Italianità lässt "Select" weiterleben

Die Seite wird erstellt Liliana Kroll
 
WEITER LESEN
Italianità lässt "Select" weiterleben
H OTEL S UND RE S TAUR A NT S

                                Italianità lässt
                                «Select» weiterleben

  1

18 | spectrooms 3 / 2020
Italianità lässt "Select" weiterleben
H OTEL S UND RE S TAUR A NT S

                                                                                                             2          3

                                                   1 | Der offene hohe Raum mit der Wendeltreppe nimmt die Volumetrie des einstigen Kinos
                                                   Nord-Süd auf. 2 | Ein langer Marmortresen, die Select-Stühle, 1934 entworfen von Architekt
                                                   Max Moser, zwei Kronleuchter als Signature-Element und ein grosser Spiegel, wo einst die Leinwand
                                                   war, sorgen für italienisches Flair. 3 | Raumskizze: Atelier Ushi Tamborriello.

Kleine Studiokinos mit nur einem Vorführsaal sind Vergangenheit. Auch das legendäre
Studio­kino Nord-Süd an der Zürcher Schifflände hat seine Türen längst geschlossen. Das Atelier
Ushi Tamborriello hat es mit dem Restaurant Molino Select wieder zum Leben erweckt.
Der Innenarchitektin ist es gelungen, im Einklang mit der Denkmalpflege italienisches Flair
und historische Zitate auf raffinierte Weise zu verweben.
Text Christina Horisberger Fotos Jochen Splett

Das Café Select am Zürcher Limmatquai mit          erinnert sich der Schweizer Musiker Hardy                     an der einstigen Liegenschaft von Willy
dem daneben liegenden Studiokino Nord-Süd          Hepp, dass «hier am Hechtplatz, zwischen den                  Boesiger­in Sachen Erdgeschossnutzung eini-
blickt auf eine traditionsreiche und legendäre     beiden Künstler- und Intellektuellentreffs Café               ges geändert. Auch die neoklassizistische Fas-
Geschichte zurück. Als der Architekt und Le-       Odéon und Café Select, das Epizentrum der                     sade wurde vom Architekturbüro Zanoni wie-
Corbusier-Schüler Willy Boesiger das einstige      kulturellen Eruption der Sechzigerjahre war».                 der in den historischen Zustand überführt,
Hotel Du Lac (1839/49) und spätere Geschäfts-                                                                    während Willy Boesiger, ein Anhänger des
haus 1934 erwarb, entwarf er für das Erdge-        Das erste Studiokino der Schweiz                              Neuen Bauens, damals einige radikale Eingriffe
schoss und das Entresol ein Café mit Bar nach      Willy Boesiger war damals auch ein cleverer                   an der Fassade vorgenommen hatte. Neu sind
Pariser Vorbild mit einem schlichten funktio-      Geschäftsmann. Ihm war bewusst, dass ein al-                  in den Obergeschossen Büros und Wohnun-
nalen Interieur. Das Café Select – Insider nann-   koholfreies Café sich auf Dauer finanziell nicht              gen, bei denen es gelungen ist, den Charme der
ten es Café «Inselektuell» – wurde bald zu ei-     lohnen würde, und er holte die Allround-                      historischen Hotellerie mit der Betonung auf
nem berühmt-berüchtigten Treffpunkt für In-        künstlerin Anna Indermühle mit ins Boot, die                  den Raumfluchten durch die Restaurierung
tellektuelle, Schauspieler, Architekten. In den    gleich nebenan das erste Studiokino – genannt                 historischer Materialien mit modernen Ergän-
Kriegsjahren wurde hier stundenlang Kaffee         «cinéma d’art et d’essay» – der Schweiz be-                   zungen wieder spürbar zu machen.
getrunken, während kaum Geld für die Behei-        trieb. Man sagt, dass sie ihre Filme jeweils auf
zung der Wohnung übrig war. Man diskutierte        dem Schwarzmarkt erstanden habe. Und in der                   Subtile Zitate
über das politische Weltgeschehen und ver-         Tat liefen hier auch bis zur Schliessung immer                Der Umbau hingegen des Restaurants Molino
trieb sich mit einer Partie Schach die düstere     spannende Studiofilme, angekündigt mit klei-                  Select war für das Atelier Ushi Tamborriello ei-
Stimmung, die sich über Europa breitgemacht        nen Plakaten in den Vitrinen zur Schifflände                  ne räumliche Herausforderung, denn es galt,
hatte. Das «Select» war zudem das erste Bou-       hin. Nun blickt der Passant, die Passantin nicht              die Atmosphäre des Ortes und seine Geschich-
levardcafé in der Zwinglistadt (ab 1940). Und      mehr auf verheissungsvolle Kinoplakate, son-                  te als Kino mit einem Restaurantkonzept in
noch bis in die 1990er-Jahre gaben sich hier       dern durch grossflächige Fenster in das Inte­                 Übereinstimmung zu bringen. Der Kinosaal
Prominente und solche, die dazugehören woll-       rieur des Restaurants Molino Select. So oder so               musste gemäss Denkmalpflege in seiner Kuba-
ten, im «Select» die Türklinke in die Hand. So     hat sich am Schiffländeplatz beziehungsweise                  tur erhalten, das schmale Raumvolumen mit

                                                                                                                                                 spectrooms 3 / 2020 | 19
Italianità lässt "Select" weiterleben
H OTEL S UND RE S TAUR A NT S

  4

              4 | Die gemütlichen,
              gesteppten Nischensofas sind           5                                               6
              eine Sonderanfertigung der
              Firma Glaeser. 5 | Die
              historische Fotografie des
              ehemaligen Studiokinos
              stammt aus dem Bauge-
              schichtlichen Archiv der Stadt
              Zürich. 6 | Die Signature-
              Leuchten, die mit Lichtkompe-
              tenz entwickelt wurden, sind
              eine Anleihe an das italienische
              Design der Sechzigerjahre und
              ein Blickfang im Restaurant.

  seiner Ausrichtung auf die einstige Lein-        heute ist er bei Horgenglarus in einer Holzaus-       Samt gepolsterten, gesteppten Sitzgelegenhei-
wand lesbar gemacht werden. Auch die cha-          führung erhältlich. Der lange Marmortresen            ten, Sonderanfertigungen der Firma Glaeser,
rakteristische Wendeltreppe hinauf zur einsti-     lenkt den Blick über die gesamte ursprüngli-          sind ein Zitat an das Studiokino, aber in einer
gen Galerie musste berücksichtigt und in das       che Raumtiefe des Kinos und auch in die Höhe.         modernen italienischen Art interpretiert. Wei-
Gesamtkonzept eingebunden werden.                  Über dieses Raumvolumen spürt der Gast noch           tere Bezüge zum historischen Bestand sind
                                                   immer die Dimensionen des einstigen Studio-           auch der grosse Spiegel am Ende des Raums,
Atmosphärisches Gespür                             kinos. Zitate an das Studiokino – Ushi                wo einst die Leinwand hing. Ein besonderes
Wer heute das «Molino Select» über den             Tamborriello zeigt wie immer ein Gespür für           Augenmerk verdient die Raumleuchte, eine
Schiff­ländeplatz betritt, wähnt sich ein biss-    die ursprüngliche Atmosphäre und die Cha-             Signature-Leuchte aus feinen Glasröhrchen,
chen in einer Turiner Bar mit langem Marmor-       rakteristik eines Ortes – hat die Innenarchi-         die Ushi Tamborriello zusammen mit Licht-
tresen und Barstühlen, die eine Weiterent-         tektin subtil in das Gesamtambiente des Res-          kompetenz entwickelt hat. Mit dem Umbau des
wicklung des legendären Select-Stuhls mit          taurants eingebunden. So wurde aus akusti-            Gebäudeensembles wurde das neue «Molino
halbrunder Lehne von Horgenglarus sind. Die-       schen und ästhetischen Gründen die zweige-            Select» zu einem stimmigen Ganzen, das unter
se Stühle waren über Jahrzehnte ein Charakte-      schossige Raumhöhe im oberen Bereich mit              anderem der engen Zusammenarbeit zwischen
ristikum des Café Select, da der Stuhl extra für   grünen Samtvorhängen umfasst: eine ­Reverenz          dem Architekturbüro Zanoni und dem Atelier
das Café entworfen und immer wieder erneu-         an die textile Qualität des einstigen Studio­         Ushi Tamborriello zu verdanken ist. ||
ert wurde. Zu Beginn war er noch gepolstert,       kinos mit seinen Velourssitzen. Auch die mit             ushitamborriello.com | zanoni-architekten.ch | molino.ch

20 | spectrooms 3 / 2020
Italianità lässt "Select" weiterleben
Sie können auch lesen