Zwischen "Mad Economics or Polygtlot Peace" und "Dienst auf dem Planeten"

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Online-Texte der Evangelischen Akademie Bad Boll

Zwischen »Mad Economics or Polygtlot Peace« und
»Dienst auf dem Planeten«
Wessen bedarf eine solidarische Gesellschaft?

Michael Gormann-Thelen

Ein Beitrag aus der Tagung:

Was bedeuten Arbeit und Zeit für eine solidarische Gesellschaft? Impulse des Denkens von Eugen
Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch

Bad Boll, 22.-23. Februar 2013, Tagungsnummer: 250413
Tagungsleitung: Esther Kuhn-Luz

_____________________________________________________________________________
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Zwischen »Mad Economics or Polygtlot Peace« und
»Dienst auf dem Planeten«
Wessen bedarf eine solidarische Gesellschaft?

Michael Gormann-Thelen

Vorbemerkung

     Alle drei Hauptworte der Überschrift dieser Tagung, nimmt man sie einmal als Zeitworte wahr,
erscheinen wie aus unserer Zeit herausgefallen. Wir leben alles andere als in »einer solidarischen Ge-
sellschaft«! »Arbeit« ist uns schon lange ausgegangen oder, wie Günther W. Riehl, ein Tagungsteil-
nehmer richtigstellen konnte, »abhanden« gekommen.1 Und wie steht es mit »Zeit«? Diese stellt man
heute vor allen Dingen in Nano-Sekunden oder in »Pikosekunden«2 im Hochfrequenzhandel in Rech-
nung. Der Tendenz nach werden diese Zeitmessangaben nicht mehr wahrnehmbar schneller und
schneller zerfällt werden. Schon im Jahre 1958 mußte Eugen Rosenstock-Huessy in einem Rundfunk-
vortrag wider die Turing-Maschine, die immer noch die uns beherrschende Form von Digitalität vor-
stellt, sich einen „geheimnisvollen Apparat“ konstruieren, den er »Zeitzerstäuber« nannte, »durch den
in unserer Zeit man in besonderer Weise die Zeit totschlägt, sie zerstückelt, sie massakriert«.3 Dieser
Zeitzerstäuber als ein Produkt von Kraft und Einwirkungsdauer betrifft schon lange auch alles, was
mit »Arbeit« zu tun hat. So spricht man seit Beginn der 1990er Jahre richtigerweise von »ArBYTE«.4
     Und wie steht es mit dem Untertitel unserer Tagung? Gibt es noch wirksame »Impulse des Den-
kens« von Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch? Ersterer hat allerhöchstens den wirksamen
Impuls eines »toten Hundes« (so Hegel über Spinoza), also gar keinen. Dies hängt unter anderem

1
  Hinweis Riehl auf Marianne Gronemeyer. Wer nicht arbeitet – sündigt! Wien: Primus Verlag 2013.
2
  Vgl, Friedhelm Hengsbach SJ [= Societas Jesu], Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleuni-
gung. Frankfurt/Main: Westend 2012, S. 48. »Pikosekunden, also billionstel Teile einer Sekunde.“ Hengsbach ist der
letzte nennenswerte öffentliche Repräsentant der katholischen Soziallehre, bis 2005 Leiter des Nell-Breuning-Instituts,
emeritierter Professor für christliche Sozialwissenschaft. Von protestantischer Seite lässt sich niemand ihm vergleich-
bar nennen. Die EKD unterstellt seit 2004 ihr sozialwissenschaftliches Institut und Haus dem Namen »Friedrich Kar-
renberg« (1904-1966). Dieser war ein mittelständischer Unternehmer, Nationalökonom und lehrte Sozialethik in Köln.
Mit seinem Namen verbindet sich vor allem die Herausgabe des Evangelischen Soziallexikons (mehrer Auflagen und
Erweiterungen seit 1954. Letzte Neubearbeitung 2001). Karrenberg gehört zur Schule des Ordo-Liberalismus von
Eucken, Müller-Armack, Ludwig Ehrhardt. Diese zeichnete sich dadurch aus, abgesehen davon, wie sie während des
Dritten Reiches tätig waren, dass sie bewusst nicht an fortschrittliche Wege der Weimarer anknüpfen wollten.
3
  Vgl. Rosenstock-Huessys Schweizer Rundfunkrede »Die misshandelte Zeit« (1962), in: Eugen Rosenstock-Huessy.
Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit. Eingeleitet und herausgegeben von
Rudolf Hermeier. Münster: agenda Verlag 2001, S. 47-73 [zit. als FB + Seitenangabe].
4
  Vgl. Thomas Malsch, Ulrich Mill (Hg.). ArBYTE. Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin: Ed. Sigma 1991.

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damit zusammen, dass er weder ein Philosoph noch ein Theologe war. Bloch hingegen wirkt und gibt
weiterhin Impulse, zumindest in Philosophie und Öffentlicher Philosophie. Auch wird in seinem
Namen ein anerkannter Preis vergeben. Er wird im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen in Ehren
gehalten, und eine internationale Gesellschaft beruft sich auf seinen weltweit klingenden Namen.
Ernst Bloch ist ein anerkannter erzählender Philosoph mit einer Vorliebe für Unscheinbares, Heimat
in der Nachfolge von Johann Peter Hebel und dem »Vorschein« alles Utopischen.
     Ähnliches lässt sich von Eugen Rosenstock-Huessy nicht sagen, obwohl man ihn durchaus in ei-
ne »Familienähnlichkeit« (Ludwig Wittgenstein – auch ein Generationsgenosse) zu Ernst Bloch brin-
gen könnte. Aber dies stellte seinen Namen unter den Scheffel. Er verdient wieder hervor- und her-
ausgerufen und dem Vergessen entrissen zu werden. Er verfiel dem Vergessen wie durch ein Standge-
richt,5 nämlich durch das des 30. Januar 1933. Aus dieser Perspektive gesehen verhängte und wieder-
holte der Nationalsozialismus sein Todesurteil. Nach 1945 änderte sich daran nichts. Durch dieses
Verhängnis und Vergessen machte man sich an solchem Standgericht mitschuldig. Das Urteil wurde
nicht revoziert. Sein Name, so zum Beispiel in den beiden großen Konfessionen und ihren Kirchen,
erscheint in ihren Annalen nicht. Vergessen heißt: Niemand beruft sich auf ihn, niemand sagt ihn
weiter, niemand gedenkt seiner.
     Und ein anerkannter Preis mit und in seinem Namen? Gibt es nicht und wird auch nicht verlie-
hen, obwohl sein Namen, wenn überhaupt einer würdig wäre, genannt zu werden, mit der modernen
Geburtsstunde des Dialogs zwischen Juden und Christen verbunden ist, nämlich durch die Freund-
schaft mit Franz Rosenzweig (1886-1929). Statt Buber-Rosenzweig-Medaille müsste es eigentlich Ro-
senzweig-Rosenstock-Medaille heißen. Datiert ist dieser Geburtstag auf das Leipziger Nachtgespräch
vom 7. Juli 1913 und seine Folgen.6 Es war unbefristet, aber durch beider Leben, Wirken und Lehre
bewährt. Bedeutende Schriften und Briefe bezeugen es. Beider Leben durchdringt ein Impulssatz der
Gegenseitigkeit.7

5
  1983 konnte Jacob Taubes seinen Beitrag zum »Lob des Polytheismus« mit dem fürchterlichen Schlusssatz abschlie-
ßen: »Der Gang der Geschichte selbst ist Standrecht in Permanenz.« Damit gibt er nachträglich Carl Schmitt sein Ein-
verständnis! Jacob Taubes. Vom Kult zur Kultur. München: Fink 1996, S. 349.
6
  Vgl. insbesondere Dietmar Kamper. »Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913. Eugen Rosenstock-Huessy und Franz
Rosenzweig«, in: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Intern. Kongreß Kassel 1986. Bd. I Die Herausforde-
rung jüdischen Lernens. Herausgegeben von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Frei-burg/Münche: Verlag Karl Alber
1988, S. 97-104; Wolfgang Ullmann. »Die Entdeckung des Neuen Denkens durch Eugen Rosenstock und Franz Ro-
senzweig«, in: Ders. Wir, die Bürger! Auf nach Europa, Deutschland und zu uns selbst! Zivilpolitische Aufsätze. Vor-
wort Daniel Cohn-Bendit. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen. Essen: Die Blaue Eule 2002, S. 175-203.
7
  Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. Ja und Nein. Autobiographische Fragmente. Herausgegeben von Georg Müller.
Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1968, S. 166-172.

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Kurzvorstellung Eugen Rosenstock-Huessys (1888-1973)

     Wie gesagt, es wundert immer wieder (oder auch nicht), dass Eugen Rosenstock-Huessy vorge-
stellt werden muß.8 Also, aber vom Leben her, das heißt von den Zäsuren. Rosenstock-Huessy nennt
dieses »datives Denken«.9
     Sein Leben datiert, hierdurch auch unser Leben, der 30. Januar 1933. Eugen Rosenstock-Huessy,
daran muß erinnert werden, war Jurist. Er lehrte an der Universität Breslau seit 1923. Am Mittwoch,
den 1. Februar 1933, stellte er im Organ seiner Fakultät den Antrag, man möge beschließen, die Uni-
versität wegen »nationaler Revolution« zu schließen. Er wurde ausgelacht, hielt ab diesem Datum
mehr keine Lehrveranstaltung, fuhr nach Berlin und betrieb die Auflösung seiner Reichsbürgerschaft,
die Lösung seiner finanziellen Ansprüche und verließ am 9. November 1933 auf dem Dampfer
»Deutschland« das Dritte Reich und immigrierte in die USA.
     Sein Antrag erhält Relief und Tiefenschärfe, zeigt auch die ihn charakteristische Zivilcourage,
wenn man weiß, dass er im Jahre 1931 ein grosses Werk veröffentlicht hatte: »Die europäischen Nati-
onen. Volkscharaktere und Staatenbildung«,10 in welchem er die großen »Welt«-Revolutionen der Pap-
strevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die Reformation, die Englische Revolution, die Französische
Revolution und die Russische Revolution in einem neuartigen Sinne sowohl für Spezialisten als auch
für Laien erzählte. Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell
gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles verwandelnd. Damit
erklärt sich auch Rosenstock-Huessys Fakultätsantrag. Er besagt schlicht und ergreifend, die Universi-
tät möge beschließen, wegen Gegen-Revolution (Konterrevolution) zu schließen. Jede Revolution »in
einem Lande« ist verfassungsmäßig eine Gegen-Revolution. So auch z. B. die Stalinsche. Erst recht die
Hitlers.11
     Daß Rosenstock-Huessy an einem 9. November »das Reich« verließ (als freier Mensch, wie er
betonte), war kein Zufall, denn das gesamte Leben, Lehren und Wirken Rosenstock-Huessys datiert
sich vom 9. November 1918 her (so interpunktiert er auch, auf seine Weise, was hier nicht gezeigt
werden kann, alle 9. November, wie sie für die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert bedeut-

8
   So zuerst der Katholik Walter Dirks in seinem Vorwort zu Eugen Rosenstock-Huessy. Der Unbezahlbare Mensch.
Berlin: Käthe Vogt Verlag 1955, S. 13. Diese Schrift hätte die Programmschrift eines sozialen Protestantismus aus
ökumenischem und ökologischen Geist werden müssen. Karrenbergs Auffassungen sind dagegen ein Schritt vor 1914
zurück!
9
   Hierzu Eugen Rosenstock-Huessy. Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit.
Stuttgart: Ev. Verlagswerk 1952 [Reprint Moers/Wien: Brendow/Amandus 1990], S. 83-104.
10
   Erstmals erschienen 1931 im Diederichs Verlag, Jena.
11
   Die juristische Lehre der Gegen-Revolution verfasste unter dem irreführenden Namen einer »Politischen Theologie«
Eugen Rosenstock-Huessys Antipode Carl Schmitt. Vgl. dessen Politische Theologie. vier Kapitel zur Lehre von der
Souveranität. (11922). Berlin: Duncker & Humblot: 1985.

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sam werden sollte – einschließlich den des Jahres 1989!). Während aber dieses Datum bei den meisten
Deutschen mit einer ungeheuren und ungeheuerlichen Verkennung, Verleugnung, ja Verwerfung der
Realitäten verknüpft ist, die durch den Ersten Weltkrieg und seine folgenden Zusammenbrüche be-
wirkt wurden (Ende des Bismarckschen Reiches, Weltkrieg, neue Staatsform, Versailler Vertrag,
Dolchstoßlegende usw. usw.) und die meisten Gesellschaftsmitglieder in den Abgrund führten, vor
dem die meisten ihre Augen verschlossen, kämpfte Rosenstock-Huessy für die Anerkenntnis der neu-
en Lagen.12 Vergeblich. Zum Beispiel für die Anerkenntnis der Lage, was es bedeutet, wenn eine
hochgerüstete, gesellschaftlich mit sich total zerstrittene und zerfallene Gesellschaft vor der Aufgabe
steht, sich demobilisieren zu müssen. Alle, auch die Gelehrten.13 Wie schafft man Frieden in einer
solchen einer verfallenen Gesellschaft?
     Rosenstock-Huessy ließ alle kompromittierten Institutionen hinter sich: die Universität, den
Staat, die Kirche(n), das Militär. Er ging auf fast zwei Jahre in die Industrie zu Daimler-Benz. Nach-
dem das Experiment einer Werkzeitung14 aufgelöst wurde, wurde er Gründungsrektor der Akademie
der Arbeit, die er aber nach nur einem Jahr verließ, weil die Klassengegensätze und –herkünfte verhin-
derten, eine neue Lehreinrichtung aufzubauen, die auf der Artikulation der Erfahrungen aller in der
Gesellschaft Arbeitenden errichtet werden sollte. Danach nahm er schwersten Herzens die Professur
an, um sich und seine Familie durchzubringen. Deshalb tat er alles, um diesen Schritt wider bessere
Einsicht zu »sühnen«. Er wurde ein unermüdlicher »Sozialkrieger« (also ein Kämpfer unter dem Re-
genbogen des alttestamentlichen Bundes Noahs)15 für eine umfassende Reform der Erwachsenenbil-
dung in den Volkshochschulen und in der Reformpädagogik. Als dritten Pfeiler betrieb er als einer
der unorthodoxesten die freiwilligen »Arbeitslager«, in denen versucht wurde, die sozialen Fronten
und Klassengegensätze in der Jugend einander zu öffnen und in Arbeit, Spiel und Lehre zusammen
mit Repräsentanten der gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Institutionen in Grosse Aus-
sprache zu bringen.16 Was ein Menschenalter später an anderem Weltort etwa von Paulo Freire und
Ivan Illich versucht wurde, hat in diesen Rosenstockschen Bemühungen einen ihrer Vorläufer. Später
sollten sich auch wichtige Sprecher der Bürgerbewegung in der DDR auf ihn berufen. Abseits von all

12
   Vier dazu wichtige Schriften aus den Jahren 1919 bis 1929 nahm Eugen Rosenstock-Huessy auf in den zweiten Band
von Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Heidelberg: Lambert Schneider
1964, S. 45-197.
13
   »Ehe nicht der Weltkrieg die Lehre erneuert hat, eher dürfen die Gelehrten nicht demobil machen.« Vorwort zu den
Europäischen Revolutionen, S. III.
14
   Daimler-Benz ermöglichte einen Reprint dieser Werkzeitung 1919-1920 im Verlag Brendow, Moers 1991.
15
   FB 153 ff.
16
   Vgl. Das Arbeitslager. Berichte aus Schlesien von Arbeitern, Bauern, Studenten. Herausg. v. Eugen Rosenstock und
Carl Friedrich von Trotha. Jena: Diederichs 1931. Vgl. Christian Illian. Der Evangelische Arbeitsdienst. Krisenprojekt
zwischen Weimarer Demokratie und NS-Diktatur. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialen Protestantismus. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus 2005.

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diesen Bemühungen, Friedensbedingungen (in) der Gesellschaft gemeinsam hervorzubringen und
vorzuleben, entstand ein weitläufiges, »rhizomatisches« publizistisches und wissenschaftliches Werk.
     Wer also war Eugen Rosenstock-Huessy? Er war ein wichtiger Generationsgenosse der »Genera-
tionskohorte« (Karl Mannheim) von Ernst Bloch, Hans Ehrenberg, Ludwig Wittgenstein, Martin
Heidegger, Carl Schmitt, Franz Rosenzweig, aber auch Adolf Hitler. Es war jene letzte grosse Genera-
tionskohorte deutschen Denkens, die vom National-sozialismus fast gänzlich um den Verstand ge-
bracht worden wäre, wenn dieser gesiegt hätte. So wurden sie alle – ob nun Jude, Christ, Freidenker
oder nur Wissenschaftler, ob sie wollten oder nicht – Zeugen dieses Verhängnisses, vor allem der
»Endlösung« und ihrer Folgen.
     Da für Rosenstock-Huessy weder die Wissenschaft noch das Amt eines Professors im Zentrum
seines Lebens stand, was war er denn? Er war in einem emphatischen deutschen Sinne ein Gesellschaftsreformer
christlichen Glaubens. Man muß sich vor Augen führen, dass erst im 20. Jahrhundert die Großmacht
»Gesellschaft« ihren Aufstieg erlebte. Darum konnte Rosenstock-Huessy sich auch einen »Soziologen«
nennen, jedoch gerade nicht in einem universitären oder akademischen Sinne, sondern nur faute de
mieux. Was ihm die Universität und ihre Fachwissenschaften niemals vergeben sollten, war der An-
spruch, den er gegen diese erhob, nämlich nur eine Wirklichkeit zweiter Potenz zu sein. Die Wirklich-
keit erster Potenz richtet sich, ihm zufolge, an jeden einzelnen von uns – an Du und Dich und Deinen
Beitrag am Zusammenleben aller. Nicht gilt zuerst: Was sollst du tun? Nein, Wer bist Du, der Du
bislang nicht mit Namen hervorgetreten bist? Umgekehrt gilt ebenfalls, diese Frage an den anderen zu
richten: Wer bist Du, der Du Dir herausnimmst, im Namen einer namenlosen Instanz zu handeln?
Diese Fragen als Gesellschaftsreformer machen Rosenstock-Huessy für unser aller Zukunft zu unse-
rem Zeitgenossen – wenn man nur seinem Namen sich stellte. Der Name, Rosenstock-Huessy zufol-
ge, wirkt als Imperativ bzw. Vokativ, als Kohortativ bzw. »Präjekt«, der uns über unseren alten Adam
(vulgo inneren Schweinehund) hinauswirft und uns heißt, tätig zu werden. Darum ist der Name unab-
dingbar. Der Name ist Geheiß. Er heischt. Er macht auf sich als Heischeform aufmerksam. Darum
kommt sofort das Folgen auf (Wem bitte?). Das Jüdische wie Christliche ist, dass Gott Namenanruf
ist, selbst aber Name des Namens unaussprechlich. Gott ist der Name vor allen Namen. Dank ihm
können wir uns auf Namen berufen. Sich auf Namen berufen heißt Zukunft.

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Bad Boll, Evangelische Akademie 1956 und 1962.

     Der Gesellschaftsreformer zuerst. Der Wissenschaftler folgt.17 Zweifellos war Rosenstock-
Huessy ein genialer Wissenschaftler, wenn man unter genial versteht, dass er ebenso innovativ wie
traditionsbewusst Wissenschaft mit einem langen Atem zu betreiben vermochte. Der Ausdruck »mit
einem langen Atem« bedeutet vor allem, dass er etwas verkörperte, beredsam zu machen und auch
auszusprechen vermochte, was »langfristig« uns bewegt, bildet und antreibt. Wir sind nicht nur »Zeit-
wesen« des Hier und Jetzt, wir kommen auch, darum weiß auch Ernst Bloch, von weit her, von lange
zurück. Rosenstock-Huessy konfrontiert uns mit uns selbst als Epochenwesen.18 Wissenschaft ist
selbst eine solche epochale Konfiguration. Aber eben nicht im Sinne Husserls, sondern als Zeitwesen,
das Epochen bildet (im doppelten Sinne). Am eindrücklichsten durch geschichtliche Daten, Zäsuren,
Ereignisse.19 Wir sind Zeitgenossen vom 11. September und vom 9. November 1989, aber auch von
August 2008, also vom Beginn dessen, was so dahin gesagt ‚Finanzkrise’ heißt. Da der Gesellschafts-
reformer dem Wissenschaftler Rosenstock-Huessy immer voraus war, verhält er sich zu den Wirklich-
keiten, mit denen es die Wissenschaft zu tun bekommt (meistens hat diese ja den Ereignissen gegen-
über das Nachsehen. Es bleibt Nach-Denken), immer »meta«-nomisch. Als Wissenschaftler verhält
sich der Gesellschaftsreformer »metanomisch«.20 Rosenstock-Huessy hat vor allem fünf Metanomiken
verfasst. Zunächst einmal eine Metanomik der Kirche unter dem metanomischen Titel »Das Alter der
Kirche«.21 Der Imperativ und Vokativ, der diese Metanomik hervorzwang, war die Exkommunikation
seines Freundes, des Patristikers und Volksschriftstellers Joseph Wittig. Er wurde exkommuniziert
wegen einer literarischen Erzählung! Diese Metanomik oder Epochenlehre der Kirche steht total
überkreuz mit den Institutionen von Kirche und Wissenschaft. Es ist ein Gegenentwurf zu dogmati-
scher Ekklesiologie, aber auch zur Religionssoziologie von Max Weber und Ernst Troeltsch bis hin zu
Robert N. Bellah. Darum hat von ihr kein Wissenschaftler Notiz genommen. Weder von katholischer
noch von protestantischer Seite. Die Kirchen, wie die Religionen vielleicht insgesamt, sind das leben-
dige Gedächtnis unserer Langfristigkeit, von uns Zeitwesen als Epochenwesen. So wie uns die Arbeit
»abhanden« gekommen ist, ist der Kirche ihre Langfristigkeit »abhanden« gekommen.

17
   Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. »Das Versiegen der Wissenschaften und der Ursprung der Sprache«, in: Die Spra-
che des Menschengeschlechts. Bd. I, Heidelberg: Lambert Schneider 1963, S. 655-683.
18
   FB 125 f.; 155 ff.
19
   Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Kap. 1, S. 12-21.
20
   Zuerst in Eugen Rosenstock-Huessy. Out of Revolution. Autobiography of Western Man. New York: Morrow 1938;
vgl. auch FB 248-282.
21
   Vgl. Eugen Rosenstock, Joseph Wittig. Das Alter der Kirche. 3 Bd. Berlin: Lambert Schneider 1927-28 [Neudruck
mit Hinweisen u. a. herausg. v. Fritz Herrenbrück. Münster agenda Verlag 1998].

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     Die zweite Metanomik war eine des Staates. Aber wiederum nicht eine, wie sie die Juristen be-
trieben. Rosenstock verfasst eine Metanomik des Staates von dem her, was die Staaten als Einzelstaat
wie als ‚Staatengemeinschaft’ hervorbrachte.22 Sie wurden ins Leben gerufen durch die Grossen Revo-
lutionen des gesamten zweiten Jahrtausends. Alle Staaten, auch die islamischen, verdanken sich diesen
Revolutionen. Auch den islamischen Staat gibt es nur als ‚christlichen’, um es provokativ zu formulie-
ren. Die Tage des Zorns der »Arabellion« unserer Tage führen zurück in den Ursprung des zweiten
Jahrtausends. Zurück zu einem grossen christlichen Feiertag, einer grossen Liturgie einer Hochzeit
aller Toten und Lebendigen! Allerseelen.23
     Die dritte Metanomik war eine der Gesellschaft. Das ist Rosenstock-Huessys Soziologie »Im Kreuz
der Wirklichkeit«,24 die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des Raumdenkens handelt
und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und »Spiel« und von »Krieg« und »Frieden«
vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter
dem Titel »Die Vollzahl der Zeiten«.25 Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu
uns selbst!«
     Die vierte Metanomik ist eine der Sprache. Es ist eine gattungsgeschichtliche Metanomik.26 Darum
heißt sie »Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik«. Dieser Titel ist eine
Losung gegen alle Totalitarismen, die gerade diese Metanomik in die Vernichtung treiben wollten.
Darum heißt eines der ersten Zeugnisse nach der Shoah „Das Menschengeschlecht“ von Robert An-
thelme.27 Thema, darum nicht in den Titel aufgenommen, ist die Sprache, wie sie über das Konzentra-
tionslager triumphiert.

22
   Vgl. Europäische Revolutionen 1931; Out of Revolution 1938.
23
   Vgl. Europäische Revolutionen 1931, S. 111 ff.; Robert G. Heath. Crux Imperatorum Philosophia. Imperial Hori-
zons of the Cluniac Confraternitas, 964-1109. Pittsburgh, PA: Pickwick Press 1976.
24
   Neuausgabe herausg. von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. 3 Bde. Mössingen: Talhei-
mer Verlag 2009-2010.
25
   Herngsbach kommt in seinem Buch Die Zeit gehört uns kein einziges Mal auf seine Kirche zu sprechen, die ein
außerordentliches Verhältnis zur Zeit pflegt, von dem eine solidarische Gesellschaft viel lernen könnte. »Die Zeitdauer
der Kirche spannt sich vom Weltbeginn bis zum Weltende; denn die Kirche entsprach in ihren Gläubigen von Anfang
an und soll bis ans Ende der Zeit währen. Grundsätzlich sind wir überzeugt, dass vom Beginn der Welt bis an das Ende
der Zeiten kein Zeitraum sich findet, in dem nicht Menschen auf Christus vertraut haben und vertrauen.« So Hugo von
Sankt Viktor, gest. 1141. Diese Zeiten nannte Rosenstock-Huessy »Vollzahl der Zeiten«. Illich widmete Hugo ein
schönes Buch.
26
   Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. Die Sprache des Menschengeschlechts. 2 Bde. Heidelberg: Lambert Schneider
1963-1964.
27
   erstmals erschienen 1946. Mehrere Auflagen.

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     Die fünfte Metanomik, mit der sich Rosenstock-Huessy, zeit seines Lebens immer wieder als »Wi-
derwart« und in Liebe gewidmet hat, ist die Universität, wie sie der Reformation entsprang (nicht
Humboldts Kopf!) und sich in alle Welt zerstreute.28
     Zwei Mal wurde Eugen Rosenstock-Huessy von der Evangelischen Akademie Bad Boll eingela-
den, also an jenen Ort, der aufs Engste mit dem sozialen Protestantismus verbunden ist in Personen
wie Eberhard Müller, den beiden Blumhardts, dann vor allem verbunden mit Otto Klepper (1888-
1957),29 dem Finanzminister der letzten Regierung Preußens, die durch den Preussen-Schlag im Juli
1932 entmächtigt wurde. Otto Klepper war auch Mitbegründer der Frankfurter Wirtschaftspolitischen
Gesellschaft von 1947 e. V., einer Gesellschaft, deren Vertreter aus dem Ende der Weimarer Republik
dann den Sozialstaat der Bonner Republik zu errichten halfen.30 Otto Klepper ist heute einer dieser
Vergessenen, der aber einer der wichtigsten Anreger der alten Bundesrepublik, ihrer Verfassung und
ihrer Institutionen wurden.
     Eugen Rosenstock-Huessy hatte in Bad Boll 1962 eine Tagung mit leitenden Mitarbeitern von
Daimler-Benz unter dem Titel »Der technische Fortschritt erweitert den Raum, verkürzt die Zeit und
zerschlägt menschliche Gruppen«. Man müsste noch hinzufügen: »… und beschleunigt alle Kommu-
nikation ins Ungefähr«. Dann kommt man zu dem »Gesetz der Medien«, wie es erst 1973 von dem
kanadischen ersten Medienwissenschaftler Marshall McLuhan formuliert wurde.31
     Die erste Tagung mit Rosenstock-Huessy fand 1957 statt zum Thema »Evozieren und Revozie-
ren oder Die Auflockerung der sozialen Fronten als christliche Aufgabe«.32 Damit nimmt Eugen Ro-
senstock-Huessy als Gesellschaftsreformer eines seiner alten Fragen auf, nämlich die Notwendigkeit,
dass innerhalb einer Gesellschaft nicht eine Verfassung allein die dominierende sein kann, sondern
verschiedene, polynomische Verfassungen, die zu den jeweils anderen sich gerade nicht abschließen
dürfen, sondern sich zu öffnen haben, durchlässig werden. Gegenüber allen Antiken betont der
Rechtsgeschichtler Rosenstock, dass erst das Christentum die verschiedenartigen Verfassungen einan-
der zu öffnen gestattet habe. Heute spricht man in der modernen Rechtswissenschaft von der Poly-

28
   Die erste öffentliche Rede nach 1945 hielt Rosenstock-Huessy in der Universität Göttingen am 5. Juli 1950. »Das
Geheimnis der Universität«, in: Ders. Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft.
Reden und Vorträge. Herausgegeben von Georg Müller. Stuttgart: Kohlhammer 1958.
29
   Vgl. eindrucksvoll Astrid von Pufendorf. Otto Klepper (1888-1957). Deutscher Patriot und Weltbürger. München:
Oldenbourg 1997.
30
   Vgl. dazu Astrid von Pufendorf; auch Wirtschaft – Politik – Gesellschaft. Die Wirtschaftspolitische Gesellschaft
1947/71 und das Bildungswerk OFFENE WELT. Ulrich von Pufendorf zum 70. Geb., 12. Oktober 1971. Frank-
furt/Main: Wirtschaftspolitische Gesellschaft 1971.
31
   Vgl. Marshall and Eric McLuhan. Laws of Media. The New Science. Toronto: University of Toronto Press 1988.
32
   FB 113-133.

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nomie von »Verfassungsfragmenten«.33 Es wird meistensteils vergessen, dass genau dies »bewährte
Lehre«34 des Christentums ist. Auch wird meistensteils vergessen, dass es viele Gesellschaften auf
unserem Planeten gibt, die sich gegenüber genau dieser Aufgabe versperren, verweigern, ja kriegerisch
durch innerstaatliche Feinderklärungen dagegen Front machen. »Das Wort Front beweist, dass wir in
Wirklichkeit zwischen Krieg und Frieden keinen absoluten Unterschied mehr zu machen imstande
sind. Wir haben im Krieg den Frieden und im Frieden den Krieg in unauflöslicher Einheit, und ich
glaube, das liegt daran, dass wir keine Krieg mehr äußerlich führen können.«35
     In Bad Boll vor allem war es, wo Rosenstock-Huessy auf eine über die letztere Aussage hinaus-
gehende Aufgabe aufmerksam machte: »Wo wir alle eigentlich nur kleine Teile des Ganzen sind und
es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir Ordnungen finden und darauf habe ich nun
seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbe-
dürfnisse der menschlichen Seele in der Gemeinschaft sich verleiblichen können. Das 19. Jahrhundert
hat die Kunst verklärt und auch die Wissenschaft, und ich glaube, bei uns handelt es sich statt dessen
um Inkarnation, um Verleiblichung der Vorgänge.«36
     Der Gesellschaftsreformer legt aber aus leidvoller Erfahrung des gesamten 20. Jahrhunderts den
Finger auf das gesellschaftliche Problem: »Der gesellschaftliche Frieden muß gelebt werden, er muß
vorweggenommen werden.« Hier verweist er auf eine Mitgift der Kirche, von der freilich man lange
nichts mehr in dieser Richtung gehört hat: »Das hat die Kirche eigentlich immer auch vor dem 19.
Jahrhundert getan, dass sie das Kommen des Herrn vorweggenommen hat und sich als die Kirche
gefühlt hat, die den Namen Kirche deswegen führe, weil sie vom kommenden Herrn lebt. Sie heißt
auch Kirche, das heißt Kyriake – Haus des Herrn. Aber der Herr, dem sie dient, ist der, der kommt.
Es ist eine eschatologische Vorstellung, wie man heute bei den Theologen sagt, aber es genügt ja ein-
fach, wenn wir sagen in unseren Laienausdrücken: die Kirche der Erwartung, die Kirche der Sehn-

33
   Hervorzuheben Gunther Teubner. Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisie-
rung. Berlin: Suhrkamp 2012 [Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft; 2028].
34
   Was heißt »bewährte Lehre«? »Als ich in Zürich Student in meinem ersten Semester war – das ist sehr lange her –,
da war von Weltkriegen noch gar nicht die Rede. Und doch hat auch damals die Schweiz einen Umstand beigetragen,
um uns vor der mathematisch-physikalischen Zeitentwendung und Zeitunterschlagung und Zeitberaubung zu schützen.
Im Schweizer Zivilgesetzbuch von Eugen Huber steht ein Satz, der dieses Werk von allen anderen europäischen Kodi-
fikationen abhebt. Da steht nämlich, dass der Richter sich nicht nur nach dem Gesetz und der Gewohnheit richten soll,
sondern auch nach der bewährten Lehre. Das fehlt im reichsdeutschen Bürgerlichen Gesetzbuch und im code Napole-
on, also der Deutschen und Franzosen, und es fehlt natürlich auch in dem richterlichen Hochmut der Präzedenzfälle der
englischen Richter, wo es eine juristische Wissenschaft überhaupt nicht gibt. Bewährte Lehre fügt, zum Unterschied
von dem, was in den naturwissenschaftlichen und theologischen Fakultäten heute gelehrt wird, der Lehre das wunder-
bare Zeitmoment der Zukunft hinzu. Was ist denn bewährte Lehre? Eine Lehre, die der Zukunft zugewachsen ist, die,
nachdem sie ausgesprochen worden ist, von Gläubigen angewendet wird – nur das kann sich ja bewähren, was im
Glauben empfangen worden ist. Nun ist es also verheißen worden, und der, der verheißt, und der, der anwendet, bilden
eine Friedensgruppe, die Zukunft schaffen kann.« FB 65 f.
35
   FB 113 ff.
36
   FB 125.

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sucht, die Kirche der Unruhe, die Kirche, die es auch nicht aushalten kann, ewig zu warten, die also
an einem Stück Verwirklichung sich stärken muß, damit sie es aushält in diesen Gesellschaftskämpfen,
in dieser Hetze.«37 Mitgift bedeutet heute, dass diese bewährte Lehre vom kommenden Herrn als
vorweggenommenen und zu lebenden Frieden (gegen alle Widerstände und wider alle Vernunft) in
die Erfindung solcher Formen des gesellschaftlich vorwegzulebenden Friedens über-setzt werden
muß. Solches Übersetzen, solche Vorwegnahme, solches Vorleben ist ein »schöpferischer Prozess«.
Diesen verwechseln wir immer wieder mit Vorstellungen von Konsum und von Warenproduktion.
Diese aber sind schöpferisch nur in »schöpferischer Zerstörung«, wie wir spätestens seit Schumpeter
wissen. Es geht aber um anderes! Es geht, so Rosenstock-Huessy, »um den Wiederhervorruf der
schöpferischen Kräfte«, um das Hervorbringen von gesellschaftlichen Formen, die eine Art Äquiva-
lent eines »Jahressontags des Menschen« ausbilden.38 Dazu machte Rosenstock-Huessy bedeutsame
Ausführungen später in Arnoldshain und Frankfurt am Main.

Arnoldshain, Evangelische Akademie 1957 und 1958

     In diese Evangelische Akademie lud die Akademie und die Wirtschaftspolitische Gesellschaft
von 1947 ein. Leider ist von der ersten Tagung vom 6. bis 7. Juli nur ein kleines Fragment über den
»weggelaufenen Eschatologen« übriggeblieben. Man kann sich denken, wer diese weggelaufenen Es-
chatologen gewesen sind. Die zweite Tagung vom 12. bis 14. Juli 1958 verhandelte »Die menschlichen
Voraussetzungen einer langfristig produktiven Gesellschaft. Wie ist man auf 100 Jahre praktisch?«39
     Als zentralen Imperativ formulierte Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine Gesellschaftsord-
nung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das Selbsterhaltungsprinzip der
Menschheit wird.«40
     Dieses Prinzip wie das komplementäre von der Entfesselung unserer »schöpferischen Kräfte«
verlangt von jedem von uns eine solche Wandelbarkeit. Nicht eine im Sinne kannibalistischer oder
anthropophager »Flexibilisierung«, sondern in einem mindestens vierfachen neuartigen Sinne: Ange-
sprochen sind wir alle hierbei als Bürgerinnen und Bürger, und zwar nicht in einer antiken Polis, son-
dern als Bürger unseres Planeten Erde, auf dem schon heute mehr als 50 Prozent aller Erdbewohnen
in urbanen Siedlungsformen wohnen. Diese reichen vom Ghetto zur Favela, von gated communities

37
   FB 126.
38
   FB 91-94; 132 f.
39
   Es handelt sich um zwei Reden, die in Gänze transkribiert erstmals veröffentlicht wurden in Globale Wirtschaft und
humane Gesellschaft. Ost-, West- und Südprobleme. Herausg. v. Rudolf Hermeier, Mark M. Huessy und Valerij Lju-
bin. Münster: agenda Verlag 206, S. 149-194.
40
   FB 136.

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bis hin zu neuen Architekturen ganzer Megastädte. Als Bürger solcher sozialen Polynomien verkör-
pert heute jede(r) schon (1) die menschliche Gattung selbst und ihre vielfältigen Umwelten; (2) die
Orientierung in einer Mehraltrigkeit, auch wenn diese den wenigsten in ihrer Bedeutung zum Überle-
ben bewusst ist; (3) jede(r) muß sich festlegen lassen, künftig noch mehr als heute schon, auf einen
härtesten Widerstand, den es gemeinsam mit anderen schöpferisch in die Form seines reflektierten Ge-
gensinnes zu transformieren gilt.41 Die Rosenstock-Huessy’sche Parole lautet: »Einmütigkeit trotz
Verschiedenheit!« Wenn solches gemeinsames Handeln überlebenswichtig ist, dann können die lang-
samsten und beharrendsten Kräfte, die uns zur Verfügung stehen, also das, was man die Religionen
nennt, nicht die Führung übernehmen, allenfalls bleibt ihnen die Haushaltfunktion, uns gegenseitig den
Rücken zu stärken. Das verwandelt aber diese Kräfte von Grund auf. Die Selbstbegrenzung läge in
der gegenseitigen Evokation solcher Kräfte, die zum Überleben der Gattung und der Erde beitragen.
Eine geradezu tolle wie wider-natürliche Forderung. Und (4) Nur Mitteilung um der Mitteilung willen
(was ich Kommunikation ins Ungefähr genannt habe) ist zu verwandeln in die Kraft, immer neue
Teilnahme zu erzeugen. Dazu bedarf es aber einer Totalverwandlung aller der Kräfte, die heute um
Selbstpräsentation, Narzissmus, Arbeitskraftunternehmertum und Selbstermächtigung sowie Selbst-
herrlichkeit kreisen. Zurücknahme ins Inkognito des gemeinsamen Tuns verlangt Demut, Beschei-
denheit, Kooperation und spirituelle Arbeitsteilung. »Eine Ökonomik der Menschheit ist nur möglich,
wenn mindestens drei Generationen auftreten, wo sich das lebende Geschlecht sich in die Bresche
zwischen dem vom Lebensbaum Abgefallenen stellt und sie zurückträgt und auf den Baum des Le-
bens wieder aufpfropft. Glauben Sie denn, dass diese Worte in der Bibel alle nur Redensarten sind?«42
Die heutige Redensart »Resilienz« ist eine schwache Lizenz auf diese biblische Forderung!

Frankfurt am Main, 30. Januar 1959, Paulskirche.

     Diese Rede Eugen Rosenstock-Huessy wurde auf der Jahrestagung der Wirtschaftspolitischen
Gesellschaft von 1947 in der Paulskirche gehalten. Sie darf als eine der großen auf Deutsch gehalte-
nen Reden überhaupt gelten. Er sprach zu »Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«.43 Wie alle
anderen von ihm gehaltenen großen Reden haben sie fast keine Spuren hinterlassen. So kann man
dagegen nur geltend machen, dass sie eine reiche Ressource zukünftiger, aber schon wirksamer Ver-
heißungen bilden mögen.

41
   Dazu Wolfgang Ullmann. »Ama quia durissimum – Imperativ der Menschlichkeit inmitten der Gefahr ethnokrati-
scher Regression« (1993) in Ders. Wir, die Bürger! , S. 164-174. Sehr aktuell!
42
   FB 142.
43
   FB 144-162.

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     In dieser Rede zu der heute brennenden Frage, wie die Weltwirtschaft von den sie bestimmen-
den kriegerischen Schaltvorgängen (vom elektronischem Frequenzhandel über die Börsen, unter de-
nen es welche gibt, die nur auf der Spekulation des Untergangs der Erde beruhen – z. B. Emissions-
handelsbörsen – , bis hin zu den Giftbanken) zu Teilkräften künftiger Solidarität umgewandelt werden
können, formuliert Rosenstock-Huessy zwei Grundbedingungen: 1. »Die künftige Solidarität, deren
Fehlen uns heute noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter
dem Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied der
Gesellschaft bleiben.«44 2. »Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu pflegen, ist die Frie-
densbedingung einer Weltwirtschaft.«45
     Es geht nicht um eine weitere hilflose Beschwörung des »flexiblen Menschen«. Dessen unendli-
che Flexibilisierung schafft täglich neue Fakten. Vor allem das, dass es unabänderlich hinzunehmen
scheint. Was aber verdeckt sich hinter dieser ‚Anscheinsgegenwart’ (specious present) unendlicher
Flexibilisierung – möglichst in »real time« (Echtzeit)? »Wir alle müssen die Rhythmen unserer Arbeit,
ja, unserer Kalender ändern. Jeder Wechsel im Rhythmus des Lebens tut weh. Die Schmerzen des
Rhythmuswechsels beschämen uns. Er muß daher ausdrücklich eingeübt werden, um erträglich zu
wirken. Der modernste Unternehmer und die hinterwäldlerische brasilianische Dorfgemeinde haben
miteinander gemein die Wachstumsschmerzen des unaufhörlichen Rhythmuswechsels. Das ist die
neue Solidarität; sie fordert Pflege, weil jeder Schmerz des einzelnen immer nur durch soziales
Brauchtum zur adeligen Gewohnheit werden kann.«46
     Eugen Rosenstock-Huessy kann und will keine Lösungen auftischen. Das kann ein Gesell-
schaftsreformer, also eine letzte Wandelgestalt der sittlichen Existenz der hebräischen Propheten, aber
auch jemand, der dem Ruf »Jesus is the Christ« der Evangelien, nicht aber Thomas Hobbes’, folgt,
gerade nicht, er kann jedoch ein Passwort aufstellen, welches nicht den Zugang (access) zu einem
weiteren »gadget« erlaubt, sondern welches einen möglichen »seelischen Zutritt« zu uns selbst gewährt
und einräumt, welches also einer Antwort durch uns selbst bedarf, und diese ist nur möglich, wenn wir
einander Zeit nicht nur nehmen, sondern einander entbieten und gewähren. Dies verlangt eine neue
Form von Freiheit, nämlich sich innerlich Zeit nehmen zu können. Weiters verlangt dies, dass wir
furchtlos auftreten – gegenüber den Problemen und jedem Hinderer,47 aber auch gegenüber dem An-
deren und uns selbst. Es muß erlaubt sein, den anderen mit sich selbst zu konfrontieren, ihn danach

44
   FB 150.
45
   FB 161; 155 ff.
46
   FB 150 f.
47
   Bubers Übersetzung des hebräischen Wortes ‚Teufel’. Ein sehr aktuelles Buch des Schweizer Föderalisten Denis de
Rougemont. Der Anteil des Teufels. Wien: Amandus 1949. Ganz im Geiste Rosenstocks sein Die Zukunft ist unsere
Sache. Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Wieder zu entdecken!

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zu befragen, was ihn überhaupt befähigt und persönlich auszeichnet. Zeichnet einen selbst solcher
Freimut aus? Und lässt sich der andere, wie auch sich selbst, auf ein Gemeinsames festlegen? Zumin-
dest auf eine bestimmte Zeit, die also einer bestimmten Verheißung und eines bestimmten Geheißes
bedarf, sonst können wir überhaupt nicht »die Zeit ernst nehmen« (Franz Rosenzweig).
     »Weil die Weltwirtschaft sich weder auf Missionare der Kirche noch auf Kriegsschiffe der Staa-
ten verlassen kann, muß sie den Gegenrhythmus zu ihrer eigenen technischen Rhythmik kontrapunk-
tisch selber erzeugen. Einstmals hieß es: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. Das kommt mir
etwas unfruchtbar vor. Wie wäre es mit dem neuen Vers: Gegen Waren und Maschinen hilft nur – Du
musst selber dienen!«48 Rosenstock-Huessys Vorschlag war, jede(r) solle sich mindestens ein Jahr auf
ein »Friedensdienstjahr« einlassen. Im Unterschied zum Zivildienst für die Bundeswehr, den er schon
1912 gefordert hatte (unter dem Titel »Ein Landfrieden«), auch im Unterschied zu den uns bekannten
Sozialdiensten oder zu einem Freiwilligen Ökologischen Jahr oder zum Dienst in NGO’s heute, for-
derte Rosenstock-Huessy, dass dieser freiwillige »Dienst« unter absolutem »inkognito«49 zu erfolgen
habe, also Dienst wieder enger an Demut gerückt werden sollte. Ob dies noch eine Möglichkeit unter
Bedingungen technischer Zivilisation und Kommunikation (abgesehen von den heutigen Zwängen
der Kranken- und Sozialversicherungen) ist, wäre eine Frage. Jedenfalls: »Nun beginnen Sie vielleicht
zu ahnen, wer wir selber eigentlich sind: Wir sind nicht der Mann des letzten Fortschritts, des neues-
ten Patents, der raffinierten Maschine. Die muß ich freilich verkaufen, liefern, aufstellen, absetzen;
aber »wir selber« sind nicht dieser Sekundenmensch an der äußersten Spitze. Wir kommen aus der
Ewigkeit aller Geschlechter.«

Genf 1936, Berlin 1932

     Auf dem Scheitelpunkt von Eugen Rosenstock-Huessys »bewährter Lehre«, freilich in einer Zeit-
falte versteckt, befindet sich dessen Vermächtnis, welches, obzwar »der Zukunft zugewachsen«, noch
einmal an- und ausgesprochen werden müsste, damit es »von Gläubigen angewendet« werden kann,
denn »nur das kann sich ja bewähren, was im Glauben empfangen worden ist. So könnte es eine
»Friedensgruppe« stiften.

48
  FB 155.
49
  FB 162. »Die Solidarität hält uns offen und hält die Welt offen. Darauf kommt es bei einem blutig ernsten Friedens-
dienst an. Er ist keine Spielerei. Er ist ein Jubeljahr. […] Die Solidarität des technisch fortgeschrittensten mit dem
technisch Rückständigsten gibt den seelischen Zutritt zu sich selber.“ FB 159. Diese Solidarität als Friedensdienst ist
komplementär verbunden mit „Inkognitodienst“. Ganz im Gegensatz zu den VIPs von heute. Vgl., auch FB 155. Mi-
nimum nach Rosenstock-Huessy ein Jahr!

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        Um diesen Scheitelpunkt dieser Zukunft, wie sie von Rosenstock-Huessy ausgesprochen wurde,
‚würdigen’ zu können, müssen wir an das Ende der 1970er Jahr springen. 1980 veröffentlichte der
grosse sozialistische und libertäre ökologische Denker André Gorz (geb. 1923 unter dem Namen
Gerhart Hirsch. Er emigrierte vor Hitler nach Frankreich), der 2007 wegen der schweren Erkrankung
seiner Frau zusammen mit dieser durch Freitod aus dem Leben schied, seinen »Abschied vom Prole-
tariat«.50 Die tiefgreifenden Änderungen des Spätkapitalismus hatten jede Variante vom Proletariat
obsolet werden lassen. Seit Anfang der 1970er Jahre hatte auch schon der Siegeszug des »personl
computer« begonnen. Wie beschreibt Gorz nun die damalige aktuelle Lage? »Die Nicht-Klasse der
Nicht-Arbeiter umfasst die Gesamtheit der aus der Produktion durch den Prozeß der Arbeitsvernich-
tung Ausgestoßenen oder der in ihren Fähigkeiten durch die Industrialisierung der intellektuellen Tä-
tigkeit (Automation und Informatik) Unterbeschäftigten. Sie umfasst die Gesamtheit der Überzähli-
gen der gesellschaftlichen Produktion: gegenwärtig und virtuell, permanent und zeitweilig, total und
partiell arbeitslose. Sie ist das Verfallsprodukt der alten, auf Arbeit, Würde, Wert, sozialem Nutzen,
Arbeitsbedürfnis begründeten Gesellschaft. Sie erstreckt sich auf fast alle Schichten […]. Die traditio-
nelle Arbeiterklasse ist nur noch eine privilegierte Minderheit. In ihrer Mehrheit gehört die Bevölke-
rung heute dem nachindustriellen Neoproletariat der Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig, als
Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder Teilzeit-Angestellt, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten –
Tätigkeiten, die in nicht allzu ferner Zukunft zumeist von der Automation ausgelöscht werden […]«.51
Dieser Abschied verursachte damals gerade auf Seiten der Linken einen traumatisch wirkenden
Schock. Nichts mehr war wie vorher. Kurze Zeit später, im historischen Moment, wo ein Sozialist
1981 zum ersten Mal französischer Präsident werden sollte, erdrosselte der führende marxistische
Intellektuelle und Philosoph Louis Althusser (1916-1990) im gleichen Jahr, da Gorz’ Abschiedsschrift
erschien, seine jüdische Frau. Dieses Doppeldatum war das Ende allen realexistierenden Sozialismus,
welches dann real 1989-1990 eintrat.
        1932 hatte Eugen Rosenstock-Huessy seine letzte sozialpolitische Friedensschrift unter dem Ti-
tel »Arbeitsdienst – Heeresdienst?« veröffentlicht, er widmete sie dem Reichskanzler und Zauderer
Heinrich Brüning (1885-1970). Die Lösung der Weltwirtschaftskrise war mit friedlichen Mitteln nicht
mehr möglich, als Rosenstock-Huessy diesen letzten Aufruf startete, auf christlicher Grundlage einen
Totalumbau des Kapitalismus auf friedlicher Grundlage zu wagen. Der Versuch, man weiß es, schei-
terte. Der »kriegerische Messianismus« des Nationalsozialismus hatte schon gesiegt, die Machtübertra-

50
     Frankfurt/Main: EVA 1980; 2. Auflage Rowohlt Taschenbuch 7801Hamburg 1983.
51
     André Gorz. Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, 1983, S. 63-64.

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gung braucht nur noch ausgefertigt und übergeben, das Kriegsrecht der Gesellschaft gegenüber er-
klärt und durch Maßnahmen durchgeführt werden.52
      In dieser Schrift, ihr gingen einige wichtige andere sozialpolitische Schriften voraus, stellt Rosen-
stock der Lösung der Arbeitslosenfrage von damals den Totenschein aus. An der Diagnose hat sich
bis heute wenig geändert. Immer noch wird das Problem der Arbeitslosigkeit wirtschaftspolitisch ge-
sehen. Immer noch wird sie individualistisch gesehen. Wie beim Arbeitslosengeld, so auch bei allen
versicherungsrechtlichen Fragen. In der Rentenfrage ebenso, auch in der individuellen Förderung
durch Weiterbildung, Weiterqualifikation. Nicht zuletzt im Falle von Harz IV.
      Die Diagnose ist dieselbe, die 1980 Gorz anstellte: »Rosenstock geht von der vorläufig unauf-
hebbaren Tatsache aus, dass die menschliche Arbeitskraft, in steigendem Maße ersetzt durch die Na-
turkräfte, in keiner Beziehung mehr zur Fassungskraft der Märkte steht und infolgedessen schlechthin
aufhört, im bisher gültigen Sinne ein gut zu sein. Auf Grund dieses Tatbestands trennt sich strukturell
in der Gesellschaft die aus der Wirtschaft entlassene, untätige Arbeitskraft von der tätigen: die bisheri-
ge Solidarität der Arbeitskräfte wird zersprengt, da der frühere leichte Umschlag der Arbeitslosigkeit
in die Arbeit nunmehr für Millionen unserer Arbeitslosen nicht mehr in Frag kommt. Die Arbeitslo-
sigkeit ist zu einer neuen, potenzierten Form der Proletarisierung – zur heutigen Form der Proletari-
sierung – geworden: ihr Kern ist nicht die Not des besitzlosen Nichteigentümers, der fremdbestimm-
ten Lohnarbeit, sondern die Not jener, deren Arbeitskraft zur Untätigkeit verdammt ist und aufhört,
ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Gut zu sein.«53 So ist die Lage bis heute. Sie hat sich einzig
ins Universelle erweitert. Die Diagnose trifft so z. B. insbesondere (eine Potenzierung mehr) auf die
südlichen Länder der EU zu, wo über 50% aller Jugendlichen (ausgebildet oder nicht) zu den „Ausge-
stoßenen“ gehören. Wie man weiß, sind es genau diese Jugendlichen, die am stärksten an der »Arabel-
lion« in den islamisch geprägten Gesellschaften Nordafrikas und der arabischen Halbinsel beteiligt
sind. Die kommenden Ereignisse, so in den sog. Schwellenländern, sind auf demselben Vormarsch. In
anderen Weltgegenden sieht es ähnlich aus. Die Lage dynamisiert sich dramatisch. Kaum etwas kann
dem Einhalt gebieten, geschweige denn eine Lösung bringen. Was zeichnet sich hinter diesen Ereig-
nissen ab? Zum ersten Mal in der Gesamtgeschichte des Kapitalismus kann dieser weder von außen her (durch

52
   Letzteres machte erstmals öffentlich der aus Deutschland emigrierte Jurist Ernst Fränkel in seiner bis heute wichtigen
Arbeit (z. B. für Syrien und anderswo) Der Doppelstaat. Herausgegeben und eingeleitet von Alexander von Brünneck.
2. durchges. Ausgabe. Hamburg: EVA 2001 (Orig. 1938).
53
   Ich zitiere hier eine Zusammenfassung von Rosenstock-Huessys katholischem Freund Ernst Michel (1889-1964), der
der Nachfolger von Rosenstock in der Leitung der Akademie der Arbeit wurde. In den beiden Gedenkschriften der
Akademie der Arbeit nach 1945 werden beide nicht genannt! Während des NS zog sich Michel als Psychotherapeut
zurück. Vgl. Ernst Michel. Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt. Ihrer Krisenformen und Gestaltungsversu-
che. Frankfurt/Main: Josef Knecht 1953. Diese Schrift erschien erstmals 1932. Sie wurde ein Klassiker der Betriebs-
wirtschaft und der Industriesoziologie. Sie erschien unverändert 11947; 2 1950; 3erw. 1953; 1960. Hier S. 344 ff.

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Rückgriff auf Ausbeutung vor-kapitalistischer sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse) noch ‚aus sich
selbst heraus’ (à la Münchhausen) die sozialen Verhältnisse reproduzieren, dank derer er nur produzieren kann.
Auch dem heutigen Hyper-Kapitalismus wird es nicht gelingen, sich selbst zu regenerieren. Die Res-
sourcen dazu sind höchst begrenzt. Sein Ende in dieser Form ist absehbar. »Das Ende der Welt, wie
wir sie kannten« – ein erster eschatologischer Titel ohne jede Theologie – ist längst eingetreten.54 Es
bildet das »Hinterücksdogma« (ein schöner Neologismus Rosenstock-Huessys) zunehmender sozialer
Verzweiflung bei gleichzeitiger technologischer und medialer Euphorie.
     Zumindest den Hintergrund dieses Hinterrückdogmas hat Rosenstock-Huessy 1932 benannt:
»Es erhebt sich aus dieser strukturellen gesellschaftlichen Umlagerung die Aufgabe, diese neue Prole-
tariat, das anderer Art ist als das alte, in die Gesellschaft hineinzuverfassen: also für eine ganze Schicht
neue Funktionen zu schaffen, überflüssige Arbeitskraft als Volkskraft in nicht marktmäßigen und
doch lebensnotwendigen Formen zu speichern.« Damit spricht Rosenstock-Huessy etwas Neues an:
es geht um den Vorrang des Volkes vor der Gesellschaft. Als Christ, als Gesellschaftsmitglied und
Wissenschaftler jüdischer Herkunft versteht unter »Volk« eben nicht, wie sonst bei allen anderen wäh-
rend der Weimarer Republik, seien es nun solche aus Kirche, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft oder
aller ‚völkischen’ Ideologien, die Homogenität einer ‚Volk’ genannten Entität. Im Judentum und in
der hebräischen Bibel ist das Volk immer Volk Gottes und alle, die dieses Volk bilden, leben eine
Heterogenität, die sich durch die Freiheit zur Aufnahme von Fremden in ihrer Heterogenität und in
ihrem Glauben gewiß und verantwortlich weiss. Dies ist auch das Verständnis von ‚Volk’, welches
Rosenstock-Huessy in allen seinen Arbeiten zugrundelegt und in seinen rechtsgeschichtlichen Arbei-
ten untersucht. Auch das ‚deutsche Volk’ ist und war niemals homogen zwangsformiert,55 sondern
eine geschichtlich heterogene und polyphone Mannigfaltigkeit.56 Rosenstock-Huessy benennt darum
als letzten Horizont der Reproduktion bzw. Regeneration (die sich nicht mit der von Marx decken)
die »Reproduktion der Produktionsordnung selbst« als »die Produktion der Produzenten«.57
     Zu eine vertieften Diskussion kam es durch den Nationalsozialismus nicht mehr. Nach 1945
kam es zu Erweiterungen, die während der Weimarer Zeit nicht mehr zum Zuge kamen. Man denke
etwa an die Mitbestimmung.

54
   So lautet der Bestseller von Harald Welzer und Claus Leggewie zu unserem Verhalten kognitiver Dissonaz gegen-
über dem Klimawandel. Jeder weiss darum, aber tut alles, um ihn zu befördern. Harald Welzer zieht daraus die Konse-
quenz in seinem neuen wichtigen Buch (ganz auf der Linie von Rosenstock-Huessy) Selbst Denken. Frankfurt/Main:
Fischer 2013.
55
   So die gesamte »völkische«, darum antisemitische und antijudaistische Literatur, sowohl die populäre wie auch die
wissenschaftliche. Vgl. dagegen Rosenstock-Huessy. Im Kreuz der Wirklichkeit.
56
   Eugen Rosenstock-Huessy. »Die Polyphonie des Volkes« (1926) in Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 2, S.
156 ff. Zur selben Zeit prägte Rosenstock-Huessy den Begriff »Mehraltrigkeit«. Der Politiker ist einaltrig, die Lehrer,
siehe die bewährte Lehre, müssen mehraltrig sein.
57
   Vgl. vor allem den zweiten Teil von Eugen Rosenstock-Huessy. Der unbezahlbare Mensch. 1955.

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