einer Rückzahlung,
gebunden. Sie ist keine anonym vernebelte, sondern           was wiederum ehrlicher ist, Abhängigkeit mindert und
eine direkt sichtbare Hilfeleistung. Das schafft Trans-      Misstrauen abbaut.
parenz sowie eine Kultur des Gebens und dankbaren

24                                                  „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
6. FAZIT

Die Vielfalt sozialethischer Herausforderungen durch die       deutlich, dass mit der hier vertretenen christlichen Position
Corona-Krise und ihrer Folgen kann in diesem Positions-        utilitaristische Denkmodelle mit ihren Rechen- und Sprach-
papier nur angerissen werden. Vor allem bleibt am Ende         spielen ebenso abgelehnt werden wie vergemeinschaftete
die schwierige Abwägung, welches (durch das Virus              Schulden. Stattdessen wird als Maßstab immer wieder auf
verursachte) zusätzliche Lebensrisiko wir gesellschaft-        biblisch gut begründete Verantwortung, objektive Werte
lich akzeptieren wollen. Null-Risiko ist schließlich auch      und Würde gesetzt und auch eine wieder gesellschaftlich
in anderen Lebensbereichen nicht realisierbar. Die Ant-        wirksamere Rolle des christlichen Glaubens eingefordert.
wort auf diese Frage sollte letztlich den Weg ebnen zu
einer schrittweisen Lockerung der Zwangsmaßnahmen.             Diese Stellungnahme kann nicht alle aufgeworfenen Prob-
                                                               lemfelder lösen. Aber sie will helfen, diese klarer zu identi-
Es konnten hier zu relevanten Fragen einige Diskussions-       fizieren und letztlich auch im hoffenden Vertrauen auf Gott
linien nachgezeichnet und kritisch bewertet werden. Dies       Urteile zu fällen und konkrete Entscheidungen im Dilemma
dient dazu, einen Überblick zu behalten im Stimmengewirr       vorzunehmen. Mit solcher Kraft, die nicht allein aus uns
unserer Tage und dabei den roten Faden ethischer Be-           selbst kommt, überlassen wir die Lösung der aktuellen
wertung im Blick zu halten. Denn die Antwor-ten auf viele      Probleme und damit die Zukunft nicht anderen, sondern
Fragen gründen immer wieder in ähnlichen Denkmustern,          bringen mit Gottes Hilfe selbst Licht ins Dunkel dieser Zeit.
die man kennen und dann kritisch bewerten sollte. So wird

25                                                    „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
Sie können auch lesen