Unfassbare Wunder Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller ...

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Unfassbare Wunder Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller ...
Unfassbare   Gespräche mit Holocaust-
             Überlebenden in Deutschland,
Wunder       Österreich und Israel

             Alexandra Föderl-Schmid
             Konrad Rufus Müller
Unfassbare Wunder Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller ...
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

             © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
 ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
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Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Widmung

Für Ari Rath,
der 1938 Österreich verlassen musste
und 14 Jahre lang Chefredakteur
der „Jerusalem Post“ war

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                      ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
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Unfassbare                                             Gespräche mit Holocaust-
                                                       Überlebenden in Deutschland,
Wunder                                                 Österreich und Israel

                                                       Alexandra Föderl-Schmid
                                                       Konrad Rufus Müller

                                                       Böhlau Verlag
                                                       Wien Köln Weimar
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Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Danksagung

Für die Vermittlung von Gesprächen
möchten wir besonders
Hella Goldfein und Josi Girsch sowie
Johannes Strasser danken.
Alexandra Föderl-Schmid

Ich bedanke mich für tatkräftige Hilfe
bei meinen Freunden Carmen,
Lars, Jasmin, Thomas und Hannes.
Konrad Rufus Müller

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Gespräch mit Heribert Prantl                                                                         6

M. und I. Bergida                       12                      Amnon Berthold Klein               96
Hugo Brainin                           22                       Viktor Klein                      104
Arik Brauer                           30                        Charlotte Knobloch                 112
Giselle Cycowicz                      38                        Daisy Koeb                         118
Gideon Eckhaus                        46                        Harry Merl                        124
Marko Feingold                         52                       Rachel Oschitzki                  132
Helga Feldner-Busztin                  58                       Manfred Rosenbaum                 138
Mosche Frumin                         64                        Liese Scheiderbauer               146
Rudolf Gelbard                         70                       Horst Selbiger                    154
Rosa Girsch                            76                       Otto Stark                        162
Sidonie Goldstein                      82                       Eva Umlauf                        170
Roman Haller                          88                        Malwina Braun                     178

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                    ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

 Unfassbare Wunder                                                                      6

„Ein politisches
  Testament, eine
  aufrüttelnde
  Botschaft an die
  Gesellschaft.“

 Heribert Prantl im Gespräch
 mit Alexandra Föderl-Schmid
 und Konrad Rufus Müller
                                  © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
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7                                                                                Gespräch mit Heribert Prantl

    Prantl: Sie haben 25 Überlebende porträtiert, der                            eine Holocaust-Überlebende gelesen hatte, habe ich
Jüngste ist 74, der Älteste 105 Jahre alt. Darunter ist                          ihr geschrieben und sie gefragt: „Warum machen wir
auch Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israeli-                            nicht ein Buch zusammen?“ Sie hat sofort zugesagt.
tischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.                                       Prantl: Was ich spannend und erschütternd finde,
Besonders beeindruckt hat mich ein Satz von ihr:                                 ist diese umfassende Skepsis, die alle Porträtierten
dass sie nicht weiß, ob es in 10 Jahren noch jüdisches                           äußern. Kurz vor unserem Gespräch habe ich bei
Leben gibt in Deutschland. Ich habe Charlotte Knob-                              einer Veranstaltung Frau Knobloch gefragt: „Nehmen
loch immer als sehr zuversichtlich erlebt, was das                               wir an, sie wären bayerische Innenministerin: Was
Miteinander der Religionen betrifft. Ihr Pessimis-                               würden sie machen in Bezug auf die AfD?“ Ihre Ant-
mus überrascht mich. Zieht er sich durch bei den                                 wort war: „Verbieten!“ Mir scheint, dieser Wunsch,
Porträtierten?                                                                   etwas zu tun, ist sehr ausgeprägt. Ist das bei den
    Föderl-Schmid: Ja, fast alle blicken pessimistisch                           anderen Ihrer Gesprächspartner auch so zum Aus-
in die Zukunft. Das Spannende an diesem Projekt                                  druck gekommen?
war, dass wir Menschen in Deutschland, Österreich                                    Müller: Es gab manche, die gesagt haben: Wir
und Israel getroffen haben mit vielen gemeinsamen                                sind ja nicht mehr die zukünftigen Opfer. Wir sind
Erfahrungen während der Nazizeit. Das hat ihren                                  zu wenige.
Blick auf Ereignisse in der Gegenwart geschärft. Sie                                 Föderl-Schmid: Es sind im Moment stärker andere
haben unterschiedliche Perspektiven, abhängig von                                Gruppen im Visier. Aber diese Angst, dass so etwas
dem Land, in dem sie leben. Aber alle registrieren                               oder so etwas Ähnliches wieder passiert, ist bei allen
sehr genau, worüber berichtet wird: immer mehr                                   da. Und es gibt diesen starken Wunsch, diese Entwick-
antisemitische Vorfälle in Deutschland und die Regie-                            lung stoppen zu können. Etwas, was manche damals
rungsbeteiligung der FPÖ in Österreich. Das löst bei                             versäumt haben, die gedacht haben: Uns kann nichts
den Überlebenden der Shoah vieles aus.                                           passieren. Der Vater ist für den Fronteinsatz im Ersten
    Müller: Ich habe mich mein ganzes Leben für die-                             Weltkrieg ausgezeichnet worden, wir werden ver-
ses Thema interessiert. Ich komme aus einem katho-                               schont. Das war dann nicht so. Weil viele damals die
lischen Elternhaus mit starken Bezügen zu jüdischen                              Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, haben Überle-
Freunden meiner Eltern. Mein Vater war Geschäfts-                                bende jetzt das Gefühl, sie müssen etwas machen:
führer in einem Tuchladen in Berlin, die Kunden                                  aufschreien, eingreifen, aufmerksam machen.
waren fast alle Nazis. Der Eigentümer ist dann Ende                                  Prantl: Antirassismus ist nicht etwas völlig Neues.
der Dreißigerjahre emigriert und die Nazis haben                                 Wir hatten das Attentat auf die israelische Mann-
dann meinem Vater das Geschäft angeboten und er                                  schaft bei den Olympischen Spielen in München
hat das abgelehnt. Das werde ich ihm nie vergessen.                              1972, es gab das Attentat auf den jüdischen Verleger
Der Religionslehrer meiner Mutter war Clemens                                    Shlomo Lewin in Erlangen 1980. Es gab schon vor
August Graf von Galen.                                                           Jahrzehnten Angriffe auf Juden, bevor noch Migran-
    Prantl: Bevor er der „Löwe von Münster“, der gro-                            ten attackiert wurden. Ist das Gefühl der Bedrohung
ße Bischof und Kardinal geworden ist, der öffentlich                             noch gestiegen?
gegen die von den Nazis so genannte „Vernichtung                                     Föderl-Schmid: Ja. Weil viele nun eine Bedrohung
unwerten Lebens“ aufgetreten ist.                                                von zwei Seiten sehen: Es gibt den Antisemitismus,
    Müller: Meine früheste Erfahrung, was die Juden-                             der immer schon da war. In Österreich ist dieser
vernichtung angeht, war, dass mir mein Vater ein Buch                            braune Bodensatz noch viel stärker vorhanden.
geschenkt hat, das 1947 erschienen ist: „Der SS-Staat“.                          Und jetzt kommt ihrer Wahrnehmung nach durch
Da war ich 8 Jahre alt. Mich hatten auch Berliner                                den verstärkten Zuzug noch der Antisemitismus von
Jesuiten sehr früh in diese unglaubliche Geschichte                              Muslimen dazu. Einer hat es so formuliert: Das führt
eingeweiht. Als ich ein Porträt von Alexandra über                               zu einer Gemengelage, aus der eine neue Art von

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                                    ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                                                                8

Holocaust entstehen kann. Der Historiker Timothy                                  Föderl-Schmid: Ja, genau. Aber einer, der jetzt in
Snyder vertritt diese These auch in seinem Buch                               Israel lebt, hat folgende Worte regelrecht geschrien:
„Black Earth“.                                                                Es gibt keine Wiedergutmachung! Das kann es gar
    Prantl: Es gibt die ganz furchtbaren Äußerungen                           nicht geben für sechs Millionen Ermordete!
von Alexander Gauland von der AfD, der sagt, der                                  Prantl: Wiedergutmachung ist ein komisches Wort.
Holocaust sei „nur ein Vogelschiss“ in der langen                                 Müller: Und einer hat gesagt: Niemals vergeben!
deutschen Geschichte. Ich habe mich gefragt: Ist das                              Föderl-Schmid: Deshalb bereitet vielen die AfD
etwas Neues? Dann ist mir ein Satz von Franz Josef                            oder FPÖ Sorgen: Denn das ist die heutige Generati-
Strauß aus den Sechzigerjahren eingefallen. Er hat                            on, nicht die damaligen Täter. Wie Frau Knobloch
gesagt, ein Volk, das solche Leistungen beim deut-                            sagt: Im Parteiprogramm stehen Passagen, die jüdi-
schen Wiederaufbau gezeigt habe, habe ein Recht,                              sches Leben in Deutschland bedrohen.
von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen. Diese                                  Prantl: Früher gab es in Deutschland auch schon
Flucht vor der Vergangenheit, aber gleichzeitig auch                          die so genannten Republikaner, die NPD und die DVU.
die Wattierung der Vergangenheit hat die Nach-                                    Föderl-Schmid: Aber die waren keine relevante
kriegszeit begleitet.                                                         Größe im Vergleich zur AfD. Und die FPÖ ist in Öster-
    Müller: Herr Strauß war offiziell nie im KZ Dachau.                       reich in der Regierung.
Der erste Ministerpräsident, der dort war, war                                    Prantl: Die deutschen Innenminister hatten den
Edmund Stoiber. Das liegt direkt vor der Haustür.                             Versuch betrieben, vom Bundesverfassungsgericht
Gibt es dafür eine Erklärung?                                                 die NPD verbieten zu lassen. Bei der NPD hat man
    Prantl: Ich glaube schon, dass es das Bestreben                           gesagt, wegen des grassierenden Antisemitismus in
war, das umzusetzen, was Franz Josef Strauß gesagt                            ihrem Programm müsste man sie eigentlich verbie-
hat: Es darf rechts von der CSU keine demokratisch                            ten, aber sie habe nicht die nötige Potenzialität. So
legitimierte Partei geben. Dieses Spiel mit dem Anti-                         fragt man sich jetzt, und da verstehe ich den Zorn
semitismus gehört, so glaube ich, schon mit dazu.                             von Charlotte Knobloch und anderen, warum
Beim Olympiaattentat hat Strauß stets die Einzeltä-                           geschieht jetzt nichts? Die AfD hat die Potenzialität,
tertheorie vertreten. Wenn es ein Attentat gab wie                            sie sitzt inzwischen in allen 16 Landtagen.
beim Oktoberfest und die Kundigen auf die Wehr-                                   Föderl-Schmid: Und die AfD hat auch eine öffent-
sportgruppe Hoffmann verwiesen, eine neonazisti-                              liche Bühne. Es passieren ständig Tabubrüche nach
sche paramilitärische Vereinigung, die erst 1980 ver-                         dem Motto: Man wird doch noch einmal etwas sagen
boten wurde, haben die bayerischen Sicherheitsbe-                             dürfen – etwa das mit dem Vogelschiss.
hörden gesagt: Einzeltäter! Dann gab es, Jahrzehnte                               Müller: Gauland hat in dem Satz mit dem Vogel-
später, die neonazistische Terrorbande NSU, Natio-                            schiss noch dazu von der „tausendjährigen Geschich-
nalsozialistischer Untergrund: zehn Morde, zwei                               te“ gesprochen. Das fand ich besonders perfide.
Bombenanschläge, zahlreiche Raubüberfälle. Wieder                                 Prantl: Betrachten wir die Jahrzehnte der so
gingen die Ermittler jahrelang von Einzeltätern aus,                          genannten Vergangenheitsbewältigung, schauen wir
der fremdenfeindliche Hintergrund der Taten wurde                             auf die Auschwitz-Prozesse, die von Generalstaats-
nicht ins Kalkül gezogen. Trotz alledem wurde vonsei-                         anwalt Fritz Bauer betrieben wurden. Er war Jude
ten nichtjüdischer Deutscher immer ziemlich stolz auf                         und bei mir hat ein Satz von ihm immer Gänsehaut
die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit ver-                              ausgelöst: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse,
wiesen. Wie beurteilen die von Ihnen Befragten das?                           bin ich in Feindesland.“ Bauer hat die Auschwitz-Pro-
    Müller: Sie machen zumindest Unterschiede in                              zesse als pädagogischen Prozess bezeichnet und die
der Aufarbeitung zwischen Österreich und Deutsch-                             Pläne von Auschwitz an die Wand des Gerichtssaals
land aus.                                                                     gehängt. Es war ein Einschnitt in der deutschen
    Prantl: Also, Deutschland war besser?                                     Nachkriegsgeschichte. Und es gab den Kniefall Willy

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                                           ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

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Brandts vor dem Ghettomahnmal in Warschau. Und                                   jüdisch sind, sie haben keine negativen Erfahrungen.
es gab das Verjährungsaufhebungsgesetz und schließ-                              Sie fühlen sich total wohl hier.
lich das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Es gab auch                                    Prantl: Das hört man auch von jungen Israelis, die
den Film „Schindlers Liste“ mit einer gewissen Popu-                             gerne in Berlin sind. Es gibt aber auch den manifesten
larisierung der so genannten Vergangenheitsbewäl­                                Antisemitismus dort, der Juden auf der Straße atta-
tigung. Es gab also schon wichtige Etappen. Aber die                             ckiert. Trotz dieser massiven Übergriffe scheint die
Befragten haben das Gefühl, das sei oberflächlich?                               Hauptstadt des Täterlandes ein attraktives Ziel zu sein.
    Föderl-Schmid: Es wird schon konzediert, dass                                    Föderl-Schmid: Viele Israelis interessieren sich
von offizieller Seite etwas getan wurde. Auch dass                               nicht mehr so sehr für diese Geschichte, sie sind vor
zumindest Deutschland finanziell viel geleistet hat.                             allem an billigem Wohnraum und an Jobmöglichkei-
Aber viele Juden, die in Deutschland leben, haben                                ten interessiert. Großeltern, die zurückbleiben,
dennoch Schwierigkeiten, sich als Deutsche zu                                    haben aber Schwierigkeiten damit, wenn ihre Enkel
bezeichnen. Einer sagte: Ich habe kein Problem, mich                             nach Deutschland ziehen.
als Bayer oder Münchner zu bezeichnen. Diesen                                        Prantl: Mit welchem Blick schauen die Überle-
Zwiespalt erleben auch Juden, die in Israel leben.                               benden auf Deutschland und Österreich, wenn dort
Einer hat gesagt: Ich habe Freunde in Deutschland,                               Aufklärung, Antirassismus und Minderheitenschutz
fahre hierher auf Urlaub, aber ich habe trotzdem                                 immer mehr gefährdet sind?
noch immer ein ungutes Gefühl dabei und ein                                          Föderl-Schmid: Manche reden sich diese Entwick­
schlechtes Gewissen.                                                             lungen schön, nach dem Motto: Jetzt hab ich endlich
    Prantl: Diejenigen, die geblieben sind wie Charlotte                         Frieden geschlossen.
Knobloch, müssen sich ja häufig von denen, die nach                                  Müller: Manche sagen, es ist doch nicht so
Israel gingen, mit bitterer Kritik fragen lassen: Warum                          schlimm. Und die Landschaft ist schön.
seid ihr eigentlich geblieben im Land der Täter?                                     Föderl-Schmid: Andere befürchten das Schlimmste
    Föderl-Schmid: Wir haben auch welche getroffen,                              und sagen: Bin ich froh, dass ich nicht mehr mitbe-
die hier nicht einmal Wurzeln hatten, sondern aus der                            komme, wie sich das weiterentwickelt, etwa nach
Slowakei gekommen und auf der Durchreise nach                                    der Regierungsbeteiligung der FPÖ.
Amerika in Deutschland hängen geblieben sind. Von                                    Prantl: In Europa wird der radikale Populismus
denen kam oft der Satz: Wir wollten nicht bleiben.                               immer stärker, nicht nur wenn man nach Ungarn,
Und sie fühlen diesen Rechtfertigungsdruck noch                                  Polen und Italien blickt. Auch in Israel gibt es mit
stärker, denn sie sind ja erst nach der Shoah nach                               Benjamin Netanjahu jemanden, der schon länger
Deutschland gekommen.                                                            eine rechtspopulistische Regierung führt. Wie sehen
    Prantl: Charlotte Knobloch erzählt, sie habe stets                           die Überlebenden diese Entwicklung?
einen gepackten Koffer in ihrer Wohnung gehabt.                                      Föderl-Schmid: Sehr kritisch. Sowohl in ihrem
Erst als in München das Jüdische Zentrum eröffnet                                eigenen Land, das ist Israel, als auch in jenen Staaten,
worden ist, das wie ein architektonisches Wunder                                 aus denen sie kommen. Alle sind politisch höchst
dasteht, habe sie sich entschlossen, den Koffer aus-                             interessiert und informiert. Und besorgt. Das ist auch
zupacken. Sie habe nun das Gefühl gehabt, sie kön-                               Ari Rath so gegangen, dem langjährigen Chefredak-
ne hierbleiben. Was ist eigentlich für die Überleben-                            teur der „Jerusalem Post“, der mit 13 Jahren Wien
den Heimat?                                                                      verlassen musste und seine letzten Lebensjahre
    Müller: Es gibt ein Ehepaar, das 4 Jahre jünger                              wieder in Österreich verbracht hat. Er war besorgt
ist als ich und aus der Slowakei nach Deutschland                                über die Entwicklungen in beiden Ländern. Ihm
gekommen ist. Beide haben mir den Eindruck vermit-                               haben wir übrigens das Buch gewidmet.
telt, dass sie sehr gerne in München leben. Ihre                                     Müller: Viele in Israel sind auch entsetzlich einsam.
Nachbarn haben sie nie spüren lassen, dass sie                                       Prantl: Ignatz Bubis, der langjährige Vorsitzende

                                                © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
                                    ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                                                              10

des Zentralrats der Juden in Deutschland, war am                              schauen, brauche ich nicht zu beschreiben, denn das
Ende seines Lebens erstaunlich pessimistisch. Ich bin                         bringt Konrad mit seinen Bildern viel besser zum Aus-
damals auch erschrocken. Charlotte Knobloch hat                               druck. Es sind so starke, eindringliche Bilder!
mir erzählt, sie habe ihn in seinen letzten Lebens­                               Prantl: Sie beschäftigen sich schon länger mit
tagen angerufen und ihm gesagt: „Ignatz, du bist                              dem Holocaust. Hat die Arbeit an dem Buch Ihren
doch so erstaunlich erfolgreich gewesen.“ Aber er                             Blick noch einmal verändert?
wollte das nicht mehr spüren. Jetzt scheint Knobloch                              Müller: Das hat das Ganze potenziert. All das, was
ähnlich düster gestimmt zu sein. Sieht man diese                              ich theoretisch wusste, habe ich haptisch erfahren
Düsternis in den Porträts?                                                    können. Ich finde es ganz großartig, dass Alexandra
    Müller: Die Einsamkeit und die Trauer sind ganz                           das den Leuten überlässt, sich in meine Bilder zu ver-
signifikant, das sieht man auch an meinen Bildern.                            tiefen. Sie hat mir nichts weggenommen und nicht
Selbst bei jemandem, der Chef eines Kabaretts war,                            versucht zu erklären, wie diese Leute aussehen. Es ist
erkennt man diese unendliche Traurigkeit.                                     eine Form von Zurückgenommenheit.
    Prantl: Als jemand, der in den Gesichtern liest:                              Föderl-Schmid: Für mich geht es darum, diesen
Sieht man die Trauer in den Gesichtern?                                       Menschen auf die bestmögliche Art gerecht zu
    Müller: Ja, ich bin ein Hautfotograf. Der Mensch                          werden, die uns ihre persönliche Geschichte anver-
hat mindestens zwei Möglichkeiten der expressiven                             traut haben und ihre Einschätzungen. Wir durften
Ansprache: sein Gesicht und seine Hände. Schmerz,                             ihnen sehr nahe kommen. Bild und Text sind auf der
Trauer, Freude. Das vermittelt er mit seinem Gesicht.                         gleichen Ebene.
Was die Hände der von mir Portraitierten erlitten                                 Prantl: Der Journalist ist eigentlich tendenziell
haben, muss ich nicht beschreiben. Das alles wird                             eitel. Insofern ist es schon etwas Besonderes, was
sehr real, wenn man diesen Menschen begegnet und                              Müller sagt – wenn man den Fotokünstler einfach
sie in den Arm nehmen darf.                                                   machen lässt, nicht ins Bild eingreift und nicht seine
    Prantl: Wenn Überlebende erzählen, was sie in                             eigenen Journalisten-Worte nimmt, um zu beschrei-
der Reichspogromnacht gemacht haben, wie sie an                               ben, was da fotografiert wurde.
der Hand des Vaters durch München gelaufen sind –                                 Müller: Ich finde, das Höchste, was man erzielen
ich kriege dann eine gewisse Scheu, ich mag dann                              kann, ist, dass man etwas zustande bringt, was
nicht mehr weiter bohrend neugierig nachfragen.                               gleichwertig ist. Mir hätte man ohnehin nicht zu­ge-
Weil es so existenziell ist, weil so viel Schmerz damit                       traut, dass ich so ein Buch mache. Ich werde oft ver-
verbunden ist. Gibt es diese Scheu auch bei Ihnen?                            schrien als der Diener der Macht, der Hinkriecher.
    Müller: Ich wahre hochachtungsvolle Distanz, ob­                          Für mich schließt sich der Kreis vom Buch von Eugen
wohl die Nähe da ist. Als mich Francois Mitterrand                            Kogon, das ich 1948 zu lesen bekommen habe, bis zu
gefragt hat, was ich von ihm möchte, habe ich gesagt:                         diesem Buch 2018. Es wird vermutlich kein weiteres
„Ich möchte Ihnen nahe sein, ohne indiskret zu sein.“                         Buch mehr kommen für mich.
Oder hast du das Gefühl, dass die Bilder, die mache,                              Föderl-Schmid: Was zwischen uns beiden ein
indiskret sind?                                                               Unterschied war: Ich kenne einige Menschen, die
    Föderl-Schmid: Nein. Ich muss mich auch manch-                            die Shoah erlebt haben, schon länger und näher.
mal überwinden, nachzufragen. Vor allem, wenn ich                             Und für dich war es eine neue Erfahrung. Du hast zum
merke, es tut dem anderen weh, darüber zu sprechen.                           Beispiel noch nie eine Auschwitz-Nummer gesehen.
Und ich erlebe das Gespräch noch einmal, wenn ich                                 Müller: Es war eine unmittelbare Erfahrung, auch
es abtippe, und noch einmal, wenn ich den Text                                eine visuelle und haptische Erfahrung. Alexandra
schreibe. Manche Sätze haben so eine Wucht, dass                              kannte einige schon länger und hat sie vorher schon
sie mich im Schlaf verfolgen. In dem Text stehen                              besucht. Für mich waren all das Menschen, die ich
die Zitate im Mittelpunkt. Wie die Menschen aus-                              noch nie vorher gesehen habe. Meist habe ich sie

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Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

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mir angeschaut, während Alexandra mit ihnen ge­-                                     Prantl: Das heißt, das Überleben hält wach?
sprochen hat. Ich musste dann in dieser kurzen Zeit                                  Müller: Ja, vor allem geistig.
versuchen, diesen Menschen zu erfassen. Nicht nur                                    Föderl-Schmid: Und viele sehen es auch als Ver-
die Haut. Das ist etwas, das nicht so viele Menschen,                            pflichtung an, gerade jetzt etwas zu sagen, noch ein-
die fotografieren, können. Das Gespräch hat länger                               mal zu warnen mit all der erlebten Erfahrung im
gedauert, aber für die Porträts habe ich nur wenige                              Hinterkopf. Vor der AfD, vor der FPÖ, die in Öster-
Minuten gebraucht.                                                               reich in der Regierung sitzt.
    Prantl: Für den Künstler dauert also das eigent­                                 Prantl: Bert Brecht hat in „Der aufhaltsame Auf-
liche Fotografieren nur eine kurze Zeit, aber das                                stieg des Arturo Ui“ geschrieben: „Der Schoß ist
eigentliche Erfassen des Fotografierten, die Vorar-                              fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Und weil diese
beit, viel länger.                                                               Menschen spüren, dass der Schoß noch fruchtbar ist,
    Müller: Das ist eine große Gabe, die ich mitbekom-                           wollen sie reden. Was sie gemacht haben, ist also
men habe. Ich weiß nach diesem halben Jahrhundert,                               auch eine Art Protokollierung eines Testaments?
seitdem ich arbeite, dass ich in Menschen lesen kann.                                Müller: Ja, das ist es. Wir publizieren ein Testa-
    Prantl: Mich hat immer wieder beschäftigt, dass                              ment dieser Menschen.
es Zeitzeugen sind, die gesprochen haben. Und ich                                    Föderl-Schmid: Es ist auch ein Weckruf. Der
habe mich gefragt, ob diese Zeitzeugen sich fragen,                              Holocaust ist nicht nur Geschichte, sondern War-
was mit ihrer Erinnerung passiert, wenn sie nicht                                nung. Die Überlebenden wollen nicht nur ihre eigene
mehr da sind.                                                                    Geschichte noch einmal erzählen und aufgeschrie-
    Föderl-Schmid: Das beschäftigt sehr viele. Für                               ben wissen, sondern auch warnen angesichts des-
manche war es eine Motivation, bei dem Projekt mit-                              sen, was sie erlebt haben.
zumachen. Eine Frau hat ihre Geschichte noch nie                                     Prantl: Es ist also ein politisches Testament, eine
erzählt, auch nicht, als die Gedenkstätte Yad Vashem                             aufrüttelnde Botschaft an die Gesellschaft.
in Jerusalem sie darum gebeten hat. Andere wollten
sich lange Zeit nicht mit dem Thema beschäftigen
und tun dies jetzt erst im Alter. Und eine Frau hat sich
zwar fotografieren lassen, aber sie wollte nicht über
diese Zeit reden. Für viele ist diese Wunde einfach
noch nicht verheilt.                                                             Heribert Prantl war vor seiner journalistischen
    Prantl: Wenn die Wunde noch nicht verheilt ist,                              Karriere Richter und Staatsanwalt. Seit 1988 arbeitet
warum ist der Titel des Buches dann „Unfassbare                                  er bei der „Süddeutschen Zeitung“ und ist Mitglied
Wunder“?                                                                         der Chefredaktion.
    Föderl-Schmid: Viele haben gesagt, es ist eigent-
lich unfassbar, dass wir überlebt haben. Ein Wunder!                             Alexandra Föderl-Schmid ist eine Journalistin aus
Immer wieder kamen Szenen wie diese: Ich sollte                                  Österreich. Sie war Chefredakteurin und auch
abgeholt werden und habe es geschafft zu entkom-                                 Co-Herausgeberin der Tageszeitung „Der Standard“
men. Dieses Staunen hält bei vielen an. Und viele haben                          und ist jetzt Korrespondentin der „Süddeutschen
den Begriff Wunder verwendet, manche auch Glück.                                 Zeitung“ in Israel.
    Müller: Das ist auch eine Darstellung von Lebens-
kraft. Eigentlich kann man nicht verarbeiten, was die-                           Konrad Rufus Müller ist der Fotograf der deutschen
se Menschen erlebt haben. Dass sie so stark gewor-                               Kanzler, der Mächtigen der Politik, der außerge-
den sind dadurch. Sie sind hell und wach im Alter von                            wöhnlichen Menschen und starken Persönlichkeiten.
90, 95 Jahren. Sie sind so gestärkt aus ihrem Schick-                            Seine Arbeiten wurden in zahllosen Magazinen
sal hervorgegangen, das kann man kaum glauben.                                   und in inzwischen 25 Bildbänden publiziert.

                                                © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
                                    ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                      12

„In den Kreisen, in denen
  wir uns bewegen, erleben
  wir den Antisemitismus
  nicht, woanders gibt
  es ihn aber sehr wohl.“

Marianna und Ivan Bergida wurden 1943 in der heuti-
gen Slowakei geboren, Marianna in Kosice, Ivan
in Humenne. Marianna wurde vom Kindermädchen aus
dem Lager gerettet, Ivan überlebte bis zur Befreiung
versteckt im Wald. Beide leben seit 1968 in München.
                                 © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
                     ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

13                                                     Marianna und Ivan Bergida

                  © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
      ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                                                              14

   Ihre Lebensgeschichten verschmelzen ineinander,                           Schwester sei stark genug, sie schaffe das! Sie haben
so wie die Blicke, die sie immer wieder austauschen.                         gedacht, sie kommen irgendwohin zum Arbeiten.“
Die beiden erzählen auch Bruchstücke aus dem
Leben des anderen, denn sie kennen einander von                                  Sie kamen aber direkt nach Auschwitz und von der
Kindesalter an. Mit ihren Familien haben sie als Juden                       Rampe nach der Ankunft direkt in die Gaskammern.
nicht nur unter den Nazis gelitten, sondern auch                             Vor allem Mütter mit Kindern sind gleich vergast wor-
Antisemitismus in der kommunistischen Tschecho­                              den: „Elisabeth hat später immer gesagt, hätte sie die
slowakei erfahren. Dass sie sich nach ihrer Ausreise                         Judith mitnehmen können, wäre vielleicht auch meine
1968 ausgerechnet in Deutschland dauerhaft nieder-                           Mutter noch zurückgekommen. Aber alle, Großeltern,
lassen würden, war nicht geplant. „Schon den Klang                           Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, sind vergast
der deutschen Sprache habe ich als Bedrohung emp-                            worden.“ Überlebt haben nur ein 14-jähriger Cousin,
funden“, bekennt Marianna.                                                   der auf sich alleine gestellt versteckt in Budapest
                                                                             gelebt hat, und eine Cousine, die im KZ Bergen-
   Dass Marianna überhaupt noch lebt, hat sie ihrem                          Belsen als 12-Jährige überlebte. „Wir haben uns erst
Kindermädchen Elisabeth zu verdanken. Vier Monate                            in den Achtzigerjahren gefunden“, sagt Marianna.
nach ihrer Geburt wurde ihre gesamte Verwandt-
schaft im Frühjahr 1944 deportiert: Gemeinsam mit                               Von ihrer Mutter habe Elisabeth einen Zettel mit
ihrer Mutter und der damals 6-jährigen Schwester                             einer Adresse in Budapest bekommen, es war eine
kam sie in ein Sammellager. Weil der Vater aus der                           christliche Familie. „Weil ich ständig geweint habe,
deutschen Enklave in der Slowakei stammte und auch                           haben sie aber Angst gehabt, dass die Nachbarn
mit den Großeltern nur Deutsch gesprochen wurde,                             Fragen stellen. Und sie haben uns weggeschickt.“
suchten die Eltern „ein deutsches Fräulein“. Elisabeth
kam auch aus der deutschen Enklave in der Slowa-                                 40 Kilometer ist Elisabeth gelaufen, wie sie später
kei und kümmerte sich um Mariannas Schwester.                                Marianna erzählt hat, es seien Bomben gefallen. Mit
Dann wollte sie wegen der Kriegswirren eigentlich                            dem Kind sei sie dann auf einer Brücke stehen ge­-
nach Hause zu ihrer Familie. Elisabeth ließ sich aber                        blieben, von dort aus habe sie jemand aus einem
erweichen zu bleiben, als sie hörte, dass Mariannas                          nahe stehenden Haus hereingerufen. „Wir hatten
Mutter erneut schwanger war.                                                 Glück. Wir konnten bleiben. Elisabeth hat nicht
                                                                             verraten, dass ich ein jüdisches Kind bin. Sie hat dann
   Im Frühjahr 1944 wurde die Stadt Kosice, die                              im Haushalt geholfen. Ich war 4 Monate, als ich dort-
damals zu Ungarn gehörte, von Deutschen besetzt.                             hin kam, und knapp 3 Jahre, als mein Vater uns ab­-
Ihr Vater wurde zusammen mit seinem Vater und                                geholt hat. Dort haben wir überlebt.“
einigen jüdischen Persönlichkeiten der Stadt als Gei-
seln festgenommen.                                                               Der Vater ist vom Gefängnis aus direkt in das KZ
                                                                             Auschwitz-Birkenau gebracht worden. Er war eigent-
    Kurze Zeit danach wurden dann Tausende Juden                             lich promovierter Chemiker, hat aber angegeben,
von Kosice in einer Ziegelfabrik für den späteren                            dass er Straßenbauer sei in der Annahme, die werden
Transport nach Auschwitz gesammelt. Das Kinder-                              eher gebraucht. Denn nur wer arbeitsfähig war, hatte
mädchen durfte aber in das Lager hinein und brachte                          eine Überlebenschance in Auschwitz. Mariannas
in einem großen Korb Essen für die Familie mit. „Und                         Vater gehörte zu den so genannten „Depot-Juden“.
in diesem Korb hat sie mich rausgeschmuggelt. Sie                            Das waren arbeitsfähige Juden aus Massentrans­
wollte unter dem Mantel auch meine Schwester mit-                            porten, die in Auschwitz zum Weitertransport in
nehmen, aber meine Mutter und meine Schwester                                andere Lager vorgesehen waren. Mariannas Vater
haben geweint. Meine Mutter hat gemeint, meine                               kam ins KZ Mauthausen und wurde schließlich 1945

Vorige Seite: Marianna Bergida mit einem
Bild ihrer Großmutter Sara Friedrich.
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Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

15                                                                                  Marianna und Ivan Bergida

im Außenlager Ebensee befreit. Zeit seines Lebens                               etwas zu essen vorbei. „Aber es gab auch Bauern, die
begleitete ihn ein Messer, das er damals von einem                              den Deutschen gezeigt haben, wo sich Juden ver-
Amerikaner geschenkt bekommen hat.                                              steckt haben“, weiß Ivan aus Erzählungen.

   Nach seiner Rückkehr nach Kosice hat er sich beim                               Da er selbst erst etwas über ein Jahr alt war, hat
Roten Kreuz gemeldet, auch das Kindermädchen hat                                Ivan keine eigenen Erinnerungen daran. „Ich weiß nur
eine Suchmeldung abgegeben. „Ich war schon fast                                 Brocken von dem, was meine Eltern erzählt haben,
3 Jahre alt, als er mich in Albertirsa abgeholt hat.“                           wenn jemand ins Haus kam und einen Bezug dazu
Dabei habe ihr Vater alles vorausgesehen vor dem                                hatte. Sonst haben sie darüber geschwiegen.“ Seine
Krieg. Während seines Chemiestudiums in Frankfurt                               Mutter habe einer Besucherin erzählt, wenn sie ge-
am Main habe er Hitlers „Mein Kampf“ gelesen. „Er hat                           wusst hätte, was auf sie zukomme, hätte sie vor­her
mitbekommen, was sich in Deutschland so getan hat.                              Schluss gemacht. „Darüber bin ich als Kind sehr
Er wollte auswandern und hat versucht, die ganze                                erschrocken.“
Familie zu überreden. Er wollte nach Palästina. Meine
Großeltern haben aber gesagt, sie seien schon alt.                                 Von einer Gruppe von etwa 80 Leuten, die sich
Meine Mutter wollte nicht ohne Eltern gehen. Dann                               dort versteckt hielten, sollte schließlich nur seine
sind sie geblieben“, erzählt Marianna.                                          Familie überleben. Als die Kampfhandlungen 1945
                                                                                immer näher rückten, wollten alle über die Wälder
   Ivans Eltern lebten in dem kleinen Ort Snina im                              der Niederen Tatra auf die russische und damit
Osten der Slowakei. Der Vater und zwei Brüder waren                             vermeintlich sichere Seite gelangen. Weil die Groß-
Schneider. Weil sie auch die Uniformen für die Polizei                          mutter nicht mehr gehen konnte, blieben seine Eltern
genäht haben, hielt der Polizeichef seine schützende                            mit ihm bei ihr in diesem Versteck. Die anderen
Hand über die Familie. Er empfahl ihnen, in die grö-                            zogen los, fielen deutschen Soldaten in die Hände
ßere Stadt Humenne umzuziehen, weil er sie dort                                 und wurden alle erschossen – darunter zwei Brüder
besser schützen konnte. Dort kam Ivan im Februar                                des Vaters und die Ehefrau von einem. „Wir sind die
1943 zur Welt.                                                                  einzigen, die überlebt haben“, sagt Ivan.

   Mit der herannahenden Front mussten die in der                                  Diese Monate im Versteck haben auch bei dem
Ostslowakei verbliebenen Juden Richtung Westen zie-                             Kind Spuren hinterlassen. Er selbst habe mit etwas
hen. Im August 1944 brach der slowakische National-                             über einem Jahr schon gehen und etwas sprechen
aufstand aus. Die vom slowakischen Widerstand und                               können. Nach den Monaten im Versteck, wo sich
Teilen des Militärs organisierte Erhebung war neben                             auch Kinder ruhig und still verhalten mussten, konnte
dem Warschauer Aufstand die größte Aktion gegen                                 er weder das eine noch das andere, berichtet Ivan.
das nationalsozialistische System in Osteuropa. Als                             „Ich war geschwächt, aber sonst intakt.“
die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten
und die Slowakei besetzten, suchten Juden in den                                    Marianna ergänzt, dass sich die Großmutter
Wäldern Schutz. „Vom Spätsommer 1944 bis zur                                    zuerst schlecht gefühlt haben dürfte, weil die Familie
Befreiung waren sie dort versteckt. In Hütten und                               wegen ihr zurückgeblieben sei. „Und am Ende haben
Erdlöchern“, berichtet Ivan über das Schicksal seiner                           sie genau deshalb überlebt. Unglaublich!“
Familie und vieler Verwandter.
                                                                                    Eine von Ivans Tanten war 3 Jahre in Auschwitz
   Es war ein langer, harter Winter. Gelebt wurde                               und hat überlebt, die andere Tante hat das mit ge-
von dem, was der Wald hergab. So wurde mit Baum-                                fälschten Papieren in der Slowakei geschafft. Die eine
rinde Tee gekocht. Ab und zu brachten auch Bauern                               ist später nach Australien, die andere nach Israel aus-

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                                   ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                      16

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gewandert. Seine Eltern seien wohl wegen der Groß-                             damit nichts anzufangen. Es war oft so, dass ich als
mutter in Kosice geblieben, mutmaßt Ivan. Er sei                               Kind etwas gesehen habe, ohne es zu verstehen und
15 Jahre alt gewesen, als sie gestorben ist. An die                            es war niemand da, um es mir zu erklären.“
Großmutter kann sich auch Marianna noch erinnern.
„Sie war sehr depressiv.“                                                          Die vom Großvater gegründete Chemiefabrik war
                                                                               ihrem Vater nach dem Krieg wieder zurückgegeben
   Marianna war 10 Jahre alt, als sie Ivan zum                                 worden. „Dann hat man uns alles weggenommen.
ersten Mal traf. Sie sollte eine seiner Schwestern                             Teppiche, Radio, alles, was irgendeinen Wert hatte.“
bei einem Gesangsauftritt am Klavier begleiten.                                In die große Wohnung wurde ein Ehepaar ein­
Sie waren auch in einer Klasse, aber erst nach dem                             quartiert, der Mann war vermutlich Geheimpolizist.
Abitur, als Ivan für das Studium nach Prag zog, „hat                           Elisabeth und Marianna durften ein Zimmer und die
es richtig begonnen“ – ihre Beziehung startete mit                             Toilette benutzen. Zur Körperpflege mussten sie in
einem ausgiebigen Briefwechsel, aus dem Liebe und                              die Waschküche im Dachgeschoß gehen.
eine lange Ehe wurde.
                                                                                  Mariannas Vater wurde des Hochverrats beschul-
   Dass die Familien der beiden jüdisch waren, das                             digt. Zu dieser Zeit wurden Schauprozesse in der
war in ihrer Umgebung bekannt. Denn ihre Väter hat-                            Tschechoslowakei geführt, die einen antisemitischen
ten Funktionen in der Synagoge und der jüdischen                               Hintergrund hatten. Der bekannteste war der so­ge-
Gemeinde inne. „Ich habe genug Antisemitismus mit-                             nannte Slansky-Prozess 1952 gegen 14 Mitglieder
erlebt als Kind. Die anderen Kinder haben das gesagt,                          der kommunistischen Partei, darunter der General­
was sie zu Hause gehört haben. Die Slowaken haben                              sekretär Rudolf Slansky. Elf der Angeklagten waren
keine Hemmungen gehabt, Juden als solche zu                                    Juden, ihnen wurde eine trotzkistisch-zionistische Ver­
beschimpfen“, sagt Ivan.                                                       schwörung vorgeworfen. Elf wurden nach dem Urteil
                                                                               gehängt, drei erhielten lebenslange Freiheitsstrafen.
   Für Mariannas Vaters, der zwar die Zeit in den
Konzentrationslagern Auschwitz, Mauthausen und                                    Der Name ihres Vaters schallte aus den Lautspre-
Ebensee überlebt hatte, blieb es nicht bei Beschimp-                           chern, wenn Marianna in Kosice durch die Straßen
fungen. Für ihn begann nach 1945 ein zweiter, jahre-                           ging. „Sie sagten, er sei ein Hochverräter und Zionist.“
langer Leidensweg. Er konnte zwar wieder mit sei-                              Bekannte wechselten die Straßenseite, wenn sie das
ner Tochter zusammenleben, aber nur für kurze                                  Mädchen erblickten, um nicht mit ihr gesehen zu
Zeit. Er protestierte 1949 als Vorsitzender der jüdi-                          werden. Auch in der Zeitung wurde über ihn ge­
schen Gemeinde beim Chef der kommunistischen                                   schrieben: „Ich habe mir damals als 6-Jährige über-
Partei, weil in Kosice einige der sechs Synagogen                              legt, soll ich stolz sein oder ist es etwas Schlimmes?“
nach und nach beschlagnahmt wurden. Kurz darauf                                13 Monate saß er in Einzelhaft und wurde gefoltert,
wurde er verhaftet. Er wurde während einer Ge-                                 um ein Geständnis zu erzwingen. Er verlor auch das
schäfts­reise festgenommen und kam einfach nicht                               Erziehungsrecht.
mehr nach Hause. Und wieder war es das Kinder-
mädchen Elisabeth, die sich alleine um Marianna                                   Erst nach 3 Jahren gab es einen öffentlichen Pro-
kümmerte.                                                                      zess, bei dem Zeugen gezwungen wurden, gegen
                                                                               ihn auszusagen. Einer der Hauptzeugen hat auf Auf-
   Marianna war damals 6 Jahre alt. „Ich kann mich                             forderung ihres Vaters zugegeben, ihn nie getroffen
nur erinnern, dass plötzlich sehr viele Männer mit                             zu haben, und seine Aussage zurückgezogen. Es gab
Hüten da waren und Geld gezählt haben, das sie aus                             keine Beweise und er hat kein Geständnis unter-
der Fabrik meines Vaters geholt haben. Ich wusste                              schrieben, so wurde er freigelassen.

Auf dem Foto, vermutlich aus dem Jahr 1925, sind
Ivan Bergidas Großmutter Rezi und Großvater Michael
Leopold Bergida vorne links zu sehen, sein Vater
David hinten rechts im Kreise seiner Geschwister.
                                              © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
                                  ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                                                               18

   Aber er durfte nicht nach Hause, sondern musste                            geschlagen und gewählt. Marianna fand die Situation
in Prag bleiben. Nach einem Jahr wurde ihr Vater                              so witzig, dass sie die Wahl annahm und das Amt
erneut verhaftet, für weitere 2 Jahre. Er musste in                           ein Jahr auch ausgeübt hat.
einem Uranbergwerk in Joachimstal arbeiten. „Er
war insgesamt 6 Jahre weg und 5 Jahre davon im                                   Zu Hause wurde über die schlimme Zeit nicht
Gefängnis“, erzählt Marianna.                                                 geredet. „Nie, kein Wort. Das Schlimmste war, er hat
                                                                              nie über seine Familie gesprochen. Und ich habe nicht
   Als er endlich nach Hause durfte, war seine Toch-                          gefragt. Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter
ter bereits fast 13 Jahre alt. Mit ihm kamen auch                             war. Und das ist wirklich traurig“, sagt Marianna.
wieder Teppiche und Porzellan zurück in die Woh-                              Ihr Vater betrieb dann seine legale Ausreise. Die
nung. Um sein Heim musste er aber kämpfen, denn                               Genehmigung bekam er 1965 auch deshalb, weil er
die einquartierten Bewohner wollten nicht weichen                             rehabilitiert wurde und ihm eigentlich vom Staat eine
und warfen ihm Undankbarkeit vor, weil sie der                                Entschädigung für 5 Jahre Haft zugestanden wäre.
Tochter und dem Kindermädchen immerhin ein                                    „Er wollte kein Geld, sondern lieber seinen Pass. So
Zimmer überlassen hätten.                                                     kam er raus.“

   Um das Sorgerecht wiederzubekommen, musste                                    Als Mariannas Vater in Deutschland ankam, war er
er ebenfalls vor Gericht kämpfen. Als Marianna dort                           schon 63 Jahre alt. Der ehemalige Fabrikbesitzer war
gefragt wurde, ob er sich immer um sie gekümmert                              gezwungen, sich um Jobs zu bewerben. Weil er als
habe, habe sie geantwortet: „Natürlich!“ Da habe der                          Chemiker in einer Firma ein Problem lösen konnte,
Vater zu weinen begonnen. „Denn er hat sich ja nicht                          an dem andere vorher gescheitert waren, bekam er
kümmern können.“                                                              die Stelle und blieb in Düsseldorf. Die junge Familie
                                                                              wollte auch auswandern, aber es war nicht möglich.
   Marianna wurde später ein Studienplatz ver-                                „Mein Vater meinte, er könnte uns über Jugoslawien
wehrt, weil ihr Vater politischer Häftling gewesen ist.                       rausholen. Ich wollte das nicht, denn ich hatte zu der
Als diese Entscheidung in der Schule vor dem Abitur                           Zeit schon ein Kind und wollte kein Risiko eingehen“,
getroffen wurde, war Ivan anwesend, denn er war                               berichtet Marianna.
zu dieser Zeit Vorsitzender der kommunistischen
Jugend. „Aber ich hatte nichts zu sagen und nichts                                Als der damalige Generalsekretär der kommunis-
zu entscheiden dabei.“                                                        tischen Partei, Alexander Dubcek, im Frühjahr 1968
                                                                              begann, seinen „Sozialismus mit menschlichem Ant-
    Aber gleich nach der Sitzung sei er zu ihr gekom-                         litz“ umzusetzen, gab es für kurze Zeit die Möglich-
men und habe sie informiert, erzählt Marianna. Auch                           keit der legalen Auswanderung. Ivan, der Elektroniker
ihre Klassenlehrerin habe diese Entscheidung bedau-                           war, durfte im Frühsommer 1968 Mariannas Vater
ert und ihr geraten, dass sie zu einem neu gegründe-                          besuchen und bewarb sich bei der Gelegenheit bei
ten pädagogischen Institut gehen solle, wo Bewerber                           IBM. Es wurde ihm eine Stelle angeboten, wenn er bis
willkommen waren. Dort wurde sie aufgenommen                                  Jahresende mit Familie auswandern könne. Marianna
und ist von den anderen Studierenden sogar zur Vor-                           fragte in Kosice einen Nachbarn, der Beziehungen zur
sitzenden der kommunistischen Jugendorganisation                              kommunistischen Partei und Behörden hatte, ob er
vorgeschlagen worden. „Als der Professor das gehört                           ihnen behilflich sei, legal auszuwandern. Als Gegen-
hat, ist er blass geworden, so weiß wie sein Sakko.“                          leistung bekäme er Haus und Garten.
Denn sie war als „schlechter Kader“ eingetragen. Die
Wahl wurde verschoben. Aber auch bei der späteren                               Schließlich wurde der dreiköpfigen Familie in
Wiederholung haben die Kommilitonen sie erneut vor­                           Aussicht gestellt, im Laufe des Jahres auswandern zu

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                                           ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

19                                                                                  Marianna und Ivan Bergida

dürfen. Aber am 21. August 1968 marschierten die                                in einer Grund- und Hauptschule zu arbeiten begon-
Truppen des Warschauer Pakts ein und russische                                  nen hat.
Panzer walzten die Hoffnungen des „Prager Früh-
lings“ und die Pläne der jungen Familie nieder.                                    Aus dieser Zeit erinnert sie sich auch an eine Epi-
                                                                                sode: In ihrem ersten Jahr habe sie mit der Klasse
    Der Nachbar musste sich dann auch verstecken                                eine Weihnachtsfeier vorbereitet. Die Lieder für das
und gab ihnen vorher noch den Rat, sie sollten so                               christliche Weihnachtsfest kannte Marianna alle auf
schnell wie möglich ausreisen. Sein Gewährsmann                                 Deutsch, weil ihr Kindermädchen Elisabeth sie jedes
teilte ihnen mit, noch gelte die Rechtslage aus der                             Jahr zu Weihnachten mit ihr gesungen habe. Als sich
Dubcek-Zeit, aber eine legale Auswanderung erfor-                               ein Vater bei ihr für die schöne Feier bedankt habe
dere ein langes Procedere. Er könne ihnen lediglich                             mit der Bemerkung, man sehe daran, dass sie damit
eine Genehmigung für drei Tage für eine Besuchs­                                aufgewachsen sei, da habe sie vor allen Leuten
reise nach Wien erteilen. Aber sie konnten nicht                                gesagt: „Nicht wirklich, ich bin Jüdin.“
sofort fahren, denn Marianna hatte just an diesem
Tag eine Mandeloperation.                                                          Am Ende des Schuljahres habe sie dann von den
                                                                                Schülern eine Menora, einen siebenarmigen Leuchter,
   Aber am 2. September 1968 war es so weit. Nach                               geschenkt bekommen. „In der Slowakei gab es
drei Tagen in Wien hatte Mariannas Vater alles so                               offenen Antisemitismus. Hier habe ich zu keiner Zeit
weit geregelt, dass seine Tochter, der Schwiegersohn                            schlechte Erfahrungen als Jüdin gemacht. Auch
und sein 2-jähriger Enkel Robert nach Deutschland                               unsere Kinder nicht, obwohl es in unserer Umgebung
kommen konnten.                                                                 bekannt ist, dass wir Juden sind.“ Ivan fügt hinzu:
                                                                                „Wir haben uns als Juden in Deutschland von Anfang
   „Wir wollten raus, aber auf keinen Fall in Deutsch-                          an viel freier gefühlt als je in der Tschechoslowakei.“
land bleiben. Es sollte nur eine Zwischenstation sein
auf dem Weg nach Kanada“, erinnert sich Marianna.                                  Er schränkt allerdings ein, dass es sehr wohl einen
Ivan ergänzt: „Aber dann lief alles so glatt und gut,                           Vorfall gegeben habe. Mariannas Vater sei 1980
dass der Drive wegzugehen und noch einmal durch-                                gestorben, 10 Jahre später sei der jüdische Fried-
zustarten nicht mehr da war“, sagt Ivan.                                        hof in Stuttgart geschändet worden. „Wir sahen am
                                                                                Morgen ein Foto von seinem Grab in der Zeitung: Mit
   In der Personalabteilung bei IBM in Sindelfingen                             Hakenkreuzen beschmiert und teilweise zerstört.“
habe man ihnen nicht nur eine Firmenwohnung                                     Die Täter waren Jugendliche, die schnell ermittelt
zugeteilt, sondern auch gleich einen Gehaltsvor-                                wurden. In der Stadt gab es einen Protestmarsch
schuss gegeben. Ein Mitarbeiter der Personalabtei-                              und es war für die beiden beeindruckend, wie sich
lung fuhr mit Ivan zum nächstgelegenen Kaufhaus,                                spontan zahlreiche Menschen daran beteiligt haben.
um Bettwäsche und Lebensmittel für die erste Zeit
zu kaufen. „So haben wir angefangen und so wurden                                   „In den Kreisen, in denen wir uns bewegen, erle-
wir aufgenommen.“                                                               ben wir den Antisemitismus nicht, woanders gibt es
                                                                                ihn aber sehr wohl“, sagt Ivan. Dass sie ihren Eltern
   1970 kam noch Tochter Ruth auf die Welt. Aus einer                           nicht mehr Fragen gestellt haben, tut beiden heute
Zwischenstation wurden 40 Jahre in Sindelfingen.                                leid. „Wenn ich meinen Vater fragen wollte, dann hat
„Gleich von Anfang an haben wir lauter nette Leute                              sich sein Gesicht so verdunkelt und ich habe gedacht,
getroffen. Wir haben mehr Freunde gehabt, als wir in                            dass ich ihm damit weh tue. Das wollte ich ihm nicht
der Tschechoslowakei hatten“, erzählt Marianna, die                             antun“, erklärt Marianna. Ivan hat 1968 seine Eltern in
nach 6 Jahren Aufenthalt in Deutschland als Lehrerin                            der Tschechoslowakei zurückgelassen, davor wurde

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Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder

Unfassbare Wunder                                                                                              20

so gut wie nicht über die Zeit während des National-
sozialismus gesprochen. „Aber es hat unseren Alltag
nicht bestimmt. Ich bin ganz normal aufgewachsen,
mit allen Freiheiten, die ich brauchte, und dafür bin
ich meinen Eltern noch heute dankbar.“

    Marianna hat dann später rund 70 Interviews für
die „Shoah-Foundation“ gemacht. Regisseur Steven
Spielberg hat nach seinem 1993 erschienenen Film
„Schindlers Liste“ ein Projekt initiiert, damit die Erleb-
nisse der Zeitzeugen auf Videos aufgezeichnet und
vor dem Vergessen bewahrt werden. Damals habe
sie sehr lange gezögert mitzuarbeiten und sich selbst
der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu stel-
len. „Das ist ein großes, schwarzes Irgendetwas, an
dem will man nicht rühren. Ich habe mir gedacht, das
ist psychisch für mich zu schwierig.“ Schließlich habe
sie sich doch überwunden, weil sie gedacht habe,
mehr über die eigene Familie zu erfahren und die
Schicksale der Opfer für deren Nachkommen zu
bewahren.

   Aber es habe lange gedauert, ehe sie sich getraut
habe, ein Interview mit Auschwitz-Bezug zu führen,
sagt Marianna. Es war also auch eine Konfrontation
mit ihrer eigenen Geschichte? „Ja, und das war
schließlich sehr gut für mich.“

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 Unfassbare Wunder                                                                       22

„Der Antisemitismus
  hatte und hat in
  Österreich Tradition.
  Damit verbunden
  ist Deutschtümelei und
  Nationalsozialismus.“

 Hugo Brainin wurde 1924 in Wien geboren, wo er
 mit seiner Frau Lotte lebt. Sie hat die Konzen-
 tra­tionslager Auschwitz und Ravensbrück überlebt,
 er überstand die Nazizeit in Großbritannien.
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    Antisemitismus bekam Hugo Brainin schon lange                                Straße geworfen werde. Als dann von der Straße die
vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu                               Rufe „Heil, Heil, Heil!“ und „Ein Volk, ein Reich, ein
spüren. „Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich                            Führer“ heraufschallten, habe der Hausmeister plötz-
oft genug: ‚Saujud, geh nach Palästina!‘ “                                       lich den Arm zum Hitlergruß gehoben und mitge-
                                                                                 schrien. „Das muss man sich bildlich vorstellen: bei
    Aber ernst wurde es für ihn und seine Verwandten                             zugemachtem Fenster! Das war ein Sozialdemokrat.
erst, als der damalige österreichische Bundeskanzler                             Für mich war das ein Schlüsselerlebnis. Der psychi-
Kurt Schuschnigg am Abend des 11. März 1938                                      sche Druck war so stark, dass es ihn mitgerissen hat.
zurücktrat mit den Worten: „Gott schütze Öster-                                  Da hab ich gesehen, wie man sich hüten muss vor
reich.“ Die berühmte Rede und danach den Satz aus                                den Massen. Wo man hingeschaut hat, waren Nazis.“
dem Haydn-Streichquartett, zu dessen Melodie noch
in der Ersten Republik die Bundeshymne gesungen                                     Ein „echter Nazi“ habe jedoch Verwandten, Leo
wurde, hörten der damals 13-Jährige und sein ein                                 Brainin und seiner Frau das Leben gerettet. „Leo war
Jahr älterer Bruder Norbert in der Wohnung einer                                 nicht nur Jude, sondern auch Kommunist“, erinnert
Tante in der Glockengasse in Wien. „Als wir dann zu                              sich Brainin. Der Nazi habe in Uniform die Heraus­
Fuß nach Haus gingen, konnte man überall das Klin-                               gabe „meiner Juden“ beansprucht, als seine Nach-
gen der zerberstenden Glasscheiben hören. Schon                                  barn im Wiener Bezirk Floridsdorf verhaftet worden
damals gab es eingeschlagene Auslagen, die Polizis-                              waren. Er ermöglichte ihnen so die Flucht. „Aber das
ten sind alle schon mit Hakenkreuzschleifen am lin-                              war ein Einzelfall“, sagt Brainin.
ken Arm unterwegs gewesen. Das ging alles unglaub-
lich schnell. Wir haben die Deutschen gar nicht                                     Zu einer regelrechten Massenhysterie wurde die
gebraucht, bei uns gab es genug Nazis.“                                          so genannte Reichspogromnacht. So wie jeden Tag
                                                                                 seit dem Tod ihrer Mutter im Jänner 1938 waren die
    Hunderttausende jubelten Adolf Hitler auf dem                                beiden Brüder dem jüdischen Brauch folgend auch
Heldenplatz zu, als er am 15. März 1938 auf dem Bal-                             am 9. November in den Tempel in der Pazmaniten-
kon der Hofburg in Wien „den Eintritt meiner Heimat                              gasse gegangen, um Kaddisch zu beten. „Plötzlich
in das Deutsche Reich“ verkündete. „Es war nicht so,                             hörten wir Lärm, die Tür wurde eingeschlagen.
dass der Hitler einmarschiert ist. Die Machtergrei-                              Männer und Jugendliche stürmten herein, mein
fung durch die Nazis ist von Österreich aus erfolgt“,                            Bruder und ich liefen hinten bei der Tür hinaus. Es
kommentiert Brainin.                                                             war ein völlig enthemmter Mob, die Horden haben
                                                                                 das Gebäude angezündet. Buben, nicht älter als wir
    Kurze Zeit später, am 4. April, kam Hitler erneut in                         selbst, sind mit Stöcken bewaffnet, alten Männern
die Stadt. Die Route, auf der er im offenen Mercedes                             mit weißen Bärten nachgelaufen und haben auf sie
fuhr, sollte an ihrem Haus vorbei führen. An eine Epi-                           eingeschlagen. Wir sind so schnell gelaufen, wie wir
sode an diesem Tag erinnert sich Hugo noch heute                                 konnten.“ Die beiden kamen unbeschadet an.
bis ins kleinste Detail. Der Hausbesorger wollte sich
eine bessere Sichtposition auf den Führer verschaf-                                 Das Zuhause von Hugo und Norbert war damals
fen und läutete bei der Familie. Kurze Zeit später be-                           bei ihrer Tante Dora in der Wiener Nordbahnstraße,
gehrten zwei Männer in schwarzer Uniform eben-                                   wo sie seit dem Tod ihrer Mutter lebten. Der Vater
falls Einlass, „meine ersten zwei SSler, erinnert sich                           war gestorben, als Hugo Brainin 6 Jahre alt war. Er
Brainin daran und an ihre Frage: „Ist das eine Juden-                            stammt aus einer weit verzweigten Familie russischer
wohnung?“ Der Hausmeister versicherte den Män-                                   Juden, unter ihnen der bekannte Autor Boris Brainin.
nern, dass er persönlich dafür sorgen werde, dass                                Ein Teil der Familie kam Anfang des vorigen Jahrhun-
die Fenster geschlossen blieben und nichts auf die                               derts nach Wien, sie lebten vom Fellhandel und Pelz­

Auf dem Foto auf dem Jahr 1928 sind zu sehen
(von links): Hugos Vater Adolf, Großonkel
Reuben, Onkel Salomon und Onkel Leo. Vorne
sein älterer Bruder Norbert und Hugo Brainin.
                                                © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien
                                    ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
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