ENERGIE SYSTEM ANALYSE - Herausforderungen für digitale Werkzeuge zur Transformation urbaner Energiesysteme - OIAV
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166 WISSENSCHAFT & PRAXIS September 2021 ENERGIE SYSTEM ANALYSE Herausforderungen für digitale Werkzeuge zur Transformation urbaner Energiesysteme ENERGY SYSTEM ANALYSIS - CHALLENGES FOR DIGITAL TOOLS TO SUPPORT THE TRANSFORMATION OF URBAN ENERGY SYSTEMS Thomas Mach, Hermann Edtmayer, Gerald Schweiger, Michael Monsberger, Lisa-Marie Fochler & Richard Heimrath (TU Graz) KEYWORDS: years and shows potential to make an important contribu- Energieversorgung, Heizen und Kühlen, Urbane Simulations- tion to the design of a sustainable energy system. The article modelle, Datenmodelle, Digital Twin names and explains the extensive profile of requirements placed on such systems. ZUSAMMENFASSUNG: Die durch den Klimawandel getriebene Transformation der städtischen Energieversorgung ist eine Herausforderung von DIE KOMPLEXE TRANSFORMATION hoher Komplexität und erfordert eine neue Generation von entsprechend leistungsfähigen Planungs- und Analysewerk- Um die drohenden Auswirkungen des Klimawandels abzu- zeugen. Die aus der Forschung kommende simulationsba- wenden, müssen die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 auf sierte Energiesystemanalyse hat sich in den letzten Jahren nahezu null reduziert werden [1]. Um dies zu erreichen, ist entscheidend weiterentwickelt und zeigt Potenzial, einen ein grundlegender Umbau unseres aktuellen Energiesys- wichtigen Beitrag zur Gestaltung eines nachhaltigen Ener- tems von fossil zu erneuerbar notwendig. Die Reduktion der giesystems zu leisten. Der Beitrag benennt und erläutert das Treibhausgas-Emissionen bei gleichbleibender Versorgungs- umfangreiche Anforderungsprofil, das an solche Systeme sicherheit ist das erklärte Ziel der internationalen Gemein- gestellt wird. schaft [2, 3]. Jahrzehnte an Forschung haben keine Einzel- technologie hervorgebracht, die in der Lage wäre diese ABSTRACT Herausforderung einer nachhaltigen Energieversorgung im The transformation of urban energy supply driven by clima- Alleingang zu lösen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass ganze te change is a challenge of high complexity and requires a Konglomerate unterschiedlicher, ineinander verschränkter new generation of correspondingly powerful planning and und abgestimmter Technologien, Energieträger und Metho- analysis tools. The simulation-based energy system analysis den, die größte Schubkraft zur Zielerreichung in sich tragen coming from research has developed decisively in recent [4, 5, 6]. Für den Gebäudesektor, der für 35 % des globalen 1 OIAZ 166
Energieverbrauchs und für 38 % der globalen Treibhausgas- zur unverzichtbaren Ausstattung. Der überwiegende Anteil emissionen verantwortlich ist [7], sind einerseits Effizienz- des österreichischen Gebäudebestandes, hier vor allem der steigerung und andererseits der Ersatz von Kohle, Erdöl und Wohnbau, steht noch vor diesem Umbruch und droht, durch Gas durch erneuerbare Energieträger, die Leitplanken der Fehlen übergeordneter Konzepte, zum Energiefresser der Transformation. In der nachfolgend beschriebenen Betrach- kommenden Jahrzehnte zu mutieren [16]. Die Konzentration tung zeigt sich, dass zukunftsfähige Energiesysteme deutlich der energietechnischen Gebäudeausstattung von Wohnbau- komplexer aufgebaut sein werden, als ihre aktuellen Gegen- ten auf Raumwärme und Brauchwarmwasser hat ausgedient stücke. Effizienzsteigerung durch Hebung der wärmetechni- und muss durch Konzepte abgelöst werden, die eine som- schen Standards der Gebäudehüllen in Neubau und Sanie- merliche Konditionierung einschließen, und zu einem opti- rung, urbane Verdichtung und verbesserte Wirkungsgrade mierten Ganzjahresbetrieb führen. In zukunftsweisenden der Gebäudetechnik führen zu Anpassungsbedarf der jewei- Konzepten werden urbane Rahmenbedingungen (Grünräu- ligen Versorgungsstruktur mit Wärme, Kälte und Elektrizität. me, Wasserflächen, Verschattungen, Strömungskorridore), Die zeitlich schwankende Energiebereitstellung durch Sonne bauliche Maßnahmen (Verschattungssysteme, Öffnungspla- und Wind (Stichwort: Volatilität) bringt eine nur bedingt vor- nung, Farbauswahl) an Gebäuden und die energietechnische hersehbare Dynamik, die durch Maßnahmen wie Speicher- Ausstattung (Heizung, Kühlung und Brauchwarmwasserbe- integration, verbesserte Verteilsysteme und Lastmanage- reitung) bestmöglich aufeinander abgestimmt. Ergänzend ment kompensiert werden müssen [8]. Die zunehmende werden in der Forschung zunehmend, neben bekannten Nutzung lokaler energietechnischer Ressourcen führt zum passiven, auch aktive Maßnahmen zur Entschärfung urba- Aufbau dezentraler Energieumwandlungsanlagen (Stich- ner mikroklimatischer Hotspots thematisiert werden. wort: Prosumer), wodurch die klassische monodirektionale Energieversorgung durch bidirektionale Verteilsysteme zu ergänzen ist [9]. Thermische, elektrische und/oder che- ENERGIESYSTEMANALYSE – QUO VADIS? misch dominierte Prozesse und Energiesysteme, die in der Vergangenheit meist getrennt ausgeführt wurden, müssen Als Reaktion auf den laufend steigenden Bedarf an planungs- in Zukunft ineinander verschränkt gedacht und umgesetzt unterstützenden Werkzeugen (Tools) wurden in den vergan- werden (Stichwort: Sektorkopplung) [10, 11]. Zudem muss genen Jahren zahlreiche Ansätze zur Modellierung urbaner bereits in der Planungsphase das Zusammenwirken der ein- Energiesysteme entwickelt und publiziert. Den meisten An- zelnen Komponenten (Stichwort: Virtuelles Kraftwerk) und sätzen ist gemein, dass sie sich, je nach entwickelnder Fach- die Einhaltung übergeordneter Konzepte (Stichwörter: Resi- disziplin und Entwicklungsumfeld, auf einzelne Aspekte fo- lienz, Autarkie, Niedertemperatur- und Anergienetze) nach- kussieren. Die jeweils fachfremden Aspekte werden in der gewiesen werden [12]. Als Folge dieser Veränderungen sind Regel sehr vereinfacht integriert, bzw. oftmals ganz vernach- die Anforderungen an Planungswerkzeuge massiv gestiegen, lässigt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen die was die bisherigen Methoden und Instrumente der Energie- Anforderungen an ein umfassendes „ideales“ Analysetool planung überfordert [13, 14]. herzuleiten, und dessen Eigenschaften zu skizzieren. Dabei werden die vom Institut für Wärmetechnik, im Rahmen des Austrian Research Studios - EnergySimCity [17] entwickelten ZUSATZAUFGABE KLIMAWANDELANPASSUNG Begriffe aufgenommen, erklärt und um weitere Eigenschaf- ten ergänzt. Abbildung 1 zeigt die Visualisierung eines am Befeuert durch den Klimawandel und urbane Verdichtung, Institut für Wärmetechnik modellierten Stadtteils und Mög- breiten sich urbane Hitzeinseln mittlerweile auch in mittel- lichkeiten des dazugehörigen Analysemodells. europäischen Städten rasant aus. In den Sommermonaten stellen sich in der „dichten Stadt“ zunehmend klimatische Verhältnisse ein, die zu gesundheitlichen Problemen füh- DIE INTERSEKTORALE KOPPELUNG ren können. Insbesondere geschwächte und alte Menschen sind dem Hitzestress oftmals nicht mehr gewachsen; die Seit der Einführung maschinell unterstützter Berechnungs- Einsatzstatistiken der Rettungsorganisationen zeichnen methoden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts began- hier ein deutliches Bild [15]. Passive Maßnahmen, wie Ver- nen verschiedene Fachdisziplinen numerische Modelle für schattung, Begrünung und Tag-Nacht-Verschiebung durch einzelne Komponenten des Energiesystems zu entwickeln. Speichermassen schaffen Erleichterung, stoßen jedoch an Der Maschinenbau interessierte sich naturgemäß für ther- ihre Grenzen. Immer größere Anteile des öffentlichen bzw. mische, die Elektrotechnik für elektrotechnische Anlagen, halböffentlichen und privaten urbanen Außenraums müssen und Vertreter des Bauwesens begannen das thermische im Hochsommer als hochwertiger Lebensraum in Frage ge- Verhalten von Gebäuden in Modellen zu formulieren. In stellt werden. Begrüßenswerte Gegenmaßnahmen, wie Be- den letzten Jahren ist zu dieser Gruppe die Geoinformatik grünung und die Integration von Wasserflächen, brauchen, dazugestoßen, die mit ihren Methoden die eindeutige räum- um spürbar wirksam zu werden, entsprechenden Raum liche Verortung der einzelnen Komponenten ermöglicht. Die und stoßen, dem hohen ökonomischen Flächendruck ge- fachspezifischen Ansätze entwickelten sich im Laufe der schuldet, an eng gesetzte Grenzen. In der Verwaltung, Gas- Jahrzehnte zu immer leistungsfähigeren und detaillierteren tronomie und im Handel gehören Kühlsysteme mittlerweile Modellen. Die grundsätzlich dem Energiesystem inhärente 2 OIAZ 166
Abbildung 1: Numerisches Energiesystem als virtuelle Entwicklungsumgebung, am Beispiel einer Referenzstadt mit ca. 2.500 Gebäuden, thermischem Verteilnetz und Heizkraftwerk (Bildquelle: Institut für Wärmetechnik, TU Graz) Eigenschaft, der Kombination unterschiedlicher Sektoren, RECHENINTENSIVE INSTATIONÄRE wird im Zuge der Transformation massiv weiterwachsen, SIMULATIONSMODELLE wodurch gleichlaufend der Bedarf an sektorübergreifenden Modellen bzw. Planungswerkzeugen ebenso an Bedeutung Die regenerativ nutzbaren Energiequellen Sonne und Wind gewinnen wird. Monodisziplinäre Modelle müssen zu inter- unterliegen lokalen, jahreszeitlichen und klimabedingten disziplinären Gesamtmodellen weiterentwickelt werden, um Schwankungen. Der Energiebedarf schwankt ebenso, aber die auftretenden Wechselwirkungen zwischen den Sektoren leider nicht gleichlaufend zum erneuerbaren Energieange- Wärme/Kälte, Elektrizität und Gas abzubilden und Entschei- bot. Um den Bedarf zu jedem Zeitpunkt des Jahres decken dungsgrundlagen für Systemdesign und Betriebsweise ablei- zu können ist ein zeitlich abgestimmter Ausgleich zwischen ten zu können. Ein Ansatz der Umsetzung liegt in der Metho- Angebot und Nachfrage herzustellen. Im Gegensatz zur bis- de der Co-Simulation [18]. Dieser bedient sich an der langen her üblichen Betrachtungsweise stationärer Zustände, müs- Tradition der disziplinären Programme und kombiniert diese sen zukunftstaugliche Planungswerkzeuge daher dynamisch über Schnittstellen, zu einem umfangreichen Framework agieren, also zu vielen Zeitpunkten des Betrachtungszeit- an interagierenden Simulationsprogrammen. Somit kann raums, meist ein Jahr, über den Zustand des Energiesystems für jede Aufgabenstellung das jeweils beste Tool eingesetzt „Bescheid wissen“. Über die notwendige Anzahl der Zeit- werden. Beispielsweise das Simulationsprogramm IDA ICE punkte entscheidet die Trägheit des betrachteten Systems. [19] für die Gebäudestruktur, DYMOLA [20] für das Wärme- Je schneller sich dieses ändert, umso kleinere Zeitschritte netz und TRNSYS [21] für das Heizwerk [22]. Neben hohen werden benötigt. Thermisch träge Massen wie Wände än- Kosten für Lizenzen und der Notwendigkeit regelmäßiger dern ihren thermischen Zustand eher langsam, es reichen Überarbeitung, sind für die Bedienung dieser hochwertigen in der Regel vier Zeitpunkte pro Stunde. Gebäudetechnische Simulationswerkzeuge lange Einarbeitungszeiten von min- Systeme, wie beispielsweise Heizkörper, können ihre Tempe- destens einem Jahr zu veranschlagen. Dies kann meist von ratur innerhalb von wenigen Minuten maßgeblich ändern; einer Person nicht bewerkstelligt werden, wodurch Modell- eine zeitliche Auflösung von wenigen Minuten macht Sinn. aufbau und Simulation zur Teamarbeit werden, mit allen da- Die Folgen dieses Zusammenhangs resultieren in hohen An- mit verbundenen Vor- und Nachteilen. forderungen an die Leistungsfähigkeit der datenverarbei- tenden Systeme und in großen Mengen an Ergebnisdaten. Für einen einzelnen Systemwert, z.B. die Fluidtemperatur 3 OIAZ 166
in der Wärmeübergabestation eines Gebäudes, ergeben giesystemanalyse in der Lage sein mit jedem Planungsschritt sich für ein Betrachtungsjahr mit 8.760 Stunden zwischen zeitlich und räumlich detailliertere Aussagen zu treffen. Das 35.040 und 140.160 einzelner Werte. Bei Annahme der Framework einer planungsbegleitenden Energiesystemana- Betrachtung eines urbanen Energiesystems mit 1.000 Ge- lyse muss die intermodulare Flexibilität aufweisen die ein- bäuden (entspricht einem mittelgroßen Stadtteil), ergeben zelnen Teilmodelle zu jeder Zeit des Entwicklungsprozesses sich bereits über 140 Mio. Werte, nur zur Darstellung, einer gegen andere Teilmodelle auszutauschen bzw. in diese über- von vielen Parametern eines urbanen Energiesystems. Der zuführen, ohne, und das ist die Herausforderung, hohen wertvolle Aspekt der instationären Betrachtungsweise liegt Manipulationsaufwand zu verursachen. Beispielsweise ist aber genau in dieser zeitlich referenzierten Darstellung aller für den ersten Schritt der Transformation der Energiever- relevanten energietechnischen Prozesse, wodurch bereits sorgung eines Stadtquartiers ausreichend, jedes Gebäude im Planungsstadium, Betriebsweisen entwickelt und Rege- als Einzonenmodell abzubilden. Im Zuge des Detaillierungs- lungskonzepte erprobt werden können [23, 24, 25]. prozesses und Einbeziehung unterschiedlicher Nutzungsar- ten, wird in der Regel die Modellierung jedes Geschosses als Betrachtungszone einen passenden Detaillierungsgrad bie- DIE INTERAKTIVE ten. Auf der Gebäudeebene muss hingegen jeder einzelne ENERGIEBEREITSTELLUNGSKETTE Innenraum als eigenständige Zone modelliert werden, um Heizung und Kühlung des Innenraums dimensionieren zu Da in der Regel nur ein Teil der im Gebäudebestand be- können. Aber nicht nur Modelle des gleichen Realsystems nötigten Energie jeweils lokal am Standort „produziert“ müssen intermodular flexibel sein, denn die Anforderung an werden kann, muss der Großteil der Energie über eine Be- das Framework beinhaltet auch die Flexibilität, unterschied- reitstellungskette zum Verbrauchsort transportiert wer- liche technologische Ansätze zur Erfüllung der gleichen den. Energiebereitstellung durch beispielsweise Heizkraft- energietechnischen Funktion untereinander austauschen zu werke, Transport über ein Wärmenetz und Verbrauch im können. Beispielsweise, relevant für die Transformation des angeschlossenen Gebäude sind in der realen Welt eine Energiesystems, der Ersatz der Ölkessel repräsentierenden miteinander interaktiv agierende und sich wechselseitig Teilmodelle durch Biomassekessel repräsentierende Teilmo- beeinflussende Bereitstellungskette. Änderungen in einem delle. Bereich der Versorgungskette verursachen Änderungen in den anderen Bereichen. Diese Tatsache konnte sich bisher in der Toolentwicklung noch nicht etablieren. Für Gebäude, DAS POTENTIAL INTEROPERABLER Gebäudetechnik, Wärmenetz, und (Heiz-)Kraftwerk bzw. DATENMODELLE andere Energiequellen haben sich voneinander getrennte Modellierungskulturen entwickelt, welche die jeweils an- Eine wesentliche Datenquelle für die Erstellung von Model- deren Teile der Energieversorgungskette als festgelegte und len für die Energiesystemanalyse bilden die klassischen Pla- vordefinierte „Randbedingung“ betrachten. Insbesondere nungs- und Bauprozesse, die vom städtebaulichen Entwurf die interaktive simulationstechnische Kopplung der Netzmo- bis hin zur Planung, Ausführung und Inbetriebnahme einzel- delle mit den gebäudetechnischen Modellen zeigt Optimie- ner Bauwerke reichen. Im Zuge dieser Prozesse werden von rungspotential und bietet die Entwicklungsumgebung für unterschiedlichsten Projektakteuren große Mengen an Infor- hochentwickelte Regelungssysteme [26], die wiederum das mationen und Daten (z.B. Skizzen, Pläne, Schemata, Berech- Potential von Effizienzsteigerungen in sich tragen [27] und so nungsergebnisse, Kostenkalkulationen, Zeitpläne, Berichte, zur Transformation unseres Energiesystems beitragen kön- etc.) generiert. In der Regel liegen diese Daten unstrukturiert nen. In der interaktiv gekoppelten virtuellen Nachbildung und fragmentiert vor. Deren Aggregation und Aufbereitung lassen sich auf der Basis von Simulationen unterschiedliche zur Modellbildung für Energiesystemanalysen ist momentan Transformationsvarianten untersuchen und bewerten, wo- zeit- und kostenintensiv, was die Anwendung simulationsge- durch Entscheidungsgrundlagen, sowohl für Systemdesigns stützter Analyseverfahren in der Praxis erschwert. Ein großes als auch für Betriebsweisen für das Realsystem, abgeleitet Potential weist in diesem Zusammenhang der Einsatz von werden können. Building Information Modeling (BIM) auf. BIM steht für die Erzeugung und Verwaltung von Informationen über Gebäu- de während ihrer gesamten Lebensdauer. Kernelemente der INTERMODULARES FRAMEWORK ZUR BIM-Methodik bilden mit Metadaten angereicherte drei- BEGLEITUNG VON PLANUNGSPROZESSEN dimensionale Bauwerksmodelle, die in jeder Phase des Le- benszyklus den jeweiligen Entwicklungsstand des Gebäudes Gebäudeplanung, gebäudetechnische Planung und infra- repräsentieren und entsprechende Bauwerksinformationen strukturelle Energieplanung funktionieren grundsätzlich tragen, die von den Projektakteuren genutzt werden kön- als Top-Down-Prozesse. Beginnend mit einer nur in groben nen. Die konsequente Anwendung der BIM-Methodik bie- Aspekten bestimmten Ideenskizze werden in einer Vielzahl tet den Vorteil, dass die über den Lebenszyklus generierten an Bearbeitungsschritten Festlegungen getroffen, oftmals Daten und Informationen in einem oder in mehreren koordi- auch wieder verworfen, um schlussendlich einen hohen nierten Modellen zusammengeführt und verwaltet werden Grad an Detaillierung und Festlegung zu erreichen. Gleich- können (Stichwort: Single-Source-of-Truth). BIM-Modelle laufend müssen auch die Modelle einer begleitenden Ener- stellen damit zukünftig eine wichtige Datengrundlage für 4 OIAZ 166
die Energiesystemanalyse dar und können deren Erstellung sich für das virtuelle digitale Gegenüber realer Energiesyste- und Durchführung wesentlich erleichtern. Wenngleich BIM me die Bezeichnung „digitaler Zwilling“ eingebürgert hat. Ein definitionsgemäß, eine lebenszyklusorientierte Methode digitaler Zwilling kann eine einzelne Komponente/Maschine darstellt, so hat sich die lebenszyklusphasenübergreifende, umfassen, aber auch ein komplexes vollständiges urbanes durchgängige Nutzung von BIM-Modellen in der Praxis noch Energiesystem, inklusive der digitalen Infrastruktur, wie Kom- nicht etabliert. Die Übergänge von der Planungsphase in die munikations- und Regelungssystem. Derart ausgestattet, Ausführungsphase und vor allem von der Ausführungspha- können digitale Zwillinge auf Basis des Abgleichs zwischen se in die Betriebsphase stellen nach wie vor Barrieren für Messdaten aus dem Realsystem und simulationsbasierten die Weiternutzung bereits entwickelter BIM-Modelle dar. Daten aus der virtuellen Abbildung für die Diagnose und Lösungsansätze zur Überwindung der letzteren Barriere die energietechnische Optimierung im laufenden Betrieb werden beispielsweise im, vom Institut für Bauphysik, Ge- komplexer Energiesysteme eingesetzt werden. Diagnose bäudetechnik und Hochbau geleiteten Forschungsprojekt, und Optimierung basieren in der Regel auf Methoden des BIMBestand [28] entwickelt. Aufgrund der rasch voran- „Maschinellen Lernens“, einem Teilbereich des Forschungs- schreitenden Entwicklung und Etablierung der BIM-Metho- gebietes der „Künstlichen Intelligenz“. Unter dem Begriff des de in der Praxis werden diese Barrieren schwinden, womit Maschinellen Lernens werden Techniken verstanden, die auf BIM-Modelle zukünftig ein wichtiger Baustein in der Ener- Basis von Daten Wissen generieren. Eine selbstlernende In- giesystemanalyse sein werden. telligenz erkennt dabei fehlerhafte Zustände, optimiert das System virtuell und überträgt die Erkenntnisse auf das reale System. Das Institut für Softwaretechnologie der TU Graz be- REAL UND VIRTUELL – EINE schäftigt sich aktuell damit, wie physikalisches Wissen über INTELLIGENTE WECHSELWIRKUNG energietechnische Systeme in Form von Gleichungen oder logischen Regeln in das Maschinelle Lernen integriert wer- Virtuelle Prozesse sind vermutlich seit der kognitiven Revo- den kann. Die zentrale technische Herausforderung für den lution, ca. 70.000 Jahre vor Chr., das Experimentierfeld der Einsatz digitaler Zwillinge komplexer urbaner Energiesyste- stofflichen Wirklichkeit. In ihren Gedanken können Men- me, liegt in der Bewältigung der Machine-to-Machine-Kom- schen Vorgangsweisen erproben und Handlungsoptionen munikation. Die einzelnen Akteure des Realsystems müssen abwägen, bevor sie diese in Taten umsetzen. Die in der mit dem digitalen Zwilling kommunizieren. Energiemanage- „realen“ Welt gewonnenen Erkenntnisse haben wiederum mentsysteme der Gebäude, Sensoren und Aktoren der urba- Auswirkungen auf die nachfolgenden Gedanken, und der nen Energieversorgung, um nur die wichtigsten zu nennen, Prozess geht in die nächste Schleife. Die Energieforschung basieren jedoch meist auf unterschiedlichsten Schnittstellen hat in den vergangenen Jahren begonnen dieses Prinzip auf und Kommunikationsstandards, wodurch die Interoperabili- unterschiedlichste Energiesysteme anzuwenden. Anstatt der tät zur Herausforderung wird. Das Institut für Softwaretech- neuronalen Netze menschlicher Gehirne werden digitale nologie arbeitet an der Lösung dieses Problems und hat zu Modelle des jeweiligen Energiesystems eingesetzt, wobei diesem Zweck in einem Pilotprojekt eine Internet-of-Things Abbildung 2: Internet-of-Things Plattform überwacht die Wasser- und Energieversorgung eines TU Graz Gebäudes (Bildquelle: Institut für Softwaretechnologie, TU Graz) 5 OIAZ 166
(IoT) Plattform für ein Gebäude der TU Graz entwickelt die Meinungsvielfallt und Stimmungslagen in einer breiten [29]. Die Plattform ermöglicht die Echtzeitkommunikation Gruppe an Stakeholdern stellt eine eigene Kategorie von He- zwischen verschiedenen gebäudetechnischen Anlagen und rausforderung dar. Insbesondere die realitätsnahen Daten dem Facility Management. Eine selbstlernende künstliche urbaner Energiesysteme sind für die Systementwicklung Intelligenz prognostiziert, diagnostiziert und optimiert Was- von höchster Wichtigkeit. Aber gerade die Verfügbarkeit von ser und Energieverbrauch der Gebäude (siehe Abbildung 2). Realdaten ist im Spannungsfeld zwischen Datenschutzbe- stimmungen und betrieblichen Geheimhaltungsinteressen oftmals sehr lückenhaft ausgebildet. DIE INTERDISZIPLINÄREN ZUTATEN DER ENTWICKLUNG Das Institut für Wärmetechnik, das Institut für Softwaretech- nologie und das Institut für Bauphysik, Gebäudetechnik und Die Entwicklung der Methoden und Werkzeuge der Energie- Hochbau, arbeiten seit mehreren Jahren an der Entwick- systemanalyse braucht im Wesentlichen drei Zutaten. Zum lung dieser umfassenden Energiesystemanalyse. Abbildung Ersten müssen stetig die Fortschritte in den zugrundelie- 3 zeigt eine Grafik, in der die „aktuelle“ Energieversorgung genden Fachbereichen Wärmetechnik, Elektrotechnik und bzw. Energieplanung der „zukünftigen“ Energieversorgung Bauphysik eingearbeitet werden. Da sich in der Entwick- bzw. Energiesystemanalyse gegenübergestellt wird, um pla- lung energietechnologischer Komponenten und Verfahren kativ zu zeigen, wie sich, getrieben durch die Transformation die Modellierung als unverzichtbare Methode etabliert hat, des Energiesystems, die Anforderungen an die Energiesys- sind das entsprechende Know-how und die dazugehörigen temanalyse, bereits verändert haben und weiter verändern Modelle, bei den Forschungsinstitutionen angesiedelt. Zum werden. Zweiten beruht die Umsetzung auf einem komplexen digi- talen Datenverarbeitungssystem. Die Weiterentwicklung Die an der TU Graz bisher entwickelten energietechnischen der Systemarchitektur und die Nutzung der rasant steigen- Quartiersmodelle wurde bereits in mehreren realen Einsät- den Möglichkeiten der Datenverarbeitung müssen durch zen auf die Probe gestellt und anhand der gesammelten Er- Kompetenzen abgedeckt werden, die im Wesentlichen der fahrungen weiterentwickelt [30, 31, 32, 33]. Der aktuellste Informationsverarbeitung bzw. dem Softwaredesign zuge- Einsatz startete am 1. März 2021 mit dem Projekt UserGRIDs schrieben werden können. Beide erstgenannten Zutaten [34], ein Projekt im Rahmen des Green Energy Lab, in eine werden jedoch ohne die Durchführung realer Anwendun- dreijährige Laufzeit. In UserGRIDs werden die bestehenden gen, der dritten Zutat, akademische Konstrukte bleiben. Methoden zur Planung und Betrieb von Quartiers-Energie- Erst die Anwendung auf reale urbane Quartiere und Städ- systemen weiterentwickelt und erprobt. Grundlage des Pro- te zeigt den Wert für die Aufgabenstellung Transformation jektes ist der Forschungs- und Lehrcampus Inffeldgasse, der der Energiesysteme. Das „Reiben an der Realität“ verifiziert mit 140.000 m² Bruttogeschoßfläche und einer Mischung akademische Annahmen und bringt methodische Schwach- aus Büro-, Lehr- und projektgetriebenem Laborbetrieb, der stellen zutage, die im Laboralltag einer Entwicklungsphase größte Campus der TU Graz ist. Die Basis bildet eine IoT- nicht vorhergesehen werden können. Haftungsfragen sowie Plattform, in der alle für die Energieperformance relevanten Abbildung 3: Überblicksdarstellung zur Trans- formation der Energiesystemplanung (Bild- quelle: Institut für Wärmetechnik, TU Graz) 6 OIAZ 166
Daten zusammenfließen. Dazu gehören Messdaten aus den [9] Pellegrini M., Bianchini A., 2018: The innovative Energiesystemen (Temperaturen, Leistungen, etc.) und Da- concept of cold district heating networks: A literature ten anderer digitaler Systeme (Raumbelegung, Wetterdaten, review. Energies; 11:236. https://doi.org/10.3390/ Preissignale, etc.). Im Projekt werden detaillierte Modelle en11010236 des Energiesystems, der Gebäude und der übergeordneten [10] Maurer J., Elsner C., Krebs S., Hohmann S., 2018: Com- Campusinfrastruktur entwickelt, validiert und für die Trans- bined Optimization of District Heating and Electric Pow- formationsplanung eingesetzt. Untersucht werden der Ein- er Networks. Energy Procedia; 149:509–18. https://doi. satz unterschiedlicher Energieversorgungstechnologien, die org/10.1016/j.egypro.2018.08.215 Einbeziehung von Energiespeichern, der Ausbau der Photo- [11] Edtmayer H., Nageler P., Heimrath R., Mach T., Ho- voltaik, sowie selbstlernende regelungstechnische Konzepte chenauer C., 2021: Investigation on sector coupling mit dem Ziel eines emissionsminimierten ökonomischen Be- potentials of a 5th generation district heating and triebs. Das Projekt ist in Ergänzung zu den Forschungsfragen cooling network. Energy; 230:120836. https://doi. eingebettet in das Programm „Klimaneutrale TU Graz 2030“ org/10.1016/j.energy.2021.120836 [35]. [12] Moser A., Muschick D., Gölles M., Nageler P., Schran- zhofer H., Mach T., et al., 2020: A MILP-based modular QUELLEN energy management system for urban multi-energy systems: Performance and sensitivity analysis Applied [1] IPCC, 2014: Climate Change 2014: Synthesis Report. Energy; 261:114342, https://doi.org/10.1016/J.APEN- Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth ERGY.2019.114342 Assessment Report of the Intergovernmental Panel on [13] Nageler P.J., Mach T., Heimrath R., Schardinger I., Lang- Climate Change [Core Writing Team, R.K. Pachauri and hammer F., Biberacher M., et al., 2021: Methoden- und L.A. Meyer (eds.)]. IPCC, Geneva, Switzerland, 151 pp., Konzeptentwicklung zur Implementierung nachhaltiger https://www.ipcc.ch/report/ar5/syr/, [abgerufen am Energiesysteme in Städten am Beispiel von Gleisdorf 22.06.2021] und Salzburg, (Berichte aus Energie- und Umweltfor- [2] Paris Agreement, United Nations 2015, https://unfccc. schung). Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, int/ [abgerufen am 16.03.2021] Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK). 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