KRAFT, DIE ZUKUNFT FÜR SICH IN ANSPRUCH - Wilhelm Löhe Hochschule
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K R A F T, D I E Z U K U N F T FÜR SICH IN ANSPRUCH NIMMT 1 F Ü R E I N E M U T I G E E N T S C H E I D U N G S K U LT U R I M U M G A N G M I T S O Z I A L E T H I S C H E N D I L E M M ATA D E R C O R O N A - K R I S E POSITIONSPAPIER AUS DEM ETHIKINSTITUT DER WILHELM LÖHE HOCHSCHULE FÜRTH | MAI 2020 Prof. Elmar Nass, Foto von Sven Huls von Pexels Dr. theol., Dr. soc., phil. Habil. Institutsleiter 1
INHALT 1. Eine freiheitlich christliche Stimme 4 2. Aktuelle sozialethische Fragen 5 3. Kriterien ethischer Akzeptabilität 6 4. Herausforderungen und Positionen 7 4.1 Triage 7 4.1.1 Begriff 7 4.1.2 Dilemma der Priorisierung 8 4.1.3 Ethische Positionen zur Entscheidung 9 4.2 Sozialkultur 10 4.2.1 Social Distancing 10 4.2.2 Risiken des Egoismus 11 4.2.3 Internationale Verantwortung 11 4.3 Leben oder Wirtschaft 12 4.3.1 Ökonomisierter Lebenswert 12 4.3.2 Ein mathematisches Kalkül 13 4.4 Corona-Bonds 14 4.4.1 Pro 14 4.4.2 Contra 15 5. Problemanzeigen und Orientierungen 16 5.1 Triage 16 5.1.1 Priorisierung ohne Diskriminierung 16 5.1.2 Jenseits des Utilitarismus 17 5.1.3 Entscheidung und Glauben 18 5.2 Sozialkultur 19 5.2.1 Hoffnungsbilder 19 5.2.2 Enteinsamung 19 5.2.3 Tugendbildung 20 5.2.4 Internationale Hilfe 20 5.3 Leben oder Wirtschaft 21 5.3.1 Würdeschutz statt Herdenimmunität 21 5.3.2 Objektivität als Orientierung 22 5.4 Corona-Bonds 23 5.4.1 Richtige Ziele 23 5.4.2 Solidität und Solidarität 23 5.4.3 Marshallplan statt Corona-Bonds 24 6. Fazit 25 Abkürzungen 26 Quellen 27/28 2 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
GELEITWORT Das Coronavirus stellt uns vor große Herausforderungen und verändert Grundeinstel- lungen der Menschen. Das Koordinatensystem der Bürger verschiebt sich. Abstand, Rettungsschirm und Homeoffice sind nicht nur Schlagwörter geworden. Die Herausforderungen werden in unserer Gesellschaft verschieden diskutiert, je nach philosophischer Schule oder politischem Engagement. Die Vielfalt der Positio- nen ist nicht übersehbar und spürbar bei manchen Entscheidungen. Der Leiter des Ethikinstituts der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth, Prof. Dr. Dr. Elmar Nass, regt zur wissenschaftlichen Diskussion an, stellt die verschiedenen Positionen dar und gibt Orientierungen aufgrund der christlichen Wertebasis. Folgende sozial- ethischen Fragen beleuchtet er: Priorisierung bei Ressourcenmangel (Triage), Solida- rität auch im europäischen Kontext, Leben oder Wirtschaft retten? Großer Dank gebührt dem Autor Elmar Nass, der mit seinen Ausführun- gen zum Gespräch ermuntert. Nicht nur Studierende, sondern auch Synoden, Bischofskonferenzen, wissenschaftliche Medien und Politiker sind angefragt zur Dis- kussion. Ich wünsche gute Resonanz und „Bleiben Sie gesund“. Rektor em. Prof. Dr. h.c. Hermann Schoenauer, Pfarrer 3 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
1. EINE FREIHEITLICH CHRISTLICHE STIMME Sozialethische Wertediskussionen über die Maßnahmen Die Entscheidungen in den wichtigen sozialethischen Di- zur Bewältigung der Corona-Krise stehen noch am An- lemmata der Corona-Krise sollten nicht einfach den ver- fang. Wir vermissen hier eine hörbare Position, die eine meintlichen Experten, Politikern o.a. überlassen werden. wirtschaftlich vernünftige und christliche Perspektive Unsere gemeinsame mündige Urteilsbildung ist in einer miteinander vereint. Diese Lücke wollen wir schlie-ßen. lebendigen demokratischen Streitkultur gefragt und not- Der dafür hier vorgelegte Kompass bietet: wendig (Frick 2017). Wir richten uns mit diesem Positi- » die Identifizierung zentraler ethischer Fragen, onspapier so nicht allein an Verantwortungsträger in Po- » transparente Kriterien ethischer Bewertung, litik, Gesundheitswesen, Kirchen, Kultur, Wirtschaft und » die Würdigung und Diskussion von maßgeblichen Posi- Wissenschaft, sondern ausdrücklich auch an die breite tionierungen, Öffentlichkeit. Damit folgen wir der Aufforderung des » Problemanzeigen und / oder Orientierungsvorschläge. Deutschen Ethikrates (2020), begründungsstark, werte- Wir sehen in der Diskussion zahlreiche Bewertungen, transparent und kontrovers um eine solche Orientierung die sich etwa aus einer ökonomischen, kantischen, uti- zu ringen. Wir wollen einer – dem Geist unseres Instituts litaristischen, sozialistischen, diskursethischen o.a. Wer- gemäße –freiheitlichen wie einladend christlichen Stim- tebasis speisen. Dies ist in einer pluralistischen Demo- me Gehör verschaffen. kratie legitim. Solche Positionierungen sind nicht neutral Dabei erheben wir nicht den Anspruch, den Stein der und damit gesamtgesellschaftlich konsensfähig. Sie alle Weisen gefunden zu haben für Entscheidungen in allen fußen auf postulierten weltanschaulichen Axiomen. Des- möglichen Dilemmata. Vielmehr untersuchen wir vor- halb gebietet es die wissenschaftliche Redlichkeit, auch liegende Orientierungen und hinterfragen sie auf der solchen ethischen Positionen eine Stimme zu geben, Grundlage unserer Werteperspektive. Hierbei geht es die nicht wie selbstverständlich säkularer Natur sind. zum einen darum, Inkonsistenzen oder Unklarheiten sol- Eine christlich-sozialethische Positionierung darf des- cher Orientierungen aufzudecken. Zum anderen können halb einfordern, auf Augenhöhe gehört zu werden, auch auch konkrete Handlungsempfehlungen zur Diskussion wenn nicht alle Menschen deren Postulate teilen. Sie gestellt werden. versteht sich als ein einladendes Diskussionsangebot neben anderen. 4 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
2. AKTUELLE SOZIAL- ETHISCHE FRAGEN Die aktuelle Corona-Krise konfrontiert uns weltweit und mit einer Reihe von sozialethischen Dilemmasituationen. auch in Deutschland neben den damit verbundenen me- Sie sind unsere Themen. Wesentliche Fragekomplexe dizinischen, epidemiologischen u.ä. Herausforderungen sind die folgenden: SOZIALETHISCHE FRAGEN » Priorisierung zur Bereitstellung intensivmedizinischer Beatmung bei Ressourcenmangel » Folgen des Lockdowns für die Sozialkultur » Leben und/oder Wirtschaft retten? » Wirtschaftlicher Aufbau mit oder ohne Corona-Bonds? 5 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
3. KRITERIEN ETHISCHER AKZEPTABILITÄT Nach unserer Überzeugung entspricht es den Grund- EINE CHRISTLICHE POSITIONIERUNG ideen Sozialer Marktwirtschaft, in ordnungspolitischen ERGÄNZT: wie sozialethischen Fragestellungen marktwirtschaft- » Die Frage nach den Folgen für die Verantwortung des liche und christliche Vernunft zusammenzubringen. Wir Menschen vor sich, voreinander und vor Gott (als dem sehen kein Gegeneinander von wirtschaftlicher und et- Maß des Guten). hi-scher Perspektive, sondern halten Lösungen für dann » Sie unterstellt die in der Gottesebenbildlichkeit des Men- schen begründete unantastbare Würde jedes Menschen legitim, wenn sie beide Perspektiven gleichermaßen be- vom Anfang des Lebens bis zum Ende. rücksichtigen. Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie » Sie vertritt das Ideal eines auch affektiven Miteinanders ist dem Ziel der Menschendienlichkeit verpflichtet, wel- der Menschen (irenisch-inklusive Idee der Menschheits- che etwa in den Grundrechten kodifiziert sind. familie, einschließlich der Nicht-Christen) Die ethische Perspektive traut einer marktwirtschaft- Gesellschaftliche Akzeptanz (etwa die Duldung von lichen Sicht zugleich eine eigene ethische Kompetenz Zwangsmaßnahmen) ist kein hinreichen-des Kriterium zu, indem diese transparent die Verschwendung knapper ethischer Akzeptabilität. Dafür braucht es vielmehr einen Ressourcen vermeiden hilft. Abgleich mit der transparent gemachten Wertebasis. Die in diesem Papier vorliegende Bewertung von Geset-zen Das Werturteil über die Legitimität einer vorgeschlage- und anderen Regeln im Rahmen der Corona-Krise ist nen Regel, eines Gesetzes o.a. erfolgt aus der Zusam- nicht das Ergebnis einer Verfahrensethik, die verschie- menschau folgender vier Aspekte: dene substantielle ethische Positionen zu einem Kon- sens führen will. Sie ist vielmehr selbst eine substantielle, und damit begründungstransparente Position, ohne die jede Verfahrensethik in die normative Leere liefe. WERTEKRITERIEN ALLGEMEIN: Wir bieten damit grundsätzlich eine eigene Position von Akzeptabilität an. Daran messen wir kritisch vorlie- » Lösungskompetenz im konkreten Dilemma, gende säkulare und kirchliche Papiere. Diese Stellung- » Verteilungsgerechtigkeit knapper Ressourcen, nahme macht vor allem im Vertrauen des christlichen » Folgen für das Menschenbild, Glaubens Mut, sich auch unter Unsicherheit den allein » Folgen für das Zusammenleben in der Gesellschaft mit menschlicher Vernunft nicht auflösbaren Dilemmata offen zu stellen und so zu einer optimistischen Entschei- dungskultur zu motivieren, die Zukunft gut zu gestalten. 6 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4. HERAUSFORDERUNGEN UND POSITIONEN 4.1 TRIAGE Erklärtes gesellschaftliches Ziel ist die Vermeidung des Betten mit Beat-mutsgeräten. In Ländern wie Italien Dilemmas einer Triagierung von bedürftigen COVID- wurden hierzu entsprechende Regelungen bereits ver- 19-Patienten bei der Vergabe von intensivmedizinischen öffentlicht und praktiziert (Lübbe 2020). 4.1.1 BEGRIFF Der Begriff „Triage“ stammt aus der napoleonischen Hilfe aber vermutlich überleben. Anschließend werden Kriegführung (Stoecker 2020). In der Versorgung der diejenigen versorgt, die auch ohne Hilfe vermutlich verletzten Soldaten ging es darum, bei knappen Pflege- überleben, deren Überlebenschance man aber so er- ressourcen die Schlagkraft der Truppe zu optimieren. höht. Nicht versorgt werden zunächst jene, die auch In der Rettungs- und Katastrophenmedizin findet eine ohne Versorgung gute Überlebenschancen haben und analoge Priorisierung der Pflege bzw. Versorgung statt. jene, die trotz Versorgung vermutlich sterben werden Unterschieden werden vier Stufen. Zuerst werden die- (vgl. Lübbe 2020). jenigen versorgt, die ohne Hilfe vermutlich sterben, mit 7 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.1.2 DILEMMA DER PRIORISIERUNG Das Dilemma der Triagierung besteht in der Verletzung » In der Priorisierung soll dann nach individueller des Gebots der Lebenswertindifferenz (Deutscher Ethik- Erfolgsaussicht der Behandlung (unter Berücksichti- rat 2020). Dieser Verstoß wird begründet mit der fakti- gung von Prä- und Ko-Morbidität) vom behandelnden schen Unmöglichkeit, im Sinne des Prinzips „Ultra posse interdisziplinären Team entschieden werden (Ärzte, nemo tenetur“. Es gibt eine exante Priorisierung, wenn Pflege, ggf. Ethikberater). bei neuen Patienten die Bettenkapazität nicht ausreicht, und eine expost-Priorisierung, wenn ein bereits beatme- » Für die Priorisierung kommen dabei die vier klassi- ter Patient zugunsten eines schwerer Erkrankten von der schen Stufen der Triage zur Intensivstation wieder verlegt wird. Voraussetzung dafür Anwendung. ist eine Re-Evaluation des Therapiezieles bei dem dann Verlegten. Strenge Voraussetzungen für die Anwendung » Die schließlich nicht Versorgten werden anderweitig der Triage-Logik in der Versorgung mit Beatmungsgerä- bestmöglich gepflegt (etwa auf Palliativstationen). ten von Covid-19-Patienten auf Intensivstati-on sind nach der Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Verei- In der Priorisierung sollen nach deutschem Recht Diskri- nigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (2020) und minierungen (nach Alter, sozialem Stand, charakterlicher der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) folgende: Güte, Rasse, Geschlecht usw.) unbedingt vermieden wer- den. » Keine Benachteiligung von Patienten mit anderen Erkrankungen, Es wird deutlich, dass im schlimmsten Fall selbst unter Anwendung aller Kriterien eine Priorisierung vorgenom- » medizinische Indikation der COVID-19 Patienten, men wird, die Menschenleben kostet, die ohne solche Notsituation hätten gerettet werden können. » vorliegender Patientenwille zur Beatmung, » fehlende Ausweichmöglichkeit zur Versorgung (Ressourcenmangel). 8 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.1.3 ETHISCHE POSITIONEN ZUR ENTSCHEIDUNG Für die Versorgung von Covid-19 Patienten werden verschie- • „Gerechtigkeit, verstanden als Pflicht, knappe Res- dene Anwendungen solcher Priorisierung vorgeschlagen: sourcen so effizient wie möglich einzusetzen und bei Allokationsentscheidungen fair vorzugehen und » Der Deutsche Ethikrat (2020) lehnt eine expost-Priori- dabei zugleich der individuell betroffenen PatientIn sierung grundsätzlich ab, die diese einer Tötung gleich- gerecht zu werden. komme. Utilitaristische Kriterien werden abgelehnt. • Nichtschaden, verstanden als primäre Pflicht, durch » Die DIVI (2020) und die AEM halten im Notfall exante Allokationsentscheidungen zu knappen Ressourcen und ex-post-Priorisierungen für legitim, ebenso die Ös- das Versorgungssystem nicht zu gefährden und dabei terreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reani- zugleich keine Behandlungen durchzuführen, welche mation und Intensivmedizin (ÖGARI). für die individuell betroffene PatientIn mehr Schaden » Ralf Stoecker (2020) trägt mögliche Bedenken gegen als Nutzen bringen. die Vorschläge von DIVI und AEM zusammen. Er fragt: • Wohltun, verstanden als Pflicht, mit den knappen Ressourcen den größtmöglichen Nutzen für die • Sollte das behandelnde Team in der konkreten Ent- größtmögliche Zahl an Betroffenen zu erzielen und scheidung entlastet werden? Das spräche für Rege- dabei zugleich jene Maßnahmen zu setzen, welche lungen auf höherer oder sogar gesetzlicher Ebene. dem Wohl der individuell betroffene PatientIn am • Gibt es überhaupt objektive Kriterien für die so ge- meisten entsprechen. nannte Aussichtslosigkeit einer Behandlung? • Autonomie (Respekt gegenüber der anvertrauten • Sollten nicht neben der Erfolgsaussicht der Therapie Person), verstanden als Pflicht, die individuell Be- doch andere Kriterien einbezogen werden (etwa sozi- troffenen auch in Ausnahmesituationen nicht zum ale Verantwortung der Person, Berufe wie z.B. Ärzte bloßen Objekt von Allokationsentscheidungen zu de- und Pfleger, Alter o.a.) gradieren und dabei zugleich die Grenzen individueller • Öffnet die Re-Evaluation ex-post nicht das Tor zur Tö- Freiheit bei Fremdgefährdung im Blick zu behalten.“ tung (im Sinne des Deutschen Ethikrates)? • Inwieweit wird die psychische Belastung der Ärzte » Weyma Lübbe (2020) wendet sich ausdrücklich gegen und Pflegekräfte mit berücksichtigt? (Care-Ethik). die utilitaristischen Triage-Empfehlungen der italie- nischen SIAARTI-Mediziner. Diese hatten gefordert: » Stöcker (2020) hinterfragt auch grundsätzlich die Priori- „Ressourcen, bei denen erhebliche Knappheit eintreten sierungskriterien mithilfe verschiedener ethischer Posi- könne, seien zunächst [1] für denjenigen zu reservieren, tionen: der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit habe, • Der Utilitarismus bietet mit dem Kriterium der höchst- und zweitens [2] für denjenigen, der mehr Jahre geret- möglichen Zahl geretteter Leben oder mit dem QALY- teten Lebens („più anni di vita salvata“) erreichen könne, Kriterium einen transparenten Differenziator. Die Er- im Blick auf [3] eine Maximierung des Nutzens („dei be- rechnung von erfüllten Lebensjahren (QALY) etwa ist nefici“) für die größte Anzahl der Personen.“ Lübbe hält dann das Maß der Entscheidung. Gegen die Anwen- dagegen: dung utilitaristischer Logik aber spreche die Gefahr, • Hierbei handelt es sich um eine Abkehr von der klas- dass hier Leben für anderes Leben geopfert werden sischen Triage-Logik. Die Rettung möglichst vieler könnte. Dies begründe eine schiefe Bahn. Sie könnte Leben sei ersetzt durch die Maximierung der zu ret- in der Forderung münden, wenige Ge-sunde auszu- tenden Lebensjahre. weiden zugunsten von vielen Kranken. • So werden die medizinische Bedürftigkeit als Krite- • Unter der Überschrift ‚Gerechtigkeit‘ wird von Stoe- rium zurückgestuft und möglicherweise jüngere Men- cker ein Gleichheitsgebot angeführt. Um dem Übel schen älteren vorgezogen, obwohl die jüngeren auch auszuweichen, dass im Falle der Ressourcenknapp- ohne Behandlung wahrscheinlich überlebt hätten. heit dann keiner behandelt wird, könnte ein durch • Kontraktualistisch begründet stellt Lübbe dagegen, Erfolgsaussichten gewichtetes Lotterieverfahren zur es müsse an der klassischen Triage-Logik festgehal- Anwendung kommen. ten werden. • Religiöse Motive sollen aus Empfehlungen für Ent- • Auch solle auf den Nutzenbegriff in der Priorisie- scheidungen herausgehalten werden. rungsdiskussion verzichtet werden. Vielmehr sollten » Die ÖGARI bringt die vier medizinethischen Pflicht-Prin- Rechte gegeneinander abgewogen werden. zipien von Beauchamp / Childress in einer freien Inter- pretation zur Anwendung. Es gehe darum, 9 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.2 SOZIALKULTUR Die Einschränkung vieler Grundrechte hat Folgen auf die Kultur des Zusammenlebens, individuell, national und international. 4.2.1 SOCIAL DISTANCING Viele Zwangsmaßnahmen folgen einer Logik des so ge- bunden. Sterbende und Kranke können kaum besucht nannten Social Distancing. Das dadurch angestrebte werden. Wichtige, aber vermeintlich weniger dringen- Ziel ist ein Abflachen der Infektionskurve soweit, dass de Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte werden der Infektionsgrad pro Infizierten dauerhaft unter 1,0 verschoben. Solche Einschränkungen beschneiden als sinkt. Damit verbunden sind diverse Einschränkungen Notstandsgesetze wesentlich die Grundrechte. Lang- mit wirtschaftlichen, aber eben auch darüber hinaus fristig könnte dadurch die Demokratie gefährdet wer- gehenden kulturellen Konsequenzen. Öffentliche Got- den. Sie sind zugleich Nährboden für (auch seelische) tesdienste, Musik- und Sportevents, politische Kund- Krank-heiten jenseits von Covid-19 (Deutscher Ethikrat gebungen, wissenschaftliche Tagungen, Theaterauf- 2020). Wann und wie weit sollen wir also wieder zur führungen, aber auch private Feiern wurden verboten. Normalität zurückkehren? Peter Dabrock und Steffen Kitas, Schulen, und Hochschulen wurden geschlossen. Augsberg (2020) vom Deutschen Ethikrat empfehlen Scharfe Beschränkungen gab es für die Bewegungs- dazu frühzeitige Szenarien. Das motiviere zum Durch- freiheit und auch private Besuche (etwa auch im Kran- halten, weil Menschen Hoffnungsbilder brauchen. Sol- kenhaus, Altenheim etc.). Neben den damit verbunde- che ersten Öffnungen werden nach günstigen Zahlen nen wirtschaftlichen Folgen sind Phänomene wie ein der Infektionsrate inzwischen in Deutschland prak- weiteres Aufgehen der sozialen Schere (etwa im Bil- tiziert. Zu solchen Motivationsbildern zählt offenbar dungsbereich), häusliche Gewalt, Einsamkeit, aus-fal- auch die Fußball-Bundesliga, weil anders als in anderen lende Urlaube, fehlende Freizeitangebote (besonders Sportarten (z.B. Handball) über deren Fortsetzung der auch für Kinder oder Menschen mit Behinderung), Kom- Saison mit Geisterspeilen laut nachgedacht wird. munikation, Bildung, Ablenkung und Lebensfreude ver- 10 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.2.2 RISIKEN DES EGOISMUS In Deutschland werden aktuell die Zwangsmaßnahmen von Natur aus egoistische und empathisch-soziale noch weitgehend friedlich hingenommen (Deutscher Motivationen. Den Egoismus durch Umerziehung ge- Ethikrat 2020). Es zeigten sich auch viele erfreuliche waltsam auszutreiben, führt in die Diktatur und wird Initiativen gegenseitiger Hilfe, von denen manche so- scheitern. Wie also stellt sich unser Miteinander dar, gar als „Helden des Alltags“ im Fernsehen gewürdigt wenn die unmittelbare Bedrohungslage durch das Vi- wurden. Hier offenbarte sich ein Geist des Miteinan- rus abnimmt und die Menschen sich der Folgeschäden ders über Generationen hinweg. Andererseits erlebten mehr und mehr bewusst werden. Könnte es nicht sein, wir aber auch tumultartige Kampfszenen ums Klopapier dass hier die so genannte Risikogruppe (vor allem der oder vor den Einschränkungen Corona-Partys, mit de- alten Menschen und derer mit Vorerkrankungen) zum nen sich junge Menschen lustig machten über die Krise. Sündenbock gemacht wird. Dies könnte nicht nur absur- Was schon Adam Smith in seiner Theorie der ethischen de politische Forderungen von Umverteilung, sondern Gefühle erkannte: Offenbar befinden sich im Menschen auch gesellschaftliche Spaltung begünstigen. 4.2.3 INTERNATIONALE VERANTWORTUNG Vergessen wir auch nicht die internationale Perspekti- wegen, sondern allein dem Gebot der Menschlichkeit ve. Der weitere Blick muss auch die armen Regionen der folgend muss hier dringend vorbeugend und flankierend Welt in den Blick nehmen. Gerade dort drohen Katast- geholfen werden. Wie können wir uns hier als Mensch- rophen ungeahnten Ausmaßes, etwa in Slums, Favelas, heitsfamilie bewähren? Staatliche Transfers etwa aus in Gegenden ohne Krankenhäuser und ohne sauberes Deutschland sind schon in Aussicht gestellt. Reicht Wasser. Der Ausbruch des Virus dort könnte schnell das? neue Fluchtbewegungen auslösen. Aber nicht nur des- 11 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.3 LEBEN ODER WIRTSCHAFT 4.3.1 ÖKONOMISIERTER LEBENSWERT Gerade im angelsächsischen Raum hört man immer meidbar. Das ist vor allem ein Gewinn für die Zukunft, wieder das Argument, eine Herdenimmunität müsse einschließlich der kommenden Generationen. Noch das Ziel sein. Etwa der später selbst von Covid-19 be- größere Schuldenberge bleiben ihnen erspart. Das troffene britische Premier Boris Johnson oder der Gou- Gesundheitssystem der Zukunft leidet nicht unter den verneur des US-Staates Texas Greg Abbot hielten es für dann ja fehlenden finanziellen Ressourcen. Das rettet das beste, der Alltag (vor allem der wirtschaftliche) sol- in Zukunft Menschenleben. Dieser Gewinn an Lebens- le keinen Zwangsbeschränkungen ausgesetzt werden. qualität wirkt schon in der Gegenwart, weil jetzt be- Dadurch werden wirtschaftliche Schäden gemindert reits Arbeitsplätze gesichert sowie häusliche Gewalt, und Schuldenpakete möglichst reduziert. Andererseits Vereinsamung usw. verhindert werden. Auch biete die muss man aktuell mehr Menschenleben opfern. mit der Herdenimmunität ausdrücklich gewünschte Doch dieses Aufrechnen zwischen Wirtschaft und hohe Infektion der Gesellschaft den besten Schutz vor Menschenleben sei verkürzt, so Toby Young (2020), ein möglicherwiese weiteren Infektionswellen. Hierbei ist Befürworter des Konzepts der Herdenimmunität. Denn zu unterscheiden zwischen dem Modell einer umfas- bei einer solchen Unterstellung werde Folgendes über- senden und einer regulierten Herdenimmunität, mit der sehen: Auch die übrigen negativen Folgen eines Lock- sich dann zu ihrem Schutz nur alte und andere, beson- downs, die oben bereits im Abschnitt zur Sozialkultur ders gefährdete Menschen exklusiv entsprechenden angesprochen wurden, sind bei einem uneingeschränkt Zwangsmaßnahmen unterziehen müssen (Deutscher gesellschaftlichen und ökonomischen Alltag ver- Ethikrat 2020). 12 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.3.2 EIN MATHEMATISCHES KALKÜL Dem vor allem langfristigen Gewinn an Leben und Le- so etwa auch gewonnene Lebensjahre durch einen im bensqualität stehen im Modell der Herdenimmunität Lockdown schonenderen Umgang mit der Umwelt und gegenwärtigen Opfer gegenüber, also Menschen, die weniger Alkoholtote im Pub. Am Ende stehen dann ver- durch die ungezügelte (oder nur wenig geminderte) lorene Lebensjahre (gemessen in Geld) gegeneinander. Infektion starke Leiden ertragen oder sterben. Ob ein Und Young kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Her- Lockdown nun gerechtfertigt ist oder nicht, sei also denimmunität hier langfristig eindeutig lohne. Opfer nicht eine Frage der Abwägung zwischen Wirtschaft von Lebensjahren (Menschen) heute werden mehr als und Leben, sondern zwischen Leben und Leben. Als kompensiert durch damit gewonnene Lebensjahre der Maß dafür stellt Young am Beispiel Großbritanniens ei- Zukunft. nige Berechnungen an, die die Schuldenpakete ebenso berück-sichtigen wie den in britischen Pfund bemesse- Julian Jessop (2020) greift diese Berechnungen auf und nen Wert von geretteten Lebensjahren. Hier-bei kommt wendet ein, man käme mit veränderten Zahlenspielen das utilitaristische Modell des ökonomischen Wertes vermutlich zu einem anderen Ergebnis der Kosten-Nut- eines statistischen Lebensjahres (VSLY) zur Anwen- zen-Analyse. Vor allem aber hält er dieses Verfahren dung, das (unter Ausschluss des Kriteriums der Lebens- zur Abwägung von Menschenleben für illegitim. Er ver- qualität) an das QALY-Kriterium angelehnt ist. Der VSLY weist darauf, dass eine ähnliche Logik etwa im Zwei- bemisst nun in Geld die Zahlungsbereitschaft einer ten Weltkrieg die USA und Großbritannien als Alliier- bestimmten Kohorte (einer Gesellschaft o.a.) für den te hätte davon abhalten müssen, eine Landung in der potentiellen Zugewinn eines Lebensjahres. Mit diesem Normandie vorzunehmen mit all den Toten. Trotzdem Wert als Grundlage werden dann die Opfer an Lebens- sei diese Entscheidung legitim. Es gebe also Werte, die jahren heute (durch höhere Mortalität bei Herdenimmu- nicht Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden dür- nität) mit den zukünftigen Opfern an Lebensjahren (bei fen, die man nicht in Geld bemessen kann oder darf (vgl. jetzigem Lockdown) verglichen. Hierbei werden alle Sandel 2013). möglichen Sekundär- und Spätfolgen mitberücksichtigt, 13 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.4 CORONA-BONDS 4.4.1 PRO So genannte Corona-Bonds (als neu Auflage der nachhaltig internationales Vertrauen der Märkte her- €-Bonds) werden u.a. aktuell in einem Appell des So- gestellt werden könne. Dies ist offenkundig wesentli- zialwissenschaftlichen Instituts der EKD als Ausdruck che Voraussetzung für eine dauerhafte wirtschaftliche europäischer Solidarität ge-fordert (Lämmlein / Mayert Erholung nach der Krise. Hier dürfe es keine Unsicher- 2020). Dabei handelt es sich um die Idee einer Anleihe, heiten geben. Anders als in der €-Schuldenkrise seien für die alle EU-Staaten gemeinsam haften. Dadurch jetzt Länder ohne eigenes Verschulden in eine beson- wird es wirtschaftlich schwächeren Länder (Spanien, dere Krise geraten. Deshalb dürfe es jetzt auch keine Italien. Griechenland u.a.) ermöglicht, zu günstigeren strikten Auflagen geben. Europa müsse zudem aus den Zinsen auf dem Markt Kapital aufzunehmen. Sie profi- in jener Krise gemachten Fehlern lernen. Die damaligen tieren also von der höheren Bonität der reicheren Län- Hilfspakete der EU und EZB seien als Gängelung emp- der (wie Deutschland, Österreich, Niederlande u.a.). funden worden. Das habe zu einer Entsolidarisierung Vorgeschlagen wird in einer ersten Tranche eine Aus- geführt, populistische Bewegungen gestärkt und eine gabehöhe von 1 Bio. € mit einer Laufzeit von 30 Jahren. Austeritätspolitik verursacht. Gerade diese sei jetzt Falls das nicht ausreicht, sollten weitere Tranchen fol- aber schuld daran, dass die Gesundheitssysteme jener gen. Gerade die davon profitierenden Länder (die zumal Länder nun nicht für den externen Corona-Schock ge- gerade von der Corona-Krise besonders betroffen sind) rüstet sind. Und so seien eigentlich diejenigen, die in fordern solche Anleihen, während sich Deutschland u.a. Folge der €-Krise Finanz-Solidität forderten, die jetzt dagegenstellen. Als Begründung für die Corona-Bonds Schuldigen an den vielen Toten etwa in Spanien und wird angeführt, dass diese in besonderer Weise dazu Italien. Es brauche deshalb nun auch langfristig eine geeignet sind, den europäischen Geist des Zusammen- Abkehr von solcher Logik der Solidität hin zu einer mehr halts zu stärken und den europäischen Binnenmarkt, oder minder grenzenlosen Solidarität, so wie es in der von dem auch Deutschland stark profitiert, wieder an- Schuldenkrise schon Friedehelm Hengsbach (2011) ein- zukurbeln. Werde diese Chance jetzt vertan, müsse man forderte. Die Corona-Bonds aber führen nach Ansicht mit einem weiteren Auseinander-brechen der EU rech- des SI keineswegs zu einer langfristigen Schuldenuni- nen, ebenso mit einer langfristigen Rezession auch in on, weil sie ja zeitlich und sachlich befristet seien. Deutschland. Als Vorzüge werden genannt, dass nur so 14 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
4.4.2 CONTRA Gegen eine solche Forderung wendet sich bislang etwa sich gerade aus dieser Solidaritätsfalle auszuklinken. die deutsche Regierung, mit ihr freiheitliche Ökonomen Trotz schwindelerregender Höhen der TARGET-Salden (Krämer 2020 u.a.). Ihnen erscheint es fraglich, ob die (935 Mrd. € zum 31.3.2020, vgl. Deutsche Bundesbank Corona-Bonds tatsächlich alternativlos sind zur Ret- 2020), mit denen etwa Deutschland die Volkswirtschaf- tung des Projektes Europa. Die damit verbundene Ge- ten Spaniens und Italiens am Laufen hält, trotz exor- meinschaftshaftung widerspricht den Prinzipien des bitanter Anleihekäufen der EZB, die als fiskalpolitisch Stabilitätspaktes. Es ist keineswegs sicher, dass es wirksame Eingriffe auch gegen die Europäischen Ver- sich dabei um ein zeitlich befristetes Projekt handelt. träge verstoßen, gab es gegenüber Deutschland, das Die angepeilte Zeitdauer von 30 Jahren mit der Option davon nicht profitier-te, Beschimpfungen und Hitler- weiterer Tranchen spricht eine andere Sprache, eben- Vergleiche. Man kann also das Szenario auch anders so die Erfahrungen mit den EZB-Anleihekäufen. Immer deuten: Bei uns punkten Populisten gerade mit dem wieder wird es neue Gründe geben für Ver-längerungen Gefühl, als starke Volkswirtschaft gemolken zu wer- und neue Tranchen. Und es handle sich doch um ein den, ohne Dank dafür und ohne hinreichende Anstren- Instrument einer Schuldenunion, was ebenfalls den EU- gungen anderer Länder, selbst wieder auf die Beine zu Verträgen widerspricht. Die Frage müsse auch gestellt kommen. Die Hilfen der Starken werden nun über das wer-den, ob es tatsächlich der beste Weg ist, grenzen- Instrument der Corona-Bonds wieder anonymisiert lose Kredite (oder Ankäufe der EZB) in Aussicht zu stel- und verschleiert. Ein Geist des familiären Miteinanders, len, „whatever it costs“. Austeritätspolitik sei dem SI zu dem eben auch Dankbarkeit gehört, wird so unter- zufolge schon in der Ver-gangenheit der falsche Weg miniert. Am Ende ist dann nicht mehr durchschaubar, gewesen. Aber was ist das neue Paradigma der Zukunft, wer hier eigentlich wem geholfen hat. Zusammenge- wenn das Schlimmste der aktuellen Krise überstanden hörigkeit zu stärken und Populismus zurückzudrängen ist? Schulden ohne Ende ohne Anreize zur Solidität? ist aus einer solchen Sicht gerade nicht das Resultat Das werden auf Dauer auch die starken Volkswirtschaf- davon, jetzt und in Zukunft das Paradigma der Solidität ten Europas nicht mittragen können (Nass 2012). Das und Hilfen in Bonds zu verstecken. In dem Sinne wären Ergebnis davon ist dann gerade nicht eine Stärkung des Corona-Bonds nun das falsche Signal. Aber was könnte Zusammenhalts oder eine Schwächung des Populismus. dann die Alternative sein? Im Gegenteil: Großbritannien hat den Exit gewählt, um 15 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5. PROBLEMANZEIGEN UND ORIENTIERUNGEN Es folgen nun einige Problemanzeigen in der Diskussion und Orientierungen. 5.1 TRIAGE Das Dilemma von konkreten Triage-Entscheidungen soll möglichst durch entsprechende Rahmenbedingungen der Politik u.a. vermieden werden. Unter diese Bedingung stehen die folgenden Bemerkungen. 5.1.1 PRIORISIERUNG OHNE DISKRIMINIERUNG » Die Priorisierungsentscheidung sollte möglichst vor Ort wie ein Kriterium der Aussichtslosigkeit gibt, dann gebie- getroffen und nicht auf Gesetze oder anonyme Regeln ab- tet dieses Prinzip der Lebensrettung die Versorgung des geschoben werden. Hier nehmen Ärzte und Pflegekräfte Patienten, bei dem Therapieerfolg in Aussicht steht. Eine wesentliche Verantwortung wahr. Dies gehört zur Entfal- Abwägung nach bloß vagen Wahrscheinlichkeiten des The- tung des erfüllten Menschseins. Allgemeinere Empfehlun- rapieerfolgs hingegen, etwa unter Anwendung der für die gen ohne einen bindenden Charakter können dabei aber Zusatznutzenbewertung von Medikamenten und Therapien eine Hilfe sein. zur Anwendung kommenden und dort bewährten IQWiG- Kriterien (Mortalität, Morbidität, Nebenwirkungen und » Ex-post und ex-ante Priorisierung in normativer Hinsicht Lebensqualität), ist hier aber nicht akzeptabel. Weder kann qualitativ zu unterschieden, überzeugt nicht hinreichend. hier eine Evidenz vorausgesetzt werden, noch sollte damit Die Folgen solcher Priorisierung sind analog. Folgendes Lebenswürdigkeit gemessen werden. Dies führte dann Beispiel macht dies plausibel. Zum Vergleich stehen zwei doch wieder zu einer Form abgestufter Menschenwürde. Verhaltensweisen: Entweder enthalte ich einem Verhun- Eine Anwendung dieses Priorisierungsgebots der Triage gernden mein Brot, das ich im Überfluss habe, vor, oder ich steht moralisch demnach auf wackeligen Füßen. nehme ihm sein letztes ab. Im ersten Fall missachte ich das Naturrecht des Verhungernden zum Überleben, welches » Bevorzugungen von Patienten mit COVID-19 gegen- mein Eigentum unbedingt verpflichtet. Im zweiten Fall ist über Patienten mit anderen, ent-sprechend gravierenden dieses Vorenthalten noch mit einem Diebstahl verbunden. Indikationen sind nicht akzeptabel. Dies widerspricht dem Moralisch besteht kein wesentlicher Unterschied. Bedürftigkeitsprinzip. Eine Bevorzugung von bestimmten Berufsgruppen klingt zunächst plausibel, ist aber vom Ver- » Bei der Anwendung der vier Triage-Stufen zur Priori- ständnis gleicher Würde her nicht akzeptabel. Ver-antwor- sierung wiegt besonders die Frage schwer, warum Hilfsbe- tungsethisch könnte darüber nachgedacht werden, dass dürftige, die kaum (oder keine) Aussicht auf Therapieerfolg auch nachgewiesen schuldhaftes Verhalten (etwa bei der haben, gegenüber weniger Hilfsbedürftigen mit höherem Ansteckung) mitberücksichtigt werden könnte. Doch lässt Therapieerfolg nachrangig behandelt werden sollen. Hier sich dies in der Praxis wohl schwer umsetzen. Diskriminie- bleibt zum einen die Frage, ob es tatsächlich ein sicheres rungen von Menschen nach welchen (sozialen o.a.) Krite- Kriterium für eine mehr oder minder aussichtslose Therapie rien auch immer sind nicht akzeptabel. Dies öffnet ansons- gibt. Und wenn es sie gäbe: Dann wäre ihre Zurückstellung ten die Tür für eine abgestufte Würdigkeit von Menschen eine Diskriminierung bei Verletzung des Bedürftigkeitsprin- und das Reden von einem mehr oder weniger lebenswerten zips. Für diesen Fall kann als objektives Prinzip die Lebens- Leben. rettung hergenommen werden. Wenn es also so etwas 16 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.1.2 JENSEITS DES UTILITARISMUS » Der Utilitarismus als Triage-Kriterium ist abzuleh- » Das Gerechtigkeitsargument als vorgeschlagene nen. Ein solches Denken verändert das gesellschaftli- Alternative zum Utilitarismus von Stoecker (2020) irri- che Bild von Mensch und Zusammenleben. Es könnten tiert. Schließlich ist auch der Utilitarismus eine Gerech- die Opfer Weniger zugunsten Vieler eingefordert wer- tigkeitsidee. Gerechtigkeit einfach mit Egalitarismus den. Das entwürdigt und spaltet. Der Wert eines alten gleichzusetzen, ist zu kurz gedacht. Hier sollte die Be- Menschen ist (zumal aus christlicher Sicht) nicht gerin- grifflichkeit überprüft werden. ger als der eines jungen Menschen. Wer solches Wür- deverständnis in Frage stellt, verlässt auch den Boden » Das Wording in der Priorisierung sollte Lübbe unserer Verfassung. Das QALY-Kriterium in der Priori- (2000) folgend auf den Nutzenbegriff verzichten, um sierung diskriminiert auch Menschen mit Behinderung. eine klare Abgrenzung vom Utilitarismus auch in der Auch das ist inakzeptabel. Wortwahl kenntlich zu machen (vgl. auch Nass 2020a). » Triage-Empfehlungen der italienischen SIAARTI- » Die österreichische Variante der Pflichtenethik inte- Mediziner wenden das QALY-Kriterium an und opfern griert individuelle und ökonomische Perspektiven. Die damit ohne Not Menschenleben, die unter Anwendung Vielzahl der hier einfließenden Kriterien hilft für kon- der klassischen Triage-Logik gerettet würden. Das ist krete Entscheidungen aber wenig. Das Abwägungspro- inakzeptabel. Die kontraktualistische Begründung von blem der Prinzipien von Beauchamp und Childress wird Weyma Lübbe (2020) grenzt sich nicht hinreichend von noch verschärft. Eine reine Pflichtenethik fördert ein utilita-ristischem Denken. Mache ich einfach nur die anonymes Nebeneinander der Menschen, welches dem Zahl der Überlebenden zum Kriterium, erkläre dies als Geist eines auch affektiven Miteinanders in unserer Ge- Nutzen, so könnte dies einem kontraktualistischen Uti- sellschaft wiederspricht. Dieser soziale Zusammenhalt litarismus (John Harsanyi) nahekommen. Überzeugen- ist aber gerade jetzt angesichts zahlreicher Diskrimi- der als eine kontraktualistische Begründung wä-re es nierungsdebatten nötiger denn je. stattdessen, den Schutz von Menschenleben als einen objektiven Wert zu postulieren, wie es etwa auch eine christliche (oder kantische) Sozialethik tut. 17 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.1.3 ENTSCHEIDUNG UND GLAUBEN » Die Priorisierung ist eine Entscheidung unter Unsi- Geist auf den Stationen im Krankenhaus, im Hospiz oder cherheit. Es bleibt bei sorgfältiger Einhaltung aller un- Pflegeheim. Hier ist auch Mut für solche Begegnung ge- strittigen Kriterien für die Entscheidung zwischen Glei- fragt. Wenn sich jetzt auch Repräsentanten der Kirche chen das tragische Dilemma, ungleich zu entscheiden. öffentlich sichtbar an die Seite von Ärzten und Pflege- Für diese Entscheidung ist es aus religiöser Sicht ge- kräften stellen, so wäre dies ein wichtiges Symbol da- boten, dieses letzte Urteil im Gebet in die Hand Gottes für, an welcher Seite jetzt eine samaritanisch denkende zu legen. Kirche steht. » Nicht-priorisierte Patienten haben den ungeteilten » Es ist nicht einsichtig, warum religiöse (wie etwa Anspruch auf eine bestmögliche Versorgung, ggf. auch christliche) Orientierungen von Stoecker für einen ethi- im Palliativ- oder Hospizbereich. Die Aufmerksamkeit schen Entscheidungskompass ausgeschlossen werden. gerade der Seelsorge richtet sich in besonderer Weise Sie seien bloß von individueller Gültigkeit, können damit auf diese Menschen, um ihnen in ihrem Weg beizuste- nicht Leitfaden einer Handlungs-empfehlung sein. Eine hen und sie womöglich in ihrer Hoffnung auf ein neues solche Vorstellung suggeriert die Dominanz säkularer Leben zu bestärken. über religiöse Ethik. Das ist wissenschaftstheoretisch inakzeptabel. Grundinhalte des christlichen Menschen- » Einen besonderen Beistand durch die Seelsorge bildes und des christlichen Verständnisses von Verant- verdienen auch diejenigen, die konkrete Priorisierungs- wortung haben sehr wohl Orientierungspotential auch entscheidungen treffen. Damit verbundene Skrupel für Nicht-Glaubende, so etwa ihre gut be-gründete Vor- oder Gewissensfragen sind in der Seelsorge aufmerk- stellung der unantastbaren Würde aller Menschen oder sam aufzugreifen. Darüber hinaus hilft die Präsenz eines affektiven gesellschaftlichen Zusammenlebens der Seelsorge auch unabhängig von solchen Grenz- (Taylor 2009). situationen wesentlich zu einem guten, motivierenden 18 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.2 SOZIALKULTUR 5.2.1 HOFFNUNGSBILDER » Notstandsgesetze zum Lebensschutz sind grund- und über die Bundesliga nachgedacht wurde, blieben sätzlich legitim, wenn Maß gehalten wird. Hierbei Lockerungen für die Ausrichtung öffentlicher Gottes- dürfen reine Gewinn- oder Lobbyinteressen nicht die dienste zu lange Tabu. Priorisierung bei der Behandlung von Kulturfeldern be- einflussen. So ist eine Bevorzugung der Fußball-Bun- » Menschen brauchen Hoffnungsbilder. Das stimmt. desliga inakzeptabel, ebenso eine Benachteiligung der Es sollen realistische Perspektiven diskutiert werden. Kirchen. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, aber doch Wenn hierbei kulturell aber nur an Demos, Feten, Fuß- traurig, dass die Einschränkung einer Ausübung der Re- ball und Ferien gedacht wird, so wird mit der Religion ligionsfreiheit im Ad-Hoc-Papier des Deutschen Ethik- ein wesentliches Hoffnungsbild des Men-schen ausge- rates keine Erwähnung findet. Während also schon klammert. Dies ist aus christlicher und überhaupt reli- Geschäfte bis zu einer bestimmten Größe öffneten, giöser Sicht inakzeptabel. 5.2.2 ENTEINSAMUNG » Das als Gebot formulierte „Social Distancing“ sug- » Die jetzt verschärfte Einsamkeit alter, aber auch geriert, soziale Distanz sei ein Wert. Dies ist eine Irre- sterbender oder trauernden Menschen muss die Ge- führung, die der Sozialnatur des Menschen wesentlich sellschaft aufrütteln zu einer besonderen Verantwor- widerspricht. Deshalb sollte hier eine andere Begriff- tung gegenüber diesen Menschen. Kreative Ideen zu lichkeit verwendet werden, die auf den vorüberge- einer Kultur der Enteinsamung sollten in Zukunft geför- henden (als solchen auch moralisch unerwünschten) dert und umgesetzt werden. Charakter dieser Zwangsmaßnahme hinweist. Andern- falls könnten sich solche Formen sozialer Distanz ver- selbständigen und unsere Kultur des Zusammenlebens deutlich kälter machen (vgl. Jaensch 2020). 19 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.2.3 TUGENDBILDUNG » Zur Stärkung individueller Solidarität sind neue Ak- » Zur Stärkung des Zusammenhalts von Alt und Jung zente im Bildungssystem notwendig. Ziel kann es dabei sind entsprechende Projekte (wie Mehr-Generationen- nicht sein, dem Menschen den Egoismus auszutreiben. Häuser) und die Festigung von Familienstrukturen mehr Das wird nicht funktionieren. Dennoch sollte die Förde- als bisher zu fördern. Der erlebte Zusammenhalt in der rung der sozial-empathischen Motive des Menschen Familie ist die Keimzelle für eine Solidarität der Genera- etwa in der Schule einen neuen Schwerpunkt bilden. tionen zueinander. Die einseitige Konzentration auf die so genannten MINT-Fächer ist ein Fehler, wenn nicht flan-kierend Charakter- und Tugendbildung gestärkt werden. Dies sollte eine wesentliche bildungsethische Konsequenz der Krise sein, um in Zukunft mehr Alltagshelden statt Exzesse zu erleben. 5.2.4 INTERNATIONALE HILFE » Das Freihalten von Beatmungsplätzen in deutschen » Die internationale Solidarität zur Hilfe der ärms- Krankenhäusern ist als voraus-schauende Maßnah- ten Länder ist gerade jetzt ein dringliches Gebot der me gedacht, um Triage-Dilemmata zu verhindern. Aus Menschlichkeit. In der Vergangenheit sind schon zu vie- einer nationalen Perspektive ist dies verantwortungs- le Formen der Entwicklungshilfe gescheitert (etwa an bewusst. Jedoch im Blick auf Nachbarlän-der mit viel Korruption, Krieg, Terror, Despotismus oder falsch ge- größeren Problemen hätte man sich mehr und früher setzten Anreizen). Statt nur in staatliche Institutionen Solidarität gewünscht. Deutschland hat inzwischen re- zu setzen, sollten unsere auch öffentlich finanzierten agiert, einige COVID-19 Patienten aus Nachbarländern Hilfen besser an vertrauenswürdige Non-Profit-Organi- in deutschen Intensivstationen behandelt und Schutz- sationen fließen, die subsidiär mit großer Erfahrung und kleidung in solche Länder geliefert. Das ist ein Anfang. Leidenschaft in die Infrastruktur von Gesundheit, Bil- dung, sauberem Wasser etc. investieren. Hierbei denke ich auch an kirchliche u.a. Hilfswerke oder Ordensge- meinschaften mit ihren zahllosen Helfern weltweit. 20 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.3 LEBEN ODER WIRTSCHAFT 5.3.1 WÜRDESCHUTZ STATT HERDENIMMUNITÄT » Die Idee der Herdenimmunität nimmt Opfer von Ethik von Karl Homann oder der ökonomische Imperia- Menschen heute in Kauf, um Menschenleben in Zukunft lismus von Gary Becker u.a. Der Wert der Menschen- zu retten. Mit dieser eindeutig utilitaristischen Logik würde wird dort unter Bedingungen ökonomischen könnte wiederum das Ausweiden eines gesunden Men- Nutzens definiert und relativiert. Solche normative schen zugunsten von mehreren Kran-ken begründet Ökonomik widerspricht dem christlichen (wie kanti- werden. Diese Logik ist, wie schon oben erklärt, (zumal schen) Verständnis unbedingter (nicht relativierbarer) aus christlicher Sicht) inakzeptabel. Würde. » Die Berechnungen von Young suggerieren, es » Wer im Menschenleben einen Wert an sich sieht ginge in der Abwägungsfrage zwischen Lockdown (wie es eine christliche oder auch kantische Ethik tut), und Herdenimmunität nicht um ein Gegeneinander von für den verbietet sich eine Übersetzung dieses Wertes Leben und Wirtschaft, sondern um ein Abwägen von in materielle Geldeinheiten. So wird der nicht unbe- (gegenwärtigem) und (künftigen) Leben. Diese ethisch dingte Wert dem Kriterium der Verrechenbarkeit unter- klingende Deutung verkennt aber, dass hier menschli- geordnet und geopfert. Konsequent könnten so ge- ches Leben in der Kosten-Nutzen-Abwägung nur noch samtgesellschaftlich grausame Maßnahmen begründet sekundär eine Rolle spielt. Am Ende vergleicht Young werden, etwa mit sozialdarwinistischen Konsequenzen Geldsummen miteinander, die sich aus den VSLY-Spe- für alte, sterbende, behinderte Menschen. Denn solche kulationen ergeben haben. Damit geht es am Ende über- Mitbürger kosten ja vermeintlich die Gesellschaft jetzt haupt nicht mehr um den Selbstwert des Lebens, son- etwas, wobei dieses Geld besser in die Zukunft inves- dern allein um ökonomisch Messbares. Solches Denken tiert werden sollte. Solche krude Logik und auch nur ist eng verbunden mit einer ökonomischen Heuristik, geöffnete Türen zu einer schiefen Bahn, die solches die Nutzenbewertung zum Maß auch ethischer Bewer- Denken ermöglichen, ist menschenverachtend und aufs tungen machen will. Dazu zählen etwa die ökonomische schärfste abzulehnen. 21 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.3.2 OBJEKTIVITÄT ALS ORIENTIERUNG » Julian Jessop (2020) – in der Argumentationslinie » Eine ausdrücklich christliche Perspektive berück- von Michael Sandel – folgend sollte eine ethische Ab- sichtigt dabei zudem, dass die Zukunft (und deren Le- wägung von Menschenleben jenseits utilitaristischer bensqualität) nicht schon heute exakt vorausberechnet Versuchungen objektive Werte unterstellen, die nicht werden kann, weil sie zudem mit dem freien Eingreifen in Geld bewertet werden können, ohne dabei ihren Gottes rechnet. Dieser lässt sich in seinem Wirken erst wesentlichen Wert zu verlieren. Die Inkaufnahme von recht nicht in die Schablone spekulativer Kosten-Nut- Menschenopfern heute zugunsten kommender Men- zen-Spielereien pressen. Dies begründet auch eine Hal- schenleben verbietet sich auch deshalb. Die so begrün- tung menschlicher Bescheidenheit und / oder Demut. dete Idee der Herdenimmunität ist (nicht allein wegen ihrer Vagheit hinsichtlich der Immunitätswirkung) inak- zeptabel. » Das Beispiel von Pater Giuseppe Berardelli, der in Bergamo sein Beatmungsgerät einem jüngeren COVID-19 Patienten überließ und anschließend starb (o.V. 2020), ist ein Akt individueller Nächstenliebe, der hoch achtens- wert ist. Daraus aber eine moralische Pflicht abzulei- ten, nach der alle in vergleichbarer Situation so handeln sollten, würde einer utilitaristischen Regel Vorschub leisten, die die Nächstenliebe pervertiert. Individuelle Motivation und allgemeine Regel mit ihren Folgen für Menschenbild und Zusammenleben sind hier – etwa im Sinne von Immanuel Kant – sauber zu unterscheiden. 22 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.4 CORONA-BONDS Der Streit um die Corona-Bonds wirft grundsätzliche finanz- und geldpolitische Fragen auf, die auch über die aktuelle Krise hinaus von hoher Bedeutung für den Zusammenhalt und Frieden in Europa sind. 5.4.1 RICHTIGE ZIELE » Unstrittig sind die maßgeblichen Ziele, die mit den » Besondere Hilfen für die besonders stark betroffe- Corona-Bonds angestrebt werden: Nachhaltige Gesun- nen europäischen Länder sind frag-los notwendig. An dung der europäischen Wirtschaft, Vertrauen in Stabi- dieser Hilfsbereitschaft wird sich tatsächlich die Zu- lität und Währung, Stärkung des Zusammenhalts und kunft der Idee Europa maßgeblich erweisen müssen. Schwächung von Europafeindlichen Strömungen. » Die besonderen Probleme der Gesundheitssysteme » Die Bedenken, ob Corona-Bonds dafür das beste etwa in Italien und Spanien jetzt den Geberländern der Instrument sind, wiegen schwer. Deshalb sollten auch Schuldenkrise zuzuschieben, ist sachlich verkürzt und alternative Möglichkeiten bedacht werden. wirkt spaltend. Darauf sollte verzichtet werden. 5.4.2 SOLIDITÄT UND SOLIDARITÄT » Das Paradigma der wirtschaftlichen Solidität nun » Ein Grund für aktuelle wirtschaftliche Krisen ist auch grundsätzlich in Frage zu stellen, widerspricht einer eine schwache Eigenkapitalaus-stattung mittelstän- freiheitlichen Gerechtigkeitsidee der Befähigung (Nass discher Unternehmen. Diese wird überraschend vom 2012). Es müssen neben der solidarischen Hilfe dauerhaft Deutschen Ethikrat (2020) als „naturgemäß“ bezeich- Anreize gesetzt werden zu einer so-liden Finanz- und net, obgleich die Eigenkapitalquote in Deutschland seit Wirtschaftspolitik, gerade auch in den Krisenländern. der Jahrtausendwende von 18 auf 31,2 % gestiegen ist (Deutscher Mittelstandsbund 2019). Grund dafür sind die » Mit der anhaltenden Politik des billigen Geldes hat die wirtschaftlich erfolgreichen Jahre der Vergangenheit. EZB sich jetzt in dieser Krise ihrer Instrumente beraubt. Mittelständisches Wirtschaften ist in Deutschland also Sie wird immer mehr zu einem wirkungslosen Beobach- keineswegs naturgemäß Spitz auf Knopf genäht. Ohne ter. Diese zunehmend fehlende Gestaltungskraft der solchen Rückhalt droht schneller eine In-solvenz. Eine Geldpolitik muss langfristig behoben werden, damit bei dauerhafte Nullzinspolitik der EZB hat eine noch nach- zukünftigen Krisen diese Instrumente wieder wirksam haltigere Rücklagenbildung hierzulande verhindert. Viel- greifen. Hierzu braucht es langfristig eine Abkehr von der mehr kurbelt diese fortwährend Investitionen auf Pump Null-Zins-Politik mit uferlosen Anleihekäufen. an, was in wirtschaftlich schwächeren Ländern jetzt ver- heerende Wirkun-gen zeigen kann. In Zukunft müssen neue geld- und fiskalpolitische Anreize gesetzt werden. Ziel sollte eine auch international wirksame Stärkung der Eigenkapitalbil-dung sein, um in künftigen Krisen noch besser gewappnet zu sein. 23 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
5.4.3 MARSHALLPLAN STATT CORONA-BONDS Als konkretes Hilfspaket bietet sich eine Art Marshall- Nehmens, wie es auch in einer Familie üblich ist. Zudem plan an. Die starken Länder tun sich zusammen und un- werden dadurch dauerhafte Soliditätsanreize nicht ge- terstützen so mit hinreichend großen Beträgen die Kri- mindert. Die Abhängigkeit von der Zinspolitik der EZB senlän-der im Aufbau des Gesundheitswesens und zur ist dadurch gekappt, was auf der anderen Seite geldpo- Revitalisierung der Wirtschaft. Eine solche Maßnahme litische Handlungsräume eröffnet. Und es besteht bei ist zeitlich befristet und an klar definierte Maßnahmen den ärmeren Ländern keine Pflicht einer Rückzahlung, gebunden. Sie ist keine anonym vernebelte, sondern was wiederum ehrlicher ist, Abhängigkeit mindert und eine direkt sichtbare Hilfeleistung. Das schafft Trans- Misstrauen abbaut. parenz sowie eine Kultur des Gebens und dankbaren 24 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
6. FAZIT Die Vielfalt sozialethischer Herausforderungen durch die deutlich, dass mit der hier vertretenen christlichen Position Corona-Krise und ihrer Folgen kann in diesem Positions- utilitaristische Denkmodelle mit ihren Rechen- und Sprach- papier nur angerissen werden. Vor allem bleibt am Ende spielen ebenso abgelehnt werden wie vergemeinschaftete die schwierige Abwägung, welches (durch das Virus Schulden. Stattdessen wird als Maßstab immer wieder auf verursachte) zusätzliche Lebensrisiko wir gesellschaft- biblisch gut begründete Verantwortung, objektive Werte lich akzeptieren wollen. Null-Risiko ist schließlich auch und Würde gesetzt und auch eine wieder gesellschaftlich in anderen Lebensbereichen nicht realisierbar. Die Ant- wirksamere Rolle des christlichen Glaubens eingefordert. wort auf diese Frage sollte letztlich den Weg ebnen zu einer schrittweisen Lockerung der Zwangsmaßnahmen. Diese Stellungnahme kann nicht alle aufgeworfenen Prob- lemfelder lösen. Aber sie will helfen, diese klarer zu identi- Es konnten hier zu relevanten Fragen einige Diskussions- fizieren und letztlich auch im hoffenden Vertrauen auf Gott linien nachgezeichnet und kritisch bewertet werden. Dies Urteile zu fällen und konkrete Entscheidungen im Dilemma dient dazu, einen Überblick zu behalten im Stimmengewirr vorzunehmen. Mit solcher Kraft, die nicht allein aus uns unserer Tage und dabei den roten Faden ethischer Be- selbst kommt, überlassen wir die Lösung der aktuellen wertung im Blick zu halten. Denn die Antwor-ten auf viele Probleme und damit die Zukunft nicht anderen, sondern Fragen gründen immer wieder in ähnlichen Denkmustern, bringen mit Gottes Hilfe selbst Licht ins Dunkel dieser Zeit. die man kennen und dann kritisch bewerten sollte. So wird 25 „ K R A F T, D I E Z U K U N F T F Ü R S I C H I N A N S P R U C H N I M M T “
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