Jacques Derrida: "Die unbedingte Universität"
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Jacques Derrida: „Die unbedingte Universität“ Senay Kölüe Universidad de Viena, Austria Ich werde über „Die unbedingte Universität“ von Jacques Derrida referieren. Dieser Text wurde erstmals 1998 an der Universität Stanford in Kalifornien zum Thema „Kunst und Huma- nities in der Universität von morgen“ und später in Frankfurt zum Thema „Die Zukunft der Universität“ vorgetragen. Einleitung Derridas These oder Glaubensbekenntnis lautet: „Aufruf und Bekenntnis zum Glauben an die Universität und, in ihr, zum Glauben an die Humanities von morgen“.1 So klar und deutlich diese These auch formuliert sein mag, bringt sie doch sehr viele Fragen und Probleme, also Unklarheiten mit sich. Aufruf, Bekenntnis, Glaube, Humanities: Welche Bedeutung haben diese Wörter im Bezug auf die Uni- versität? Welche Bedeutung haben sie für die Universität von heute? Wie ist ihr Verhältnis zur Universität zu verstehen? 1Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main: 2001, Suhrkamp, S. 9. 313
An wen richtet sich Derridas Appell bzw. Aufruf? Wer soll sich überhaupt bekennen und wer glauben? Welche Rolle spielen die Humanities, die Humanities von morgen? Was geschieht in der Universität oder was geschieht mit der Universität? Was verspricht der Titel des Textes: „Die unbe- dingte Universität“. Auch wenn diese und noch andere Fragen nicht endgültig beantwortet werden können, so versucht Derrida doch diese aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, um vielleicht doch etwas in Bewegung bringen zu können. In diesem Sinne bringt Derrida sieben Vorschläge oder Glaubensbekenntnisse zu Wort, die für die Zukunft der Universität ausschlaggebend sein könnten. Diese werde ich im Anschluss meines Vortrages zur Diskussion stellen. Zunächst beschränke ich mich auf drei Themen- kreise und versuche, diese näher zu erläutern. Zum einen Derridas Forderung einer „unbedingten Universität“. Zum zweiten, die Bedeutung der Humanities für die Universität und zum dritten, die Rolle des Professors oder der Profession für die Universität. 314
1. „Die unbedingte Universität“ Derrida fordert, dass die moderne Universität eine „unbedingte“, eine Universität, die „bedingungslos, von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte“.2 Dazu definiert er die Freiheit, die solch eine bedingungslose Universität voraussetzen würde, wie folgt: „[ …] eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt“.3 Der Begriff der Wahrheit wird an dieser Stelle nicht definiert, da es primär um die Universität selbst geht. So erinnert uns Derrida, auch wenn er dies nicht ausdrücklich erwähnt, an den Gründungsgedanken der Universität, in der die Wahrheit im Zentrum stand. Auch Derrida stellt die Wahrheit wieder in den Vordergrund, wenn er schreibt: „Die Universität macht die Wahrheit zum Beruf – und sie bekennt sich zur Wahrheit, sie legt ein Wahrheitsgelübde ab. Sie erklärt und gelobt öffentlich, ihrer uneingeschränkten Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nachzukommen“. Denn wo sonst könnten Fragen und Probleme die den Menschen betreffen frei, bedingungslos und vorbehaltlos, ohne Einschränkung behandelt werden als in der Univer- 2 Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main: 2001, Suhrkamp, S. 9. 3 Ebd., S. 10. 315
sität? Die Frage der Wahrheit ist an die Frage nach dem Menschen gekoppelt, und diese Tatsache begründet die Bedeutung der Humanities. So gelten die Universität, insbesondere die Humanities, als der Ort der Wahr- heitssuche, -findung und als der Ort des Vollzugs der Wahrheit. Obwohl es „die unbedingte Universität de facto nicht gibt“, oder gerade weil es sie nicht gibt, sollte sie prinzipiell ihrem erklärten Wesen nach ein Ort letzten kritischen Widerstands sein.4 Der „unbedingte Widerstand“ ist eine weitere Forderung, die Derrida an die moderne Univer- sität stellt. Darunter versteht er eine dekonstruktive Vorgehensweise, eine Praxis des Fragens und Hinter- fragens. Dabei handelt es sich nicht nur um die kritische Hinterfragung oder Dekonstruktion „[…]der Geschichte des Begriffs Mensch, sondern die Geschichte des Kritikbegriffs selbst, ja noch die Form und Autorität der Frage, die Form des Denkens als Befragung[…]“.5 Auch und vor allem gilt es dem Äußeren der Uni- versität Widerstand zu leisten. Dieses Äußere umfasst u.a. die Staatsmacht, die ökonomischen Mächte, mediale Mächte und ideologische Mächte, „kurzum: alle Mächte, welche die kommende und im Kommen bleibende Demokratie 4 Ebd., S. 12. 5 Ebd., S 13. 316
einschränken“. „Die Universität müsste also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht“.6 Das Innere der Universität spielt sich vor allem im Bereich der Humanities ab. 2. Die Bedeutung der Humanities für die Universität Derrida spricht von den „neuen Humanities“ und unters- treicht deren Bedeutung für die unbedingte Universität. Unter Bewahrung der Tradition soll der Begriff der Humanities neu gedacht, definiert und erweitert werden. Die neuen Humanities sollten das Recht, die Theorien der Übersetzung, die Literaturtheorie, die Psychoanalyse u. a. Disziplinen umfassen, die sich mit der Frage des Menschen, der Menschenrechte und der Menschlichkeit des Menschen im Allgemeinen beschäftigen. Denn diese bilden den Ort des kritischen Fragens, des Widerstands- prinzips und der Unbedingtheit der Universität. Aber dieses Unbedingtheitsprinzip zeigt sich zunächst und in ausgezeichneter Weise in den Humanities. Die Humanities sind der privilegierte Ort seiner Präsentation, seines Hervortretens und seiner Darstellung, seiner Bekundung und seiner Bewahrung; sie eröffnen den Spielraum für eine Diskussion und Neubestimmung dieses Prinzips.7 6 Ebd., S 14. 7 Ebd., S. 19. 317
Als Praxis für die Arbeit der neuen Humanities schlägt Derrida die Dekonstruktion vor. Durch ein ständiges kritisches Hinterfragen der eigenen Geschichte, des Gegenstandes und der Arbeit selbst sollen die Humanities sich selbst neu setzen. Mit dem „als ob“ Kants umkreist Derrida den Gegenstandsbereich der Humanities. „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei“.8 Der Gegenstand der Humanities besteht hauptsächlich aus Kunstwerken, aus den Werken der Malerei, der Literatur, der Dichtung, der Musik etc. Derrida fragt, ob nicht auch Gegenstände mit wissenschaftlicher Struktur von diesem „als ob“ betroffen sind und, ob sie nicht in bedrohlicher Nähe zur Fabel, zur Fiktion und zum Simulakrum stünden. Daher sieht Derrida auch eine tiefere Verbun- denheit zwischen den Humanities und der Literatur. Hier wird der Glaube mit dem Wissen verknüpft. In Anlehnung an J. L. Austins Sprechakttheorie führt Derrida die Unterscheidung zwischen dem performativen Akt des Vortragens, des öffentlichen Erklärens, des Glaubensbekenntnisses und dem konstativen, theoretischen Wissen, das vorgetragen wird. Der Professor in seiner 8Kant, Immanuel, aus:, Derrida: Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main: 2001, Suhrkamp, S. 31. 318
Profession ist der Akteur. Er bekennt sich zu seinem Beruf und zum vorgetragenen Gegenstand. 3. Die Rolle des Professors oder der Profession für die Universität Derrida unterscheidet den Beruf des Professors, die Profession von der gesellschaftlich anerkannten Arbeit. Das letztere habe vielmehr mit Kompetenz, mit einem Handwerk, mit Sich-auf -etwas-Verstehen zu tun. Diese Aspekte treffen auch auf die konstative Seite des Berufs des Professors zu, definieren diesen jedoch nicht vollständig. Die Profession habe vielmehr mit der confession gemeinsam. Professer: ausüben, lehren, offen bekunden; lateinischer Herkunft: profiteor, professus sum; pro et fateor: sprechen; Sowohl die Fabel, als auch die Erdichtung stammen von diesem Wort, wodurch Derrida eine Nähe zum „als ob“ ableiten kann. Indem der Professor das konstative Wissen vorträgt und gleichzeitig im Akt des Vortragens seinen Glauben daran kund tut, verbindet er Glauben und Wissen, Fiktion und Sachlichkeit. […] dieses Wissen, diese Wissensverbreitung, diese Lehre soll der Ordnung des Theoretischen und Konstativen angehören. Der Akt, in dem eine Lehre gelehrt, offen vertreten, in einer öffentlichen Erklärung beglaubigt wird, der Akt, in dem man sich zu ihr bekennt, mag ein performativer Akt sein; nicht so die vertretene Lehre selbst.9 9 Ebd., S. 42. 319
Indem der Professor spricht, verspricht er. Das Glaubensbekenntnis bringt die Verpflichtung mit sich; das Versprechen die Verantwortung; aber diese Diskurse verweisen, so Derrida, nicht auf ein Wissen, das bloß zur Sprache gebracht wird, sondern auf Diskurse, die das Ereignis, von dem sie sprechen, erst hervorbringen. Die Wahrheit wird durch die Profession nicht nur als Objekt oder Inhalt beschrieben, sondern vollzieht sich als Ereignis im Raum zwischen den Anwesenden. Die unbedingte, bedingungslose Universität und die Humanities werden somit zur Stätte des Stattfindens der Wahrheit und der Schauplatz, der Ort des unbedingten Widerstandes. Derridas Vorschläge oder Glaubensbekenntnisse 1. „Die neuen Humanities müßten sich der Geschichte des Menschen widmen, der Idee des Menschen, der Figur des Menschen und des „dem Menschen Eigenen“. a) Geschichte der Erklärung der Menschenrechte b) Geschichte des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ 2. „Die neuen Humanities müßten sich, im selben Stil, der Geschichte der Demokratie und der Idee der Souveränität widmen; […] den Bedingungen oder vielmehr der Unbedingtheit, von der man unterstellt, daß die Universität von ihr lebedie Universität und in ihr die Humanities.“ 320
3. „Die neuen Humanities müßten sich, im selben Stil, der Geschichte des >professer< - >öffentlich erklärenausübenlehrenprofession< - Beruf, öffentliche Erklärung, Sichbekennen zu… - und der Professur widmen […].“ 4. „Diese neuen Humanities müßten sich, im selben Stil, der Geschichte der Literatur widmen. […] mit der Geschichte des Begriffs Literatur, der modernen Institution namens Literatur, ihrem Verhältnis zur Fiktion und zur performativen Kraft des „als ob“, ihrem Begriff des Werks, des Autors, der Signatur […].“ 5. „Diese neuen Humanities müßten sich, im selben Stil, der Geschichte der profession – des Berufs, der öffentlichen Erklärung, des Sichbekennens zu…-, der profession de foi – des Glaubensbeknntnisses-, der Professionalisierung und der Professur widmen. […] was geschieht, wenn die profession de foi, das Glaubensbekenntnis des Professors nicht bloß die Anwendung eines Wissens […], nicht bloß diese klassische Allianz des Performativen und Konstativen, sondern singuläre Werke, andere Strategien des >als ob< zeitigt, bei denen es sich um Ereignisse handelt […].“ 6. „Diese neuen Humanities müßten sich […] im Zuge einer kritischen und dekonstruktiven reflexiven Wendung der Geschichte des >als ob< widmen, und vor allem der Geschichte jener fruchtbaren Unterschei- dung von performativen und konstativen Akten […].“ 321
7. Kritische Hinterfragung der „Autorität, die man in der Universität in den Humanities. a) dem Wissen (oder zumindest seinem konstativen Sprachmodell), b) der Profession als Erklärung oder Glaubens- bekenntnis (oder zumindest ihrem performativen Sprachmodell), c) dem Ins-Werk-Setzen, zumindest dem performativen Ins-Werk-Setzen des >als ob< einräumt. Was ist das, was geschieht, stattfindet, hereinbricht, was ist im allgemeinen, das was man Ereignis nennt?“ (Vgl. Derrida, Die unbedingte Universität, Kap. IV) 322
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