Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...

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Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...
Schriften des Landtages Brandenburg Heft 1/2019

  Woche der Brüderlichkeit
im Land Brandenburg 2019
                                   11. März 2019
Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...
Musikalisch untermalt wurde die Festveranstaltung durch die Kantorin Aviv Weinberg (Berlin), begleitet durch den Kantoren-
studenten Yoed Sorek (Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam).
Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...
Inhalt

     05                      09                    13
     Grußwort                Grußwort              Festansprache
     Britta Stark            Tobias Barniske       Prof. Dr. Gideon
     Präsidentin des Land-   Vorsitzender der      Botsch
     tages ­Brandenburg      Gesellschaft für      Leiter der Emil Josef
                             Christlich-Jüdische   Gumbel
                             Zusammenarbeit        Forschungsstelle
                             Potsdam               Antisemitismus und
                                                   Rechtsextremismus
                                                   am Moses
                                                   Mendelssohn
                                                   Zentrum für
                                                   europäisch-jüdische
                                                   Studien, Potsdam

                                                                           INHALT 3
Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...
Woche der Brüderlichkeit im Land Brandenburg 2019 - März 2019 - Landtag ...
Grußwort
Britta Stark

Präsidentin des
Landtages ­Brandenburg

S
         ehr geehrte Mitglieder des
         Deutschen Bundestages und
         des Landtages Brandenburg,
sehr geehrter Herr Bischof Dröge,           Britta Stark
sehr geehrter Herr Barniske,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Gideon              „Mensch, wo bist du? Gemeinsam
Botsch,                                     gegen Judenfeindschaft“ – Das The-
sehr geehrte Mitglieder der jüdischen       ma der Woche der Brüderlichkeit in die-
Gemeinden,                                  sem Jahr nennt die Dinge beim Namen,
liebe Gäste,                                über die wir miteinander sprechen müs-
ich freue mich, Sie zur Festveranstaltung   sen und die von uns fordern, dass wir
anlässlich der Woche der Brüderlichkeit     zusammenstehen und gemeinsam han-
zu begrüßen.                                deln. Judenfeindschaft in Deutschland
Ich möchte mich bedanken bei Kantorin       – das ist ein Alarmsignal, das uns zum
Aviv Weinberg für die musikalische Ein-     entschiedenen Handeln auffordert.
stimmung auf diese festliche Stunde.             Als in den 1990er-Jahren wieder Ju-
     Jedes Jahr kommen wir hier zusam-      den nach Brandenburg kamen, haben
men, Christen und Juden, und feiern         das viele Menschen als ein Geschenk
gemeinsam unsere Verbundenheit, un-         von großem Vertrauen empfunden und
sere Brüderlichkeit, die von unseren ge-    die Rückkehr jüdischen Lebens in un-
meinsamen geistlichen Wurzeln her so        ser wiedergegründetes Brandenburg als
selbstverständlich ist, wie sie ein Wun-    Zeichen von Vertrauen gegenüber den
der ist nach den Schrecken der Schoa,       Deutschen, die Verantwortung über-
für die wir Deutschen die Verantwortung     nommen haben für das „Nie wieder!“
tragen. Unser Zusammenhalt zwischen         Wir hatten nicht daran gezweifelt, dass
Juden und Christen ist eine Gnade, die      Jüdinnen und Juden sich in unserem
über uns hinausweist und sich allen         Land sicher fühlen können. Heute sehen
Menschen öffnet. Unsere Brüderlichkeit      wir, dass es Judenfeindschaft noch oder
ist eine Sache des Herzens, die wir nicht   schon wieder gibt, dass der Antisemitis-
nur in dieser Woche leben wollen, son-      mus keineswegs überwunden ist.
dern jeden Tag.                             Ja, es ist alarmierend, wenn Jüdin-

                                                                           STARK   5
nen und Juden sagen, dass sie sich in       und auch muslimischer Antisemitismus
Deutschland nicht mehr sicher fühlen.       sich ausbreitet, damit Judenfeindschaft
Die „Jüdische Rundschau“ vom Janu-          keine Zukunft hat in unserem Land. Das
                                            ist eine Frage von großer Dringlichkeit

„Judenfeindschaft in                        für unsere Demokratie und für jeden Ein-
                                            zelnen von uns. Herabwürdigung, Be-

Deutschland – das ist                       drohung, Hass oder Gewalt sind nicht
                                            vereinbar mit dem Menschenbild, das

ein Alarmsignal, das                        Christen und Juden miteinander teilen.
                                            Weil Christen und Juden davon ausge-

uns zum entschiedenen                       hen, dass jeder einzelne Mensch ein
                                            mit unverlierbarer Würde begabtes Ge-

Handeln auffordert.“                        schöpf Gottes ist, dem in seiner Ein-
                                            maligkeit und Verletzlichkeit Respekt
                                            gebührt, können wir auch gemeinsam
ar 2019 berichtet von Jana Grossmann,       für eine Gesellschaft einstehen, die die
die ihre Erfahrungen mit dem Antisemi-      Freiheit des Einzelnen garantiert – und
tismus im Alltag beschreibt. Öffentlich     die Freiheit anderer Religionen, Weltan-
jüdisch zu sein, sagt sie, sei nicht mehr   schauungen und Überzeugungen.
möglich. Sie berichtet von brutalen An-          Dieser Weg beginnt damit zu lernen,
feindungen: „Jemand schrieb: Wir wer-       dass es Unterschiede gibt, bei denen es
den dich finden. Dann wirst du’s merken     gar nicht darum geht, sie zu überwinden,
und wirst dir Hitler zurückwünschen.        sondern sie zu achten, weil sie zu uns
Das habe ich zur Anzeige gebracht, aber     Menschen gehören. Solche Unterschie-
die Polizei konnte den Autor nicht er-      de bereichern uns, wenn wir zuhören ler-
mitteln. Richtig frei von Angst werde ich   nen, wenn wir Empathie entwickeln und
seither nicht mehr.“                        die Perspektive des anderen in unseren
Es ist eine schmerzliche Wahrheit, dass     eigenen Horizont aufnehmen. Einer, der
auch die Erinnerung an die Schrecken        das vorgelebt hat, war der jüdische Phi-
des Holocaust und millionenfachen           losoph Emmanuel Levinas. Er sagte: „Ei-
Mord an Juden nicht dazu geführt ha-        nem Menschen begegnen heißt, von ei-
ben, dass Antisemitismus in Deutsch-        nem Rätsel wachgehalten zu werden.“
land geächtet ist – und dass es noch        Das bedeutet, den anderen wahrzu-
immer keine Selbstverständlichkeit ist,     nehmen in seiner Unverwechselbarkeit,
dass Juden mit uns leben wollen und         mit seinen Unterschieden im Vergleich
dass sie bei uns sicher leben können.       zu mir selbst. Ihn wahrzunehmen ohne
Diese bittere Einsicht fordert uns auf      die Vorurteile und Schablonen, von de-
zur Auseinandersetzung mit der Fra-         nen unser Denken niemals ganz frei ist.
ge, was wir tun können in einer Zeit, da    Für Emmanuel Levinas, der erst nach
Rechtspopulismus und Rechtsextremis-        Kriegsende erfahren hatte, dass litau-
mus die Mitte der Gesellschaft erreichen    ische Soldaten seine Eltern und seine

6   STARK
Brüder erschossen hatten, weil sie Ju-            „Mensch, wo bist du?“ – Gottes
den waren, war die Frage nach dem „Nie       Frage an die ersten Menschen, von der
wieder!“ das Thema seines Lebens. Sei-       das 1. Buch Mose berichtet, lädt zu ei-
ne Antwort klingt auf verstörende Weise      nem solchen radikalen Perspektivwech-
einfach: „Nie wieder!“ – das bedeutete       sel ein, der Christen und Juden mit allen
für ihn einen radikalen Perspektivwech-      Menschen verbinden kann. Unsere Brü-
sel, weg von sich selbst und hin zum an-     derlichkeit von Christen und Juden, un-
deren und zu einem Humanismus, der           ser Zusammenhalt, unser Eintreten für-
ganz konsequent nicht sich selbst, son-      einander ist eine große Chance für eine
dern den anderen Menschen in den Mit-        lebenswerte Welt. Lassen Sie uns die-
telpunkt stellt. Die Würde des Menschen      se Chance gemeinsam nutzen. Lassen
zu achten, das hieß für Levinas, Verant-     Sie uns zusammenstehen und uns ge-
wortung für den anderen übernehmen –         meinsam engagieren für die Achtung vor
weil jeder Mensch einzigartig ist und ver-   der Würde jedes einzelnen Menschen.
letzbar und in seiner Verletzbarkeit auf     Schalom!
Zuwendung angewiesen.

                                                                             STARK   7
8   STARK
Grußwort
Tobias Barniske

Vorsitzender der Gesellschaft für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Potsdam

      „Mensch, wo bist Du? Gemeinsam
gegen Judenfeindschaft“ – so lautet das
Jahresthema, das der Deutsche Koor-
dinierungsrat für die Woche der Brüder-      Tobias Barniske
lichkeit 2019 gesetzt hat. Erlauben Sie
mir die Schilderung eines Vorfalls und       bar in der Art, wie sich Antisemitismus
einige persönliche Gedanken und Ein-         äußert: nicht mehr hinter verschlos-
drücke dazu.                                 senen Türen, im vertrauten Zirkel des
      Vor einigen Tagen schrieb ein          Stammtisches oder anonymisiert, son-
Freund auf Facebook über einen Vor-          dern in der Öffentlichkeit, mit Klarna-
fall, den er in der S-Bahn in Berlin mit-    men auf Facebook oder dem Leserbrief,
erlebt hatte. Ein Mann sang zu einer         mit Pöbeleien und Angriffen auf offener
Schlagermelodie einen antisemitischen        Straße.
Text. Mein Freund hatte den Vorgang               Oft werden antisemitische Äußerun-
aufgenommen und fragte die Face-             gen mit den Worten „das wird man doch
book-Community, an welche Stelle er          noch sagen dürfen“ eingeleitet. Oder es
sich wegen einer Anzeige wenden soll-        schwingt etwa bei Kommentaren im In-
te. In den Kommentaren wurde meinem          ternet die Vorstellung eines „anything
Freund dazu geraten, den Vorfall zu mel-     goes“ mit – die ganz offensichtlich eine
den. Aber andererseits herrschte auch        falsche Vorstellung impliziert, was Mei-
die Meinung vor, dass dies letztendlich      nungsfreiheit in unserem Lande bedeu-
nichts bringen werde.                        tet. Die Gedanken sind frei, aber das
      Antisemitismus war und ist nicht ein   Recht, meine Meinung zu äußern, findet
Phänomen der politischen Ränder, son-        dort seine Grenze, wo ich andere Men-
dern Antisemitismus ist in unterschied-      schen in ihrer Ehre und Würde herabset-
licher Weise Teil der gesellschaftlichen     ze oder das friedliche Zusammenleben
Auseinandersetzung. Umfragen zeigen          gefährde. Deswegen ist es so wich-
seit Jahrzehnten eine relativ konstante      tig, dass bei antisemitischen Äußerun-
Größe von circa 20 Prozent der Befrag-       gen nicht weggehört oder weggesehen
ten, die antisemitischen Äußerungen zu-      wird, sondern dass diese zur Anzeige
stimmen. Eine Änderung ist wahrnehm-         gebracht werden. Antisemitische Straf-

                                                                         BARNISKE   9
taten müssen verfolgt werden und die        freut, dass die Evangelische Kirche Ber-
Betroffenen geschützt und unterstützt       lin-Brandenburg-schlesische Oberlau-
werden. Da sind wir alle in der Verant-     sitz auf Initiative von Bischof Dröge die
wortung: Bürger und Staat.                  Beschäftigung mit Antijudaismus und
     Es reicht aber nicht, sich nur ge-     Antisemitismus in der Landeskirche neu
gen Antisemitismus einzusetzen. Wenn        in den Blick nimmt und auch für ein le-
wir die Grundwerte unserer Demokratie       bendiges christlich-jüdisches Miteinan-
leichtfertig aufgeben, wenn wir es zulas-   der werben will.
sen, dass gesellschaftliche Gruppen ge-          Werben für das Miteinander ist ein
geneinander ausgespielt werden, wenn        wichtiges Thema, denn Antisemitis-
wir dulden, dass die Lehren aus der Auf-    mus und Fremdenfeindlichkeit gedeihen
arbeitung unserer Geschichte mit Fä-        umso besser, je weniger ihre Repräsen-
kalbegriffen versehen oder als Schande      tanten Kontakt mit einem Menschen jü-
diskreditiert werden, dann können wir       dischen Glaubens oder einem Fremden
uns über eine Zunahme fremdenfeind-         haben. Deshalb ist es ein Hauptanlie-
licher und antisemitischer Vorfälle nicht   gen der Gesellschaften für christlich-jü-
wundern. Wir müssen die Grundwerte          dische Zusammenarbeit in der Bundes-
unserer Demokratie aktiv verteidigen,       republik und auch unserer Gesellschaft
ihre Inhalte und Geschichte vermitteln.     in Potsdam, dass Begegnung zwischen
Damit leisten wir einen ersten Beitrag      Juden und Christen ermöglicht wird,
gegen Judenfeindschaft!                     und dass dies in einer Weise geschieht,
                                            die den Gemeinsamkeiten und den Un-

„Wir müssen uns der                         terschieden gerecht wird. Die Grundlage
                                            für eine solche Begegnung muss sein,

Geschichte des Antiju-                      dass wir jüdisches Leben in all seinen
                                            Facetten und Ausprägungen wahrneh-

daismus und Antisemi-                       men, es unterstützen und fördern. Das
                                            Land Brandenburg hat mit den Syna-

tismus immer wieder                         gogen in Cottbus und Potsdam, mit der
                                            Recherche- und Informationsstelle Anti-

erneut stellen und dar-                     semitismus oder mit der Einrichtung des
                                            Masterstudiengangs „Jüdische Theolo-

über aufklären.“                            gie“ an der Universität Potsdam wichti-
                                            ge Eckpfeiler für solch eine Entwicklung
                                            gesetzt.
     Wir müssen uns der Geschichte des           Begegnung ermöglichen, Zusam-
Antijudaismus und Antisemitismus im-        menhalt schaffen – dies war auch die
mer wieder erneut stellen und darüber       Leitlinie bei der Auswahl der Projekte,
aufklären. Ein „jetzt ist genug gesagt      die wir für eine Kurzvorstellung ange-
und getan“ kann es nicht geben. Ich         fragt haben. Und ich freue mich sehr,
habe mich daher auch sehr darüber ge-       dass im Anschluss an die Festrede Herr

10   BARNISKE
Pfarrer Fricke einige Worte zur Flücht-   der Schoa aus Südfrankreich in die
lingsarbeit des Evangelischen Kirchen-    Schweiz, von ihrem Zusammenhalt und
kreises Potsdam und zur Arbeit des In-    den Wagnissen, die sie dabei zu über-
terreligiösen Forums Potsdam an uns       stehen hatten. Weitere Informationen
richten wird.                             zum Film und die Daten der Vorfüh-
     Auch in diesem Jahr zeigen wir in    rungen finden Sie auf dem Flyer, der
der bewährten Kooperation mit dem         zusammen mit weiterem Infomaterial
Filmmuseum Potsdam einen Film             beim Empfang ausliegt.
zur Woche der Brüderlichkeit. „Fan-           Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerk-
nys Reise“ handelt von der Flucht ei-     samkeit!
ner Gruppe jüdischer Kinder während

                                                                   BARNISKE   11
Festansprache
Prof. Dr. Gideon Botsch

Leiter der Emil Josef Gumbel For-
schungsstelle Antisemitismus und
Rechtsextremismus am Moses Men-
delssohn Zentrum für europäisch-
jüdische Studien, Potsdam

S
          chönen guten Abend, meine
          Damen und Herren – herzlichen
          Dank für die Einladung, die
Festrede zu dieser Eröffnungsveranstal-        Prof. Dr. Gideon Botsch
tung halten zu können!
     „Mensch, wo bist Du?“ So lautet           noch größerer Härte Eva – schwer da-
das diesjährige Motto der Woche der            für bestrafen, dass sie nach Erkenntnis
Brüderlichkeit. Es stammt aus der Tora,        streben, „nach Wahrheit forschen“. Das
Bereschit – Genesis – 3.9. Dies ist die        ist eine ziemliche Herausforderung, zu-
erste Frage, die nach biblischer Überlie-      mindest für mich als säkularen Juden,
ferung jemals gestellt worden ist. Amos        und mehr noch als Wissenschaftler. Ich
Oz und Fania Oz-Salzberger haben in            möchte daher lieber Moses Mendels-
ihrem Essay „Jews and Words“ darauf            sohn zitieren, den Philosophen aus Ber-
aufmerksam gemacht, und sie zeigen             lin und Namenspatron unseres Potsda-
auch, dass Kain demnach der Erste war,         mer Forschungszentrums. 1782 schrieb
der jemals eine Frage mit einer Gegen-         er: „Dank sei es der allgütigen Vorse-
frage beantwortet habe: „Bin ich der Hü-       hung, daß sie mich am Ende meiner
ter meines Bruders?“                           Tage noch diesen glücklichen Zeitpunkt
     Kain Ben Adam – Kain, „der Sohn           hat erleben lassen, in welchem die
des Adam“; aber auch Kain, „der Sohn           Rechte der Menschheit in ihrem wah-
des Menschen“, denn Adam, der Eigen-           ren Umfange beherzigt zu werden an-
name des ersten Menschen, ist auch             fangen!“
die Bezeichnung für Mensch an sich, die             Das war auf seinen Freund Chris-
hier in Bereschit verwendet wird.              tian Wilhelm Dohm und dessen Essay
     Den Bezug auf die Bibelstelle möch-       „Über die bürgerliche Verbesserung der
te ich nicht weiter vertiefen. Ich kann ihr,   Juden“ bezogen, der die preußische Ju-
offen gestanden, nicht allzu viel abge-        denemanzipation einforderte und vor-
winnen. Gott sucht Adam, der sich ver-         bereitete. Dohms Absicht, so schrieb
steckt, weil er vom Baum der Erkennt-          Mendelssohn, sei „weder für das Ju-
nis gegessen hat und nun weiß, dass            dentum, noch für die Juden eine Apolo-
er nackt ist. Gott wird Adam – und mit         gie zu schreiben. Er führet bloß die Sa-

                                                                             BOTSCH 13
che der Menschheit, und verteidiget ihre     tan, der Cavaliere Cipolla der politischen
Rechte. Ein Glück für uns, wenn diese        Publizistik in Deutschland.
Sache auch zugleich die unserige wird,            Allzu leichtfertig sind wir bereit, uns
wenn man auf die Rechte der Mensch-          diesem Gerede anzuschließen. Wir ver-
heit nicht dringen kann, ohne zugleich       teidigen uns und sagen: „Ich bin ge-
die unserigen zu reklamieren.“               wiss kein Gutmensch…“ Merken wir,
     Das findet sich in der sogenann-        was wir tun? Begreifen wir, was wir aufs
ten Manasse-Vorrede, die Sie nachlesen       Spiel setzen, wenn wir der Logik folgen?
können in einer vorzüglichen Edition der     Wollen wir uns wirklich verabschieden
Philosophischen Bibliothek des Verlags       vom Streben nach dem „Guten“, jenem
Felix Meiner. Sie steht dort einleitend zu   Schlüsselbegriff der europäischen Phi-
Mendelssohns kleiner Schrift „Jerusa-        losophie? Wollen wir uns tatsächlich
lem oder über religiöse Macht und Ju-        ironisch distanzieren vom Begriff des
dentum“. Und obwohl dieses Büchlein          „Menschen“, dem Fluchtpunkt des zi-
bald 250 Jahre alt ist, hat es uns viel zu   vilisatorischen Prozesses? Wollen wir
sagen für unsere Zeit. Es legt Grund-        mitgehen mit denjenigen, die uns als
lagen für das Zusammenleben in einer         „Gutmenschen“ verballhornen, wenn sie
Welt, die nicht mehr ausschließlich und      behaupten, sie verteidigten die „Kultur
verbindlich „christlich“ ist, sondern he-    des Abendlands“?
terogen und vielfältig. Wir sollten dieses        „Kultur des Abendlands“: Mit die-
Buch heute viel mehr lesen – es handelt      sem Begriff ist, aus einer menschen-
eben nicht von Anpassung und „Integ-         rechtlich orientierten Perspektive, nichts
ration“, sondern – wenn auch noch nicht      zu gewinnen. Er ist bewusst gesetzt als
von Partizipation, so doch von Anerken-      Gegenkonzept gegen die „europäische
nung.                                        Zivilisation“, die er angreift und negiert.
     „Nach Wahrheit forschen“, das war       Von einer „christlich-jüdischen Tradition
ein Teil des Lebensmottos von Mendels-       des Abendlands“ zu reden, ist ohnedies
sohn: „Nach Wahrheit forschen, Schö-         absurd. Wo das „Abendland“ den Maß-
nes lieben, Gutes wollen, das Beste tun.     stab bildet, sind Juden allenfalls gedul-
Das ist die Bestimmung des Menschen.“        det: die „Kultur“, auf die sich die Abend-
     Wo stehen wir heute? Ausgerech-         land-Apologeten beziehen, war explizit
net zwei der beiden Schlüsselbegrif-         antijüdisch. Mendelssohn gehört nicht
fe – „gut“ und „Mensch“ – werden zu-         zum Abendland. Er gehört zur europäi-
sammengezogen und zum Schimpf- und           schen Zivilisation.
Spottwort gemacht. Ein „Gutmensch“                Das gilt auch für Mendelssohns An-
– der ist bestenfalls naiv und einfältig,    spruch, „nach Wahrheit zu forschen“.
schlimmstenfalls hinterhältig und gefähr-    Zur europäischen Zivilisation gehört
lich. Gleichzeitig kursiert im Netz jenes    eine selbstreflexive Perspektive, die sie
giftige Wort: „Wer Menschheit sagt, will     zumindest prinzipiell befähigt, ihre ei-
betrügen.“ Geprägt hat es Carl Schmitt,      genen Grundlagen kritisch zu hinterfra-
der große Wortverdreher, der Scharla-        gen. Auch das unterscheidet sie vom

14   BOTSCH
Mythos des „Abendlandes“. Wir erleben       und Ecclesia erläutern, also zwei Frau-
dies derzeit in der Debatte um das kolo-    engestalten, die in der christlichen Iko-
niale Erbe und die koloniale Gewalt, auf    nographie seit dem Mittelalter zu finden
denen sie beruht und die ihren „zivilisa-   sind. In einer älteren Schicht sieht man
torischen“, ihren „zivilen“ Charakter re-   manchmal die beiden Frauen zu Füßen
lativieren. Aber immerhin befähigt uns      des Gekreuzigten. Hier ist Synagoga
diese Zivilisation dazu, uns den Schat-     ohne jede Feindseligkeit dargestellt. Sie
tenseiten ihrer eigenen Geschichte zu       steht einfach symbolisch für die Konti-
stellen.                                    nuität des – aus christlicher Sicht – alten
     Damit wären wir beim Antisemitis-      und des neuen Bundes. Seit den Kreuz-
mus, bei der Judenfeindschaft. Verfolgt     zügen setzt sich ein anderes Bild durch.
man die Debatten der letzten Jahre, so      An den gotischen Domen Mitteleuropas
könnte man fast den Eindruck gewinnen,      ist Synagoga ein Symbol der Abwer-
der Antisemitismus sei Europa fremd, er     tung, eine Projektion auf die Juden: Ihre
werde importiert, komme nur und vor al-     Krone ist vom Kopf gerutscht; ihr Speer
lem von außen. Das Bild ist absurd. Ju-     gebrochen; die „toten Buchstaben“ der
denfeindschaft und Antisemitismus sind      Schrift, an der – dem christlichen Antiju-
nicht zu trennen von ihren christlichen     daismus zufolge – das rabbinische Ju-
Wurzeln in Europa. Das gilt auch dort,      dentum verstockt festhält, wenn es die
wo sie sich von ihnen abgelöst haben –      frohe Botschaft des Evangeliums nicht
auch im muslimischen Antijudaismus,         erkennt, weisen zur Erde. Vor allem ist
auch im säkularen Antisemitismus.           Synagoga blind, trägt eine Binde vor
                                            den Augen. Ecclesia, die die christliche

„Judenfeindschaft und                       Kirche symbolisiert, triumphiert über
                                            ihre ältere Schwester. Aber während Sy-

Antisemitismus sind                         nagoga sich von ihr abwendet und zu
                                            Boden blickt, schaut Ecclesia in den

nicht zu trennen von                        meisten dieser Darstellungen gütig auf
                                            ihre Schwester – sie wendet ihr das Ant-

ihren christlichen Wur-                     litz zu. Aber sieht sie auch Synagoga?
                                            Stellt sie die Frage: „Mensch, wo bist

zeln in Europa.“                            Du?“ Und an wen stellt sie diese Frage?
                                                  Es ist das Stereotype, das Projekti-
                                            ve – versteinert in der Statue, verfestigt
     Hat das etwas mit dem Motto die-       und zum Ressentiment geworden –, das
ser Woche der Brüderlichkeit zu tun?        den christlichen Antijudaismus mitbe-
Lässt sich eine Brücke schlagen zur         gründet. Die Zuschreibungen; der Unwil-
Frage: „Mensch, wo bist Du?“ Wenn           le, die jüdische Perspektive auf Gott und
wir die christlichen Wurzeln der Juden-     die Welt auch nur zur Kenntnis zu neh-
feindschaft ernst nehmen, durchaus.         men. Das Judentum wird zum Symbol,
Dies lässt sich am Bild der Synagoga        die Feindseligkeit abstrahiert von den

                                                                            BOTSCH 15
konkreten Menschen, die mit abstrakten        gemeißeltes Bild. Dies ist zweifellos eine
Negativ-Eigenschaften assoziiert und          der Wurzeln des Antisemitismus, den
attribuiert werden.                           Philip Roth einmal als „eine Form von
     Es ist bemerkenswert, was die            Realitätsflucht, eine Weigerung, aufrich-
evangelische Soziallehre noch vor 65          tig über uns und unsere Gesellschaft
Jahren zum Antisemitismus zu sagen            nachzudenken“ bezeichnet hat.
hatte. Ich zitiere: „So bleibt das Fak-            Das, freilich, erfahren auch andere
tum des Antisemitismus ein unlösbares         Menschen, die ihrer religiösen, kulturel-
Rätsel, in das nur Klarheit kommt, wenn       len und anderweitigen Gruppenzugehö-
man es theologisch zu deuten versucht         rigkeit wegen mit Stereotypen und Res-
[…]. Israel ist das auserwählte Volk Got-     sentiments konfrontiert sind, denen, mit
tes, das einen Heilsauftrag für die gan-      anderen Worten, die Anerkennung als
ze Welt besaß. Diesen Auftrag hat Israel      Mensch verweigert wird. Das erfahren
nicht erfüllt […]. Israels Schuld liegt da-   heute auch Menschen aus dem islami-
rin, dass es bis zum heutigen Tage […]        schen Kulturkreis – unabhängig davon,
dem gekreuzigten Messias die Aner-            ob und in welchem Maße sie Muslime
kennung versagt hat. Dieses Volk ist so       sind oder als solche leben –, wenn ih-
verstockt und ist seither seinen dunklen      nen im notwendigen Kampf gegen Anti-
Weg der Verfolgung und Unterdrückung          semitismus pauschal unterstellt und zu-
gegangen“. So heißt es im Evangeli-           geschrieben wird, dass sie Antisemiten
schen Soziallexikon, herausgegeben im         seien. Ich bin mir vollauf bewusst über
Auftrag des Deutschen Evangelischen           die Verbreitung antisemitischer Stereo-
Kirchentages im Jahr 1954, im Stich-          type in Teilen der islamischen Welt; ich
wort „Antisemitismus“; und der dies           spreche mit Bedacht von einem musli-
schreibt, Günther Dehn, ist keineswegs        mischen Antijudaismus, so wie ich von
ein „Deutscher Christ“, sondern ein Be-       einem christlichen Antijudaismus spre-
kenntnispfarrer, der noch zehn Jahre          che – wohl wissend, dass man ebenso
zuvor im Widerstand gegen den Natio-          Muslim oder Muslima sein kann, ohne
nalsozialismus stand. Und dies ist der        antisemitisch zu sein, wie Christ oder
Ausweg, den Dehn anbietet: „Die Syn-          Christin.
agoge ist, wie die Kunst das oft genug             Wo Muslime antisemitisch handeln,
dargestellt hat, die Schwester der Kir-       müssen wir einschreiten. Wo sich anti-
che […]. Seine Schwester verlässt man         semitische Vorurteile zeigen, bedarf es
nicht, gerade dann nicht, wenn sie blind      der Intervention. Aber gerade im Kampf
ist und nicht sieht, was vor Augen liegt.     gegen die Gefahren eines Antisemitis-
Es ist die Aufgabe der Kirchen, jeden         mus unter Muslimen ist das Stereotyp
Antisemitismus mit aller Energie zu be-       irreführend und gefährlich, alle die neu
kämpfen.“                                     eingewanderten, geflüchteten Men-
     „Mensch, wo bist Du?“ Zum Ste-           schen seien getrieben von einem ver-
reotyp geworden, überhäuft mit Projek-        zehrenden Judenhass und warteten nur
tionen und Unterstellungen, ein in Stein      darauf, Juden abzuschlachten.

16   BOTSCH
„Wo Muslime antisemi-                       denen er so ausgestattet wird wie an
                                            den gotischen Domen die Synagoga.

tisch handeln, müssen                            Mehr noch: „Der Jude“ ist nicht
                                            mehr nur für den Antisemiten eine sym-

wir einschreiten. Wo                        bolische Größe. Er wird es inzwischen
                                            auch oft im Kampf gegen den Antise-

sich antisemitische Vor-                    mitismus. Sieht man sich die aktuellen
                                            Anstrengungen an, die unternommen

urteile zeigen, bedarf es                   werden, um dem Antisemitismus zu be-
                                            gegnen, so zeigt sich ein ambivalentes

der Intervention.“                          Bild. Die von Mendelssohn einst erhoffte
                                            Einordnung der Abwehr von Judenfeind-
                                            schaft in die prinzipielle Durchsetzung
      Übersehen wir nicht, dass der An-
                                            der Menschenrechte wird auf den Kopf
tijudaismus, der Antisemitismus in der
                                            gestellt.
deutschen Gesellschaft weiterwirkt,
                                                 Die Auseinandersetzung mit Juden-
ganz unabhängig von Zuwanderung. Die
                                            feindschaft wird zur Funktion anderer In-
Verweigerung von Anerkennung, soweit
                                            teressen. Diese Interessen sind durch-
wir als Juden nicht bestimmte Vorbe-
                                            aus sehr heterogen. Über die Rhetorik
dingungen leisten, ist ein zentrales Pro-
                                            der AfD und der ihr verbündeten Agi-
blem. Sie begegnet uns beispielsweise,
                                            tatoren „gegen eine Islamisierung des
wenn man von uns eine Distanzierung
                                            Abendlandes“ müssen wir dabei kein
von Israel erwartet. Es ist ja in diesen
                                            Wort verlieren, sie entlarvt sich selbst.
Fällen zumeist so, dass selbst kritische
                                            Aber auch manche Konservative zielen
Worte über Israel nicht akzeptiert wer-
                                            mit ihrer ernstzunehmenden Ablehnung
den, wenn sie nicht so prinzipiell, radi-
                                            des Antisemitismus zugleich auf eine
kal und feindselig ausfallen, wie man es
                                            „Wertedebatte“. Progressive mahnen
von uns erwartet und verlangt. Als ak-
                                            „Gerechtigkeit“ an und Liberale – die
zeptabel gilt dann ausschließlich die ra-
                                            ja heute leider den Liberalismus oft auf
dikale Randposition der boykottbefür-
                                            seine wirtschaftliche Seite beschränken
wortenden „Jüdischen Stimme für einen
                                            und die stolze Tradition des politischen
gerechten Frieden“, der Alibi-Juden der
                                            Liberalismus kaum noch fortführen –
Israel-Hasser. Aber seine Alibi-Juden
                                            wünschen sich mehr von dem, was sie
hat schließlich jeder gute Antisemit, und
                                            für „individuelle Freiheitsrechte“ halten.
heutzutage auch die AfD.
                                            Oder auch: Manche Kritiker der Religi-
      „Mensch, wo bist Du?“ – an ech-
                                            on – an sich – oder einer bestimmten re-
te, lebende, konkrete Jüdinnen und Ju-
                                            ligiösen Ausrichtung nutzen die Kritik an
den – und Israelis – wird diese Frage im-
                                            Antijudaismen zugleich für religionskriti-
mer noch zu selten gestellt. „Der Jude“
                                            sche Kampagnen, während die Vertreter
bleibt Objekt vielfältiger Zuschreibun-
                                            verschiedener religiöser Gemeinschaf-
gen, Stereotype und Projektionen, mit
                                            ten für ihre jeweiligen Glaubensrich-

                                                                           BOTSCH 17
tungen eine höhere gesellschaftliche        mus fachlich angemessen zu begegnen.
Bedeutung erhoffen. Für sich genom-         Hoffen wir, dass wir uns im Ergebnis
men mögen diese Interessen legitim          dieser Dokumentationsarbeit nicht dem
sein, aber die Instrumentalisierung des     Satz des Rabbi Simeon ben Gamaliel
Kampfes gegen Antisemitismus bleibt         anschließen müssen, der (wie der Baby-
problematisch und den Betroffenen ge-       lonische Talmud im Traktat Shabbat 13b
genüber ignorant.                           überliefert) gesagt hat: „Was sollen wir
                                            machen? Wenn wir alle Bedrängnisse

„Die Instrumentalisie-                      [des Volkes Israel] aufzeichnen würden,
                                            fänden wir kein Ende.“

rung des Kampfes ge-                             Aber mit Bezug auf den Antisemitis-
                                            mus und seine Abwehr sind wir bei wei-

gen Antisemitismus                          tem noch nicht an einem Punkt, der ei-
                                            ner Antwort auf die Frage „Mensch, wo

bleibt problematisch                        bist Du?“ gleichkäme. Nicht einmal das
                                            Refugium des christlich-jüdischen Dia-

und den Betroffenen                         loges können wir davon ausnehmen. In
                                            letzter Zeit ist dieser Dialog immer wie-

gegenüber ignorant.“                        der auf die Probe gestellt worden: im-
                                            mer dann, wenn Anerkennung abhängig
                                            gemacht wurde von Vorbedingungen,
     Andererseits haben jüngst einige       wenn das Gespräch unter einen grund-
Studien begonnen, die „jüdische Pers-       legenden Vorbehalt gestellt wurde; also
pektive“ auf Antisemitismus empirisch       nach dem aus dem christlich-jüdischen
zu ermitteln, wie beispielsweise die Stu-   Verhältnis so vertrauten Grundprinzip,
dien der Fundamental Rights Agency          dass es der jüdische Gesprächspart-
der Europäischen Union. Im Rahmen           ner sei, der doch bitte „einsehen muss,
der Fachstelle Antisemitismus in Bran-      dass…“ Es ist ziemlich exakt zwei Jah-
denburg, die in den nächsten Wochen         re her, dass ich – am 10. März 2017 – im
am Moses Mendelssohn Zentrum ihre           Deutschlandfunk den Judaisten Peter
Tätigkeit aufnehmen wird, werden wir        Schäfer in einem Interview zu seinem
ein RIAS Brandenburg aufbauen, eine         neuesten Buch „Zwei Götter im Him-
Recherche- und Informationsstelle zum       mel“ das Folgende sagen hörte: „[W]enn
Antisemitismus, die den Anspruch hat,       wir das klarmachen können, dass das
alle Fälle und Formen von Antisemitis-      mit dem einen Gott im Judentum nie so
mus zu dokumentieren. Wir versprechen       einfach gewesen ist, dann sind wir ei-
uns davon unter anderem eine weitere        nen großen Schritt weiter – und vor al-
Stärkung der „jüdischen Perspektiven“       len Dingen, dann sind wir einen großen
und zugleich ein realistischeres Lage-      Schritt weiter auch in Bezug auf das
bild für unser Bundesland, das es er-       Verhältnis von Judentum und Christen-
laubt, der Herausforderung Antisemitis-     tum heute.“

18   BOTSCH
Dieser Modus der Gesprächsfüh-           bringen, müssten wir bitte vom Kernsatz
rung ist problematisch. Und ich hät-          des jüdischen Glaubensbekenntnis-
te mir gewünscht, dass es gerade von          ses – „der Ewige, unser Gott, ist ein-
den christlichen Teilnehmerinnen und          zig“ – abrücken. Ich will ihm ja wirklich
Teilnehmern am christlich-jüdischen Di-       kein Unrecht tun, und über die Ergebnis-
alog, an der christlich-jüdischen Zu-         se seiner Forschungen kann ich mir kein
sammenarbeit eine Reaktion auf die-           Urteil erlauben. Es geht mir hier nur um
se Zumutung gegeben hätte – eine              den Modus der Gesprächsführung, der
Reaktion, wie sie die Gesellschaften          mich dann doch an den Bekenntnispfar-
für Christlich-Jüdische Zusammenar-           rer Günther Dehn denken lässt, an seine
beit 2015 in erfreulicher Weise anläss-       Version der Synagoga, die „blind ist und
lich der Zumutungen des Systemati-            nicht sieht, was vor Augen liegt.“
schen Theologen Notker Slenczkas                   Immerhin – diese mittelalterliche Ec-
geäußert hatten, als dieser den kano-         clesia wendet Synagoga ihr Antlitz zu,
nischen Stellenwert des so genannten          begreift sie als ihre Schwester – Synago-
Alten Testaments für den Protestan-           ga bleibt ein Mensch. Das unterscheidet
tismus in Frage stellte. Die Kontrover-       das Ecclesia-Synagoga-Motiv von dem
se ist nicht allzu breit wahrgenommen         anderen berühmten Bild der mittelalter-
worden; über die Hintergründe der Kri-        lichen Judenfeindschaft, das sich auch
tik können Sie sich im Themenheft der         an gotischen Domen findet: der „Juden-
diesjährigen Woche der Brüderlichkeit         sau“. Die älteste überlieferte Darstellung
informieren. Was indes aus protestanti-       befindet sich übrigens in Brandenburg
scher Sicht an Slenczka kritisiert wurde,     an der Havel. Das Wittenberger Exem-
war für uns Jüdinnen und Juden irrele-        plar hatte Martin Luther voller Bewun-
vant. Ob und inwieweit die Evangelische       derung beschrieben in seiner wohl bös-
Theologie den Tanach, die Hebräische          artigsten judenfeindlichen Schrift, „Vom
Bibel, für apokryph erklärt, ist ihre eige-   Schem Hamphoras“. Mit der Entstehung
ne souveräne Entscheidung. Wir haben          der Judensau – eine Analogie findet sich
keine Vorbedingungen an das christ-           in bestimmten Auslegungen zu Vers 60
lich-jüdische Gespräch zu knüpfen, die        der 6. Sure des Koran – deutet sich der
das theologische Selbstverständnis des        Übergang an, „den Juden“ gar nicht
Christentums betreffen, solange sich          mehr als Menschen zu sehen, ihn auf
darin keine Feindseligkeit gegen uns          eine Stufe zu rücken mit Schweinen, mit
äußert. Nur Letzteres war aus jüdischer       Affen, mit Ungeziefer und so weiter.
Sicht an Slenczka zu kritisieren: dass er          Die Entmenschlichung der Juden,
ein Bild vom Volk Israel und vom Juden-       die Ausgrenzung aus dem Menschenge-
tum zeichnete, das die alten christlichen     schlecht hat den Gedanken der Vernich-
Stereotype reproduzierte.                     tung auf den Weg gebracht. Sie mün-
     Aber zurück zu Peter Schäfer und         dete in jenem historischen Faktum des
seiner Forderung, um das Verhältnis von       Massenmordes, vor dessen Hintergrund
Judentum und Christentum voranzu-             es obszön und inakzeptabel ist, den Na-

                                                                             BOTSCH 19
tionalsozialismus als „Vogelschiss“ zu       einem Gedicht von Dan Pagis, übersetzt
bagatellisieren.                             aus dem Hebräischen von Tuvia Rübner:
     Ich schließe den Bogen und komme
zurück zu Adam, dem „Menschen“, den          Mit Bleistift im versiegelten Waggon
Gott in Bereschit, beziehungsweise Ge-       geschrieben
nesis, fragt: „Ajeka“, wo bist Du? Und ich   hier in diesem Transport
darf daran erinnern, dass Adam hier der      bin ich Eva
Eigenname ist, aber auch der allgemeine      mit Abel meinem Sohn
Begriff: „Mensch“. Wenn wir also auf Heb-    seht ihr meinen großen Sohn
räisch sagen: Kain, „Sohn des Adam“, so      Kain, Adams Sohn
sagen wir zugleich: Kain, „Sohn des Men-     sagt ihm, daß ich
schen“. Denn schließen möchte ich mit

20   BOTSCH
Pfarrer Bernhard Fricke stellte die Flüchtlings- und interreligiöse Arbeit des Evangelischen Kirchenkreises und des Interreli-
giösen Forums Potsdam vor.
Herausgeber:        Landtag Brandenburg,
                    Referat Öffentlichkeitsarbeit

Fotos:              Landtag Brandenburg/Stefan Gloede

Satz und Druck:     Bonifatius GmbH, Paderborn

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