Unfassbare Wunder Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller ...
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Unfassbare Gespräche mit Holocaust- Überlebenden in Deutschland, Wunder Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Widmung Für Ari Rath, der 1938 Österreich verlassen musste und 14 Jahre lang Chefredakteur der „Jerusalem Post“ war © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Gespräche mit Holocaust- Überlebenden in Deutschland, Wunder Österreich und Israel Alexandra Föderl-Schmid Konrad Rufus Müller Böhlau Verlag Wien Köln Weimar © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Danksagung Für die Vermittlung von Gesprächen möchten wir besonders Hella Goldfein und Josi Girsch sowie Johannes Strasser danken. Alexandra Föderl-Schmid Ich bedanke mich für tatkräftige Hilfe bei meinen Freunden Carmen, Lars, Jasmin, Thomas und Hannes. Konrad Rufus Müller © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 5 Inhaltsverzeichnis Gespräch mit Heribert Prantl 6 M. und I. Bergida 12 Amnon Berthold Klein 96 Hugo Brainin 22 Viktor Klein 104 Arik Brauer 30 Charlotte Knobloch 112 Giselle Cycowicz 38 Daisy Koeb 118 Gideon Eckhaus 46 Harry Merl 124 Marko Feingold 52 Rachel Oschitzki 132 Helga Feldner-Busztin 58 Manfred Rosenbaum 138 Mosche Frumin 64 Liese Scheiderbauer 146 Rudolf Gelbard 70 Horst Selbiger 154 Rosa Girsch 76 Otto Stark 162 Sidonie Goldstein 82 Eva Umlauf 170 Roman Haller 88 Malwina Braun 178 © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 6 „Ein politisches Testament, eine aufrüttelnde Botschaft an die Gesellschaft.“ Heribert Prantl im Gespräch mit Alexandra Föderl-Schmid und Konrad Rufus Müller © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 7 Gespräch mit Heribert Prantl Prantl: Sie haben 25 Überlebende porträtiert, der eine Holocaust-Überlebende gelesen hatte, habe ich Jüngste ist 74, der Älteste 105 Jahre alt. Darunter ist ihr geschrieben und sie gefragt: „Warum machen wir auch Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israeli- nicht ein Buch zusammen?“ Sie hat sofort zugesagt. tischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Prantl: Was ich spannend und erschütternd finde, Besonders beeindruckt hat mich ein Satz von ihr: ist diese umfassende Skepsis, die alle Porträtierten dass sie nicht weiß, ob es in 10 Jahren noch jüdisches äußern. Kurz vor unserem Gespräch habe ich bei Leben gibt in Deutschland. Ich habe Charlotte Knob- einer Veranstaltung Frau Knobloch gefragt: „Nehmen loch immer als sehr zuversichtlich erlebt, was das wir an, sie wären bayerische Innenministerin: Was Miteinander der Religionen betrifft. Ihr Pessimis- würden sie machen in Bezug auf die AfD?“ Ihre Ant- mus überrascht mich. Zieht er sich durch bei den wort war: „Verbieten!“ Mir scheint, dieser Wunsch, Porträtierten? etwas zu tun, ist sehr ausgeprägt. Ist das bei den Föderl-Schmid: Ja, fast alle blicken pessimistisch anderen Ihrer Gesprächspartner auch so zum Aus- in die Zukunft. Das Spannende an diesem Projekt druck gekommen? war, dass wir Menschen in Deutschland, Österreich Müller: Es gab manche, die gesagt haben: Wir und Israel getroffen haben mit vielen gemeinsamen sind ja nicht mehr die zukünftigen Opfer. Wir sind Erfahrungen während der Nazizeit. Das hat ihren zu wenige. Blick auf Ereignisse in der Gegenwart geschärft. Sie Föderl-Schmid: Es sind im Moment stärker andere haben unterschiedliche Perspektiven, abhängig von Gruppen im Visier. Aber diese Angst, dass so etwas dem Land, in dem sie leben. Aber alle registrieren oder so etwas Ähnliches wieder passiert, ist bei allen sehr genau, worüber berichtet wird: immer mehr da. Und es gibt diesen starken Wunsch, diese Entwick- antisemitische Vorfälle in Deutschland und die Regie- lung stoppen zu können. Etwas, was manche damals rungsbeteiligung der FPÖ in Österreich. Das löst bei versäumt haben, die gedacht haben: Uns kann nichts den Überlebenden der Shoah vieles aus. passieren. Der Vater ist für den Fronteinsatz im Ersten Müller: Ich habe mich mein ganzes Leben für die- Weltkrieg ausgezeichnet worden, wir werden ver- ses Thema interessiert. Ich komme aus einem katho- schont. Das war dann nicht so. Weil viele damals die lischen Elternhaus mit starken Bezügen zu jüdischen Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, haben Überle- Freunden meiner Eltern. Mein Vater war Geschäfts- bende jetzt das Gefühl, sie müssen etwas machen: führer in einem Tuchladen in Berlin, die Kunden aufschreien, eingreifen, aufmerksam machen. waren fast alle Nazis. Der Eigentümer ist dann Ende Prantl: Antirassismus ist nicht etwas völlig Neues. der Dreißigerjahre emigriert und die Nazis haben Wir hatten das Attentat auf die israelische Mann- dann meinem Vater das Geschäft angeboten und er schaft bei den Olympischen Spielen in München hat das abgelehnt. Das werde ich ihm nie vergessen. 1972, es gab das Attentat auf den jüdischen Verleger Der Religionslehrer meiner Mutter war Clemens Shlomo Lewin in Erlangen 1980. Es gab schon vor August Graf von Galen. Jahrzehnten Angriffe auf Juden, bevor noch Migran- Prantl: Bevor er der „Löwe von Münster“, der gro- ten attackiert wurden. Ist das Gefühl der Bedrohung ße Bischof und Kardinal geworden ist, der öffentlich noch gestiegen? gegen die von den Nazis so genannte „Vernichtung Föderl-Schmid: Ja. Weil viele nun eine Bedrohung unwerten Lebens“ aufgetreten ist. von zwei Seiten sehen: Es gibt den Antisemitismus, Müller: Meine früheste Erfahrung, was die Juden- der immer schon da war. In Österreich ist dieser vernichtung angeht, war, dass mir mein Vater ein Buch braune Bodensatz noch viel stärker vorhanden. geschenkt hat, das 1947 erschienen ist: „Der SS-Staat“. Und jetzt kommt ihrer Wahrnehmung nach durch Da war ich 8 Jahre alt. Mich hatten auch Berliner den verstärkten Zuzug noch der Antisemitismus von Jesuiten sehr früh in diese unglaubliche Geschichte Muslimen dazu. Einer hat es so formuliert: Das führt eingeweiht. Als ich ein Porträt von Alexandra über zu einer Gemengelage, aus der eine neue Art von © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 8 Holocaust entstehen kann. Der Historiker Timothy Föderl-Schmid: Ja, genau. Aber einer, der jetzt in Snyder vertritt diese These auch in seinem Buch Israel lebt, hat folgende Worte regelrecht geschrien: „Black Earth“. Es gibt keine Wiedergutmachung! Das kann es gar Prantl: Es gibt die ganz furchtbaren Äußerungen nicht geben für sechs Millionen Ermordete! von Alexander Gauland von der AfD, der sagt, der Prantl: Wiedergutmachung ist ein komisches Wort. Holocaust sei „nur ein Vogelschiss“ in der langen Müller: Und einer hat gesagt: Niemals vergeben! deutschen Geschichte. Ich habe mich gefragt: Ist das Föderl-Schmid: Deshalb bereitet vielen die AfD etwas Neues? Dann ist mir ein Satz von Franz Josef oder FPÖ Sorgen: Denn das ist die heutige Generati- Strauß aus den Sechzigerjahren eingefallen. Er hat on, nicht die damaligen Täter. Wie Frau Knobloch gesagt, ein Volk, das solche Leistungen beim deut- sagt: Im Parteiprogramm stehen Passagen, die jüdi- schen Wiederaufbau gezeigt habe, habe ein Recht, sches Leben in Deutschland bedrohen. von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen. Diese Prantl: Früher gab es in Deutschland auch schon Flucht vor der Vergangenheit, aber gleichzeitig auch die so genannten Republikaner, die NPD und die DVU. die Wattierung der Vergangenheit hat die Nach- Föderl-Schmid: Aber die waren keine relevante kriegszeit begleitet. Größe im Vergleich zur AfD. Und die FPÖ ist in Öster- Müller: Herr Strauß war offiziell nie im KZ Dachau. reich in der Regierung. Der erste Ministerpräsident, der dort war, war Prantl: Die deutschen Innenminister hatten den Edmund Stoiber. Das liegt direkt vor der Haustür. Versuch betrieben, vom Bundesverfassungsgericht Gibt es dafür eine Erklärung? die NPD verbieten zu lassen. Bei der NPD hat man Prantl: Ich glaube schon, dass es das Bestreben gesagt, wegen des grassierenden Antisemitismus in war, das umzusetzen, was Franz Josef Strauß gesagt ihrem Programm müsste man sie eigentlich verbie- hat: Es darf rechts von der CSU keine demokratisch ten, aber sie habe nicht die nötige Potenzialität. So legitimierte Partei geben. Dieses Spiel mit dem Anti- fragt man sich jetzt, und da verstehe ich den Zorn semitismus gehört, so glaube ich, schon mit dazu. von Charlotte Knobloch und anderen, warum Beim Olympiaattentat hat Strauß stets die Einzeltä- geschieht jetzt nichts? Die AfD hat die Potenzialität, tertheorie vertreten. Wenn es ein Attentat gab wie sie sitzt inzwischen in allen 16 Landtagen. beim Oktoberfest und die Kundigen auf die Wehr- Föderl-Schmid: Und die AfD hat auch eine öffent- sportgruppe Hoffmann verwiesen, eine neonazisti- liche Bühne. Es passieren ständig Tabubrüche nach sche paramilitärische Vereinigung, die erst 1980 ver- dem Motto: Man wird doch noch einmal etwas sagen boten wurde, haben die bayerischen Sicherheitsbe- dürfen – etwa das mit dem Vogelschiss. hörden gesagt: Einzeltäter! Dann gab es, Jahrzehnte Müller: Gauland hat in dem Satz mit dem Vogel- später, die neonazistische Terrorbande NSU, Natio- schiss noch dazu von der „tausendjährigen Geschich- nalsozialistischer Untergrund: zehn Morde, zwei te“ gesprochen. Das fand ich besonders perfide. Bombenanschläge, zahlreiche Raubüberfälle. Wieder Prantl: Betrachten wir die Jahrzehnte der so gingen die Ermittler jahrelang von Einzeltätern aus, genannten Vergangenheitsbewältigung, schauen wir der fremdenfeindliche Hintergrund der Taten wurde auf die Auschwitz-Prozesse, die von Generalstaats- nicht ins Kalkül gezogen. Trotz alledem wurde vonsei- anwalt Fritz Bauer betrieben wurden. Er war Jude ten nichtjüdischer Deutscher immer ziemlich stolz auf und bei mir hat ein Satz von ihm immer Gänsehaut die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit ver- ausgelöst: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, wiesen. Wie beurteilen die von Ihnen Befragten das? bin ich in Feindesland.“ Bauer hat die Auschwitz-Pro- Müller: Sie machen zumindest Unterschiede in zesse als pädagogischen Prozess bezeichnet und die der Aufarbeitung zwischen Österreich und Deutsch- Pläne von Auschwitz an die Wand des Gerichtssaals land aus. gehängt. Es war ein Einschnitt in der deutschen Prantl: Also, Deutschland war besser? Nachkriegsgeschichte. Und es gab den Kniefall Willy © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 9 Gespräch mit Heribert Prantl Brandts vor dem Ghettomahnmal in Warschau. Und jüdisch sind, sie haben keine negativen Erfahrungen. es gab das Verjährungsaufhebungsgesetz und schließ- Sie fühlen sich total wohl hier. lich das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Es gab auch Prantl: Das hört man auch von jungen Israelis, die den Film „Schindlers Liste“ mit einer gewissen Popu- gerne in Berlin sind. Es gibt aber auch den manifesten larisierung der so genannten Vergangenheitsbewäl Antisemitismus dort, der Juden auf der Straße atta- tigung. Es gab also schon wichtige Etappen. Aber die ckiert. Trotz dieser massiven Übergriffe scheint die Befragten haben das Gefühl, das sei oberflächlich? Hauptstadt des Täterlandes ein attraktives Ziel zu sein. Föderl-Schmid: Es wird schon konzediert, dass Föderl-Schmid: Viele Israelis interessieren sich von offizieller Seite etwas getan wurde. Auch dass nicht mehr so sehr für diese Geschichte, sie sind vor zumindest Deutschland finanziell viel geleistet hat. allem an billigem Wohnraum und an Jobmöglichkei- Aber viele Juden, die in Deutschland leben, haben ten interessiert. Großeltern, die zurückbleiben, dennoch Schwierigkeiten, sich als Deutsche zu haben aber Schwierigkeiten damit, wenn ihre Enkel bezeichnen. Einer sagte: Ich habe kein Problem, mich nach Deutschland ziehen. als Bayer oder Münchner zu bezeichnen. Diesen Prantl: Mit welchem Blick schauen die Überle- Zwiespalt erleben auch Juden, die in Israel leben. benden auf Deutschland und Österreich, wenn dort Einer hat gesagt: Ich habe Freunde in Deutschland, Aufklärung, Antirassismus und Minderheitenschutz fahre hierher auf Urlaub, aber ich habe trotzdem immer mehr gefährdet sind? noch immer ein ungutes Gefühl dabei und ein Föderl-Schmid: Manche reden sich diese Entwick schlechtes Gewissen. lungen schön, nach dem Motto: Jetzt hab ich endlich Prantl: Diejenigen, die geblieben sind wie Charlotte Frieden geschlossen. Knobloch, müssen sich ja häufig von denen, die nach Müller: Manche sagen, es ist doch nicht so Israel gingen, mit bitterer Kritik fragen lassen: Warum schlimm. Und die Landschaft ist schön. seid ihr eigentlich geblieben im Land der Täter? Föderl-Schmid: Andere befürchten das Schlimmste Föderl-Schmid: Wir haben auch welche getroffen, und sagen: Bin ich froh, dass ich nicht mehr mitbe- die hier nicht einmal Wurzeln hatten, sondern aus der komme, wie sich das weiterentwickelt, etwa nach Slowakei gekommen und auf der Durchreise nach der Regierungsbeteiligung der FPÖ. Amerika in Deutschland hängen geblieben sind. Von Prantl: In Europa wird der radikale Populismus denen kam oft der Satz: Wir wollten nicht bleiben. immer stärker, nicht nur wenn man nach Ungarn, Und sie fühlen diesen Rechtfertigungsdruck noch Polen und Italien blickt. Auch in Israel gibt es mit stärker, denn sie sind ja erst nach der Shoah nach Benjamin Netanjahu jemanden, der schon länger Deutschland gekommen. eine rechtspopulistische Regierung führt. Wie sehen Prantl: Charlotte Knobloch erzählt, sie habe stets die Überlebenden diese Entwicklung? einen gepackten Koffer in ihrer Wohnung gehabt. Föderl-Schmid: Sehr kritisch. Sowohl in ihrem Erst als in München das Jüdische Zentrum eröffnet eigenen Land, das ist Israel, als auch in jenen Staaten, worden ist, das wie ein architektonisches Wunder aus denen sie kommen. Alle sind politisch höchst dasteht, habe sie sich entschlossen, den Koffer aus- interessiert und informiert. Und besorgt. Das ist auch zupacken. Sie habe nun das Gefühl gehabt, sie kön- Ari Rath so gegangen, dem langjährigen Chefredak- ne hierbleiben. Was ist eigentlich für die Überleben- teur der „Jerusalem Post“, der mit 13 Jahren Wien den Heimat? verlassen musste und seine letzten Lebensjahre Müller: Es gibt ein Ehepaar, das 4 Jahre jünger wieder in Österreich verbracht hat. Er war besorgt ist als ich und aus der Slowakei nach Deutschland über die Entwicklungen in beiden Ländern. Ihm gekommen ist. Beide haben mir den Eindruck vermit- haben wir übrigens das Buch gewidmet. telt, dass sie sehr gerne in München leben. Ihre Müller: Viele in Israel sind auch entsetzlich einsam. Nachbarn haben sie nie spüren lassen, dass sie Prantl: Ignatz Bubis, der langjährige Vorsitzende © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 10 des Zentralrats der Juden in Deutschland, war am schauen, brauche ich nicht zu beschreiben, denn das Ende seines Lebens erstaunlich pessimistisch. Ich bin bringt Konrad mit seinen Bildern viel besser zum Aus- damals auch erschrocken. Charlotte Knobloch hat druck. Es sind so starke, eindringliche Bilder! mir erzählt, sie habe ihn in seinen letzten Lebens Prantl: Sie beschäftigen sich schon länger mit tagen angerufen und ihm gesagt: „Ignatz, du bist dem Holocaust. Hat die Arbeit an dem Buch Ihren doch so erstaunlich erfolgreich gewesen.“ Aber er Blick noch einmal verändert? wollte das nicht mehr spüren. Jetzt scheint Knobloch Müller: Das hat das Ganze potenziert. All das, was ähnlich düster gestimmt zu sein. Sieht man diese ich theoretisch wusste, habe ich haptisch erfahren Düsternis in den Porträts? können. Ich finde es ganz großartig, dass Alexandra Müller: Die Einsamkeit und die Trauer sind ganz das den Leuten überlässt, sich in meine Bilder zu ver- signifikant, das sieht man auch an meinen Bildern. tiefen. Sie hat mir nichts weggenommen und nicht Selbst bei jemandem, der Chef eines Kabaretts war, versucht zu erklären, wie diese Leute aussehen. Es ist erkennt man diese unendliche Traurigkeit. eine Form von Zurückgenommenheit. Prantl: Als jemand, der in den Gesichtern liest: Föderl-Schmid: Für mich geht es darum, diesen Sieht man die Trauer in den Gesichtern? Menschen auf die bestmögliche Art gerecht zu Müller: Ja, ich bin ein Hautfotograf. Der Mensch werden, die uns ihre persönliche Geschichte anver- hat mindestens zwei Möglichkeiten der expressiven traut haben und ihre Einschätzungen. Wir durften Ansprache: sein Gesicht und seine Hände. Schmerz, ihnen sehr nahe kommen. Bild und Text sind auf der Trauer, Freude. Das vermittelt er mit seinem Gesicht. gleichen Ebene. Was die Hände der von mir Portraitierten erlitten Prantl: Der Journalist ist eigentlich tendenziell haben, muss ich nicht beschreiben. Das alles wird eitel. Insofern ist es schon etwas Besonderes, was sehr real, wenn man diesen Menschen begegnet und Müller sagt – wenn man den Fotokünstler einfach sie in den Arm nehmen darf. machen lässt, nicht ins Bild eingreift und nicht seine Prantl: Wenn Überlebende erzählen, was sie in eigenen Journalisten-Worte nimmt, um zu beschrei- der Reichspogromnacht gemacht haben, wie sie an ben, was da fotografiert wurde. der Hand des Vaters durch München gelaufen sind – Müller: Ich finde, das Höchste, was man erzielen ich kriege dann eine gewisse Scheu, ich mag dann kann, ist, dass man etwas zustande bringt, was nicht mehr weiter bohrend neugierig nachfragen. gleichwertig ist. Mir hätte man ohnehin nicht zuge- Weil es so existenziell ist, weil so viel Schmerz damit traut, dass ich so ein Buch mache. Ich werde oft ver- verbunden ist. Gibt es diese Scheu auch bei Ihnen? schrien als der Diener der Macht, der Hinkriecher. Müller: Ich wahre hochachtungsvolle Distanz, ob Für mich schließt sich der Kreis vom Buch von Eugen wohl die Nähe da ist. Als mich Francois Mitterrand Kogon, das ich 1948 zu lesen bekommen habe, bis zu gefragt hat, was ich von ihm möchte, habe ich gesagt: diesem Buch 2018. Es wird vermutlich kein weiteres „Ich möchte Ihnen nahe sein, ohne indiskret zu sein.“ Buch mehr kommen für mich. Oder hast du das Gefühl, dass die Bilder, die mache, Föderl-Schmid: Was zwischen uns beiden ein indiskret sind? Unterschied war: Ich kenne einige Menschen, die Föderl-Schmid: Nein. Ich muss mich auch manch- die Shoah erlebt haben, schon länger und näher. mal überwinden, nachzufragen. Vor allem, wenn ich Und für dich war es eine neue Erfahrung. Du hast zum merke, es tut dem anderen weh, darüber zu sprechen. Beispiel noch nie eine Auschwitz-Nummer gesehen. Und ich erlebe das Gespräch noch einmal, wenn ich Müller: Es war eine unmittelbare Erfahrung, auch es abtippe, und noch einmal, wenn ich den Text eine visuelle und haptische Erfahrung. Alexandra schreibe. Manche Sätze haben so eine Wucht, dass kannte einige schon länger und hat sie vorher schon sie mich im Schlaf verfolgen. In dem Text stehen besucht. Für mich waren all das Menschen, die ich die Zitate im Mittelpunkt. Wie die Menschen aus- noch nie vorher gesehen habe. Meist habe ich sie © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 11 Gespräch mit Heribert Prantl mir angeschaut, während Alexandra mit ihnen ge- Prantl: Das heißt, das Überleben hält wach? sprochen hat. Ich musste dann in dieser kurzen Zeit Müller: Ja, vor allem geistig. versuchen, diesen Menschen zu erfassen. Nicht nur Föderl-Schmid: Und viele sehen es auch als Ver- die Haut. Das ist etwas, das nicht so viele Menschen, pflichtung an, gerade jetzt etwas zu sagen, noch ein- die fotografieren, können. Das Gespräch hat länger mal zu warnen mit all der erlebten Erfahrung im gedauert, aber für die Porträts habe ich nur wenige Hinterkopf. Vor der AfD, vor der FPÖ, die in Öster- Minuten gebraucht. reich in der Regierung sitzt. Prantl: Für den Künstler dauert also das eigent Prantl: Bert Brecht hat in „Der aufhaltsame Auf- liche Fotografieren nur eine kurze Zeit, aber das stieg des Arturo Ui“ geschrieben: „Der Schoß ist eigentliche Erfassen des Fotografierten, die Vorar- fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Und weil diese beit, viel länger. Menschen spüren, dass der Schoß noch fruchtbar ist, Müller: Das ist eine große Gabe, die ich mitbekom- wollen sie reden. Was sie gemacht haben, ist also men habe. Ich weiß nach diesem halben Jahrhundert, auch eine Art Protokollierung eines Testaments? seitdem ich arbeite, dass ich in Menschen lesen kann. Müller: Ja, das ist es. Wir publizieren ein Testa- Prantl: Mich hat immer wieder beschäftigt, dass ment dieser Menschen. es Zeitzeugen sind, die gesprochen haben. Und ich Föderl-Schmid: Es ist auch ein Weckruf. Der habe mich gefragt, ob diese Zeitzeugen sich fragen, Holocaust ist nicht nur Geschichte, sondern War- was mit ihrer Erinnerung passiert, wenn sie nicht nung. Die Überlebenden wollen nicht nur ihre eigene mehr da sind. Geschichte noch einmal erzählen und aufgeschrie- Föderl-Schmid: Das beschäftigt sehr viele. Für ben wissen, sondern auch warnen angesichts des- manche war es eine Motivation, bei dem Projekt mit- sen, was sie erlebt haben. zumachen. Eine Frau hat ihre Geschichte noch nie Prantl: Es ist also ein politisches Testament, eine erzählt, auch nicht, als die Gedenkstätte Yad Vashem aufrüttelnde Botschaft an die Gesellschaft. in Jerusalem sie darum gebeten hat. Andere wollten sich lange Zeit nicht mit dem Thema beschäftigen und tun dies jetzt erst im Alter. Und eine Frau hat sich zwar fotografieren lassen, aber sie wollte nicht über diese Zeit reden. Für viele ist diese Wunde einfach noch nicht verheilt. Heribert Prantl war vor seiner journalistischen Prantl: Wenn die Wunde noch nicht verheilt ist, Karriere Richter und Staatsanwalt. Seit 1988 arbeitet warum ist der Titel des Buches dann „Unfassbare er bei der „Süddeutschen Zeitung“ und ist Mitglied Wunder“? der Chefredaktion. Föderl-Schmid: Viele haben gesagt, es ist eigent- lich unfassbar, dass wir überlebt haben. Ein Wunder! Alexandra Föderl-Schmid ist eine Journalistin aus Immer wieder kamen Szenen wie diese: Ich sollte Österreich. Sie war Chefredakteurin und auch abgeholt werden und habe es geschafft zu entkom- Co-Herausgeberin der Tageszeitung „Der Standard“ men. Dieses Staunen hält bei vielen an. Und viele haben und ist jetzt Korrespondentin der „Süddeutschen den Begriff Wunder verwendet, manche auch Glück. Zeitung“ in Israel. Müller: Das ist auch eine Darstellung von Lebens- kraft. Eigentlich kann man nicht verarbeiten, was die- Konrad Rufus Müller ist der Fotograf der deutschen se Menschen erlebt haben. Dass sie so stark gewor- Kanzler, der Mächtigen der Politik, der außerge- den sind dadurch. Sie sind hell und wach im Alter von wöhnlichen Menschen und starken Persönlichkeiten. 90, 95 Jahren. Sie sind so gestärkt aus ihrem Schick- Seine Arbeiten wurden in zahllosen Magazinen sal hervorgegangen, das kann man kaum glauben. und in inzwischen 25 Bildbänden publiziert. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 12 „In den Kreisen, in denen wir uns bewegen, erleben wir den Antisemitismus nicht, woanders gibt es ihn aber sehr wohl.“ Marianna und Ivan Bergida wurden 1943 in der heuti- gen Slowakei geboren, Marianna in Kosice, Ivan in Humenne. Marianna wurde vom Kindermädchen aus dem Lager gerettet, Ivan überlebte bis zur Befreiung versteckt im Wald. Beide leben seit 1968 in München. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 13 Marianna und Ivan Bergida © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 14 Ihre Lebensgeschichten verschmelzen ineinander, Schwester sei stark genug, sie schaffe das! Sie haben so wie die Blicke, die sie immer wieder austauschen. gedacht, sie kommen irgendwohin zum Arbeiten.“ Die beiden erzählen auch Bruchstücke aus dem Leben des anderen, denn sie kennen einander von Sie kamen aber direkt nach Auschwitz und von der Kindesalter an. Mit ihren Familien haben sie als Juden Rampe nach der Ankunft direkt in die Gaskammern. nicht nur unter den Nazis gelitten, sondern auch Vor allem Mütter mit Kindern sind gleich vergast wor- Antisemitismus in der kommunistischen Tschecho den: „Elisabeth hat später immer gesagt, hätte sie die slowakei erfahren. Dass sie sich nach ihrer Ausreise Judith mitnehmen können, wäre vielleicht auch meine 1968 ausgerechnet in Deutschland dauerhaft nieder- Mutter noch zurückgekommen. Aber alle, Großeltern, lassen würden, war nicht geplant. „Schon den Klang Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, sind vergast der deutschen Sprache habe ich als Bedrohung emp- worden.“ Überlebt haben nur ein 14-jähriger Cousin, funden“, bekennt Marianna. der auf sich alleine gestellt versteckt in Budapest gelebt hat, und eine Cousine, die im KZ Bergen- Dass Marianna überhaupt noch lebt, hat sie ihrem Belsen als 12-Jährige überlebte. „Wir haben uns erst Kindermädchen Elisabeth zu verdanken. Vier Monate in den Achtzigerjahren gefunden“, sagt Marianna. nach ihrer Geburt wurde ihre gesamte Verwandt- schaft im Frühjahr 1944 deportiert: Gemeinsam mit Von ihrer Mutter habe Elisabeth einen Zettel mit ihrer Mutter und der damals 6-jährigen Schwester einer Adresse in Budapest bekommen, es war eine kam sie in ein Sammellager. Weil der Vater aus der christliche Familie. „Weil ich ständig geweint habe, deutschen Enklave in der Slowakei stammte und auch haben sie aber Angst gehabt, dass die Nachbarn mit den Großeltern nur Deutsch gesprochen wurde, Fragen stellen. Und sie haben uns weggeschickt.“ suchten die Eltern „ein deutsches Fräulein“. Elisabeth kam auch aus der deutschen Enklave in der Slowa- 40 Kilometer ist Elisabeth gelaufen, wie sie später kei und kümmerte sich um Mariannas Schwester. Marianna erzählt hat, es seien Bomben gefallen. Mit Dann wollte sie wegen der Kriegswirren eigentlich dem Kind sei sie dann auf einer Brücke stehen ge- nach Hause zu ihrer Familie. Elisabeth ließ sich aber blieben, von dort aus habe sie jemand aus einem erweichen zu bleiben, als sie hörte, dass Mariannas nahe stehenden Haus hereingerufen. „Wir hatten Mutter erneut schwanger war. Glück. Wir konnten bleiben. Elisabeth hat nicht verraten, dass ich ein jüdisches Kind bin. Sie hat dann Im Frühjahr 1944 wurde die Stadt Kosice, die im Haushalt geholfen. Ich war 4 Monate, als ich dort- damals zu Ungarn gehörte, von Deutschen besetzt. hin kam, und knapp 3 Jahre, als mein Vater uns ab- Ihr Vater wurde zusammen mit seinem Vater und geholt hat. Dort haben wir überlebt.“ einigen jüdischen Persönlichkeiten der Stadt als Gei- seln festgenommen. Der Vater ist vom Gefängnis aus direkt in das KZ Auschwitz-Birkenau gebracht worden. Er war eigent- Kurze Zeit danach wurden dann Tausende Juden lich promovierter Chemiker, hat aber angegeben, von Kosice in einer Ziegelfabrik für den späteren dass er Straßenbauer sei in der Annahme, die werden Transport nach Auschwitz gesammelt. Das Kinder- eher gebraucht. Denn nur wer arbeitsfähig war, hatte mädchen durfte aber in das Lager hinein und brachte eine Überlebenschance in Auschwitz. Mariannas in einem großen Korb Essen für die Familie mit. „Und Vater gehörte zu den so genannten „Depot-Juden“. in diesem Korb hat sie mich rausgeschmuggelt. Sie Das waren arbeitsfähige Juden aus Massentrans wollte unter dem Mantel auch meine Schwester mit- porten, die in Auschwitz zum Weitertransport in nehmen, aber meine Mutter und meine Schwester andere Lager vorgesehen waren. Mariannas Vater haben geweint. Meine Mutter hat gemeint, meine kam ins KZ Mauthausen und wurde schließlich 1945 Vorige Seite: Marianna Bergida mit einem Bild ihrer Großmutter Sara Friedrich. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 15 Marianna und Ivan Bergida im Außenlager Ebensee befreit. Zeit seines Lebens etwas zu essen vorbei. „Aber es gab auch Bauern, die begleitete ihn ein Messer, das er damals von einem den Deutschen gezeigt haben, wo sich Juden ver- Amerikaner geschenkt bekommen hat. steckt haben“, weiß Ivan aus Erzählungen. Nach seiner Rückkehr nach Kosice hat er sich beim Da er selbst erst etwas über ein Jahr alt war, hat Roten Kreuz gemeldet, auch das Kindermädchen hat Ivan keine eigenen Erinnerungen daran. „Ich weiß nur eine Suchmeldung abgegeben. „Ich war schon fast Brocken von dem, was meine Eltern erzählt haben, 3 Jahre alt, als er mich in Albertirsa abgeholt hat.“ wenn jemand ins Haus kam und einen Bezug dazu Dabei habe ihr Vater alles vorausgesehen vor dem hatte. Sonst haben sie darüber geschwiegen.“ Seine Krieg. Während seines Chemiestudiums in Frankfurt Mutter habe einer Besucherin erzählt, wenn sie ge- am Main habe er Hitlers „Mein Kampf“ gelesen. „Er hat wusst hätte, was auf sie zukomme, hätte sie vorher mitbekommen, was sich in Deutschland so getan hat. Schluss gemacht. „Darüber bin ich als Kind sehr Er wollte auswandern und hat versucht, die ganze erschrocken.“ Familie zu überreden. Er wollte nach Palästina. Meine Großeltern haben aber gesagt, sie seien schon alt. Von einer Gruppe von etwa 80 Leuten, die sich Meine Mutter wollte nicht ohne Eltern gehen. Dann dort versteckt hielten, sollte schließlich nur seine sind sie geblieben“, erzählt Marianna. Familie überleben. Als die Kampfhandlungen 1945 immer näher rückten, wollten alle über die Wälder Ivans Eltern lebten in dem kleinen Ort Snina im der Niederen Tatra auf die russische und damit Osten der Slowakei. Der Vater und zwei Brüder waren vermeintlich sichere Seite gelangen. Weil die Groß- Schneider. Weil sie auch die Uniformen für die Polizei mutter nicht mehr gehen konnte, blieben seine Eltern genäht haben, hielt der Polizeichef seine schützende mit ihm bei ihr in diesem Versteck. Die anderen Hand über die Familie. Er empfahl ihnen, in die grö- zogen los, fielen deutschen Soldaten in die Hände ßere Stadt Humenne umzuziehen, weil er sie dort und wurden alle erschossen – darunter zwei Brüder besser schützen konnte. Dort kam Ivan im Februar des Vaters und die Ehefrau von einem. „Wir sind die 1943 zur Welt. einzigen, die überlebt haben“, sagt Ivan. Mit der herannahenden Front mussten die in der Diese Monate im Versteck haben auch bei dem Ostslowakei verbliebenen Juden Richtung Westen zie- Kind Spuren hinterlassen. Er selbst habe mit etwas hen. Im August 1944 brach der slowakische National- über einem Jahr schon gehen und etwas sprechen aufstand aus. Die vom slowakischen Widerstand und können. Nach den Monaten im Versteck, wo sich Teilen des Militärs organisierte Erhebung war neben auch Kinder ruhig und still verhalten mussten, konnte dem Warschauer Aufstand die größte Aktion gegen er weder das eine noch das andere, berichtet Ivan. das nationalsozialistische System in Osteuropa. Als „Ich war geschwächt, aber sonst intakt.“ die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten und die Slowakei besetzten, suchten Juden in den Marianna ergänzt, dass sich die Großmutter Wäldern Schutz. „Vom Spätsommer 1944 bis zur zuerst schlecht gefühlt haben dürfte, weil die Familie Befreiung waren sie dort versteckt. In Hütten und wegen ihr zurückgeblieben sei. „Und am Ende haben Erdlöchern“, berichtet Ivan über das Schicksal seiner sie genau deshalb überlebt. Unglaublich!“ Familie und vieler Verwandter. Eine von Ivans Tanten war 3 Jahre in Auschwitz Es war ein langer, harter Winter. Gelebt wurde und hat überlebt, die andere Tante hat das mit ge- von dem, was der Wald hergab. So wurde mit Baum- fälschten Papieren in der Slowakei geschafft. Die eine rinde Tee gekocht. Ab und zu brachten auch Bauern ist später nach Australien, die andere nach Israel aus- © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 16 © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 17 Marianna und Ivan Bergida gewandert. Seine Eltern seien wohl wegen der Groß- damit nichts anzufangen. Es war oft so, dass ich als mutter in Kosice geblieben, mutmaßt Ivan. Er sei Kind etwas gesehen habe, ohne es zu verstehen und 15 Jahre alt gewesen, als sie gestorben ist. An die es war niemand da, um es mir zu erklären.“ Großmutter kann sich auch Marianna noch erinnern. „Sie war sehr depressiv.“ Die vom Großvater gegründete Chemiefabrik war ihrem Vater nach dem Krieg wieder zurückgegeben Marianna war 10 Jahre alt, als sie Ivan zum worden. „Dann hat man uns alles weggenommen. ersten Mal traf. Sie sollte eine seiner Schwestern Teppiche, Radio, alles, was irgendeinen Wert hatte.“ bei einem Gesangsauftritt am Klavier begleiten. In die große Wohnung wurde ein Ehepaar ein Sie waren auch in einer Klasse, aber erst nach dem quartiert, der Mann war vermutlich Geheimpolizist. Abitur, als Ivan für das Studium nach Prag zog, „hat Elisabeth und Marianna durften ein Zimmer und die es richtig begonnen“ – ihre Beziehung startete mit Toilette benutzen. Zur Körperpflege mussten sie in einem ausgiebigen Briefwechsel, aus dem Liebe und die Waschküche im Dachgeschoß gehen. eine lange Ehe wurde. Mariannas Vater wurde des Hochverrats beschul- Dass die Familien der beiden jüdisch waren, das digt. Zu dieser Zeit wurden Schauprozesse in der war in ihrer Umgebung bekannt. Denn ihre Väter hat- Tschechoslowakei geführt, die einen antisemitischen ten Funktionen in der Synagoge und der jüdischen Hintergrund hatten. Der bekannteste war der soge- Gemeinde inne. „Ich habe genug Antisemitismus mit- nannte Slansky-Prozess 1952 gegen 14 Mitglieder erlebt als Kind. Die anderen Kinder haben das gesagt, der kommunistischen Partei, darunter der General was sie zu Hause gehört haben. Die Slowaken haben sekretär Rudolf Slansky. Elf der Angeklagten waren keine Hemmungen gehabt, Juden als solche zu Juden, ihnen wurde eine trotzkistisch-zionistische Ver beschimpfen“, sagt Ivan. schwörung vorgeworfen. Elf wurden nach dem Urteil gehängt, drei erhielten lebenslange Freiheitsstrafen. Für Mariannas Vaters, der zwar die Zeit in den Konzentrationslagern Auschwitz, Mauthausen und Der Name ihres Vaters schallte aus den Lautspre- Ebensee überlebt hatte, blieb es nicht bei Beschimp- chern, wenn Marianna in Kosice durch die Straßen fungen. Für ihn begann nach 1945 ein zweiter, jahre- ging. „Sie sagten, er sei ein Hochverräter und Zionist.“ langer Leidensweg. Er konnte zwar wieder mit sei- Bekannte wechselten die Straßenseite, wenn sie das ner Tochter zusammenleben, aber nur für kurze Mädchen erblickten, um nicht mit ihr gesehen zu Zeit. Er protestierte 1949 als Vorsitzender der jüdi- werden. Auch in der Zeitung wurde über ihn ge schen Gemeinde beim Chef der kommunistischen schrieben: „Ich habe mir damals als 6-Jährige über- Partei, weil in Kosice einige der sechs Synagogen legt, soll ich stolz sein oder ist es etwas Schlimmes?“ nach und nach beschlagnahmt wurden. Kurz darauf 13 Monate saß er in Einzelhaft und wurde gefoltert, wurde er verhaftet. Er wurde während einer Ge- um ein Geständnis zu erzwingen. Er verlor auch das schäftsreise festgenommen und kam einfach nicht Erziehungsrecht. mehr nach Hause. Und wieder war es das Kinder- mädchen Elisabeth, die sich alleine um Marianna Erst nach 3 Jahren gab es einen öffentlichen Pro- kümmerte. zess, bei dem Zeugen gezwungen wurden, gegen ihn auszusagen. Einer der Hauptzeugen hat auf Auf- Marianna war damals 6 Jahre alt. „Ich kann mich forderung ihres Vaters zugegeben, ihn nie getroffen nur erinnern, dass plötzlich sehr viele Männer mit zu haben, und seine Aussage zurückgezogen. Es gab Hüten da waren und Geld gezählt haben, das sie aus keine Beweise und er hat kein Geständnis unter- der Fabrik meines Vaters geholt haben. Ich wusste schrieben, so wurde er freigelassen. Auf dem Foto, vermutlich aus dem Jahr 1925, sind Ivan Bergidas Großmutter Rezi und Großvater Michael Leopold Bergida vorne links zu sehen, sein Vater David hinten rechts im Kreise seiner Geschwister. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 18 Aber er durfte nicht nach Hause, sondern musste geschlagen und gewählt. Marianna fand die Situation in Prag bleiben. Nach einem Jahr wurde ihr Vater so witzig, dass sie die Wahl annahm und das Amt erneut verhaftet, für weitere 2 Jahre. Er musste in ein Jahr auch ausgeübt hat. einem Uranbergwerk in Joachimstal arbeiten. „Er war insgesamt 6 Jahre weg und 5 Jahre davon im Zu Hause wurde über die schlimme Zeit nicht Gefängnis“, erzählt Marianna. geredet. „Nie, kein Wort. Das Schlimmste war, er hat nie über seine Familie gesprochen. Und ich habe nicht Als er endlich nach Hause durfte, war seine Toch- gefragt. Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter ter bereits fast 13 Jahre alt. Mit ihm kamen auch war. Und das ist wirklich traurig“, sagt Marianna. wieder Teppiche und Porzellan zurück in die Woh- Ihr Vater betrieb dann seine legale Ausreise. Die nung. Um sein Heim musste er aber kämpfen, denn Genehmigung bekam er 1965 auch deshalb, weil er die einquartierten Bewohner wollten nicht weichen rehabilitiert wurde und ihm eigentlich vom Staat eine und warfen ihm Undankbarkeit vor, weil sie der Entschädigung für 5 Jahre Haft zugestanden wäre. Tochter und dem Kindermädchen immerhin ein „Er wollte kein Geld, sondern lieber seinen Pass. So Zimmer überlassen hätten. kam er raus.“ Um das Sorgerecht wiederzubekommen, musste Als Mariannas Vater in Deutschland ankam, war er er ebenfalls vor Gericht kämpfen. Als Marianna dort schon 63 Jahre alt. Der ehemalige Fabrikbesitzer war gefragt wurde, ob er sich immer um sie gekümmert gezwungen, sich um Jobs zu bewerben. Weil er als habe, habe sie geantwortet: „Natürlich!“ Da habe der Chemiker in einer Firma ein Problem lösen konnte, Vater zu weinen begonnen. „Denn er hat sich ja nicht an dem andere vorher gescheitert waren, bekam er kümmern können.“ die Stelle und blieb in Düsseldorf. Die junge Familie wollte auch auswandern, aber es war nicht möglich. Marianna wurde später ein Studienplatz ver- „Mein Vater meinte, er könnte uns über Jugoslawien wehrt, weil ihr Vater politischer Häftling gewesen ist. rausholen. Ich wollte das nicht, denn ich hatte zu der Als diese Entscheidung in der Schule vor dem Abitur Zeit schon ein Kind und wollte kein Risiko eingehen“, getroffen wurde, war Ivan anwesend, denn er war berichtet Marianna. zu dieser Zeit Vorsitzender der kommunistischen Jugend. „Aber ich hatte nichts zu sagen und nichts Als der damalige Generalsekretär der kommunis- zu entscheiden dabei.“ tischen Partei, Alexander Dubcek, im Frühjahr 1968 begann, seinen „Sozialismus mit menschlichem Ant- Aber gleich nach der Sitzung sei er zu ihr gekom- litz“ umzusetzen, gab es für kurze Zeit die Möglich- men und habe sie informiert, erzählt Marianna. Auch keit der legalen Auswanderung. Ivan, der Elektroniker ihre Klassenlehrerin habe diese Entscheidung bedau- war, durfte im Frühsommer 1968 Mariannas Vater ert und ihr geraten, dass sie zu einem neu gegründe- besuchen und bewarb sich bei der Gelegenheit bei ten pädagogischen Institut gehen solle, wo Bewerber IBM. Es wurde ihm eine Stelle angeboten, wenn er bis willkommen waren. Dort wurde sie aufgenommen Jahresende mit Familie auswandern könne. Marianna und ist von den anderen Studierenden sogar zur Vor- fragte in Kosice einen Nachbarn, der Beziehungen zur sitzenden der kommunistischen Jugendorganisation kommunistischen Partei und Behörden hatte, ob er vorgeschlagen worden. „Als der Professor das gehört ihnen behilflich sei, legal auszuwandern. Als Gegen- hat, ist er blass geworden, so weiß wie sein Sakko.“ leistung bekäme er Haus und Garten. Denn sie war als „schlechter Kader“ eingetragen. Die Wahl wurde verschoben. Aber auch bei der späteren Schließlich wurde der dreiköpfigen Familie in Wiederholung haben die Kommilitonen sie erneut vor Aussicht gestellt, im Laufe des Jahres auswandern zu © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 19 Marianna und Ivan Bergida dürfen. Aber am 21. August 1968 marschierten die in einer Grund- und Hauptschule zu arbeiten begon- Truppen des Warschauer Pakts ein und russische nen hat. Panzer walzten die Hoffnungen des „Prager Früh- lings“ und die Pläne der jungen Familie nieder. Aus dieser Zeit erinnert sie sich auch an eine Epi- sode: In ihrem ersten Jahr habe sie mit der Klasse Der Nachbar musste sich dann auch verstecken eine Weihnachtsfeier vorbereitet. Die Lieder für das und gab ihnen vorher noch den Rat, sie sollten so christliche Weihnachtsfest kannte Marianna alle auf schnell wie möglich ausreisen. Sein Gewährsmann Deutsch, weil ihr Kindermädchen Elisabeth sie jedes teilte ihnen mit, noch gelte die Rechtslage aus der Jahr zu Weihnachten mit ihr gesungen habe. Als sich Dubcek-Zeit, aber eine legale Auswanderung erfor- ein Vater bei ihr für die schöne Feier bedankt habe dere ein langes Procedere. Er könne ihnen lediglich mit der Bemerkung, man sehe daran, dass sie damit eine Genehmigung für drei Tage für eine Besuchs aufgewachsen sei, da habe sie vor allen Leuten reise nach Wien erteilen. Aber sie konnten nicht gesagt: „Nicht wirklich, ich bin Jüdin.“ sofort fahren, denn Marianna hatte just an diesem Tag eine Mandeloperation. Am Ende des Schuljahres habe sie dann von den Schülern eine Menora, einen siebenarmigen Leuchter, Aber am 2. September 1968 war es so weit. Nach geschenkt bekommen. „In der Slowakei gab es drei Tagen in Wien hatte Mariannas Vater alles so offenen Antisemitismus. Hier habe ich zu keiner Zeit weit geregelt, dass seine Tochter, der Schwiegersohn schlechte Erfahrungen als Jüdin gemacht. Auch und sein 2-jähriger Enkel Robert nach Deutschland unsere Kinder nicht, obwohl es in unserer Umgebung kommen konnten. bekannt ist, dass wir Juden sind.“ Ivan fügt hinzu: „Wir haben uns als Juden in Deutschland von Anfang „Wir wollten raus, aber auf keinen Fall in Deutsch- an viel freier gefühlt als je in der Tschechoslowakei.“ land bleiben. Es sollte nur eine Zwischenstation sein auf dem Weg nach Kanada“, erinnert sich Marianna. Er schränkt allerdings ein, dass es sehr wohl einen Ivan ergänzt: „Aber dann lief alles so glatt und gut, Vorfall gegeben habe. Mariannas Vater sei 1980 dass der Drive wegzugehen und noch einmal durch- gestorben, 10 Jahre später sei der jüdische Fried- zustarten nicht mehr da war“, sagt Ivan. hof in Stuttgart geschändet worden. „Wir sahen am Morgen ein Foto von seinem Grab in der Zeitung: Mit In der Personalabteilung bei IBM in Sindelfingen Hakenkreuzen beschmiert und teilweise zerstört.“ habe man ihnen nicht nur eine Firmenwohnung Die Täter waren Jugendliche, die schnell ermittelt zugeteilt, sondern auch gleich einen Gehaltsvor- wurden. In der Stadt gab es einen Protestmarsch schuss gegeben. Ein Mitarbeiter der Personalabtei- und es war für die beiden beeindruckend, wie sich lung fuhr mit Ivan zum nächstgelegenen Kaufhaus, spontan zahlreiche Menschen daran beteiligt haben. um Bettwäsche und Lebensmittel für die erste Zeit zu kaufen. „So haben wir angefangen und so wurden „In den Kreisen, in denen wir uns bewegen, erle- wir aufgenommen.“ ben wir den Antisemitismus nicht, woanders gibt es ihn aber sehr wohl“, sagt Ivan. Dass sie ihren Eltern 1970 kam noch Tochter Ruth auf die Welt. Aus einer nicht mehr Fragen gestellt haben, tut beiden heute Zwischenstation wurden 40 Jahre in Sindelfingen. leid. „Wenn ich meinen Vater fragen wollte, dann hat „Gleich von Anfang an haben wir lauter nette Leute sich sein Gesicht so verdunkelt und ich habe gedacht, getroffen. Wir haben mehr Freunde gehabt, als wir in dass ich ihm damit weh tue. Das wollte ich ihm nicht der Tschechoslowakei hatten“, erzählt Marianna, die antun“, erklärt Marianna. Ivan hat 1968 seine Eltern in nach 6 Jahren Aufenthalt in Deutschland als Lehrerin der Tschechoslowakei zurückgelassen, davor wurde © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 20 so gut wie nicht über die Zeit während des National- sozialismus gesprochen. „Aber es hat unseren Alltag nicht bestimmt. Ich bin ganz normal aufgewachsen, mit allen Freiheiten, die ich brauchte, und dafür bin ich meinen Eltern noch heute dankbar.“ Marianna hat dann später rund 70 Interviews für die „Shoah-Foundation“ gemacht. Regisseur Steven Spielberg hat nach seinem 1993 erschienenen Film „Schindlers Liste“ ein Projekt initiiert, damit die Erleb- nisse der Zeitzeugen auf Videos aufgezeichnet und vor dem Vergessen bewahrt werden. Damals habe sie sehr lange gezögert mitzuarbeiten und sich selbst der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu stel- len. „Das ist ein großes, schwarzes Irgendetwas, an dem will man nicht rühren. Ich habe mir gedacht, das ist psychisch für mich zu schwierig.“ Schließlich habe sie sich doch überwunden, weil sie gedacht habe, mehr über die eigene Familie zu erfahren und die Schicksale der Opfer für deren Nachkommen zu bewahren. Aber es habe lange gedauert, ehe sie sich getraut habe, ein Interview mit Auschwitz-Bezug zu führen, sagt Marianna. Es war also auch eine Konfrontation mit ihrer eigenen Geschichte? „Ja, und das war schließlich sehr gut für mich.“ © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 21 Marianna und Ivan Bergida © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 22 „Der Antisemitismus hatte und hat in Österreich Tradition. Damit verbunden ist Deutschtümelei und Nationalsozialismus.“ Hugo Brainin wurde 1924 in Wien geboren, wo er mit seiner Frau Lotte lebt. Sie hat die Konzen- trationslager Auschwitz und Ravensbrück überlebt, er überstand die Nazizeit in Großbritannien. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 23 Hugo Brainin © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder Unfassbare Wunder 24 © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
Alexandra Föderl-Schmid / Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder 25 Hugo Brainin Antisemitismus bekam Hugo Brainin schon lange Straße geworfen werde. Als dann von der Straße die vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu Rufe „Heil, Heil, Heil!“ und „Ein Volk, ein Reich, ein spüren. „Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich Führer“ heraufschallten, habe der Hausmeister plötz- oft genug: ‚Saujud, geh nach Palästina!‘ “ lich den Arm zum Hitlergruß gehoben und mitge- schrien. „Das muss man sich bildlich vorstellen: bei Aber ernst wurde es für ihn und seine Verwandten zugemachtem Fenster! Das war ein Sozialdemokrat. erst, als der damalige österreichische Bundeskanzler Für mich war das ein Schlüsselerlebnis. Der psychi- Kurt Schuschnigg am Abend des 11. März 1938 sche Druck war so stark, dass es ihn mitgerissen hat. zurücktrat mit den Worten: „Gott schütze Öster- Da hab ich gesehen, wie man sich hüten muss vor reich.“ Die berühmte Rede und danach den Satz aus den Massen. Wo man hingeschaut hat, waren Nazis.“ dem Haydn-Streichquartett, zu dessen Melodie noch in der Ersten Republik die Bundeshymne gesungen Ein „echter Nazi“ habe jedoch Verwandten, Leo wurde, hörten der damals 13-Jährige und sein ein Brainin und seiner Frau das Leben gerettet. „Leo war Jahr älterer Bruder Norbert in der Wohnung einer nicht nur Jude, sondern auch Kommunist“, erinnert Tante in der Glockengasse in Wien. „Als wir dann zu sich Brainin. Der Nazi habe in Uniform die Heraus Fuß nach Haus gingen, konnte man überall das Klin- gabe „meiner Juden“ beansprucht, als seine Nach- gen der zerberstenden Glasscheiben hören. Schon barn im Wiener Bezirk Floridsdorf verhaftet worden damals gab es eingeschlagene Auslagen, die Polizis- waren. Er ermöglichte ihnen so die Flucht. „Aber das ten sind alle schon mit Hakenkreuzschleifen am lin- war ein Einzelfall“, sagt Brainin. ken Arm unterwegs gewesen. Das ging alles unglaub- lich schnell. Wir haben die Deutschen gar nicht Zu einer regelrechten Massenhysterie wurde die gebraucht, bei uns gab es genug Nazis.“ so genannte Reichspogromnacht. So wie jeden Tag seit dem Tod ihrer Mutter im Jänner 1938 waren die Hunderttausende jubelten Adolf Hitler auf dem beiden Brüder dem jüdischen Brauch folgend auch Heldenplatz zu, als er am 15. März 1938 auf dem Bal- am 9. November in den Tempel in der Pazmaniten- kon der Hofburg in Wien „den Eintritt meiner Heimat gasse gegangen, um Kaddisch zu beten. „Plötzlich in das Deutsche Reich“ verkündete. „Es war nicht so, hörten wir Lärm, die Tür wurde eingeschlagen. dass der Hitler einmarschiert ist. Die Machtergrei- Männer und Jugendliche stürmten herein, mein fung durch die Nazis ist von Österreich aus erfolgt“, Bruder und ich liefen hinten bei der Tür hinaus. Es kommentiert Brainin. war ein völlig enthemmter Mob, die Horden haben das Gebäude angezündet. Buben, nicht älter als wir Kurze Zeit später, am 4. April, kam Hitler erneut in selbst, sind mit Stöcken bewaffnet, alten Männern die Stadt. Die Route, auf der er im offenen Mercedes mit weißen Bärten nachgelaufen und haben auf sie fuhr, sollte an ihrem Haus vorbei führen. An eine Epi- eingeschlagen. Wir sind so schnell gelaufen, wie wir sode an diesem Tag erinnert sich Hugo noch heute konnten.“ Die beiden kamen unbeschadet an. bis ins kleinste Detail. Der Hausbesorger wollte sich eine bessere Sichtposition auf den Führer verschaf- Das Zuhause von Hugo und Norbert war damals fen und läutete bei der Familie. Kurze Zeit später be- bei ihrer Tante Dora in der Wiener Nordbahnstraße, gehrten zwei Männer in schwarzer Uniform eben- wo sie seit dem Tod ihrer Mutter lebten. Der Vater falls Einlass, „meine ersten zwei SSler, erinnert sich war gestorben, als Hugo Brainin 6 Jahre alt war. Er Brainin daran und an ihre Frage: „Ist das eine Juden- stammt aus einer weit verzweigten Familie russischer wohnung?“ Der Hausmeister versicherte den Män- Juden, unter ihnen der bekannte Autor Boris Brainin. nern, dass er persönlich dafür sorgen werde, dass Ein Teil der Familie kam Anfang des vorigen Jahrhun- die Fenster geschlossen blieben und nichts auf die derts nach Wien, sie lebten vom Fellhandel und Pelz Auf dem Foto auf dem Jahr 1928 sind zu sehen (von links): Hugos Vater Adolf, Großonkel Reuben, Onkel Salomon und Onkel Leo. Vorne sein älterer Bruder Norbert und Hugo Brainin. © 2019 Böhlau Verlag GmbH & Co, Wien ISBN Print: 9783205232261 — ISBN E-Book: 9783205232483
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