Jiddischer Tango: "So Easily Assimilated" - Norient

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Jiddischer Tango: «So Easily Assimilated» | norient.com               30 Nov 2021 07:00:09

    Jiddischer Tango: «So Easily
    Assimilated»
    by Sarah Ross

    Die Geschichte des jiddischen Tangos ist eine Geschichte der
    Übernahme und Anpassung, der Grenzziehung und -
    verschiebung, aber auch der Grenzüberwindung. Mit der
    Emigration jüdischer Musiker aus Osteuropa nach
    Argentinien vermischte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts
    der boomende Tango mit osteuropäischen Sounds und dem
    Kolorit der jiddischen Sprache. Aus den Einwanderer-
    Quartieren in Buenos Aires reiste der jiddische Tango ans
    New York Yiddish Theatre und bald auch nach Europa. In der
    Zeit des Holocausts verbreiteten sich die melancholischen
    Lieder dort in Ghettos und Konzentrationslagern – und mit
    ihnen die Hoffnung auf Freiheit.
    «Ich bin nicht jüdisch – aber auch nicht zu 100% nicht jüdisch» (Gelfand
    2005). Diese eher scherzhaft gemeinte Selbstbezeichnung des
    argentinischen Tango-Musikers und Klezmer-Bassisten Pablo Aslan trifft im
    Prinzip auch auf den sog. «Tango Argentino» selbst zu. Der Tango entstand
    gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Einwanderer-Quartieren der

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    Hauptstädte Argentiniens und Uruguays, in denen neben Franzosen, Spaniern
    und Italiener auch viele Juden aus Europa, vor allem Osteuropa, ihr neues
    Zuhause gefunden hatten. Es ist bekannt, dass der Tango selbst – sowohl auf
    musikalischer wie auch choreographischer Ebene – ein hybrides,
    transkulturelles Phänomen ist, welches nicht zuletzt aus dem Mix der
    Kulturen der Einwanderer hervorgegangen ist. So trugen die Candombe der
    Kreolen und die afrokubanische Habanera ebenso zu seiner Entstehung bei,
    wie die polnische Mazurka, die böhmische Polka oder der österreichisch-
    süddeutsche Walzer und Ländler (Reichart 1984, 15–21; Béhague 2006).

    Weniger bekannt ist jedoch die Rolle, die jüdische Musiker, Komponisten und
    Sänger in der Entwicklung des Tangos als einem musikalischen Genre
    spielten, bzw. welche Bedeutung dem Tango in der jüdischen Diaspora
    zugeschrieben wird. In diesem Kontext wird oft darauf hingewiesen, dass in
    den Anfängen des Tangos eben nicht das Bandoneon das charakteristische
    Instrument des Tangos war, sondern die Geige, Klarinette und Gitarre.
    (Reichart 1984, 60–64)

    Jene Instrumente werden gerne den jüdischen Einwanderern zugeschrieben.
    Eher selten wird in diesem Zusammenhang jedoch danach gefragt, wie
    jüdische Tangomusiker jene neue Musik mit ihrer Sprache, dem Jiddischen, in
    Einklang brachten, bzw. wie es im Kontext der kulturübergreifenden
    Rezeption des Tango Argentino zur Herausbildung eines prononciert
    jiddischen Tangos kam. Der jiddische Tango wurde vor allem in den 1920er
    und 30er Jahren in Zentral- und Osteuropa verstärkt gespielt, und dort
    sowohl in die Klezmer-Szene als auch in die Szene des jiddischen Theaters
    integriert.

    Wie Victoriah Szirmai (2006) in ihrer Arbeit zu Juden im Tango diskutiert,
    muss eine genaue Trennung zwischen dem, was wir als jiddischen Tango
    bezeichnen, und dem, was auf dem Weltmusikmarkt gerne als «jüdischer
    Tango» medial konstruiert und verkauft wird. Eine Unklarheit, die nicht
    zuletzt auch auf die lang andauernde «Unsichtbarkeit jüdischen Lebens in
    Lateinamerika» (Szirmai 2006, 24) sowie fehlender Forschung zum Thema
    basiert. Somit ist Szirmais Buch als eines der wenigen
    musikwissenschaftlichen Werke hervorzuheben, welches auf der Analyse und
    kritischen Betrachtung von Archivmaterial aus Berlin und Buenos Aires,
    Tangoliteratur in vielen verschiedenen Sprachen, unzähliger musikalischer
    Quellen sowie persönlicher Gespräche mit Experten basiert. Dadurch gelingt
    es der Autorin die weit verbreitete, irrtümliche Gleichsetzung von eines
    vermeintlichen «jüdischen» und jiddischen Tangos aufzudröseln, und Licht
    ins Dunkle zubringen. Zwar spielten Klezmerkapellen auch Tango, aber die
    Tatsache, dass jüdische Musiker Tango spielen, macht den Tango noch lange
    nicht zum «jüdischen Tango», wie Szirmai schreibt. Der jiddische Tango
    allerdings hat seinen Ursprung in den jüdischen Theatern in New York und
    Buenos Aires und basiert auf originären Kompositionen (Szirmai 2006, 14,
    134f., 190f.) Letztere sind im Fokus dieses Beitrags.

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    Der Artikel wird versuchen eine Idee davon zu vermitteln, was der jiddische
    Tango ist. Nach einem kurzen Überblick über die jüdische Einwanderung nach
    Argentinien und die Rolle jüdischer Immigranten in der Geschichte des
    Tangos, wird im zweiten Teil des Artikels das Genre des jiddischen Tangos
    selbst skizziert und auf dessen Bedeutung im Kontext des Holocausts
    eingegangen.

    II. Jüdische Einwanderung nach Argentinien
    Das Zentrum des lateinamerikanischen Judentums ist Argentinien, genauer
    Buenos Aires (Foster 1998, 132–49). Wie kam es dazu? Argentinien, das bis
    1813 aus rechtlicher Perspektive gesehen an sein spanisches Mutterland
    gebunden war, wurde unabhängig und schaffte – eher im Sinne einer
    Abgrenzung zu Spanien als im Sinne der Religionsfreiheit – die katholische
    Inquisition ab. Letztere wurde durch die spanischen Eroberer bereits im 15.
    Jahrhundert nach Lateinamerika gebracht (Birkenstock und Rüegg 2007: 14–
    22; Vogl 1998, Absatz 8f.). Mit der Unabhängigkeit Argentiniens wurde auch
    der Rechtskanon der jungen Republik geändert, in den nun auch Rechte für
    religiöse Minderheiten (sprich allen nicht-katholischen Religionen)
    aufgenommen wurden. Dies stellte die Grundvoraussetzung zur jüdischen
    Einwanderung nach Argentinien dar (Avni 1991: 1–5).

    Obschon bereits im 17. Jahrhundert einige wenige Juden sephardischer und
    deutscher Herkunft in Argentinien angekommen waren, welche als Agenten
    britischer Handelskompanien arbeiteten, gab es bis zum Ende des 19.
    Jahrhunderts keine nennenswerte jüdische Immigration nach Argentinien.
    Neben bis dahin unüberwindbaren praktischen Hürden, galt Argentinien in
    den Augen europäischer Juden immer noch als ein Vertreter der spanischen
    Kultur, was für einen Grossteil der europäischen Juden gleichbedeutend war
    mit Inquisition und Vertreibung (Vogl 1998, Absatz 13f.).

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    Erst 1889 kamen die ersten grösseren Gruppen jüdischer Einwanderer nach
    Argentinien. Grund dafür waren die zunehmenden Pogrome in Russland, wie
    auch eine neue Einwanderungskampagne der argentinischen Regierung, die
    nun auch die Kosten für die Überfahrt subventionierte und damit die
    praktischen Probleme der Einwanderer minderte. So kamen noch im selben
    Jahr 800 russische äußerst fromme und orthodoxe Juden in Buenos Aires an,
    die sich späterhin in der Region Santa Fe, etwa in dem bekannten Städtchen
    Moisesville, ansiedelten. Der Einwanderung der ersten grösseren Gruppe
    osteuropäischer Juden gingen bedeutende Verhandlungen mit dem jüdischen
    Philanthropen Baron Maurice Hirsch in Paris voraus. Baron Hirsch entschloss
    sich die Auswanderung der Juden aus Osteuropa zu fördern, obschon er
    selbst kein Zionist war. Er gründete 1891 die Wohlfahrtsorganisation «Jewish
    Colonisation Association». Durch die Anstrengungen des Baron Hirsch kamen
    so in den Folgejahren zehntausende Juden an den Rio de la Plata (Avni 1991,
    24f.):

              «By May 1890, the baron had realized that the [Russian]
              authorities were not prepared to encourage the
              integration of the Jews in Russian society and would use
              the money for their own ends. He had broken off the
              negotiations and decided to try another solution:
              emigration» (Avni 1991, 33).

    Am Ende des 19. Jahrhunderts waren sowohl in den Städten als auch in den
    Kolonien lebendige jüdische Gemeinschaften entstanden (ebd., 44).
    Zwischen 1900 und 1940 nahmen sowohl die unabhängige, wie auch die
    durch sog. colonization associations gesponserte, jüdische Einwanderung

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    immer weiter zu. In dieser Zeit kamen über 250.000 Juden ins Land, welche
    Argentinien zum zweitgrössten Empfängerland jüdischer Siedler machte. In
    Buenos Aires lebte nach New York die grösste jüdische Gemeinschaft. Und
    dennoch: auch in Argentinien stießen die europäischen Juden auf Ablehnung
    und Antisemitismus, was zeitweise auch wieder zur Abwanderung führte. Ein
    Grossteil der Juden, die sich erfolgreich in Argentinien niedergelassen haben,
    waren meist säkulare Juden, die sich nicht mehr – wie ihre Vorgänger – in
    religiösen Gemeinden organisierten, sondern in politischen, kulturellen und
    sozialen Zusammenschlüssen. Diejenigen von ihnen, die in Buenos Aires
    blieben, arbeiteten als Händler und Hilfsarbeiter, während diejenigen, die sich
    auf dem Land niederliessen, zu sog. jüdischen Gauchos wurden (Vogl 1998,
    Absatz 13f.).

    Der Autor und Zeitzeuge Alberto Gerchunoff berichtet in seinen Erzählungen,
    die unter dem Titel Jüdische Gauchos ([1910] 2010) veröffentlicht wurden,
    über die Anfänge jener jüdischen Kolonien Argentiniens. In seinen
    Erzählungen beschreibt er die jüdischen Siedler als ein rechtschaffendes und
    beharrliches Volk, das seine jüdischen Wurzeln mit der Wiederentdeckung der
    historischen Lebensform als Bauern- und Hirtenvolk zurückgewinnen wollte.
    Gleichzeitig dokumentiert Gerchunoff eine Bewegung, die von der Illusion
    gleitet war, dass jüdische Bauern gleichberechtigte Staatsbürger
    Argentiniens sein könnten. Im Austausch für ein Leben in Freiheit und ohne
    Verfolgungen waren die jüdischen Gauchos dazu bereit, die Bräuche ihrer
    Vorfahren mit den lokalen, argentinischen Traditionen zu verbinden. Kurzum:
    man war dazu bereit sich zu assimilieren und eine gemeinsame nationale
    Kultur zu schaffen, die aus eben jenem kulturellen Austausch hervorging und
    nach und nach zum Markenzeichen des kosmopolitischen Argentiniens

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    wurde. Doch schon einige Jahre nach Veröffentlichung seiner Erzählungen,
    1919, erlebte Argentinien den ersten Pogrom (Gerchunoff 2010; Gerchunff
    2002, 193):

              «Lassen sie doch diesen Gauch; dem fällt immer eine
              Ausrede ein. Sehen sie ihn doch an: ein richtiger Gauch!
              Pluderhosen, Ledergürtel, ein Messer und sogar diese
              kleinen Bleidinger, um Perlhühner zu töten. Aber dagegen
              in der Synagoge, da ist er stumm und weiß nicht, wie man
              betet. Mein Sohn, der Schächter, hat ihn erzogen, und er
              weiß nicht, wie man betet!» (Gerchunoff 2010, 41)

    III. Juden und der Tango

    Viele der jüdischen Immigranten wurden trotz seines schlechten Rufs vom
    Hafenviertel in Buenos Aires mit seinen Bars und Bordellen magisch
    angezogen. Sie waren von der Hoffnung getrieben, dort unter
    Gleichgesinnten – die ebenfalls Fremde in einem fremden Land waren – für
    einen Moment lang von dem Gefühl der Wurzellosigkeit und Entrechtung
    Ablenkung zu finden. Und so schrieb Julio Nudler (Czackis 2004, 2; Nudler
    1998), der bedeutendste Chronist des («jüdischen») Tangos, dass die «Juden
    und der Tango sich zum ersten Mal in jenen Bordellen ins Angesicht
    [blickten], die von der Varsovia und später in Zwi Migdal umbenannten
    grössten Zuhälter-Organisation am Rio de Plata betrieben wurden» (Laberenz
    2009, 2; Reichart 1984, 57–58). Dank der Erfindung des Gramophons kamen
    aber nicht nur die Juden in Buenos Aires mit dem Tango in Kontakt, sondern
    auch die jüdischen Gauchos. Kurzum: Argentiniens moderne jüdische
    Gemeinde entstand zur gleichen Zeit wie der Tango selbst (Czackis 2004, 3–
    4).

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    In den Anfangsjahren, als der Tango noch als obszön galt und weitgehend
    verpönt wurde, waren nur wenige jüdische Musiker und Komponisten Teil der
    Tangoszene in Buenos Aires. Dies änderte sich jedoch merklich mit dem
    Eintritt der Guardia Veija, der Alten Garde (1910-1940). Bereits 1910 eroberte
    der Tango West- und Osteuropa im Sturm. In Ballsälen und Kabaretts in Paris,
    London und Berlin wurde Tango gespielt. Argentinische Ensembles tourten in
    Europa, darunter das Orquesta Tipica Bachicha, in dem einige jüdische
    Musiker, wie etwa der Bandoneoist Jose Schumajer und der Sänger Juan
    Carlos Cohan, tätig waren. Aber auch europäische Tango-Orchester wurden
    gegründet, wie etwa das Brodman-Alfaro Sextett. In den 1920er Jahren
    wurden sodann auch populäre Tangostücke in lokale Sprachen übertragen
    und europäisch-jüdische Komponisten wurden dazu inspiriert neue Tangos zu
    schreiben. Unter ihnen auch der Pole Paul Godwin (Pinchas Goldfarb), dessen
    Platten sich zwischen 1923 und 1933 über neun Millionen Mal verkauften
    (Czackis 2004, 5 – 6). Aber nicht nur die Musik des Tangos, sondern auch der
    Tanz selbst löste in Europa ein regelrechtes Tangofieber aus.

    Davon, dass die Modetänze Tango und Charleston auch die osteuropäischen
    Shtetl erobert hatten, spricht zum Beispiel das Lied «Kum Lejbke, Tantsen»,
    das von dem Tischler Mordechaj Gebirtig (1877 – 1952) geschrieben wurde.
    Gebirtig verfasste in seiner Freizeit Gedichte und Lieder, die nicht nur unter
    den polnischen Juden sehr beliebt waren, sondern auch von Auswanderern
    bis nach Amerika und Argentinien verbreitet wurden (Capol 2005, 26). So
    heisst es in der ersten Strophe von Gebirtigs jiddischem Tango (ebd., 27):

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    Lejbke majn liber, doss wet kejn gutssnischt gebn, du
    brengst mit dajn akschoness mich fun geduld arojss.
    Du mustsich lernen tantsn ich schwer baj undser leben,
    ele nischt is hajnt noch mit unds ojss.
    Megsst sich sajn woss du bisst: a farbrenter zijenisst,
    a bundojez. Wemen gejt doss on?

    Ale isstn sajt a zajt, un ojch di agode lajt tantsen tango un
    tscharlesston.

    Mein lieber kleiner Leo, das kommt nicht gut heraus.
    Deine Starrköpfigkeit bringt mich noch um den Verstand.
    Du musst tanzen lernen, ich schwör‘s bei meinem Leben.
    Wenn nicht, so ist es heute noch mit uns aus.
    Was du auch immer sein magst, ein verbohrter Zionist,
    ein Bundist oder sonst ein –ist, was kümmert es mich?

    Auch die frommen Leute tanzen Tango und Charleston.
    In den 1920er und 1930er Jahren, als der Tango über seinen Umweg über
    Europa sich auch in seinem Mutterland höchster Beliebtheit erfreute, und
    vom Unterschichtmilieu der Einwandererquartiere in die argentinische
    Oberschicht aufstieg, erlangten auch jüdische Tangomusiker und -
    komponisten einen grösseren Einfluss auf die argentinische Tangoszene.
    Grund dafür war, dass zur gleichen Zeit auch die jüdische Gemeinschaft in
    Buenos Aires einen Aufschwung erlebte. Jiddischsprachige Zeitungen
    erschienen und zahlreiche jüdische Kulturzentren und vor allem jiddische
    Theater wurden gegründet. Dies führte dazu, dass Argentinien zu einem
    bedeutenden Reiseziel amerikanischer und osteuropäischer
    Theaterkompanien wurde. Bis in die 1960er Jahre hinein war Bueonos Aires
    eine der Welthauptstädte des jiddischen Theaters (Gelfand 2005; Czackis
    2004, 4 – 6).

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    Mit den Theaterleuten reisten auch jüdische Musiker (meist Violinisten) aus
    Polen, Russland und Rumänien nach Argentinien, die kurz nach ihrer Ankunft
    bereits Zutritt zur Tangoszene suchten. Ihr Ziel war es, in einem der vielen
    Tango-Orchester mitzuspielen. Viele dieser Musiker wurden zu Stars und
    fanden gleichzeitig Akzeptanz in der argentinischen Gesellschaft. Wie Llioca
    Czackis schreibt, waren Juden und Nicht-Juden dazu in der Lage, sich ein-
    und dieselbe musikalische Sphäre zu teilen, was wiederum Raum für
    gegenseitige musikalische Bereicherung schuf. So schrieben jüdische Texter
    und Komponisten nicht nur Tangos mit spanischen Liedtexten für die
    Allgemeinheit, sondern vermehrt auch solche mit jiddischen Lyrics, die vor
    allem in der jiddischen Theaterszene in Buenos Aires reißenden Absatz
    fanden. Jüdische Tangosänger, wie etwa Jevel Katz oder Max Perlman,
    sangen humoristische wie auch leidenschaftliche jiddische Texte zu
    Tangorhythmen und teils schon burlesken Melodien (Czackis 2004, 4 – 5).

    Im Vergleich zum «Tango Argentino» fällt jedoch auf, dass der jiddische
    Tango lediglich im Refrain auf den typischen Tangorhythmus, dem meist
    unregelmäßigen, synkopierten 4/8-Takt), zugreift, was die jiddischen Lieder
    auch erst dann als einen Tango erkennbar werden lässt. Doch dies ist nicht

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    das einzige Unterscheidungsmerkmal des jiddischen Tangos. Trotz der
    Übernahme des lokalen Kolorits in den Tangokompositionen jüdischer
    Musiker und der oben erwähnten Bereitschaft sich im Austausch für ein
    besseres Leben zu assimilieren, manifestiert sich im jiddischen Tango eine
    ethnische, religiöse, wie auch linguistische und gar geographische Differenz.
    Und es offenbart sich schon beim ersten Hören, dass sich ein Großteil der
    jiddischen Tangos musikalisch in einem Raum zwischen Argentinien und
    Osteuropa bewegen, bzw. dass sie sich als eine musikalische Nachahmung
    lateinamerikanischer sowie Klezmer Traditionen zu verstehen ist. So wundert
    es auch nicht, dass die Spielweise des Liedes der alten Dame, dem Tango «So
    easily assimilated», aus dem Musical Candide (Uraufführung 1956) von
    Leonard Bernstein mit der Bezeichnung «Moderato Hassidicamente»
    versehen wurde (Rovner 2006, 312 – 13). Sowohl im Text als auch im Lied
    spiegelt Bernsteins Tango, selbst mit einem Augenzwinkern, die Geschichte
    der Juden in ihrer neuen Heimat und dem zweifelhaften Versuch Teil der
    Mehrheitsgesellschaft zu werden wieder. So heißt es in dem Lieder der alten
    Dame (Lyrics in Wells 2000, 12):

    I was not born in sunny Hispania.
    My father came from Rovno Gubernya
    But now I’m here, I’m dancing a tango:
    Di dee di!
    Dee di dee di!
    I am easily assimilated.
    I am so easily assimilated.
    I never learned a human language.
    My father spoke a High Middle Polish.
    In one half-hour I’m talking in Spanish:
    Por favor! Toreador!
    I am easily assimilated.
    I am so easily assimilated.

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    Das jiddische Theater wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des
    kulturellen Lebens der jüdischen Einwanderer – und das nicht nur in Buenos
    Aires, sondern auch in den USA. Der Charakter des Tangos passte perfekt zu
    den unbeschwerten jiddischen Musicals, wie sie in den Vorkriegsjahren auch
    in New York aufgeführt wurden. Eine der populärsten Figuren des New Yorker
    Yiddish Theater war die Theater- und Filmschauspielerin Molly Picon. 1934
    schrieb sie die Lyrics zu dem bekannten Lied «Oygn», das sie selbst in Jacob
    Kalichs Produktion «Eyn mol in leben» performte. Ihr Text wurde von
    Abraham Ellstein als Tango vertont (Czackis 2004, 4 – 5).

    a. Die Entstehung des jiddischen Tangos

    Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der Tango in mehreren Schüben
    weltweit verbreitet und dabei nicht nur nationale, sondern auch kulturelle und
    soziale Grenzen überschritten. So führt die Vermischung kultureller
    Eigenschaften im Tango gleichzeitig auch zur Herstellung von kultureller
    Differenz. Auf diese Weise wurde der Tango zu einem globalen Narrative und
    zu einem weltweiten Verständigungs- und Deutungsmittel (Klein 2009, 39 –
    54). Es ist wohl der multikulturelle Charakter des Tangos, der erklärt, warum
    sowohl die Musik als auch die Liedtexte und der Tanz auf seiner Reise um die
    Welt von so vielen Menschen rezipiert und schliesslich auch transformiert
    wurde. So wundert es nicht, dass manche auch Gemeinsamkeiten zwischen
    dem Tango und der jüdischen Volksmusik sehen, wie etwa die klagenden
    Liedtexte, der auffallende Gebrauch der Violine oder die unerklärliche
    Sehnsucht, welche den Raum erfüllt, wenn man diese Musik hört. Oder wie
    der Flötist Pablo Goldstein es einmal ausdrückte:

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              «[T]ango and Jewish music continue to share an
              essentially bittersweet quality — a quality that he
              perceives even when playing an upbeat klezmer freilach.
              […] The freilach is like a costume, and the sadness is
              inside. […] The tango is the same. But without the
              costume» (Zit. nach Gelfand 2005).

    Es ist eben jene Melancholie der Musik und das Gefühl von Heimatlosigkeit
    und Ausgrenzung, das der Tango verkörpert, von denen sich die jüdischen
    Musiker und Komponisten in Europa angesprochen fühlten, bzw. worin sie
    sich selbst wiederfanden (ebd.). Ebenso, wie der Tango Argentino schon von
    Beginn an ein Ventil war, um Kummer, Unglück und Elend zu verarbeiten, so
    sang auch der jiddische Tango schon früh von verwandten Schicksalen: von
    den Schwierigkeiten der Liebe, den verlassenen Männern und der Hoffnung –
    wenn schon nicht auf eine bessere Zukunft, so doch wenigstens auf die Nacht
    mit einer begehrenswerten Frau.

    Abseits von den Bühnen des jiddischen Theaters in Buenos Aires und New
    York erreichte der jiddische Tango für die europäischen Juden seinen
    Höhepunkt jedoch während des Holocausts, als er zu einem wesentlichen Teil
    des Lebens in den Ghettos und Konzentrationslagern wurde. Auch hier wurde
    der Tango erneut als ein Vehikel verwendet, um die Erfahrungen der
    Häftlinge und deren Hoffnungen auf Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Vor
    allem aber waren die jiddischen Lieder im Ghetto für die Inhaftierten «eine
    emotionale und moralischen Stütze, um das Selbstwertgefühl
    aufrechtzuerhalten», sie waren «ein Stück Identität, die sie zu bewahren –
    und auch neu zu definieren suchten» (Ruttner 1992, 123). Jenseits der eher
    spärlich existierenden spanischsprachigen Literatur zum jüdischen bzw.
    jiddischen Tango allgemein sind vor allem die Arbeiten von Victoriah Szirmai,
    Juden im Tango = jüdischer Tango? (2006), und der bereits erwähnten
    Sängerin Llioca Czackis, welche sie unter dem Titel Tangele: The History of
    Yiddish Tango (2003), wie auch auf ihrer CD «The Pulse of Yiddish Tango»
    (2008) veröffentlicht hat. Vor allem Czackis beschäftigt sich in ihrer Arbeit
    mit dem jiddischen Tango vor und während des Holocausts.

    b. Tango vor und während des Holocausts
    Jiddische Tangos entstanden sowohl vor als auch während des Zweiten
    Weltkrieges. Im Vergleich zu Ländern wie Frankreich, England oder
    Deutschland, welche häufig von argentinischen Orquestas Tipicas besucht
    wurden, erreichte der Tango Osteuropa auf eher indirektem Wege. Polen und
    Russland machten lediglich durch Schallplatten, Radio und Journale mit dem
    Tango Bekanntschaft. Dieser indirekte Kontakt mit dem Tango Argentino
    mag erklären, warum sich in Osteuropa ein eigener Tangostil entwickelte,
    welcher sich merklich von seinem lateinamerikanischen Vorbild unterschied.
    Aber dennoch wurde Polen in den 1920er Jahren zu dem Zentrum des

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    europäischen Tangos. In jener Zeit waren die meisten Musiker sowohl in der
    klassischen, wie auch in der populären Musikszene jüdisch. Diese waren
    wiederum gezwungen, für sich und ihre Musik einen Mittelweg zwischen der
    jüdisch-traditionellen Welt und dem Leben in den säkularen, modernen
    Großstädten Osteuropas zu finden (Czackis 2004). Der jiddische Tango, wie
    er in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa entstand,
    beschreibt eben jenen Mittelweg, bzw. kulturellen Kompromiss, in dem er den
    globalen Sound des Tangos mit dem lokalen Kolorit der jiddischen Sprache in
    Einklang bringt. Künstler, die sich bereits vor dem Krieg in der
    osteuropäischen Tangoszene einen Namen gemacht haben, waren
    beispielsweise der Violonist Paul Godwin und die Komponisten und
    Swingband-Dirigenten Henryk und Arthur Gold.

    Ein Beispiel für einen sog. «Vorgkriegstango» ist das Stück «Tsi darf es azoy
    zayn?» («Muss es so sein?»), dessen ursprünglicher Text von Moshe
    Broderson und Musik von Dovid Beygelman geschrieben wurden. Dies ist
    einer der bekanntesten jiddischen Tangos in Osteuropa, nicht zuletzt, weil er
    ein fester Bestandteil des Programms des jiddischen Revuetheaters «Ararat»
    in Lodz war. Dieses Lied wurde späterhin von Katriel Brydo (1907-1945), dem
    Direktor des Wilnaer Ghetto Theaters, mit einem neuen jiddischen Text
    versehen (Czackis 2004).

    Mit dem Aufkommen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah war der Tango
    zweifelsohne einer der beliebtesten Gesellschaftstänze in Europa. So wundert
    es nicht, dass er auch in den Ghettos und Konzentrationslagern der
    Nationalsozialisten wiederzufinden war. In diesem Kontext erfüllte der Tango,
    in gleichem Maße wie die Lagerkapellen allgemein, zweierlei Funktionen:

    1) Neben einer Reihe anderer Musiken, wie Milan Kuna in seinem Buch Musik
    an der Grenze des Lebens (1998) beschreibt, wurde auch der Tango von den
    Nationalsozialisten als ein makabres «Mittel zur Beruhigung» in den KZs
    eingesetzt, und zwar immer dann, wenn Selektionen stattfanden. Gleichzeitig
    fand der Tango aber auch Eingang in das Repertoire der Lagerkapellen in
    Auschwitz, Theresienstadt, Mauthausen, Dachau und Buchenwald. Diese

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    Lagerkapellen waren aus jüdischen Häftlingen improvisatorisch
    zusammengesetzt Ensembles, die zu verschiedenen «Anlässen» aufspielen
    mussten.

    2) der jiddische Tango diente aber vor allem auch als ein Medium zur
    Selbstdarstellung und des Selbsterhalts jüdische Häftlinge. Etliche der in
    dieser Zeit entstandenen Tangotexte klagen über das Leben in den Ghettos
    von Warschau und und Krakau, handeln von den Schrecken von Bialystok und
    Lodz und erzählen von den Todeslagern, sowie von einer Welt, die nicht
    hinsehen wollte (Czackis 2004, 8f.; Kuna 1998, 42 – 47).

    Wie Franz Ruttner schreibt, boten die Lieder in den Ghettos aber auch die
    Möglichkeit, sich für einen Moment der Realität und Einsamkeit zu entziehen.
    Weiterhin ermöglichte das Schreiben und Singen von Liedern sich mit der
    eigenen Situation auseinanderzusetzen und zeitgleich der Nachwelt ein
    Zeugnis über das Leben im Ghetto zu hinterlassen (Ruttner 1992, 123).

    Die Nazioffiziere erkannten die Vorteile, die der Tango mit sich brachte. In
    ihren Augen erzeugten weder die Musik noch der Tanz des Tangos eine
    rebellische Stimmung, sondern stellte dem Hörer eher eine mentale
    Fluchtmöglichkeit zur Verfügung. Der Tango bot keinen Anreiz zu
    Ungehorsam und Auflehnung, sondern verführte den Hörer zum
    bereitwilligen Vergessen seiner selbst, weshalb die Nationalsozialisten diese
    und andere Musik gerne auch bei Hinrichtungen spielen ließen. Paul Celans
    Gedicht «Todesfuge», das im Mai 1947 in dem Bukarester Magazin
    Contemporanul unter dem Titel «Tangoul mortii» veröffentlicht wurde,
    beschreibt (wie etwa in der letzten Strophe) jene grausigen Szenarien in den
    Lagern (Czackis 2004, 8 – 9; Kuna 1998, 31 – 36):

    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
    wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus
    Deutschland
    wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
    der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
    er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
    er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der
    Luft
    er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein
    Meister aus Deutschland

    dein goldenes Haar Margarete
    dein aschenes Haar Sulamith (Celan 2004, 12)

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    Die Lieder, die von den jüdischen Gefangenen in den Ghettos und
    Konzentrationslagern während des Krieges geschrieben wurden,
    reproduzierten den Stile und den Rhythmus jener, vor allem westlichen,
    Musiken, die in den jeweiligen Herkunftsländern der Häftlinge vor dem
    Holocaust populär waren – allen voran der Tango, welcher in der Zeit vor dem
    Zweiten Weltkrieg eine Hochzeit erlebte (Ruttner 1992, 124). Die Liedtexte
    wurden so, neben Hebräisch und Jiddisch, den gemeinsamen Sprachen der
    aschkenazischen Juden, ebenfalls in den europäischen verschiedensten
    Sprachen verfasst.

    In in seinem Buch Ess firt kejn weg zurik... (1992) ordnet Franz Ruttner neben
    denen im Folgenden besprochenen Liedern auch weitere Stücke dem
    jiddischen Tango zu, die in anderen Abhandlungen zum Thema nicht erwähnt
    werden (Ruttner 1992, 124). Ein Grund dafür mag sein, dass ein Grossteil der
    jiddischen Tangos, die in den Ghettos und in den KZs entstanden sind, eine
    Kontrafaktur jiddischer Vorkriegshits sind. So wurde beispielsweise die
    Melodie des bekannten Hits des New Yorker jiddischen Theaters «Papirosen»
    von der 18-jährigen Rikle Gleser mit einem neuen Text versehen. Der Tango
    «Es iz geven a zumertog» («Es war an einem Sommertag») beschreibt die
    traumatische Gründung des Ghettos in Wilna und die Massenermordung der
    Juden in Ponar. Die Autorin des Liedtextes, Rikle Gleser, konnte sich von
    einem Deportationszug retten und überlebte den Krieg als Mitglied der
    Partisanen (Ruttner 1992, 125, 134). Die Musik stammt von Hermann
    Jablokow (Czackis 2004).

    Video nicht mehr verfügbar

    Es iz geven a zumer-tog
    Vi shtendik zunik-sheyn,
    Un di natur hot dan gehat
    In zikh azoyfil kheyn,
    Es hobn feygelekh gezungen,
    Freylekh zikh arumgeshprungen,
    In geto hot men undz geheysn geyn.

    Okh shtelt zikh far vos s’iz fun undz gevorn!
    Farshtanen hobn mir: s’iz alts farloyrn.
    Nisht geholfn undzer betn,
    Az s’zol emitser undz retn-
    Farlozn hobn mir dokh undzer heym.

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    […] Gevezn zaynen mir tsufil –
    Bafoyln hot der har
    Tsu brengen yidn fun arum
    Un shisn oyf Ponar.
    Pust zaynen gevorn shtiber,
    Ober ful derfar di griber.
    Der soyne hot dergreykht zayn groysn tsil.

    Oyf Ponar itst zet men oyf di vegn
    Zakhn, hitlen durkhgenetst fun regn,
    Dos zaynen zakhn fun karbones,
    Fun di heylike neshomes,
    Di erd hot zey oyf eybik tsugedrekt.

    Un itst iz vider zunik-sheyn,
    Shmekt prakhtful alts arum,
    Un mir zaynen farpaynikte
    Un laydn ale shtum.
    Opgeshnitn fun der velt,
    Mit hoykhe moyern farshtelt,
    A shtral fun hofnung dervekt zikh koym.

    It was a summer’s day,
    As always beautifully sunny,
    And nature had within it
    So much charm.
    Birds were singing
    Cheerfully hopping around,
    As we were ordered into the ghetto.

    Oh, imagine what became of us!
    We understood: all is lost,
    Our pleas were of no help
    Asking for someone to rescue us,
    We had deserted our home.

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    […] We were too many –
    The master ordered
    Jews to be brought from the vicinity,
    And be shot at Ponar.
    The houses were emptied,
    But the ditches were filled.
    The enemy had attained his desired goal.

    Now at Ponar one can see on the roads
    Things, hats soaked by the rain.
    These are the belongings of the victims.
    Of the holy souls,
    Which the earth has covered forever.

    And now, once more, it is beautifully sunny,
    A wonderful smell all around,
    And we are full of grief,
    And we all suffer in silence.
    Cut off from the world,
    Hidden behind high walls,
    A ray of hope barely stirs.
    Neben anderen Liedgattungen entstanden jedoch auch
    Originalkompositionen jiddischer Tangos, sowohl in Text als auch Musik, von
    denen die meisten jedoch mit ihren Autoren vernichtet wurden. Von
    hunderten von Liedern sind nur einige wenige in Sammelbänden erhalten
    geblieben. Eine der wichtigsten Sammlungen jiddischer Tangos des
    Holocausts ist die Anthologie Lider fun di getos und lagern von Shmerke
    Kaczerginski (1908-1954), welche 1948 in New York veröffentlicht wurde.

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    Dieses Buch beinhaltet neben Viehlzahl jiddischer Stücke auch Lieder im
    Tangorhythmus, wie sie in den Ghettos und Lagern in Wilna, Kaunus, Lodz,
    Bialystok, Shauliai und Auschwitz gespielt und gesungen wurden:

              «Die Lieder des Ghettos sind Dokumente der Opfer. Sie
              spiegeln deren Ängste und Wünsche, ihre Verzweifelung
              und Hoffnung in ausdrucksvoller Weise wider. Gerade aus
              Wilna ist von ihnen eine derartige Fülle erhalten
              geblieben, daß sich beinahe die ganze Geschichte des
              Ghettos durch sie darstellen läßt» (Freund, Ruttner und
              Safrian 1992, 13).

    Wie Czackis schreibt, leitet sich die Stimmung dieser Lieder von dem
    Charakter der Tangos ab, die vor dem Krieg in Osteuropa entstanden waren,
    und welche sich grundlegend von dem argentinischen Tango unterscheiden.
    Einer dieser original jiddischen Tangos ist das Stück «Friling» dessen Text
    von Kaczerginski, dem Autor der oben genannten Anthologie, selbst
    geschrieben wurde. Kaczerginski schrieb dieses Gedicht nach dem Tod seiner
    Frau im Ghetto von Wilna. Vertont wurde es durch eine lyrische
    Tangomelodie von Abraham Brudno (Czackis 2004, 9f.). «Friling» ist zudem
    eines der wenigen Liebeslieder, die in den Ghettos geschrieben wurden, wie
    Rutter (1992), beschreibt. Kaczerginskis Lied zählte daher zu einem der
    beliebtesten Lieder im Wilnaer Ghetto, welches «wie ein Volkslied gesungen»

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    wurde, was nicht zuletzt auch daran liegen mag, dass er das Lied für die
    Theaterrevue «Di Joginesch in fass», welche im Wilnaer Ghetto aufgeführt
    wurde, geschrieben hat (Ruttner 1992, 126, 150).

    Ikh blondzhe in geto fun gesl tsu gesl,
    un ken nisht gefinen keyn ort;
    nishto iz mayn liber, vi trogt men ariber?
    mentshn, o zogt khotsh a vort.
    Es laykht? oyf mayn heym itst, der himl der bloyer,
    vos zhe hob ikh itst derfun?
    ikh shtey vi a betler bay yetvidn toyer,
    un betl, a bisele zun.

    Friling, nem tsu mayn troyer,
    Un breng mayn libstn, mayn trayen tsurik.
    Friling, oyf dayne fligl bloye,
    O, nem mayn harts mit un gib es op mayn glik.

    Ich irre im Getto von Gasse zu Gasse und kann keinen Ort
    finden.
    Nicht da ist mein Lieber, wie erträgt man es?
    Menschen, o sagt wenigstens ein Wort.
    Es lacht über meinem Haus jetzt der Himmel der blaue, was
    hab ich jetzt davon?
    Ich stehe wie ein Bettler bei jedem Tor, und bitte für ein
    bisschen Sonne.

    Frühling, nimm meine Trauer zu dir
    und bringe meinen Liebsten, meinen Treuer zurück.
    Frühling, auf deinen blauen Flügeln,
    oh nimm mein Herz mit und gib es meinem Glück…
    In den Liedtexten der jiddischen Tangos, die während des Zweiten
    Weltkrieges entstanden waren, beschreiben die Autoren auf eine eloquente
    Art und Weise – welche zugleich frei ist von Sentimentalität – die
    Erfahrungen der jüdischen Gefangenen, wie etwa überfüllte Ghettos, Mangel
    an Nahrungsmitteln, sowie das Gefühl der Unterdrückung et. Besonders die
    Kontrafaktur-Tangos werfen neues Licht auf den argentinischen Tango
    selbst. Der elegante Charakter und die exotische Romantik des Tangos
    werden hier zu einem Symbol des geistigen Widerstandes transformiert. So
    sind die jiddischen Tangos nicht nur ein Zeugnis des Einfallsreichtums und

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    der Kreativität ihrer Autoren, die unter inhumanen Konditionen leben
    mussten. Sie sind vielmehr ein Symbol für den Willen zu überleben (Czackis
    2004, 9f.)

    IV. Schluss
    In diesem Beitrag wurde die Reise und Entwicklungsgeschichte des Tangos
    von seinen Anfängen in den Einwanderer-Quartieren in Buenos Aires, nach
    Europa und ans New York Yiddish Theatre skizziert. Gleichzeit wurde gezeigt,
    wie jüdische Musiker der Musik des Tangos ihren eigenen Stempel
    aufdrückten und den jiddischen Tango schufen, und wie sie weiterhin den
    Tango als ein Vehikel nutzen, um Kummer und Leid des Holocausts zu
    verarbeiten.

    Aber dennoch: Kann man nun tatsächlich auch von einem jüdischen, und
    nicht nur einem jiddischen Tango sprechen? Victoriah Szirmai (2006) stellt in
    ihrer Arbeit zu Juden im Tango zurecht die Frage ob «ein Tango, nur weil er
    von jüdischen Musikern gespielt wird, jüdisch» (Szirmai 2006, 13) sei, denn
    schliesslich besteht durch Zuweisung jüdischer Eigenschaften zu
    Musiziersphären, die Gefahr, dass ein verkappter Rassismus reproduziert
    wird, so ein Rezent ihrer Arbeit (Szirmai 2006). Andererseits, wenn man von
    einem jüdischen Tango spricht, so müsse man auch von einem italienischen
    oder spanischen Tango sprechen, was jedoch in der Tangoliteratur eher nicht
    der Fall ist. In gleicher Weise sollte man auch zögern, dem Tango eine
    ungebrochenen «Argentinizität» zuzuweisen (Szirmai 2006, 14).

    Obschon Szirmai mit ihrer Argumentation richtig liegt, so liegt meiner Ansicht
    nach die Antwort auf die Frage, ob es neben einem jiddischen auch einen
    «jüdischen Tango» gibt, woanders. Der Tango ist nämlich einmal mehr ein
    Beispiel für die Tendenz jüdischer Musikschaffender, die immer wieder die
    kulturellen Phänomene ihrer Umgebungskultur adaptieren. Und so war der
    Tango für die Juden schon immer ein Medium zur Selbstdarstellung, und im
    Falle der Ghettos und KZs ein Mittel zum Selbsterhalt, das verwendet wurde,
    um diverse Gefühle wie Liebe und Romantik, aber auch Erfahrungen wie
    soziale Unsicherheit und die Schrecken des Holocausts zum Ausdruck zu
    bringen (Czackis 2004, 10 – 11).

    Und so sehen zum Beispiel Eduardo Makaroll und Philippe Cohen-Solal der
    Musikgruppe «Gotan-Project» heute noch viele Berührungspunkte zwischen
    dem Tango und den Juden. Die beiden Vertreter des Electro-Tangos sind der
    Meinung, dass der Tango sehr jüdisch ist, und dass das Feeling von Tango
    dem des Klezmer und des jiddischen Liedes sehr ähnlich ist. Cohen-Solal
    erklärte in einem Zeitungsinterview mit der Jüdischen Illustrierten (24. Juni
    2010): «Meine jüdischen Wurzeln kommen unter anderem zum Tragen, wenn
    es melancholisch wird […]. Tango ist wunderbar melancholisch» (Interview
    2010, 11).

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    Neben Llioca Czackis verleiht auch die argentinisch-jüdische Sängerin Zully
    Goldfarb dem jiddischen Tango wieder eine neue Stimme. Auf ihrer CD «De
    donde vienne mi voz» («Woher meine Stimme kommt») singt sie Tangos in
    der Sprache ihrer Eltern und Grosseltern. Jiddisch ist die Sprache, so
    Goldfarb, «die mit der wehmütigen Arme-Leute-Musik Argentiniens zu
    jiddischen Tangos zusammenfand und eine ideale Liaison bildet» (Interview
    2010, 12).

    → List of References
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    Szirmai, Victoriah. 2006. Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit
       eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des ‹tango argentino›: Mit
       einer kritischen Einführung zu Vermarktung und Rezeption des Phänomens ‹jüdischer
       Tango›. Berlin: Klangverführer.
    Vogel, Daniela. 1998. «Jüdische Einwanderung nach Lateinamerika». Alte Welt – Neue Welt
       24/25. (http://www.quetzal-leipzig.de/printausgaben/ausgabe-24-25-alte-welt-neue-
       welt/judische-einwanderung-nach-lateinamerika-19093.html).
    Wells, Elizabeth. 2000. «West Side Story and the Hispanic». Echo 2 (1).
       (http://www.echo.ucla.edu/Volume2-Issue1/wells/wells.pdf).

    Der Artikel basiert auf einem gleichnamigen Vortrag, der im Rahmen der
    Veranstaltung «Milonga Plus» am Musikwissenschaftlichen Seminar der
    Universität Basel am 19.11.2011 gehalten wurde.

    → Published on September 07, 2012

    → Last updated on October 08, 2020

    Sarah Ross ist seit Dezember 2009 Assistentin für Kulturelle Anthropologie der
    Musik am Institut für Musikwissenschaft der Univeristät Bern. 2010 promovierte sie
    an der Hochschule für Musik und Theater Rostock zum Thema «Performing the
    Political in American Jewish-Feminist Music». Derzeit arbeitet sie an ihrer
    Habilitationsschrift zu jüdischer Musik in der Schweiz. Ihre weiteren
    Forschungsinteressen umfassen die Themengebiete Musik & Gender, Musik &
    Religion sowie Kognitive Ethnomusikologie.

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                  Dance
                 Diaspora
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