Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien - BAND 19/20
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Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 JAHRBUCH DES KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS WIEN BAND 19/20 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 JAHRBUCH DES KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS WIEN, BAND 19/20, 2017/2018 ENTSPRICHT BAND 111/112 DER GESAMTEN REIHE: VORMALS JAHRBUCH DER KUNSTHISTORISCHEN SAMMLUNGEN DES ALLERHÖCHSTEN KAISERHAUSES (AB 1883) UND JAHRBUCH DER KUNSTHISTORISCHEN SAMMLUNGEN IN WIEN (1926—1998) © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 JAHRBUCH DES KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS WIEN BAND 19/20 2017/2018 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 GEWIDMET SABINE HAAG GENERALDIREKTORIN DES KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS VON 2009 BIS 2019 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 HERAUSGEBER: KUNSTHISTORISCHES MUSEUM WIEN GENERALDIREKTORIN DR. SABINE HAAG REDAKTION: GABRIELE HELKE LEKTORAT: ANNETTE VAN DER VYVER, PIA PRASKA KREATIVDIREKTOR: STEFAN ZEISLER BILDBEARBEITUNG: SANELA ANTIC GEFÖRDERT VOM VEREIN DER FREUNDE DES KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS Böhlau Verlag Wien Köln Weimar © 2019 KHM-Museumsverband ISBN 978-3-205-20069-7 Alle Rechte, insbesondere das Übersetzen in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Museums ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Ver- wendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten. Satz: Bettina Waringer, Wien © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Inhalt BEITRÄGE Gerhard Schmidt Die Gemma Claudia – eine Autopsie 11 Thomas Buchner Der Jupiter-Dolichenus-Fund von Mauer 1937. Zwischen Heimatmuseum und völkischer Wissenschaft 29 Lothar Sickel Der Wiener Traum nach Michelangelo. Ein frühes Werk von Giambattista Ponchini? 43 Thomas Kuster Die Vliesordensverleihung von 1585. Ein Staatsakt mit diplomatischen Verwicklungen 53 Konrad Schlegel Vom Walross und dem Erzherzog. Abundantia/Pomona von Leonhard Kern in der Sammlung Erzherzog Leopold Wilhelms 77 Gernot Mayer und Gudrun Swoboda Gemälde aus den Sammlungen Albani, Braschi und des Vatikans. Die Wiener Galerie als Profiteur des napoleonischen Kunstraubs 93 Friedrich Simader „Libri provenienti da Roma“. Zu einem Bücherraub während der Napoleonischen Kriege 135 EIN INVENTAR DER WIENER Stefan Krause KAISERLICHEN RÜSTKAMMER VON 1678 Ein Inverntar der Wiener Kaiserlichen Rüstkammer von 1678 – Einleitung 149 Mario Döberl Einleitung zur Quellenedition 185 Quellenedition 191 Glossar 224 ANHANG Register 231 Abbildungsnachweis 243 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 BEITRÄGE © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 10 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Gerhard Schmidt Die Gemma Claudia – eine Autopsie* Die römisch-kaiserzeitlichen Prunkkameen gehören zu den bedeutendsten Meister- werken der antiken Kunst. Die preziösen Schaustücke sind wohl in unmittelbarer Umgebung der römischen Kaiser beauftragt und aufbewahrt worden und nehmen damit sowohl aufgrund ihrer außergewöhnlichen handwerklichen Qualität als auch wegen ihrer politischen Aussagekraft eine Sonderstellung ein. Fast alle der heute erhaltenen Prunkkameen kamen auch in nachantiker Zeit nicht unter die Erde, son- dern wurden als Schätze verwahrt, gehandelt, geraubt oder weitergegeben. Insbe- sondere dank der Ankäufe Rudolfs II. Ende des 16. Jahrhunderts beherbergt heute die Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums Wien die wohl weltweit be- deutendste Sammlung dieser Kunstwerke. Die Gemma Claudia im Kunsthistorischen Museum Wien (Abb. 1a) darf zu den wichtigsten Stücken dieser Gattung gerechnet werden. Sie zeichnet sich durch ihre Größe sowie die außergewöhnlich hohe Qualität der Gravur aus. Sie ist ein aus kostbarem Lagenachat gefertigtes Objekt kaiserlicher Selbstdarstellung und kann als eines der bedeutendsten Kunstwerke der julisch-claudischen Dynastie und als ein Höhepunkt antiker Steinschneidekunst gewertet werden. Der große Kameo in Wien, der den Namen Gemma Claudia seit 1985 trägt,1 wurde erstmals im Nachlassinventar des Kaisers Matthias von 1619 unter der Nummer 949 erwähnt: „Ain grosser agata, mit vier Römischer kaisern bildnuss gahr schön und hoch weiss erhebt.“ Auf dem Kameo sind, herauswachsend aus Füllhörnern, je zwei in Form von capita iuguta gestaffelte Büsten von Paaren dargestellt. Weitgehend akzeptiert ist ihre Iden- tifizierung: rechts Germanicus (15 v. Chr. – 19 n. Chr.) und seine Gattin Agrippina maior (14 v. Chr. – 33 n. Chr.), ihnen gegenüber sein Bruder Kaiser Claudius (10 v. Chr. – 54 n. Chr., reg. 41–54 n. Chr.) mit Agrippina minor (16–59 n. Chr.), seiner letzten Gattin und Nichte, einer Tochter von Germanicus und Agrippina maior. * Die antiken Prunkkameen wurden und werden in zahlreichen Publikationen in ihrer kunsthistorischen und historischen Dimension gewürdigt. Die handwerkliche Erfahrung und der Blick eines Künstlers und Gemmenschneiders kann aber noch zusätzlich wichtige Erkenntnisse bringen, da sich insbeson- dere aus Details oder Werkzeugspuren weitreichende Rückschlüsse auf die ursprüngliche Komposition und Umarbeitungen gewinnen lassen. Gerhard Schmidt, Steinschneider aus Idar-Oberstein, beschäftigt sich künstlerisch und wissenschaft- lich seit vielen Jahren mit antiken Kameen und hat mit den Nachschnitten der Gemma Augustea, der Tazza Farnese und des Grand Camée de France in Ausstellungen – unter anderem in den Antiken- sammlungen in Wien und Berlin – und Veröffentlichungen bereits Bemerkenswertes zu diesem Thema beigetragen. Die hier vorgelegten Beobachtungen stützen sich auf eine sorgfältige Autopsie und insbesondere auf eine langjährige Erfahrung in der Steinschneidekunst und erbringen für die Gemma Claudia und wei- tere bedeutende antike Prunkkameen gewichtige Argumente und Diskussionsgrundlagen für eine Neu- bewertung und Interpretation dieser Meisterwerke. Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete und um Anmerkungen erweiterte Fassung der auf der privat geführten Homepage von Gerhard Schmidt Abb. 1a und b: Gemma Claudia, Wien, (www.gemmarius-sculptor.de) veröffentlichten Überlegungen zur Gemma Claudia. Kunsthistorisches Museum, Antikensammlung, Georg Plattner, Direktor der Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums. Inv.-Nr. IXa 63, und deren Nachschnitt durch Gerhard Schmidt. (© KHM-Museumsverband 1 Wolfgang Oberleitner, Geschnittene Steine. Die Prunkkameen der Wiener Antikensammlung, Wien – und Gerhard Schmidt.) Köln – Graz 1985, 55–57. 11 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 2: Gemma Claudia, Abguss. Vergleicht man die Porträts mit den entsprechenden Bildnissen auf Münzen, wirkt (© Gerhard Schmidt.) ihre Benennung schlüssig und die Gestaltung überzeugend aufeinander abgestimmt (Abb. 3 und 4). Die Möglichkeit eventueller Überarbeitung stand bislang nie im Zentrum der Diskussion, obwohl Susanna Künzl bereits 1994 auf Unregelmäßigkei- ten an der Gemma Claudia hingewiesen und dabei einige überarbeitete Stellen her- vorragend beschrieben hat.2 2004 akzeptierte Germaine Guillaume-Coirier zwar die von Künzl erkannten Überarbeitungsspuren,3 interpretierte den Kameo jedoch voll- kommen neu, wobei sie in dem rechten Porträt Augustus zu erkennen meinte.4 Im Folgenden werde ich versuchen, anhand zweifelsfrei festgestellter Überarbei- tungsspuren die Gemma Claudia ins rechte Licht zu rücken, und zeigen, dass dieses Meisterwerk nicht nur einem, sondern vielmehr zwei Kaisern als Ausdruck spekta- kulärer politischer Selbstversicherung gedient hatte. Der Kopf des Germanicus auf der rechten Seite ist hervorragend ausgearbeitet und von hoher Qualität, nur leichte Unregelmäßigkeiten lassen sich erkennen, wie die Unterschneidung der Ober- und Unterlippe, die leicht gestauchten Spitzen der Stirn- haare und die nachgeschnittenen Augenbrauen. Ansonsten weist der Kopf keine 2 Vgl. Susanna Künzl, Gemma Claudia?, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 24, 1994, 289–297. 3 Vgl. Germaine Guillaume-Coirier, Nouvelle approche de la Gemma Claudia. L’apport des couronnes, in: Journal des savants, 2004, 21–60. 4 Erika Zwierlein-Diehl, Antike Gemmen und ihr Nachleben, Berlin – New York 2007, 440 (zu Guillau- me-Coirier: erweitert die Theorie von Künzl durch neue Hypothesen, u. a. die unhaltbare Deutung des rechten männlichen Porträts als Augustus). 12 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 3: Aurei des Claudius: Claudius, 51–52 Überarbeitungsspuren auf. Seine fein geschnittenen, sich überlappenden Haarsträhnen, n. Chr., Inv.-Nr. RO 5321; Agrippina minor, die elegant geschwungenen Augenlider, eine bis in alle Winkel geglättete Oberfläche 50–54 n. Chr., Inv.-Nr. RO 5439. Wien, Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett. sowie die harmonische Farbverteilung zeigen, dass hier ein Gemmenschneider am (© KHM-Museumsverband.) Werk war, der seine Kunst virtuos beherrschte und zu den Besten seiner Zeit gehört haben musste. Abb. 4: Sesterz des Caligula: Agrippina maior, 37–41 n. Chr., Inv.-Nr. RO 5449; As des Caligu- Betrachtet man hingegen den im Vergleich etwas kleineren Claudius-Kopf auf der la: Germanicus, 39–40 n. Chr., Inv.-Nr. RO linken Seite, so ist Folgendes festzustellen: 5246. Wien, Kunsthistorisches Museum, Münz- • Das Gesicht ist im Bereich von Auge–Stirn–Stirnhaaren eingedellt. kabinett. (© KHM-Museumsverband.) • Das Auge ist sehr klein und tiefliegend. • Die Nase ist klein, dazu passt das große Ohr nicht. • Die tiefliegenden Stirnhaare sind unsauber geschnitten. • Die Nackenhaare sind abgeschnitten. • Außerdem sind die Konturen von Hals, Nacken, Nase, Stirn und Mund so tief geschnitten, dass die braune Zwischenschicht zum Vorschein kommt. Angesichts dieser unübersehbaren Merkmale steht fest, dass dieser Kopf weder in stilistischer noch in technischer Hinsicht zu dem fein gravierten Kopf des Germa- nicus auf der anderen Seite passt und folglich das Ergebnis nachträglicher Umar- beitung sein muss. DIE ÜBERARBEITUNGEN Der Caligula/Claudius- und der Germanicus-Kopf Aller Wahrscheinlichkeit nach zeigte der Kameo anstelle des Porträts des Claudius ursprünglich das seines Vorgängers, des Kaisers Caligula (12–41 n. Chr., reg. 37–41 n. Chr.), mit seiner Schwester Drusilla (16–38 n. Chr.), der Tochter des Paares ge- genüber: Germanicus und Agrippina maior. Die augenscheinlich unsauber verarbeiteten Stellen, die das Porträt von Kaiser Clau- dius – seiner Größe, körperlichen Präsenz sowie dem ihm zugewandten Adler zu- folge die Hauptfigur des Kameos – übersäen, auf eventuelle „Schludrigkeit“ des her- vorragenden Gemmenschneiders zurückzuführen (mit dem Hinweis darauf, solche Stellen kämen auf den besten Kameen vor), kann die großen Unterschiede kaum erklären.5 Der ursprünglich wohl vorhandene Caligulakopf ist jedoch nicht zur Gän- ze der Umgestaltung zum Opfer gefallen. Von ihm sind noch Reste erkennbar, die eine außerordentlich sorgfältige Gravur zeigen: das Haar auf dem erhaltenen Hin- terkopf sowie die wunderbar ausgearbeitete Aegis mit feinsten Federschuppen und zart geriefelt umgeschlagenem Rand, auf dem sich drei Schlangen winden. Die Qua- lität dieser Aegis erinnert etwa an jene herausragend gearbeitete auf der Tazza Farnese. Spuren einer Überarbeitung stellen hingegen die unruhige Politur sowie die leich- ten Farbverschiebungen im Bereich von Hals, Kinn, Mund und Nase dar. Das Profil des Mannes ist von der Nase bis zum Kinnansatz um ca. zwei Millimeter nach links 5 Vgl. Erika Zwierlein-Diehl, Magie der Steine. Die antiken Prunkkameen im Kunsthistorischen Muse- um, Wien 2008, 308–316 (Die Gemma Claudia). 13 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 5: Gemma Claudia, Fotomontage. verschoben worden. Bei schräger Beleuchtung kann man die Kontur des ursprüng- (© Gerhard Schmidt.) lichen Caligula-Kopfes noch schemenhaft erkennen. Wie der Kopf des Caligula zu jenem des Claudius mit dem für diesen charakteristi- Abb. 6: Gemma Claudia, Fotomontage. schen fliehenden Kinn umgearbeitet worden ist, lässt sich anhand der Fotomonta- (© Gerhard Schmidt.) gen (Abb. 5 und 6) nachvollziehen. Die auf ihnen eingezeichneten Hilfslinien bele- gen den zuvor streng symmetrischen Aufbau der Gravur und lassen erkennen, dass die Köpfe vor der Umarbeitung annähernd die gleiche Größe besaßen. Eine horizontale Linie am Gipsabguss über den beiden Männerköpfen zeigt deutlich die durch die Abarbeitung entstandenen Höhenunterschiede ihrer Reliefs. Während das Gesicht des Germanicus vom Hals bis zu den Stirnhaaren eine leichte Bogenspan- nung mit geringen Höhenunterschieden aufweist, ist das Gesicht des Claudius an Hals, Auge, Stirn und den Stirnhaaren stark eingedellt (Abb. 8). Da bei der Überarbeitung unsauber vorgegangen wurde, ist es heute noch möglich, die einzelnen Schritte der sekundär erfolgten Eingriffe nachzuvollziehen. Die weiße Lage, aus der die beiden Männerköpfe graviert wurden, weist bei dem überaus sorgfältig gearbeiteten Germa- nicus-Kopf überall den gleichen Abstand zur braunfarbigen Zwischenschicht auf.6 Beim Claudius hingegen ist dies lediglich am noch original erhaltenen Hinterkopf seines Vorgängers Caligula der Fall. Hingegen berühren beim Claudius-Kopf die abgearbeite- ten Bereiche, also Gesicht, Hals und Nacken, die braune Zwischenschicht. Unabdingbar für eine Beurteilung der Gravur ist es, Original und Abguss nebenei- nander zu betrachten. Man sieht dann, dass beim Germanicus-Kopf die Kontur der Nackenhaare mit der Kontur der Unterschneidung übereinstimmt. Auch beim Clau- dius-Kopf ist an der Unterschneidung die ursprüngliche Kontur der Nackenhaare des Caligula noch deutlich zu erkennen, allerdings sind Teile von ihnen nicht mehr vorhanden (Abb. 10). Offenbar wurden die unteren Nackenhaare abgeschnitten und der Hals wurde geglättet. Dabei hat der Graveur zu viel Material am Hals entfernt, wodurch dieser flacher geworden ist, und teilweise, wie am Kehlkopf, die braune Zwischenschicht freigelegt. Allem Anschein nach besaß der Hals des Caligula im Bereich der Nackenhaare ursprünglich eine leichte Bogenspannung, die wie bei Ger- Abb. 7a und b: Gemma Claudia, links: das „ver- manicus wohl der Biegung der Nackenhaare entsprochen hat. Die Unterkante der waschene“ Profil des Claudius – die braune Zwischenschicht tritt hervor; rechts: das klare, Nackenhaare ist unsauber geschnitten, sie unterscheidet sich wesentlich von jener präzise gravierte Profil des Germanicus. der elegant geschwungenen Nackenhaare des Germanicus (Abb. 11). (© Gerhard Schmidt.) Untrügliches Anzeichen für die Überarbeitung dieser Stelle ist außerdem der hori- zontale Schnitt, der in die Unterschneidung läuft und den unteren Teil der Nacken- haare eliminiert. Ein winziger Schnitt, sichtbar zwei Millimeter weiter unten, am 6 Zur Färbung der Steine vgl. Luca Giuliani – Gerhard Schmidt, Ein Geschenk für den Kaiser. Das Ge- heimnis des Großen Kameo, München 2010, 86. 14 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 8: Gemma Claudia, Abguss, Höhenunter- schiede der Männerköpfe: Die roten Pfeile mar- kieren die abgearbeiteten Partien am Kopf des Claudius. (© Gerhard Schmidt.) Abb. 9: Gemma Claudia: (a) durch das Abtren- nen der Nackenhaare am Kopf des Claudius verursachten Spuren auf dem polierten Hinter- grund; (b) durch Überarbeitung entstandene raue Oberfläche. (© Gerhard Schmidt.) Abb. 10: Gemma Claudia, Abguss: Die überar- beiteten Nackenhaare; die Punktlinie zeigt den ursprünglichen Verlauf der Haare. (© Gerhard Schmidt.) Ende der bogenförmigen Unterschneidung in diesem überarbeiteten Halsbereich, scheint zu den nicht mehr existenten, weggeschnittenen Haaren gehört zu haben (Abb. 10b). Beim Abtrennen der Nackenhaare wird das Gravierrädchen wohl den polierten Hintergrund berührt und Spuren hinterlassen haben, die dann nicht mehr überarbeitet worden sind (Abb. 9a). Dass bei der Überarbeitung nicht immer sorgfältig vorgegangen wurde, ist auch ver- schiedentlich an anderen Stellen des Kameos zu sehen: an Partien der Stirnhaare, an Mohnkapsel und Ähren (Abb. 12a) sowie an der Mauerkrone der Frau daneben und ihren Ringellöckchen. Die unsaubere Gravur und die von vielen unmotivierten Einschnitten überzogene Oberfläche bestätigen nicht nur, dass es eine Überarbei- tung gegeben hat, sondern führen vor Augen, dass der dafür verantwortliche Gra- veur dem Schöpfer des ursprünglichen Kameos sowohl in technischer als auch künst- lerischer Hinsicht weit unterlegen war. Die Gestaltung und Ausführung der Stirnhaare des Claudius unterscheiden sich we- Abb. 11: Gemma Claudia, Abguss: Die saubere Kontur der Nackenhaare am Kopf des Germa- sentlich von den fein gegliederten Stirnhaaren des Germanicus. Seine überarbeite- nicus. (© Gerhard Schmidt.) ten Haare sind grob geschnitten, kantig und ohne Liebe zum Detail (Abb. 13). Sie wurden nach unten hin verlängert, um die hohe Stirn des Caligula zu kaschieren, und als Lockenzange neu gestaltet.7 Um dies zu bewerkstelligen, musste der im Urzu- stand erheblich höhere Bereich von Auge–Nase–Stirn des Caligula-Kopfes abgear- beitet werden, wodurch auch hier stellenweise die braune Zwischenschicht freige- legt wurde. Die Vorderkante der Stirnhaare liegt jetzt tiefer als die Mohnkapsel rechts daneben, auf der noch Reste der Haare des Vorgängers Caligula zu sehen sind (Abb. 13c). Der Höhenunterschied zwischen der vorangegangenen und der neuen Frisur wird von einer roten Punktlinie markiert (Abb. 13). 7 Auch bei dem Kameo mit Porträtbüste des Kaisers Claudius in Vorderansicht, der sich im Kunsthisto- rischen Museum in Wien befindet (Inv.-Nr. IXa 23) – der Kameo stellte ursprünglich Caligula dar – wurden die Stirnhaare verlängert; Wolf-Rüdiger Megow, Kameen von Augustus bis Alexander Severus, Berlin 1987, 198: „Die links neben dem Kaiser zu ergänzende Person muss nach Ausweis der Paralle- len (Kameo Rothschild, A 64 [Taf. 14,9]; A 65 [Taf. 14,10]) weiblich gewesen sein; für Caligula bietet sich am ehesten Drusilla an.“ Vgl. auch Zwierlein-Diehl 2008 (zit. Anm. 5), 304–308. 15 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 12a und b: Gemma Claudia, Abguss: links die beschnittenen Ähren (rote Pfeile) und die verschnittene Mohnkapsel; vgl. rechts die nicht überarbeitete, elegant geschwungene Ähre und feinst ausgearbeitete Mohnkapsel auf dem Füll- horn. (© Gerhard Schmidt.) Zwischen Mohnkapsel und Ähren wurde ein gerader Einschnitt, dessen Sinn sich mir nicht erschließt, angebracht und weiter nicht bearbeitet. Überarbeitet wurde die Mohnkapsel, die jetzt tiefer als die Ähren liegt. Wahrscheinlich wurde die obere Kante der oberen Ähre beim Entfernen von Caligulas Stirnhaaren versehentlich ab- gearbeitet oder aber bewusst der unteren Ähre angepasst, die beim Heraustrennen einzelner Partien der darunterliegenden Haarkappe der Frau beschnitten wurde. Die Vorderkante der Ähren ist bestoßen; ursprünglich müssen die Grannen der Äh- re um einiges länger gewesen sein, worauf ein Vergleich mit den Ähren der Füllhör- ner hindeutet (Abb. 12b). Oberhalb der Mohnkapsel auf der Mauerkrone wurden einige Stirnhaare des Caligula mit der Stirnseite eines Gravierrädchens von ca. drei Millimetern Durchmesser entfernt. Die dabei entstandenen halbkreisförmigen Ein- schnitte sind noch zu erkennen (Abb. 13a). Unklar bleibt, warum diese Einschnitte nicht mehr geglättet wurden. Unterhalb der Mohnkapsel wurde das Profil von Ca- Abb. 13: Gemma Claudia, Abguss: Die überar- ligulas Stirn um ca. 1,5 Millimeter nach links verschoben; auch dieser Einschnitt ist beiteten Partien Stirn, Stirnhaare, Mohnkapsel, Ähren und Mauerkrone (innerhalb des roten auf dem Gips gut erkennbar (Abb. 13d). Kreises). (© Gerhard Schmidt.) Auf der Fotomontage (Abb. 5 und 6) wird ersichtlich, dass, um nunmehr Claudius darzustellen, Caligulas Profil vom Nasenloch abwärts abgearbeitet werden musste. Dementsprechend sind in diesem Bereich Spuren der Überarbeitung vorhanden. Von der Nasenspitze bis hinunter zum Hals ist die Unterschneidung unsauber, so- dass das neu entstandene Profil einer scharf gezogenen Kontur entbehrt (Abb. 7a). Unterhalb der Lippen besteht es lediglich aus einem geraden, senkrechten Schnitt. Auch hier gibt es Unterschiede in der Reliefoberfläche: Die Lippen sind, im Ver- gleich zu Germanicus, zu hoch, das Auge liegt zu tief und ist verkleinert, um in das nunmehr kürzere Gesicht zu passen. Schwach ausgeprägt ist hingegen das Nasen- loch, die Hinterkante des Nasenflügels ist jedoch zu tief eingeschnitten (was in kei- ner Weise der Nase des Germanicus entspricht), während die Unterkante der Nase sich von ihrem Hintergrund nicht klar abhebt. Unscharf geschnitten ist auch das Unterlid des kleinen Auges, in dem ein kreisrunder Pupillenpunkt hoch eingesetzt ist, der wohl mit der Stirnseite eines röhrenförmigen Werkzeugs geschnitten wurde. Die Augen der anderen Personen auf dem Kameo haben sichelförmige Pupillen, für die ein anders beschaffenes Werkzeug benutzt worden ist. Werden mehrere Personen dargestellt, so graviert man deren Pupillen üblicherweise erst im Zuge ihrer Fertigstellung, da diese, zumal wenn sie sich einander gegenüber befinden, aufeinander abgestimmt sein müssen. Selbstverständlich wurde dafür dann dasselbe Werkzeug benutzt. Unterschiedliche, mit einem anderen Instrument gestaltete Pupillen wie Abb. 14a und b: links: Profil des Claudius auf hier weisen demnach auf eine nachträgliche Bearbeitung hin (Abb. 7). Dies ist auch der Gemma Claudia; rechts: Profil des Claudi- bei der Gegenüberstellung des Claudius-Kopfes der Gemma Claudia und dem Kopf us, Paris, Cabinet des Médailles, Camée 269. (© Gerhard Schmidt.) des Claudius der Camée 269, die sich im Cabinet des Médailles in Paris befindet (Abb. 14a und b),8 ersichtlich. 8 Marie-Louise Vollenweider – Mathilde Avisseau-Broustet, Camées et intailles, Bd. 2: Le Portraits 16 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 15: Drusilla (Agrippina minor). 5,5 x 4,1 cm. Ihre Nasenspitze ist bestoßen und wur- de überarbeitet. Paris, Cabinet des Médailles, Camée 280. (© Gerhard Schmidt.) Abb. 16: Claudius. Die Nasenspitze ist besto- ßen. Paris, Cabinet des Médailles, Camée 269. (© Gerhard Schmidt.) Der mit der Überarbeitung der Gemma Claudia beauftragte Graveur dürfte auch der Schöpfer des eben genannten dreilagigen Kameos in Paris mit dem Kopf des Claudius gewesen sein, der stilistisch und physiognomisch weitgehend dem auf der Gemma Claudia dargestellten entspricht (Abb. 16). Der Pariser Claudius hat die gleiche punktförmige hochsitzende Pupille, Stirn und Nase haben die gleiche Kon- tur, Mundwinkel und Nasenflügel sind gleich tief eingeschnitten wie bei der Dar- stellung des Kaisers in Wien (Abb. 14a und b). Ebenfalls von derselben Hand dürfte das kleine in Paris befindliche Porträt der Dru- silla, der Lieblingsschwester von Caligula, stammen (Cabinet des Médailles, Camée 280; Abb. 15)9 sowie weitere Kameen des caliguläisch-claudischen Kaiserhauses.10 Abb. 17: Gemma Claudia, Abguss: Die Reste Der Agrippina minor/Drusilla-Kopf des abgeschnittenen Schleiertuchs mit Schulter- locke. (© Gerhard Schmidt.) Wie der Kopf des Claudius ist auch der weibliche Kopf dahinter das Ergebnis einer Umarbeitung. Die jetzt als seine Gattin Agrippina minor identifizierte Frau wird vermutlich aus einer Caligula nahestehenden Person umgearbeitet worden sein, möglicherweise aus der Darstellung seiner Lieblingsschwester Drusilla. Am Kopf der nun Agrippina minor genannten Frau sticht zunächst die weißblaue Farbe der dicht an dicht gereihten, tief eingravierten Ringellöckchen ins Auge – ein koloristi- scher Gegensatz zur homogen durchgehend elfenbeinfarbenen Gesamtkomposition der Gemma Claudia. Das Weißblau der Frisur passt auch nicht zur Farbe einiger r omains du Cabinet des médailles, Paris, 2003, 71, Nr. 101: „Claude orné de la corona civica est vu profil à gauche, le buste, revêtu de l’égide, de trois quarts face“; Megow 1987 (zit. Anm. 7), 194, A74. 9 Vollenweider – Avisseau-Broustet 2003 (zit. Anm. 8), 75, Nr. 112, „Buste drapé d’Agrippine II“; Me- gow 1987 (zit. Anm. 7), 302, D36: „Büste der Drusilla mit Lorbeerkranz im Profil nach rechts.“ 10 Z. B. die Pariser Kamee eines Frauenporträts mit Köcher, Vollenweider – Avisseau-Broustet 2003 (zit. Anm. 8), 75, Nr. 111: „Agrippine II laurée, vue de profil à droite“; Megow 1987 (zit. Anm. 7), 306, D45: „Büste einer kaiserlichen Frau (Drusilla?) als Diana mit Lorbeerkranz im Profil nach rechts.“ Abb. 18: Gemma Claudia, Schleiertuch mit Übersehen wurde bis jetzt, dass die Frisur dieser Kamee überarbeitet wurde. Die ursprüngliche Frisur Schulterlocke. (© Gerhard Schmidt.) bestand wahrscheinlich aus Ringellöckchen, welche die Stirn umrahmten und in einer Ansammlung von kleinen Löckchen, einer Löckchentraube, vor dem Ohr endeten. Diese Löckchentraube wurde entfernt, der Köcher, der die Figur jetzt als Diana ausweist, wurde aus der abgeschnittenen Zopfschlau- fe neu gestaltet und die Reste des Zopfes wurden zu einem Knoten geformt. Sicherlich war hier ur- sprünglich nicht Drusilla dargestellt, die sich durch ein kurzes Philtrum, den Abstand zwischen Amor- bogen und Nasenunterkante, auszeichnet. Ein Vergleich mit der Gemma Claudia zeigt die physiogno- mischen Unterschiede. Das Philtrum der Drusilla ist kurz und jenes ihrer Mutter lang. Wer hier ursprünglich dargestellt war, lässt sich aufgrund der Überarbeitung nicht mehr feststellen. 17 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 ihrer Einzelheiten, so der nur rudimentär vorhandenen braunen Schulterlocke, die aus derselben Zwischenschicht geschnitten ist wie die Reste eines auf derselben Höhe liegenden Schleiertuchs. Befremdlicherweise ist der obere Teil dieser Schulterlocke nicht vorhanden, die Locke hängt nunmehr in der Luft und ist – ohne dass dahinter ein Sinn zu erkennen wäre – mit einem kleinen schrägen Einschnitt versehen (Abb. 17 und 18). Wahrscheinlich war die Schulterlocke, die sich üblicherweise bei den Frisu- ren caliguläischer Damen nicht findet,11 ursprünglich in dieser Form nicht vorhanden und wurde erst nachträglich aus dem Schleiertuch geschnitten.12 Allerdings würde sie farblich zu einer Frisur passen, die im Urzustand braun gewesen ist. Der vertikale bogenförmige Faltenwurf auf den noch existierenden Resten des Schlei- ertuchs ist unübersehbar und zeigt, dass das Tuch ursprünglich wohl über den Hin- terkopf gezogen war. Der durchgehende Verlauf des Schleiertuchs – ursprünglich reichte es bis zum Kinn von Caligula hinauf – wurde durch die Änderung an seinem Profil unterbrochen und musste kaschiert werden. Es wurde dergestalt abgeschnitten, dass die obere Kante jetzt parallel zu demselben Tuch verläuft, das auch auf ihrer an- deren Schulter zu sehen ist. Die scharfe Trennkante, entstanden durch diese Ände- rung, wurde dann nicht mehr abgerundet und lässt sich unschwer erkennen (Abb. 17, zwischen den Pfeilen b und c). Der parallel zum Hals verlaufende Einschnitt zeigt, dass der Männerhals etwas zurückgesetzt wurde. Reste des ursprünglichen Caligula-Profils sind noch zu sehen (Abb. 17a). Auch der halbkreisförmige Einschnitt am Zusammen- Abb. 19: Gemma Claudia, Ringellöckchen der stoß von Hals und Schleiertuch, von der Stirnseite eines Gravierrädchens mit ca. 1,6 Mil- Agrippina minor, entstanden durch Über limetern Durchmesser herrührend, ist eindeutig auf die Überarbeitung zurückzuführen; arbeitung; die ursprünglich aus der braunen Mittelschicht gefertigte Frisur liegt nach der mit einem kleinen Rädchen wurde dieser Bereich geglättet (Abb. 17b). Überarbeitung tiefer als der Brauenbogen; gut Rudimente der braunen Zwischenschicht treten auch noch an der Nasenwurzel, der erkennbar die angeschnittene Ähre und die Stirnkante und den Stirnfalten des Claudius zutage. Aus dieser braunen Schicht wa- tiefer gelegte verschnittene Mohnkapsel. (© Gerhard Schmidt.) ren, wie erwähnt, ursprünglich auch die Haare des darunterliegenden Frauenkopfes sowie die der Agrippina maior gegenüber geschnitten. Um die Haare der nunmehr wiedergegebenen Agrippina minor farblich und in der Höhe der tiefergelegten Stirn und Nasenwurzel ihres Gatten Claudius abzusetzen und auch die Frisur der neuen Mode anzupassen, mussten die Haare der davor dargestellten Frau überarbeitet wer- den. Als Resultat liegen die Haarlöckchen der Agrippina minor tiefer als ihr Brau- enbogen (Abb. 19). Auf jener Locke, die unmittelbar an der Mohnkapsel darüber und beinahe noch auf der ursprünglichen Höhe liegt, sind noch unschwer Reste der braunen Zwischenschicht zu erkennen. Diverse Unregelmäßigkeiten und Einschnitte an den dicht aneinander- gereihten Locken, die auch winzige Reste der braunen Schicht aufweisen, lassen dar- auf schließen, dass die Frisur vor der Umarbeitung anders ausgesehen hat. Wahrschein- lich handelte es sich um die tief gebrannte Rippenfrisur, wie sie Drusilla trug.13 Die Umarbeitung der Frisur war mit geringem Aufwand zu bewerkstelligen: Einzelne Ele- mente innerhalb einer Rippe wurden übernommen, stärker voneinander abgesetzt und zu Löckchen gedreht; die dadurch entstandenen Zwischenräume wurden nicht mehr poliert – ein weiterer Hinweis, dass diese Frisur neu gestaltet worden ist. Um den neuen Frauenkopf dem nunmehr darüberliegenden, dank Umarbeitung ver- kleinerten Männerkopf anzupassen, mussten Teile der für Drusilla typischen Frisur, ihre hohe Haarkappe, entfernt werden. Unterhalb der Ähren wurde ein Stück in Dreiecksform herausgetrennt und die untere Ähre bei dieser Aktion stark beschnit- ten. Um dieses Stück herauszutrennen, wurden links und rechts geradlinige Ein- schnitte angebracht, die noch gut erkennbar sind (Abb. 19 und 20). Abb. 20: Gemma Claudia, Abguss: Die scharf- 11 Vgl. Künzl 1994 (zit. Anm. 2), 297. kantigen Einschnitte, mittels derer ein Teil der 12 Alle nach 49 n. Chr. geprägten Münzen mit dem Bildnis der Agrippina minor zeigen sie mit Schulter- Haarkappe der neugestalteten Agrippina minor locke; die Locke ist ein wichtiger Bestandteil ihres Bildnisses, was auch bei der Überarbeitung berück- herausgetrennt wurden; die rote Punktlinie sichtigt wurde. zeigt den ursprünglichen Verlauf der Haarkap- 13 Dietrich Boschung, Die Bildnistypen der julisch-claudischen Kaiserfamilie, in: Journal of Roman Ar- pe. (© Gerhard Schmidt.) chaeology 6, 1993, 62: „Der Typus wurde auch benutzt für die Agrippina-Darstellung auf dem Grand Camée und der Gemma Claudia.“ 18 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Der Agrippina maior-Kopf Auch am Kopf der Agrippina maior gegenüber erfolgten Eingriffe. Gebrochen wur- de die Vorderkante der Helmkalotte durch einen Einschnitt zwischen der Stirnschie- ne und dem Lorbeerkranz (Abb. 21, unterer roter Pfeil). Der horizontale Schnitt an ihrem Kopf, etwas weiter unten und ebenfalls zwischen Stirnschiene und Lorbeer- kranz, diente wahrscheinlich dazu, den Kopf der Agrippina maior optisch dem jetzt erheblich kleineren Kopf der neuen Agrippina minor vis à vis anzupassen. Da dieser Einschnitt auf gleicher Höhe wie das herausgetrennte Dreieck am Drusilla-Kopf liegt und keine andere Funktion ersichtlich ist, kann dies eine mögliche Erklärung sein (Abb. 21, rote Pfeile). Auch die Frisur der Agrippina maior auf der anderen Seite, die ursprünglich dun- Abb. 21: Gemma Claudia, Abguss: Die elegant geschwungenen und sauber geschnittenen Stirn- kelbraun war, ist überarbeitet worden. Offenbar wurde versucht, sie mit geringem haare des Germanicus und die durch rote Pfeile Aufwand der Frisur ihres neuen Gegenübers farblich anzugleichen. Die zum Verlauf markierten Einschnitte zwischen Stirnschiene der Locken nicht exakt passenden sowie die nicht mehr polierten Lockenbohrun- und Lorbeerkranz der Agrippina maior. (© Gerhard Schmidt.) gen belegen dies eindeutig, desgleichen die schmalen, schräg verlaufenden Einschnit- te als Überbleibsel des Vorzustandes, die den Verlauf der nunmehr neu gestalteten Locken unterbrechen. Agrippina maiors tiefer liegende Haare steigen zur Stirnkante des Germanicus hin an und sind an Resten in der ursprünglichen Höhe und der braunen Farbe der Frisur noch zu erkennen. Die parallelen, schräg verlaufenden Einschnitte in den Locken weisen meines Er- achtens eindeutig auf eine Überarbeitung hin (Abb. 21 und 22). Diese umgearbeite- te Frisur entspricht jenen Frisuren, die man von zahlreichen rundplastischen Por träts der Agrippina maior kennt: In der Mitte gescheiteltes Haar bildet über der Stirn flache weiche Wellen, an den Schläfen formen die Spitzen der Locken kleine Kringel. Auf caliguläischen Münzbildnissen der Agrippina maior findet sich dieser Typus ebenso wie auf dem Grand Camée de France.14 Die Attribute/Waffen Abb. 22: Gemma Claudia, die überarbeiteten Haare der Agrippina maior. (© Gerhard Schmidt.) Unter den beiden Füllhörnern sind jeweils aussagekräftige Gegenstände angehäuft, Waffen und Attribute von Göttern. Aegis, Blitz, Dreizack und Heroldstab – die Zei- chen von Jupiter, Neptun und Merkur – waren Attribute, die Caligula gerne für sich beanspruchte, um seinen gottähnlichen Status hervorzuheben. Auf der Gemma links befinden sich Rundschild, Pelta und Helm sowie Beinschienen und ein Stab. Unter der Pelta neben dem Rundschild sieht man zwei Dreiecke, die, da überarbeitet, nicht identifizierbar sind und ursprünglich wohl anders ausgesehen haben (Abb. 23b). Desgleichen sind die groben Einschnitte zwischen Rundschild und Pelta der Über- arbeitung geschuldet. Oberhalb der einen Beinschiene befinden sich Reste eines Stabes, der ursprünglich wohl auch hinter dem Helm, zwischen Helm und Rund- schild und auch links vom Rundschild zu sehen gewesen war (Abb. 23). Der grobe Schnitt im Helm sowie die zwei Schnitte zwischen Helm und Rundschild wurden eindeutig gezielt gesetzt, wohl in der Absicht, den durchgängigen Verlauf des Stabes zu unterbrechen. Dieser Stab, vielleicht ursprünglich ein Dreizack des Caligula, war damit nicht mehr „lesbar“. Abb. 23: Gemma Claudia, Waffen und Attribute mit Überarbeitungsspuren neben dem Füllhorn des Claudius. (© Gerhard Schmidt.) 14 Ebenda, 61 f., Abb. 40; Dietrich Boschung, Gens Augusta: Untersuchungen zu Aufstellung, Wirkung und Bedeutung der Statuengruppen des julisch-claudischen Kaiserhauses (Monumenta artis Romanae 32), Mainz 2002, 141, Kat.-Nr. 72.7; Heinrich Bartels, Studien zum Frauenporträt der augusteischen Zeit. Fulvia, Octavia, Livia, Julia, München 1963, 93, Anm. 266. 19 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 WEITERE KAMEEN MIT Der Pariser Füllhorn-Kameo UNGESICHERTER DATIERUNG Auch das Pariser Kameo-Fragment eines Frauenporträts mit Füllhorn (Abb. 26) ist das Ergebnis massiver Überarbeitung und auch hier erfolgte diese augenscheinlich aufgrund einer Umbenennung der dargestellten Person. Bislang mit Messalina (Babelon, Jucker, Polaschek), Agrippina minor (Trillmich, Wood), Drusilla (Megow) oder Milonia Caesonia (Fuchs) identifiziert,15 handelt es sich jedoch meiner Ansicht nach um Drusilla. Ein ausschlaggebendes Argument bie- tet die Frisur: Es ist jene tiefgebrannte Rippenfrisur, wie sie auch von der auf der Abb. 24: Drusilla mit Rippenfrisur. Marmor. München, Glyptothek, Inv.-Nr. 316. (© Staat liche Antikensammlungen und Glyptothek München, Foto: Renate Kühling.) Abb. 25: Caligula mit Trauerbart, dahinter Drusilla mit Rippenfrisur. Glaspaste, 2,23 x 1,83 cm, nach verschollenem Kameo. Würzburg, Martin von Wagner Museum der Universität, Kr. 05. (© ebenda, Foto: Isolde Luckert.) Abb. 26: Füllhorn-Kameo. Links, rechts oben und rechts unten sind Emails in den rotbraunen Hintergrund gesetzt, was die Anbringung einer annähernd symmetrischen Fassung ermöglichte (rot gestrichelte Bereiche). Paris, Cabinet des Médailles, Camée 277. (© Gerhard Schmidt.) 15 Ernest Babelon, La Gravure en Pierres fines, Paris 1894, 149, Fig. 111; Michaela Fuchs, Die Frauen um Caligula und Claudius. Milonia Caesonia, Drusilla und Messalina, in: Archäologischer Anzeiger, 1990, 107–122; Susan E. Wood, Imperial Woman. A Study in Public Images, Leiden 1999, 305 f. (40 B.C. – A.D. 68, Mnemosyne); Karin Polaschek, Studien zu einem Frauenkopf im Landesmuseum Trier und zur Haartracht der julisch-claudischen Zeit, in: Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes 35, 1972, 200–210; Walter Trillmich, Julia Agrippina als Schwester des Caligula und Mutter des Nero, in: Hefte des Archäologischen Seminars der Universität Bern 9, 1983, 21–37; Megow 1987 (zit. Anm. 7), 303 f.; Vollenweider – Avisseau-Broustet 2003 (zit. Anm. 8), 96 f. 20 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Wiener Gemme ursprünglich gravierten Frau, Drusilla, getragen worden sein muss. Das Haar ist in der Mitte gescheitelt und wird von dort aus in Wellen zu den Seiten geführt, hinter den entblößten Ohren eingerollt und dann zu einer Nackenschlaufe gebunden. Die Ringellöckchen, die die Stirn umrahmen, enden in einer Ansamm- lung kleiner Löckchen, in einer Löckchentraube, vor dem Ohr. Der Kranz wird von einer geknoteten Wollbinde16 zusammengehalten; Mund, Nase und das hochgezogene Kinn sind auf beiden Kameen ähnlich gestaltet. Deckungs- gleich ist auch das Profil der Drusilla auf dem Pariser Fragment und das (unverän- dert beibehaltene) Profil der Drusilla auf der Gemma Claudia. Unverkennbar sind die physiognomischen Gemeinsamkeiten, besonders auffallend die Eigenart des überaus kurzen Philtrums. Den bemerkenswert kurzen Abstand zwischen Amorbo- gen und Nasenunterkante findet man auch auf anderen Bildnissen, die höchstwahr- scheinlich Drusilla darstellen (Abb. 24 und 25).17 Bei dem Kameo in Paris handelt es sich um ein Fragment, den Rest eines etwa dop- pelt so großen Steins, der wohl mittig durchtrennt worden ist und ursprünglich wahrscheinlich Drusilla18 und Caligula als gegenübergestelltes Büstenpaar, als ca- Abb. 27: Füllhorn-Kameo, Rückseite: weißes Gegenemail über den drei eingesetzten pita opposita, über Füllhörnern zeigte, die entlang des unteren Kameenrandes hoch- Metall- und Emailteilchen. Paris, Cabinet gezogen waren. Vorne, rechts unten und rechts oben sind Teile aus Email in den des Médailles, Camée 277. (© Gerhard Schmidt.) rotbraunen Hintergrund eingesetzt worden, um dem Fragment eine abgerundete, für eine Fassung erforderliche ästhetische Form zu verleihen. Ein Blick auf die Rück- seite (Abb. 27) lässt deutlich erkennen, dass der – wie hier angenommen – ursprüng- lich doppelt so große Stein gezielt durchtrennt worden ist. Die Rückseite wurde komplett überschliffen, wie ein Cabochon abgerundet und hochglanzpoliert. In Anbetracht der ursprünglich wesentlich voluminöseren Gestaltung des Füllhorns – ein Drittel der (ursprünglichen) Masse wurde weggeschnitten – wird man sich für die einst doppelt so große Gravur ein querliegendes Oval oder Oblong vorstellen dürfen. Plausibel wäre, ähnlich der Gemma Claudia, eine antithetische Platzierung zweier Porträtköpfe mit Füllhörnern19 (Abb. 28). Es könnte sich auch jeweils um Doppelfüllhörner, Symbole der ptolemäischen Geschwisterehe, gehandelt haben. Darauf deuten die sekundären Einschnitte zwischen Füllhornkörper und Schulter der Drusilla hin (Abb. 31). Ein Doppelfüllhorn begegnet uns auch auf dem Wiener Kameo Caligula und Roma (Inv.-Nr. IXa 59) (Abb. 39), dessen Horn allerdings mit Trauben, Granatäpfeln und Spitzkuchen gefüllt ist.20 Lässt die Gestaltung des Pariser Kameos – um seine verlorene Hälfte ergänzt – an die Gemma Claudia als Vorbild denken, so tut dies auch ein weiteres Detail: die 16 Die geknüpfte Wollbinde, ein allgemeines Zeichen der pietas, findet sich häufig in Darstellungen der Frauen des julisch-claudischen Kaiserhauses. Die geflochtene Wollbinde ist nicht nur Abzeichen einer Priesterin, sondern wird auch von Göttinnen getragen. Ein passendes Attribut für diese Darstellung der Drusilla, die nach ihrem plötzlichen Tod im Jahre 38 n. Chr. sogleich zur Diva (Vergöttlichten) er- hoben wurde. Zur Wollbinde vgl. Ausstellungskatalog Die Bildnisse des Augustus, München (Glypto- thek) 1979, 98 f.; Annetta Alexandridis, Die Frauen des römischen Kaiserhauses, Mainz 2004, 49. 17 Rundplastisches Bildnis Typus Caere: München, Glyptothek, Inv.-Nr. 316; Füllhorn-Kameo: Vollen- weider – Avisseau-Broustet 2003 (zit. Anm. 8), 75, Nr. 112; Caligula-Drusilla: Boston, Museum of Fine Arts, Inv.-Nr. 98.754; Caligula-Drusilla: Erika Zwierlein-Diehl, Glaspasten im Martin-von-Wagner- Museum der Universität Würzburg, München 1986, Taf. 2, Abb. 5. 18 Die Identifikation der Schwestern Drusilla und Agrippina minor auf den vorhandenen Bildnissen nur anhand der Frisuren ist problematisch. Gute glaubwürdige numismatische Porträts der Schwestern aus caliguläischer Zeit, die weiterhelfen könnten, gibt es auch nicht. Deshalb sollte die manchmal über- zeugende Argumente anbietende Physiognomie miteinbezogen werden. So zeigen die Münzprägungen nach 49 n. Chr. Agrippina minor immer mit Löckchenfrisur und Schulterlocke und einem langen Phil- trum, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. An diesem Detail unterscheiden sich die Schwestern, denn das Philtrum der Drusilla ist kürzer und ähnelt dem ihres Vaters, wie auf der Gemma Claudia ein- drucksvoll zu sehen ist. Auch der Münchener Porträtkopf 316, der Drusilla darstellt (Abb. 24), belegt diesen Sachverhalt. Ein weiteres Beispiel ist die kleine Kamee (4,8 x 4,3 cm) in Boston (Inv.-Nr. 98.754) mit der Darstellung der Drusilla mit tiefgebrannter Rippenfrisur neben ihrem Bruder Caligula, der ebenfalls in der Physiognomie ‒ kurzes Philtrum ‒ seinem Vater ähnlich ist. 19 Vorschlag dieser Form auch von Wood 1999 (zit. Anm. 15), 306: „[…] the portrait of Agrippina II might have faced another bust, possibly Claudius that rested on a similar cornucopiae facing in the opposite direction […].“ 20 Vgl. Zwierlein-Diehl 2008 (zit. Anm. 5), 144. 21 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Abb. 28: Caligula und Drusilla, Rekonstruktionszeichnung von G. Schmidt. (© Gerhard Schmidt.) dünne, in hohem Relief auf dem Füllhorn geschnittene Ranke, die sich zu Blüten einrollt, auf gleiche Weise gearbeitet wie die Rosettenranken auf den Füllhörnern der Gemma Claudia. Daher liegt die Annahme nahe, dass auch der Füllhorn-Kameo in der Regierungszeit des Caligula entstanden ist. Walter Trillmich datiert die Pariser Gravur in die Zeit nach 49 n. Chr. und deutet die Frau als Agrippina minor.21 Dieser Identifikationsversuch dürfte jedoch seiner Richtigkeit entbehren, da – wie oben erwähnt – Agrippina minor nach ihrer Heirat mit Claudius 49 n. Chr. immer mit Schulterlocke und Löckchenfrisur wiedergege- ben wird, was ihre Abbildungen auf Münzen eindeutig belegen. Es mag Agrippina minor aus propagandistischen Gründen opportun erschienen sein, sich nach ihrem Aufstieg zur Kaiserin von der Ikonografie ihrer Schwestern und von ihrer Vorgängerin Messalina abzusetzen. Auf der Gemma Claudia, wie gezeigt, bestätigen die umgestaltete Frisur und die nachträglich eingefügte Schulterlocke diese Annahme. Dass die asymmetrisch unregelmäßige Form des Pariser Füllhorn-Kameo, hier er- klärt mit der Halbierung einer zuvor größeren Gravur, nie ernsthaft hinterfragt wor- den ist, dürfte seinen Grund in einer weit zurückliegenden Beschreibung des Ka- meos haben, die Ernest Babelon 1894 verfasst hat. Für ihn zeigt der Kameo eine Frau mit ihren zwei Kindern: „Die Büste von Messalina zwischen zwei Füllhörnern, aus denen ihre Kinder herausschauen, eine entzückende Gruppe, deren perlmutt- weißer Farbton sich von dem rötlichen Hintergrund abhebt.“22 Nach der Ermordung von Messalina im Herbst 48 n. Chr. wurde auf Senatsbeschluss die damnatio memoriae über sie verhängt.23 Folglich sind von ihr nur wenige Bild- nisse erhalten. Einige in der östlichen Hälfte des Imperiums geprägte Münzen von Messalina sind zwar bekannt,24 allerdings ikonografisch unergiebig, da die Darstel- lungen deutlich voneinander abweichen. Die meisten ihrer Bildnisse sind umstritten. So hält Michaela Fuchs 1990 den Mar- morkopf in München (Abb. 24) für Messalina, Dietrich Boschung 1993 hingegen für Drusilla.25 Bei der berühmten Statue im Louvre (Inv.-Nr. Ma 1224) dürfte es sich nach allgemeinem Konsens um Messalina handeln.26 Mit ihrer doppelten Reihe von Ringellöckchen und den Löckchen auf beiden Seiten ihres Scheitels zeigt sie bereits 21 Vgl. Trillmich 1983 (zit. Anm. 15), 32. 22 Babelon 1894 (zit. Anm. 15), 149, Fig. 111. 23 Tacitus, Annalen II, 37,1–38,3. 24 Z. B. Bronzemünze aus BITHYNIA, NICAEA. Vorderseite: ΜΕΣΣΑΛΕΙΝΑ ΣΕΒΑΣΤΗ ΝΕΑ ΗΡΑ; Rück- seite: Γ ΚΑΔΙΟΣ ΡΟΨΦΟΣ ΑΝΘYΠΑΤΟΣ, ΝΕΙΚΑΙΕΩΝ. 25 Fuchs 1990 (zit. Anm. 15), 122; Boschung 1993 (zit. Anm. 13), 68 f.: „Für die Interpretation als Mes- salina gibt es daher keine Argumente, die überzeugen.“ 26 Kate de Kersauson, Catalogue des portraits romains, Bd. 1: Portraits de la République et d’époque Julio-Claudienne, Paris 1986, Nr. 94, 200 f. 22 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 19/20 Ansätze claudischer Frisuren, während die tiefgebrannte Rippenfrisur des Münche- ner Marmorkopfes noch caliguläisch ist. Die Physiognomie der beiden Köpfe ist völlig unterschiedlich. Drusilla hat wie ihr Bruder Caligula ein kurzes Philtrum (vgl. Abb. 25), während Messalina auf der Statue im Louvre mit einem langen Philtrum dargestellt wird. Auch sind die Verläufe der Augenbrauen unterschiedlich. Im Profil deckungsgleich hingegen sind der marmorne Frauenkopf in München, der Kopf des Füllhorn-Kameos und jener der Gemma Claudia. Das Profil der Messali- na im Louvre will jedoch nicht zu diesen passen. Auf das Füllhorn des Pariser Kameos ist der Kopf einer kleinen Figur gesetzt. Die Autopsie hat ergeben, dass er durch Überarbeitung entstanden ist. Der Bereich ober- halb des Füllhorns ist vollkommen verschnitten. Es ist deshalb nicht mehr möglich, zu bestimmen, ob die ursprüngliche Füllung des Horns wie üblich aus Trauben, Gra- natäpfeln und Spitzkuchen bestand oder aber bereits von Beginn an dort die Figu- renbüste eines Kindes ausgearbeitet war. Offensichtlich ist das Köpfchen der klei- nen Figur erst nachträglich hinzugekommen, ist es doch aus wesentlich dunklerem Material gefertigt als der Körper darunter; obendrein weisen Nase, Stirn und teil- weise die Haare eine nicht zur Gravur passende hellbraune Farbe auf (Abb. 29). Abb. 29: Füllhorn-Kameo, Detail des auf das Füllhorn gesetzten Kinderköpfchens. Paris, Lucas Vorstermans Stich nach einer Zeichnung von Rubens27 (Abb. 30) gibt den Ka- Cabinet des Médailles, Camée 277. meo mit drei Personen, harmonisch ausbalanciert, in einem symmetrisch stehenden (© Gerhard Schmidt.) Oval wieder (und mag Ernest Babelons Beschreibung beeinflusst haben). Rubens hat mehrmals Zeichnungen von Kameen angefertigt, allerdings sind diese stets künst- lerische Wiedergaben, teilweise geschönt und nach seiner Vorstellung ergänzt, so- dass sie nur bedingt als Referenz taugen, wie es sich auch an seinen Zeichnungen der Gemma Augustea und des Grand Camée feststellen lässt. Das gelockte Mädchenköpfchen auf dem Füllhorn dürfte der Imagination des flä- mischen Malers zu verdanken sein und kann daher nicht als Beweis für sein ursprüngliches Vorhandensein herangezogen werden, wofür Fuchs28 und Susan E. Wood29 plädieren. Als der Maler den Kameo um 1620 zeichnete, war er bereits überarbeitet, Rubens hat ihn also nie im Originalzustand gesehen.30 Nicht zuletzt spricht, im Gegensatz zu Messalina, Drusillas Kinderlosigkeit gegen eine ursprüng- liche Anbringung der beiden Figürchen auf den Füllhörnern. Im Einzelnen sollen folgende Beobachtungen aufgezeigt werden, die allesamt eine Überarbeitung des Pariser Füllhorn-Kameos bezeugen (Abb. 31): a) Ein Drittel der ursprünglichen Masse des Füllhorns wurde abgeschnitten – siehe Schnittkante. b) Teile der Weintraube wurden abgetrennt, um sie nach der Überarbeitung des Abb. 30: Lucas Vorsterman, Füllhorn- Kameo, Stich nach einer Zeichnung von Füllhorns wieder mittig zu platzieren. Peter Paul Rubens. (Gemeinfrei.) c) Diese Ranke war ursprünglich nicht vorhanden. d) Die groben sekundären Einschnitte zwischen dem Füllhornkörper und Drusillas Schulter sind deutlich zu erkennen. Die Einschnitte reichen bis zur Kranzschlei- fe, die teilweise abgetrennt wurde. Überarbeitet wurde die Wollbinde. e) Im schraffierten Bereich wurden Teile der Gravur entfernt. f) Da man das Gewand weder als Chiton noch als Mantel oder Stola, wie von Meyer vorgeschlagen,31 oder als Paludamentum, so Boschung,32 bezeichnen kann, wird man auch in dieser vagen Behandlung ein Indiz für Überarbeitung sehen. 27 Lucas Vorsterman nach Peter Paul Rubens, Drie klassieke bustes in profiel, Varie Figueri de Agati An- tique (Serientitel), 1622, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RPP-OB-33.053. 28 Fuchs 1990 (zit. Anm. 15), 107–122. 29 Wood 1999 (zit. Anm. 15), 305 f. 30 Vgl. Vollenweider – Avisseau-Broustet 2003 (zit. Anm. 8), 96 f.; Marcia Pointon, The importance of Gems in the Work of Peter Paul Rubens 1577–1640, in: Ben van den Bercken – Vivian Baan (Hgg.), Engraved Gems from Antiquity to the Present, Leiden 2017, 99–113. 31 Hugo Meyer, Prunkkameen und Staatsdenkmäler römischer Kaiser. Neue Perspektiven zur Kunst der frühen Prinzipatszeit, München 2000, 95. 32 Vgl. Boschung 1993 (zit. Anm. 13), 72. 23 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205200604 — ISBN E-Book: 9783205200697
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