Jugendhilfe aktuell - LWL

Die Seite wird erstellt Gesine Schreiber
 
WEITER LESEN
Jugendhilfe aktuell - LWL
LWL-Landesjugendamt Westfalen

Jugendhilfe
                                                                         Ausgabe 1.2020
                                                                         ISSN 1614-3027

      aktuell
Schwerpunkt:
Kinder vor häuslicher Gewalt schützen –
Strategien für die Zusammenarbeit
von Jugendhilfe und Frauenhilfe
Interview                  Netzwerke                          Junge Geflüchtete
Den Weg in ein Leben       LWL unterstützt und bietet         Kommunale Arbeit und das
ohne Gewalt finden S. 20   Qualifizierungskurs S. 56          Landesprogramm     S. 70
Jugendhilfe aktuell - LWL
Orten
Auf der Suche nach Heimat
Mit dem Film „ORTEN“ der in Kanada und Berlin lebenden Regisseurin Margit Schild setzt das LWL-Me-
dienzentrum für Westfalen die Serie von Dokumentationen fort, die es in den vergangenen Jahren zum
Thema Integration in Westfalen-Lippe herausgebracht hat.

Die Suche nach einem Ankerpunkt, nach Halt, nach Heimat und nach Raum zur Entfaltung beschäftigt
Menschen auf der ganzen Welt. Wo ist Heimat? Was kann Heimat sein? Wenn es nicht mehr der Ge-
burtsort ist, was ist es dann? Ist Heimat der Ort, der Möglichkeiten und Chancen zu einem erfüllten,
selbstbestimmten Leben bereithält?

Die fünf Menschen in diesem Film, die vor langer Zeit oder erst kürzlich nach Westfalen gekommen sind,
durchfahren die Landschaft und tauschen sich aus über ihre Ideen von Heimat, von Chancen, die sich
bieten und die sie ergriffen haben. Sie erzählen vom Ankommen und davon, genau hier in Westfalen am
richtigen Platz zu sein.

Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Spaltungen und zunehmend rassistischer Tendenzen spielt die
Frage nach einer positiven Gestaltung unserer heterogenen Gegenwartsgesellschaft eine zentrale Rolle
für eine zeitgemäße politische Bildung. Mit ihrem Film trägt Margit Schild nach dem Urteil der Bundes-
zentrale für politische Bildung dazu bei, „relevante Themen der Zukunft auf die Agenda zu setzen. Das
Setting des Roadmovies ist gelungen. Inkludierend, vielfältig und auf Augenhöhe mit den unterschiedli-
chen Prägungen und individuellen Erfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten.“

LWL-Medienzentrum für Westfalen
DVD mit Begleitheft, ca. 64 Min., plus Fassung mit englischen Untertiteln
Preis: 14,90 €, Bezug: LWL-Medienzentrum für Westfalen
Fürstenbergstraße 13-15, 48147 Münster
E-Mail: medienzentrum@lwl.org, Fax: 0251 591-3982
Online-Bestellung, Download und weitere Angebote unter
www.westfalen-medien.lwl.org
Jugendhilfe aktuell - LWL
Editorial   3

Liebe Leserin, lieber Leser!
Zuhausebleiben – dieser Slogan ist mit   Diese Ausgabe der Jugend-
der Corona-Pandemie zum Synonym          hilfe aktuell dokumentiert
für Sicherheit und Gesundheit gewor-     die Ergebnisse der Tagung
den. Von Beginn an war aber klar, dass   „Väter/Täter im Umgang –
die eigene Wohnung nicht für alle        Schutz von Kindern und
Schutz und Zuflucht bedeutet, sondern    Frauen bei Partnerschafts-
insbesondere für Frauen und Kinder       gewalt“, die das LWL-Lan-
auch vielfach ein Ort von Gewalt ist.    desjugendamt erstmalig
Auf Bundes-, Landes- und kommunaler      gemeinsam mit der Kon-
Ebene haben daher die Verantwortli-      ferenz der Frauenhäuser NRW konzi-
chen vielfältige und kreative Lösungen   piert und durchgeführt hat und die
entwickelt, um den Kontakt zu Famili-    den Blick insbesondere auch auf die
en nicht abreißen zu lassen und ihnen    gewalttätigen Partner und Sorge- und
auch in der Pandemie Auswege aus der     Umgangsregelungen nach häuslicher
Gewalt eröffnen zu können.               Gewalt gelegt hat. Weiterhin finden Sie
                                         in dem Heft zahlreiche Praxisbeispiele
Wenn überwiegend Frauen zuhause          zur Unterstützung von Kindern nach
Gewalt durch ihren Partner erleben,      häuslicher Gewalt, die in Zusammen-
sind immer auch die Kinder betrof-       arbeit von Jugend- und Frauenhilfe
fen, auch sie verlieren ihren sicheren   realisiert werden.
Lebensort. Bei Partnerschaftsgewalt
gehören der Schutz von Kindern, der      Aktuell entwickeln wir in bewährter
Schutz des gewaltbetroffenen Eltern-     Zusammenarbeit mit den örtlichen
teils und die Inverantwortungsnahme      Jugendämtern Empfehlungen zum
des gewaltausübenden Elternteils         Schutz von Kindern bei häuslicher Ge-
untrennbar zusammen.                     walt und hoffen, damit zukünftig eine
                                         weitere Grundlage für eine gelingende
Hilfen für Kinder können nur gelin-      Zusammenarbeit schaffen zu können.
gen, wenn sie sich nicht gleichzeitig
um die Sicherheit ihrer Mütter sorgen    Damit Kinder, die von häuslicher
müssen. Parteiliche Unterstützung        Gewalt betroffen sind, nicht nur, aber
für die Frauen heißt auch, die eigenen   auch in Zeiten der Corona-Pandemie
unveräußerlichen Rechte der Mädchen      verlässliche Hilfe und Unterstützung
und Jungen auf Schutz zu wahren.         finden.
Effektive Hilfe und eine Perspektive
für die Zukunft setzen die Verantwor-    Ihre
tungsübernahme durch die Gewalttä-
ter voraus – auch im Zusammenhang
mit Umgangs- und Sorgerechtsregelun-
gen. Deshalb ist es dem LWL-Landes-
jugendamt Westfalen ein besonderes
Anliegen, die unterschiedlichen Hand-    Birgit Westers
lungsfelder, die mit häuslicher Gewalt   Landesrätin
befasst sind, zusammenzubringen und
die Kooperation zu fördern.
Jugendhilfe aktuell - LWL
4      Jugendhilfe-aktuell 1.2020

Schwerpunktthema

Kinder vor häuslicher Gewalt schützen –
Strategien für die Zusammenarbeit
von Jugendhilfe und Frauenhilfe

                                                                                                                              S. 6
                                                                                                     Gemeinsamkeit stärkt –
                                                                                                     Perspektiven für
                                                                                                     Schutz und Hilfe

                      S. 12                                 S. 16                          S. 20                            S. 26
Häusliche Gewalt und der            Umgang um jeden Preis           Interview zu Frauenhäusern:      Traumainformierte Arbeit
Umgang mit dem Umgang               oder Neuanfang ohne             Den Weg in ein Leben ohne        mit Mädchen und Jungen im
                                    Angst?                          Gewalt finden                    Frauenhaus

                          S. 30                             S. 35                            S. 37                         S. 40
Innerfamiliäre                      Wie arbeitet man mit Tätern     Karlsruher Gruppe                Wendepunkt: Kinder- und
Tötungsdelikte –                    in Fällen häuslicher Gewalt?    für Kinder, die häusliche        Jugendintervention nach
Konsequenzen für                                                    Gewalt erlebt haben              häuslicher Gewalt
die Jugendhilfe

                           S. 43                           S. 46                           S. 50                              S. 52
Kinderzentrum Bielefeld:            Projekt Richtungswechsel:       Kooperationsvereinbarung         Materialien
Hilfen für Kinder als               Kinder und Jugendliche als      zwischen dem Jugendamt           für die Praxis
gemeinsame Aufgabe                  eigene Zielgruppe im            Hamm und dem örtlichen
                                    Frauenhaus Espelkamp            Frauenhaus
Jugendhilfe aktuell - LWL
Inhalt        5

Aktuelles                                          S.

LWL-Servicestelle begleitet                        56
zwei Netzwerk-Projekte

Netzwerkkoordinierende - Allrounder mit            58
hoher Sozialkompetenz

Arbeitshilfen Jugendarbeit & Unterhalt             60

Kinderrechte                                       61

Weiterbildungsreihe zur Demokratiebildung          62
in der offenen Kinder- und Jugendarbeit

Eigenständige Jugendpolitik                        63

Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung          64

Schulassistenzen im Kreis Paderborn                67

Zertifikatskurs Hilfeplanung                       68

ASD im KatHo-Cast                                  69

Netzwerk Kinder von Inhaftierten                   69

Kommunale Arbeit mit jungen geflüchteten           70
Menschen

Suchtprävention in der stationären                 74
Kinder- und Jugendhilfe

Bundesforum Vormundschaft und                      76
Pflegschaft

LWL-Modellprojekt zu Care Leavern                  76
abgeschlossen

Nachruf Prof. Dr. Hiltrud von Spiegel              77

Online-Kurs: Mitentscheiden und Mithandeln 78
in der Kita

AGJ-Veröffentlichung: Fachkräfte in der Kin-       78
der- und Jugendhilfe
Jugendhilfe aktuell - LWL
6    Jugendhilfe-aktuell 1.2020

„Gemeinsamkeit stärkt“ –
Perspektiven für Schutz und Hilfe bei
häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder
Ergebnisse der Werkstattgespräche zur
Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Frauenhäuser

von Monika Weber und Jutta Möllers

Das mit häuslicher Gewalt verbundene Klima von     Anlass und Hintergrund:
Angst und Bedrohung schränkt immer auch die        Werkstattgespräche „Kinderschutz im
Lebens- und Entwicklungsbedingungen der zuge-      Frauenhaus“
hörigen Kinder ein. Sie verlieren das, was ihnen
Familie und Wohnung bieten sollten: einen Ort      Auf der Tagung „Schutz von Kindern und
von Sicherheit und Geborgenheit.                   Frauen vor Partnerschaftsgewalt – Herausfor-
                                                   derungen an die Kooperation von Jugendhil-
Für die mehr als 3.500 Frauen, die jährlich        fe und Frauenhilfe“ im Mai 2014 hatten die
mit ihren durchschnittlich ca. 1-2 Kindern in      Teilnehmer*innen den Wunsch geäußert, den
einem der 62 Frauenhäuser in NRW Zuflucht          Dialog der beiden Handlungsfelder zu verste-
finden, gilt das auch im wörtlichen Sinne: Sie     tigen und weitergehende Kooperationsmög-
und ihre Kinder sehen sich gezwungen, zumin-       lichkeiten gemeinsam auszuloten. Außerdem
dest vorübergehend, ihr Zuhause und ihr sozia-     hatten einige Jugendämter gegenüber dem
les Umfeld zu verlassen. Eine solch krisenhafte    LWL-Landesjugendamt Westfalen Gesprächs-
Situation geht stets mit starken psychischen       bedarf angemeldet, die Situation der Kinder
Belastungen einher und stellt auch organisato-     während des Frauenhausaufenthalts gemein-
risch hohe Anforderungen an die betroffenen        sam zu erörtern und das fachliche Handeln
Frauen und Kinder. Sie birgt aber immer auch       besser aufeinander abzustimmen.
die Chance, nachhaltig einen Weg heraus aus
der Gewalt zu finden. Eine Voraussetzung dafür     Vor Beginn der Werkstattgespräche wurde eine
ist, dass die gefragten Hilfeinstitutionen bei     Umfrage unter allen Leitungskräften der All-
Wahrung ihrer unterschiedlichen Aufträge gut       gemeinen Sozialen Dienste in Westfalen-Lippe
und effektiv zusammen wirken.                      sowie unter den Landesverbänden der Frauen-
                                                   häuser zu Handlungsaufträgen und Selbstver-
In den vergangenen Jahren hat das LWL-Lan-         ständnis, zu Fragen der Zusammenarbeit und
desjugendamt Westfalen die Zusammenarbeit          zu ihrer jeweiligen Sicht auf Klärungs- und
zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der           Handlungsbedarfe durchgeführt.
Frauenhilfeinfrastruktur neben regelmäßigen
überregionalen Fortbildungen und Fachta-           In dann insgesamt sieben Werkstattgesprächen
gungen auch durch Werkstattgespräche zum           haben sich fünf Vertreter*innen der Frauen-
Thema „Kinderschutz im Frauenhaus“ gestärkt.       hauskonferenz NRW (Arbeiterwohlfahrt West-
Über Verlauf und ausgewählte Ergebnisse wird       liches Westfalen, Caritas, Diakonisches Werk
im Folgenden berichtet.                            Rheinland-Westfalen-Lippe, LAG Autonomer
                                                   Frauenhäuser NRW e.V., Paritätischer NRW)
                                                   und sechs Vertreter*innen von Jugendämtern
                                                   unterschiedlicher kommunaler Verfasstheit
                                                   (Bochum, Hagen, Lippstadt, Münster, Bielefeld,
                                                   Gladbeck) nach praxisorientierten Antwor-
Jugendhilfe aktuell - LWL
Perspektiven für Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder   7

ten auf offene Fragen und Problemen an den                              ihren Blick vor allem auf den Schutz und die
Verbindungsstellen gesucht, um so mittelbar                             notwendige Unterstützung der gewaltbetrof-
auch eine verbesserte Zusammenarbeit auf der                            fenen Frauen (mit ihren Kindern) und mes-
örtlichen Ebene zu unterstützen.                                        sen – insbesondere angesichts der erfahrenen
                                                                        Grenzüberschreitungen und Missachtungen
Die Werkstattgespräche mündeten schließlich                             ihrer Rechte – dem Selbstbestimmungsrecht
in die gemeinsam vom LWL-Landesjugendamt                                der Frauen einen hohen Stellenwert bei. Die
mit der Frauenhauskonferenz NRW durch-                                  Kinder- und Jugendhilfe fokussiert vor allem
geführten Tagung „Väter/Täter im Umgang                                 auf das Wohl und das eigenständige Recht des
– Schutz von Frauen und Kindern bei Partner-                            Kindes auf Schutz und ist gefragt, eine förder-
schaftsgewalt“ am 11. Dezember 2017, die                                liche Entwicklung vorrangig über die notwen-
den Blick vor allem auch auf die gewalttätigen                          dige Unterstützung (bei)der Eltern(teile) in der
Partner/Väter und die Arbeit mit ihnen rich-                            Erziehung zu gewährleisten. Im Ringen um
tete. Die Vorträge der Tagung sind als Beiträge                         die bestmöglichen Lösungen braucht es beide
in diesem Heft dokumentiert (vgl. die Beiträge                          Perspektiven.
von Anja Eichhorn, Alexander Korittko und die
Empfehlungen zur Täterarbeit).                                          Als Voraussetzung für eine wirkungsvolle
                                                                        Zusammenarbeit haben sich in den Werkstatt-
Es braucht … geteiltes Wissen und                                       gesprächen ein geteiltes fachliches Verständnis
gemeinsame fachliche Orientierungen                                     der spezifischen Dynamik häuslicher Gewalt
                                                                        und daraus abgeleitete gemeinsame fachliche
Spätestens seit Einführung des Gewaltschutz-                            Orientierungen für die Arbeit in beiden Hand-
gesetzes im Jahr 2002 ist klar, dass Gewalt unter                       lungsfeldern erwiesen. Als wesentliche Grund-
Erwachsenen im häuslichen Kontext keine                                 sätze können dabei etwa gelten:
Privatsache ist, sondern staatliche Instanzen
gefordert sind, eindeutig Position gegen Gewalt                         • Die Anwendung von Gewalt ist nicht ak-
zu beziehen, konsequent Maßnahmen zum                                     zeptabel, nicht verhandelbar und mit einer
Schutz der Betroffenen zu ergreifen und auch                              verantwortlichen Wahrnehmung der Eltern-
proaktiv Hilfe und Unterstützung anzubieten.1                             rolle nicht vereinbar. Daraus folgt beispiels-
                                                                          weise Täterstrategien wie der Leugnung oder
Frauen- und Jugendhilfe verfolgen in diesem                               Bagatellisierung des Geschehens deutlich
Zusammenhang unterschiedliche Aufträge                                    entgegen zu treten.
und Handlungslogiken. Frauenhäuser richten
1
  Ähnlich das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskri-      • Die Gewährleistung der Rechte auf Schutz
minierung der Frau (CEDAW) auf internationaler Ebene und die Anfang
2018 in Kraft getretene Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen/
                                                                          und Sicherheit von Frauen und Kindern ha-
häusliche Gewalt des Europarats, die den von Gewalt Betroffenen auch      ben oberste Priorität. Das heißt beispielswei-
individuelle Beschwerde- und Klagewege gegen staatliche Instanzen er-
öffnen, falls ihre Rechte auf Gewaltschutz nicht entsprechend gewahrt
                                                                          se, dass Unterstützungsangebote für Kinder
werden (vgl. dazu auch Eichhorn in diesem Heft).                          immer auch Sicherheitsaspekte der Mütter
Jugendhilfe aktuell - LWL
8     Jugendhilfe-aktuell 1.2020

    berücksichtigen und Maßnahmen zum               Die Frauenhäuser markieren Klärungsbedarf,
    Schutz der Frauen auch das eigenständige        wie den Rechten auf Gewaltschutz für Frau-
    Recht der Kinder auf Gewaltschutz wahren.       en und Kinder in diesem Zusammenhang
                                                    Geltung verschafft wird (vgl. dazu auch
• Alle Beteiligten benötigen Hilfe und Unter-       Eichhorn in diesem Heft).
  stützung – aber mit unterschiedlicher Ziel-
  setzung: Stärkung für die Mütter, um sich       Die im Rahmen der Werkstattgespräche ent-
  aus der Gewaltbeziehung zu befreien;            wickelten Ideen und Vorschläge werden im
  eigene Ansprechpersonen und Unterstüt-          Folgenden kurz skizziert.
  zungsangebote für die Mädchen und Jungen
  zur Entlastung von Isolation, Scham- und        Herausforderung:
  Schuldgefühlen;                                 Wahrnehmung des Schutzauftrags
  Täterarbeit mit dem Ziel der Sensibilisierung
  für die schädigenden Auswirkungen des           Frauenhäuser bzw. deren Trägerorganisationen
  eigenen Handeln und die Verantwortungs-         sind in der Regel nicht als Träger der freien
  übernahme für und nachhaltige Distanzie-        Jugendhilfe tätig, so dass Vereinbarungen zur
  rung von Gewalt.                                Wahrnehmung des Schutzauftrags gemäß § 8a
                                                  Abs. 4 SGB VIII nicht gesetzlich vorgeschrie-
Besonders bedeutsam werden diese Haltungen        ben sind. Nichtsdestotrotz haben auch Mitar-
in der Kooperation der Handlungsfelder an         beiterinnen in Frauenhäusern einen eigenen
zwei Themenkomplexen:                             Schutzauftrag (vgl. § 4 KKG) und Anspruch auf
                                                  Beratung durch eine insoweit erfahrene Fach-
• Wahrnehmung des Schutzauftrags im Frau-         kraft.
  enhaus: Wie mit Fragen des Kinderschutzes
  im Frauenhaus umgegangen wird und wie           Ideen und Vorschläge
  beispielsweise bei Rückkehr zum gewalt-
  tätigen Partner zwischen dem Recht auf          • Ermutigung der Frauen bei den Aufnahme-
  Selbstbestimmung und dem eigenständigen           gesprächen in den Frauenhäusern, bei Inan-
  Recht des Kindes auf Schutz abgewogen und         spruchnahme von Leistungen der Jugend-
  gehandelt wird, erfährt in der Abfrage unter      hilfe das zuständige Jugendamt über ihren
  den ASD-Leitungen hohe Aufmerksamkeit.            Verbleib zu informieren.

• Berücksichtigung häuslicher Gewalt in der       • Absprachen zur Wahrnehmung des Schutz-
  Aushandlung und Umsetzung von Sorge-              auftrags zwischen Frauenhaus und Jugend-
  und Umgangsregelungen: Mit einer räumli-          amt: Was sind gewichtige Anhaltspunkte
  chen Trennung ist die häusliche Gewalt oft        für eine Kindeswohlgefährdung? Wer steht
  nicht beendet; gerade in Trennungssituati-        für das Frauenhaus als insoweit erfahrene
  onen droht die Gewalt weiter zu eskalieren.       Fachkraft zur Beratung zur Verfügung? Wie
Jugendhilfe aktuell - LWL
Perspektiven für Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder   9

  gestaltet sich in Gefährdungsfällen konkret        in Absprache mit der Mutter – Hinzuziehung
  die Zusammenarbeit? (vgl. LVR-LJA 2015,            von Einschätzungen und Erkenntnissen aus der
  DKSB NRW 2015).                                    Arbeit mit Frauen und Kindern im Frauenhaus
                                                     kann das Jugendamt dazu beitragen, der Dy-
• … insbesondere auch zur Kooperation bei            namik häuslicher Gewalt und den Schutzerfor-
  vorliegenden Schutzplänen: Wenn mit                dernissen im Verfahren Geltung zu verschaffen
  Frauen als Maßnahme zum Schutz der Kin-            (vgl. BMFSFJ 2011, DIJUF 2017).
  der ein Aufenthalt im Frauenhaus vereinbart
  wird, wurde in den Werkstattgesprächen             Ideen und Vorschläge
  vorgeschlagen, 1. vor Aufnahme Kontakt
  seitens des Jugendamts zum Frauenhaus              • Gewährleistung, dass vorliegende Informati-
  aufzunehmen, 2. über die Inhalte der vor-            onen zu häuslicher Gewalt regelhaft auch in
  ausgegangenen Gefährdungseinschätzung                anschließende Sorge- und Umgangsrechts-
  und bestehende Schutzpläne/-vereinbarun-             verfahren einfließen können
  gen Transparenz herzustellen und 3. ggf. das
  Jugendamt am Sitz des Frauenhauses ent-            • Regelhafte Prüfung notwendiger Maßnah-
  sprechend der Regelungen gemäß § 8a Abs. 5           men zum Schutz von Frauen und Kindern
  SGB VIII zu informieren.                             in familiengerichtlichen Verfahren und bei
                                                       Umgangskontakten (z.B. getrennte Ge-
• Einbezug des Gewaltausübenden in die                 spräche mit beiden Elternteilen, regelhafte
  Gefährdungseinschätzung: Nimmt der                   Sicherheitseinschätzung, Beantragung der
  Vater sein Verhalten als problematisch wahr          vorübergehenden Aussetzung von Umgangs-
  (Problemakzeptanz)? Übernimmt er Verant-             kontakten während eines Frauenhausaufent-
  wortung (Problemkongruenz)? Ist er bereit,           haltes etc.)
  Veränderung herbeizuführen (Hilfeakzep-
  tanz)? (vgl. BV kommSpV 2009).                     • Gemeinsame Fortbildungen zu häuslicher
                                                       Gewalt mit Familienrichter*innen
Herausforderung:
Sicherer Umgang mit dem Umgang                       Und wie weiter …?!

Wenn sich Frauen nach häuslicher Gewalt von          Die Werkstattgespräche zwischen Jugend-
ihrem Partner trennen, stellen sich Fragen von       ämtern und Frauenhäusern haben deutlich
Sorge- und Umgangsrechten, zu denen das              gezeigt, dass ein vertieftes Verständnis für die
Jugendamt im Rahmen der familiengerichtli-           jeweils unterschiedlichen Aufträge und Hand-
chen Verfahren regelmäßig zur Stellungnahme          lungsweisen beider Arbeitsfelder Herausforde-
aufgefordert ist. Getroffene Regelungen wer-         rung wie Basis aller Zusammenarbeit ist (zur
den teilweise im Anschluss durch Beratung,           Arbeit in Frauenhäusern vgl. das Interview auf
begleiteten Umgang etc. fachlich unterstützt.        Seite 20 in diesem Heft).
Durch aktive Ausgestaltung dieser Rolle und –
Jugendhilfe aktuell - LWL
10   Jugendhilfe-aktuell 1.2020

                                                                       Illustration:
                                                                       strichfiguren.de
                                                                       / stock.adobe.com

Die in allen Kreisen und kreisfreien Städten vor-   Gemeinsam mit Frauenhäusern, Gerichten etc.
handenen „Runden Tische gegen häusliche Ge-         ist auch die Jugendhilfe ein Akteur – denn das
walt“ sind die zentralen Gremien zur wechsel-       Miterleben häuslicher Gewalt schränkt Kinder
seitigen Information und Klärung von Fragen         nachhaltig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung
institutionenübergreifender Zusammenarbeit,         ein und wirkt sich, jeweils unterschiedlich,
so dass die Jugendämter dort regelmäßig betei-      auch auf die Wahrnehmung der Mutter- bzw.
ligt sein sollten. Wechselseitige Einladungen       Vaterrolle aus.
in Dienstbesprechungen, gemeinsame Fortbil-
dungen, regelmäßige Kooperationsgespräche/          Angebote in Kooperation an der Schnittstelle
Qualitätsdialoge können den Austausch und           zu entwickeln, wie beispielsweise Gruppenan-
das Verständnis füreinander weiter stärken.         gebote für Kinder nach häuslicher Gewalt (vgl.
Kooperationsvereinbarungen wurden in ei-            Gauly in diesem Heft), Angebote der Tagesbe-
nigen Kommunen bereits verabschiedet (vgl.          treuung (vgl. Welscher in diesem Heft), Clea-
z.B. Münster, Recklinghausen, Hamm - siehe          ringstellen oder interdisiziplinäre Helferkonfe-
Termath in diesem Heft).                            renzen für die gemeinsame Fallberatung bleibt
                                                    eine Herausforderung für die Zukunft. Beispiele
Gleichzeitig gibt es offene Handlungsbedarfe,       dafür gibt es – das zeigt dieses Heft.
die beide Handlungsfelder für sich bewerkstel-
ligen müssen. So erarbeitet das LWL-Landesju-       Literatur
gendamt unter Beteiligung von Fachkräften aus       BMFSFJ 2011: FamFG - Arbeitshilfe zum neu gestalteten Verfahren in
der Praxis jetzt eine Arbeitshilfe zur häuslichen   Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts-
                                                    barkeit (FamFG) bei Vorliegen häuslicher Gewalt. Berlin
Gewalt in Jugendämtern, um jugendamtsüber-          Bundesvereinigung kommunale Spitzenverbände 2009: Empfehlun-
greifend Orientierung zu geben. Einige Frauen-      gen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendäm-
                                                    tern bei Gefährdung des Kindeswohls. o.O.
häuser ergänzen ihre Konzeptionen zur Arbeit        DIJUF e.V. 2017: Beschwerdemöglichkeiten des Jugendamtes in Kind-
mit Mädchen und Jungen um Hinweise zur              schaftsverfahren vor dem Familiengericht, Heidelberg
                                                    DKSB NRW 2015: Methodenmappe zur Umsetzung des Schutzauf-
Wahrnehmung des Schutzauftrags.
                                                    trags. Wuppertal
                                                    Kavemann, Barbara/Kreyssig, Ulrike (Hrsg.) 2013: Handbuch Kinder
Deutlich wurde vor allem aber auch, dass häus-      und häusliche Gewalt. Wiesbaden
                                                    LVR-Landesjugendamt 2015: Gelingensfaktoren bei der Wahrneh-
liche Gewalt immer einen Hilfe- und Unterstüt-      mung des Schutzauftrags gemäß § 8a SGB VIII. Köln
zungsbedarf signalisiert, dass die Zugänge zu
Hilfen für die betroffenen Frauen und Kinder
aber erschwert sind – etwa weil die Frauen
befürchten, ihre Kinder zu verlieren – und dass
die Ressourcen für eine angemessene Unterstüt-
zung nach häuslicher Gewalt nicht ausreichen.                                                  Dr. Monika Weber
                                                                                               (linkes Foto) und Jutta
Vielerorts fehlen vor allem Angebote für Mäd-
                                                                                               Möllers sind
chen und Jungen wie auch für die Täterarbeit                                                   Fachberaterinnen im
nach häuslicher Gewalt.                                                                        LWL-Landesjugendamt
                                                                                               Westfalen
12      Jugendhilfe-aktuell 1.2020

Häusliche Gewalt
und der Umgang
mit dem Umgang
                                                                                                       Foto: studio v-zwoelf – stock.adobe.com
Herausforderungen, Widersprüche und Reflexionsbedarf

von Anja Eichhorn

Häusliche Gewalt1 als ein Querschnittthema im Kinderschutz und der Arbeit gegen Gewalt im Geschlech-
terverhältnis stellt hohe Anforderungen an das professionelle Handeln von Fachkräften sowohl in der
Kinder- und Jugendhilfe als auch in Frauenhäusern und -beratungsstellen. Wenn Frauen Gewalt erfahren
und gleichzeitig Kinder involviert sind, bringen die Ansprüche an gelingenden Gewaltschutz besondere
Herausforderungen mit sich.

Vor allem der Umgang mit dem Umgangsrecht                           von Staaten bei Gewalt gegen Frauen ist die
gewaltausübender Männer in ihrer Rolle als                          UN-Frauenrechtskonvention CEDAW2 . Frauen,
Väter erweist sich als Konfliktfeld – nicht nur                     die sich in ihren durch die CEDAW geschütz-
für betroffene Frauen und Kinder, sondern                           ten Rechten verletzt sehen, können sich unter
auch in der Kooperation der Fachkräfte. Denn                        bestimmten Voraussetzungen beim CEDAW-
diese müssen nicht nur zwischen verschiede-                         Ausschuss beschweren (Prasad 2011).
nen Interessen und Rechtsgütern abwägen,
sondern bewegen sich auch in einem von Wi-                          2012 beschwerte sich Angela González Car-
dersprüchen, Ambivalenzen und Stereotypen                           reño3 , deren Ex-Ehemann die gemeinsame
geprägten Feld. Dies zeigen die Ergebnisse einer                    Tochter während eines unbegleiteten Umgangs
Studie zu Rollenverständnis und Strategien bei                      erschossen und anschließend Suizid begangen
Umgangsentscheidungen in Fällen häuslicher                          hatte, gegen Spanien. Der unbegleitete Umgang
Gewalt in Jugendämtern und bei Familienge-                          war ohne vorherige Anhörung von Mutter und
richten, die im Folgenden auszugsweise vorge-                       Kind und trotz jahrelanger häuslicher Gewalt,
stellt werden (Eichhorn 2017).                                      fehlender Unterhaltszahlungen des Vaters und
                                                                    unwirksam gebliebener bzw. vom Vater unter-
Gewaltschutz als Menschenrecht und                                  laufener zivilrechtlicher Schutzmaßnahmen
staatliche Aufgabe                                                  gerichtlich angeordnet und vom Sozialdienst
                                                                    befürwortet worden, obwohl es Bedenken
Von häuslicher Gewalt1betroffene Frauen erle-                       hinsichtlich des Vaters gegeben hatte und
ben eine Verletzung elementarer Bedürfnisse                         obwohl das Kind nicht mehr Zeit mit ihm hatte
und Grundrechte, zum Beispiel des Rechts auf                        verbringen wollen. Mehrere Entschädigungs-
Freiheit und Sicherheit der Person, auf Gleich-                     forderungen von Frau G. C. nach dem Tod des
behandlung in der Familie, auf Gesundheit                           Kindes waren abgewiesen worden.
und bisweilen sogar des Rechts auf Leben. Ein
zentraler Bezugsrahmen für die Achtungs-,
Schutz- und Gewährleistungsverpflichtungen                          2
                                                                      Im englischen Original Convention on the Elimination of All Forms of
                                                                    Discrimination against Women, kurz: CEDAW.
1
  Dem Beitrag liegt ein Verständnis von häuslicher Gewalt als ge-   3
                                                                      CEDAW/C/58/D/47/2012. Ausführliche Darstellung: http://
schlechtsspezifischer Partnerschaftsgewalt von Männern gegenüber    tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.
Frauen zugrunde.                                                    aspx?symbolno=CEDAW/C/58/D/47/2012&Lang=en.
Häusliche Gewalt und der Umgang mit dem Umgang   13

In seiner Entscheidung vom 18.07.2014 stuft                      land ist, hat sich die Bundesregierung ohnehin
der CEDAW-Ausschuss die Gewährung der                            klar zur Umsetzung aktiver staatlicher Maßnah-
unbegleiteten Umgänge im Kontext der häus-                       men zum Schutz von Betroffenen häuslicher
lichen Gewalt, infolge derer das Kind zu Tode                    Gewalt bekannt. Nach Art. 31 der Konvention
kam, sowie das Fehlen von Entschädigung als                      müssen Behörden sicherstellen, dass häusliche
Menschenrechtsverletzung an Frau G. C. ein.                      Gewalt bei Entscheidungen zum Sorge- und
Er nimmt gleichzeitig eine kinderrechtliche                      Umgangsrecht berücksichtigt wird bzw. dass
Perspektive ein, indem er auf eine Verletzung                    die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechts
des Rechts des Kindes auf Gehör verweist und                     die Rechte und Sicherheit der Gewaltbetroffe-
kritisiert, dass sich Justiz und Sozialdienst in                 nen und der Kinder nicht gefährdet.
Fragen des Umgangs nicht mit den Auswirkun-
gen der Partnerschaftsgewalt auf das Erleben                     Was aber passiert, wenn ‚Kindeswohl' im Um-
des Kindes befasst bzw. keine sorgfältige Ab-                    gang mit häuslicher Gewalt und in Umgangs-
wägung von Nutzen und Schaden der Umgän-                         fragen bei/nach häuslicher Gewalt unterschied-
ge vorgenommen haben. Vielmehr habe das                          lich interpretiert wird?
Hauptinteresse der spanischen Behörden in
der Normalisierung der Vater-Kind-Beziehung                      Kindeswohl – ein widersprüchlicher
bestanden.                                                       Maßstab bei häuslicher Gewalt und
                                                                 Umgang
Indem das Umgangsrecht des Vaters unter dem
Aspekt „formaler Gleichheit“ betrachtet wor-                     Dass (mit)erlebte Gewalt die kindliche Entwick-
den sei, seien der Mann bevorzugt und Frau                       lung beeinträchtigt, ist in Fachkreisen bekannt,
und Kind in ihrer Rolle als Gewaltbetroffene                     und die Bewertung von häuslicher Gewalt als
diskriminiert worden. Faktisch habe der Mann                     Indikator für eine mögliche Kindeswohlgefähr-
sein Umgangsrecht dazu missbrauchen kön-                         dung hat sich überwiegend etabliert, so die
nen, Mutter und Kind zu schaden bzw. Frau                        Einschätzung von Expertinnen und Experten
C. G. zu schaden, indem er dem Kind Schaden                      aus Jugendämtern und Familiengerichten, die
zufügt.                                                          für die Studie interviewt wurden.

Die Argumentation des spanischen Staates, wo-                    Kinderschutz geht oft mit starken Belastungen
nach dieses Risiko nicht vorhersehbar gewesen                    einher und erzeugt einen hohen Handlungs-
sei, hält der CEDAW-Ausschuss für inakzepta-                     und Rechtfertigungsdruck. Wie die Auswertung
bel. Er betont, dass in allen Fragen des Sorge-                  der Interviews zeigt, wird in Fällen häuslicher
und Umgangsrechts das Wohl des Kindes ("best                     Gewalt, in die Kinder involviert sind, dieser
interest of the child") zentrales Anliegen sein                  Druck von Seiten der Jugendhilfe nicht selten
muss und die staatlichen Behörden dabei einen                    an die gewaltbetroffenen Frauen weitergegeben
Kontext häuslicher Gewalt einbeziehen müs-                       und führt für diese zu einem spezifischen Prob-
sen.                                                             lem: Sie werden vorrangig in ihrer Mutterrolle
                                                                 wahrgenommen, und es wird erwartet, dass sie
Als Vertragsstaat der CEDAW ist Deutschland                      das Kind vor dem Miterleben weiterer Gewalt
dazu verpflichtet, sich mit der Rechtsmeinung                    schützen, indem sie sich vom Täter trennen.
des Ausschusses auseinanderzusetzen und                          Tun sie dies nicht, werden sie als diejenigen
nationalstaatliches Recht entsprechend auszu-                    angesehen, die der elterlichen Verantwortung
legen.                                                           zum Schutz des Kindes nicht nachkommen.

Mit Ratifikation der Istanbul-Konvention4, die                   Dass solche Zuschreibungen dazu führen kön-
seit Februar 2018 geltendes Recht in Deutsch-                    nen, dass gewaltbetroffene Frauen nicht (mehr)
                                                                 auf das Gewaltgeschehen aufmerksam machen
4
  Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, https://rm.coe.
                                                                 – zumal die Gefahr eines Sorgerechtsentzugs
int/1680462535.                                                  gängiges Druckmittel gewalttätiger Partner ist
14        Jugendhilfe-aktuell 1.2020

und das Risiko für weitere Gewalt bis hin zu      gen ‚plötzlich' zum wichtigen Vater werden,
Tötungsdelikten gerade in Trennungssituatio-      mit dem die Frau auf der Elternebene kooperie-
nen erheblich ansteigt (Heynen 2011) – wird       ren soll, um die Vater-Kind-Beziehung nicht zu
in der Praxis zwar als Hindernis für effektiven   gefährden.
Gewalt- und Kinderschutz reflektiert. Dennoch
wird vorrangig den Frauen mangelnde Verant-       Freilich findet eine solche Bewertungsverschie-
wortung attestiert, während die gewalttätigen     bung nicht pauschal in allen Fällen statt. Sie
Männer in ihrer Rolle als Väter kaum adressiert   markiert aber eine entscheidende systemimma-
und in die Verantwortung genommen werden.         nente Schutzlücke bei häuslicher Gewalt und
                                                  stellt ein großes Problem an der Schnittstelle
Paradoxe Neubewertungen                           der Jugendhilfe und der Arbeit gegen Gewalt
                                                  im Geschlechterverhältnis dar. Notwendige
Wenn sich eine Frau nun vom misshandelnden        Regelungen zum Gewaltschutz für Frauen und
Partner getrennt hat und Entscheidungen zum       Kinder drohen durch gerichtliche Umgangs-
Umgang zwischen Vater und Kind anstehen,          regelungen (und im Übrigen auch im Rahmen
kommt es in der Praxis jedoch immer wieder zu     von Sorgerechtsregelungen) faktisch außer
paradoxen Neubewertungen des Kindeswohls:         Kraft gesetzt zu werden.
Während bei häuslicher Gewalt ‚an sich' eine
Kindeswohlgefährdung primär in der Gewalt-        Kein formales Rechtsanspruchsdenken
dynamik gesehen wird, kann in Umgangs-
fragen ebenfalls mit dem Kindeswohl argu-         Mittlerweile gibt es eine Reihe von Arbeitshil-
mentiert werden. Denn qua Gesetz gehört der       fen zum Umgang mit dem Umgang(srecht) und
Umgang mit beiden Elternteilen zum Kindes-        zum Begleiteten Umgang bei/nach häuslicher
wohl5, und das Kind hat ein Recht auf Umgang      Gewalt, die eine gute Basis für sorgfältige Ent-
mit jedem Elternteil, woraus sich Recht und       scheidungen im genannten Feld bieten.7
Pflicht der Eltern zum Umgang mit dem Kind
ableiten6.                                        Solange Bewertungen der Kindeswohldienlich-
                                                  keit von Umgängen zwischen einem Kind und
Tatsächlich wird dem Umgangsrecht seit der        einem Vater, der zugleich gewalttätiger Partner
Kindschaftsrechtsreform 1998 erhebliche           der Kindesmutter ist, allerdings losgelöst vom
Bedeutung beigemessen. Und da das Gesetz an       kindeswohlgefährdenden Kontext der Gewalt
den genannten Stellen keine Ausnahmen defi-       erfolgen und solange es kein durchgehendes
niert, könn(t)en Einschränkung oder Abbruch       Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Ver-
von Umgangskontakten bzw. ein möglicher           schränkung von Kinder- und Frauenschutz bei
Beziehungsabbruch zwischen Vater und Kind         häuslicher Gewalt gibt, wird es auch weiterhin
praktisch ebenfalls als Kindeswohlgefährdung      zu Umgangsentscheidungen kommen, die auf
gewertet werden. Mit dem Urteil des Europäi-      formalem Rechtsanspruchsdenken basieren –
schen Gerichtshofes für Menschenrechte zur        vor allem dann, wenn nicht (an)erkannt wird,
elterlichen Sorge für nichtverheiratete Väter     dass Partnerschaftsgewalt und damit assoziier-
erfolgte 2009 zudem eine grundsätzliche Stär-     te Gefährdungen durch eine Trennung nicht
kung von Väterrechten, sodass Väter auch in       automatisch beendet sind und die gerichtliche
Umgangsfragen stärker als Rechteinhaber mit       Durchsetzung von Umgangsansprüchen auch
Rechtsansprüchen wahrgenommen werden.             eine das Kind instrumentalisierende Täterstra-
                                                  tegie darstellen kann.
Ein Mann, der im Kontext häuslicher Gewalt
als gewalttätiger Partner konnotiert wurde, von
dem die Frau sich unbedingt trennen sollte, um
das Kind zu schützen, kann so in Umgangsfra-
5
    § 1626 Abs. 3 BGB
6
    § 1684 Abs. 1 BGB                             7
                                                      siehe etwa Übersicht auf Seite 52 dieses Heftes
Häusliche Gewalt und der Umgang mit dem Umgang                15

Jugendamt und Familiengericht                     Literatur
sind gefragt                                      Eichhorn, Anja (2017): Häusliche Gewalt und Umgang als Menschen-
                                                  rechtsverletzung gegen Frauen. In: Soziale Arbeit 3/2017, S. 96-102.
                                                  Heynen, Susanne (2011): Schutz und Hilfe in verbindlicher Kooperation
Die an Umgangsentscheidungen beteiligten          sichern. Hilfe und Schutz für Kinder als Mitbetroffene häuslicher Ge-
Professionen in Jugendämtern und Familien-        walt: eine Aufgabe für die Jugendhilfe. In: Jugendhilfe aktuell 1/2011,
                                                  S. 7-13.
gerichten müssen sich daher kontinuierlich fra-   Prasad, Nivedita (2011): Mit Recht gegen Gewalt. Die UN-Menschen-
gen, ob sie mit ihren Entscheidungen berech-      rechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit. Opladen & Farming-
                                                  ton Hills.
tigte Bedürfnisse befriedigen oder zweifelhafte
                                                  Schüler, Astrid (2011): Begleiteter Umgang nach häuslicher Gewalt. In:
Motive bedienen – und von welchen Vorannah-       Jugendhilfe aktuell 1/2011, S. 30-36.
men zu häuslicher Gewalt, misshandelten Frau-
                                                  Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst unter dem Titel „Häusliche Gewalt
en, umgangsberechtigten Vätern, Trennungs-        und Umgang als Menschenrechtsverletzung gegen Frauen“ in der Zeitschrift
kindern und kindlichen Interessenslagen sie       Soziale Arbeit erschienen.

sich dabei leiten lassen. Dazu gehört auch die
Frage, ob Gefährdungslagen gewaltbetroffener
Frauen ausreichend ernst genommen werden
und in die Bewertung einer Kindeswohlge-
fährdung einfließen, wenn das Kind selbst als
‚unauffällig' gilt. Vor dem Hintergrund der
Stärkung von Väterrechten steht nicht zuletzt
eine intensive(re) Auseinandersetzung mit Va-
terbildern und den Erwartungen an gelingen-
de Vaterschaft an – vor allem in Bezug auf die
Frage, ob und inwieweit gewalttätige Partner
liebevolle Väter sein (oder werden) können.

Umgangsfragen im Kontext häuslicher Ge-
walt, die Einschränkung oder Aussetzung von
Umgängen und die Entscheidung, Begleiteten
Umgang einzusetzen und fachlich begründet
durchzuführen, erfordern ein hohes Maß an
Vorbereitung, Engagement und Kooperati-
onswillen aller Beteiligten (Schüler 2011). Die
sorgfältige Gestaltung von Umgangsverfahren
und eine auf Sicherheit der Betroffenen fokus-
sierte Umsetzung des Umgangsrechts werden
in jedem Fall davon abhängen, welches Wissen
die an den Prozessen beteiligten Professionel-
len über häusliche Gewalt haben und wie sie
ihr Wissen in die Prozesse einbringen.

                                                                           Anja Eichhorn, Sozialarbeiterin/-
                                                                           pädagogin (B.A.), Master of Social Work
                                                                           hat 7,5 Jahre im ASD gearbeitet, war
                                                                           Fachreferentin im Bundesnetzwerk
                                                                           Ombudschaft Kinder- und Jugendhilfe
                                                                           und ist seit April 2020 Promovendin im
                                                                           DFG-Graduiertenkolleg „Folgen sozialer
                                                                           Hilfen“ an der Uni Siegen.
16    Jugendhilfe-aktuell 1.2020

Umgang um jeden Preis
oder Neuanfang ohne Angst?
Kinder benötigen spezielle Interventionen
                                                                                     Foto: fizkes - stock.adobe.com
bei Umgangskontakten nach häuslicher Gewalt

von Alexander Korittko

Werden Kinder Zeugen häusli-         Trauma-Dynamik                    in der Unterwerfung erscheint
cher Gewalt, besteht eine hohe                                         der Mensch wie abgeschaltet.
Wahrscheinlichkeit, dass sie da-     Wenn Menschen in existen-
runter leiden, auch wenn sie die     ziell bedrohliche Situationen     Während dieser Vorgänge
Geschehnisse „nur“ miterleben.       geraten, so genannte Psy-         übernehmen Teile des Mit-
Einige Untersuchungen gehen          chotraumata, sind häufig die      telhirns, die so genannten
sogar davon aus, dass sie in ihrer   alltäglichen Möglichkeiten,       Mandelkerne (Amygdalae) die
Mehrheit eine posttraumatische       Stress zu bewältigen, überfor-    Speicherung von minimalen
Belastungsstörung entwickeln         dert.                             Fragmenten aus der bedroh-
– je jünger sie sind, umso eher.                                       lichen Situation: ein Anblick,
Selbst geschlagen zu werden sei      Der Körper und das Gehirn         ein Geräusch, ein Geruch,
weniger bedrohlich, als in Angst     schalten auf Notfall: die fili-   eine Körperempfindung, eine
um die Gesundheit und das            granen Strukturen des Groß-       Emotion. Die Mandelkerne
Wohlergehen von überlebens-          hirns werden außer Funktion       funktionieren wie ein Früh-
wichtigen Bezugspersonen Panik       gesetzt, die neuronalen Ver-      warnsystem. Wenn ein Teil
zu entwickeln.                       schaltungen des limbischen        der ursprünglich existenziell
                                     Systems (Mittelhirn) und des      bedrohlichen Situation später
                                     Stammhirns übernehmen             erneut wahrgenommen wird,
                                     in Form von Instinkten und        schaltet das Gehirn wieder
                                     Reflexen die Steuerung. Blitz-    auf Notfall, damit sich der
                                     schnelle hormonelle Reakti-       Mensch diesmal schneller in
                                     onen führen zu Flucht- oder       Sicherheit bringen kann. Die
                                     Kampfbereitschaft.                Mandelkerne speichern sehr
                                                                       präzise, lösen jedoch übermä-
                                     Ist Entweichen oder Gegen-        ßig häufig Alarm aus.
                                     wehr nicht möglich, bleiben
                                     nur Erstarrung oder Unter-        So fühlen sich Menschen, die
                                     werfung als letzte Reaktionen     Gewalt erlebt haben, immer
                                     übrig. In der Erstarrung wird     wieder angetriggert: Fragmen-
                                     noch etwas wahrgenommen,          te der ehemals bedrohlichen
Umgang um jeden Preis oder Neuanfang ohne Angst?   17

Situation lassen urplötzlich       Nach wiederkehrenden Ge-             Wenn Kinder den Kontakt
eine Wahrnehmung entste-           walttaten und Mordversu-             zum ehemals gewalttätigen
hen, als passiere das Schreckli-   chen, die polizeilich bekannt        Vater ablehnen, haben sie
che erneut. Die Vergangenheit      und in ihren Auswirkungen            diese Konflikte ansatzwei-
schiebt sich in der emotio-        eindeutig medizinisch doku-          se gelöst. Da mag noch ein
nalen Wahrnehmung vor die          mentiert sind, ist zu klären, ob     Gefühl von Trauer eine Rolle
Gegenwart.                         der Mutter zugemutet werden          spielen, denn auch gewalttäti-
                                   kann, Kontakte des Kindes            ge Väter sind nicht 24 Stunden
Was bedeutet das für Kinder,       zum Vater zu ermöglichen, ob         sieben Tage in der Woche nur
die immer wieder erleben, wie      dem Kind zugemutet werden            schlecht. Vielleicht gab es
die Mutter vom Vater geschla-      kann mit dem Gewalttäter             auch angenehme Erlebnisse
gen und verletzt wird?             Zeit zu verbringen und ob der        mit dem Vater, die noch mit
                                   Vater dem Kind im Umgangs-           Sehnsucht verbunden sind.
Sie können nicht dagegen           kontakt guttut. Ich habe von         Doch die Loyalität mit der
ankämpfen. Sie erstarren           einigen Urteilen des Familien-       Mutter, mit der sie ja häufig
vor Schreck. Auch wenn sie         gerichts in solchen Kontexten        tagtäglich zusammenleben, ist
weglaufen könnten, um der Si-      erfahren, die zu Umgangskon-         stärker. Verständlicherweise.
tuation zu entweichen, nimmt       takten mit dem Vater führten,
ihr Gehirn Trauma-Fragmente        „da er dem Kind gegenüber            Beschwichtigung
wahr: Mutters ängstliches          ja nicht gewalttätig gewesen         aus Angst
Gesicht, Vaters Rasierwas-         sei“. Häufig werden begleitete
ser, seine laute Stimme, das       Umgänge angeordnet.                  Kinder, die Umgangskontak-
ängstliche Gefühl im eigenen                                            te mit gewalttätigen Vätern
Körper, oder Ähnliches.            Kinder, die nach häuslicher          wahrnehmen (müssen), lösen
                                   Gewalt Kontakt mit dem Täter         diese Konflikte oft anders. Sie
Fragmente der Situation kön-       haben, befinden sich oft nicht       zeigen nicht die erwartete Vor-
nen auch noch gespeichert          nur in einem emotionalen             sicht oder nähern sich nicht
werden, wenn z.B. sehr kleine      Loyalitätskonflikt, sondern          zunächst nur schrittweise dem
Kinder wie abgeschaltet im         auch in einem kognitiven             Menschen, der ihre Mutter
Totstell-Reflex die Situation      Ursachenkonflikt.                    wiederholt misshandelt hat
erleben.                                                                und ihnen eine „Heidenangst“
                                   Darf ich Mama sagen, dass es         eingejagt hat. Sie umarmen
Umgang nach Gewalt                 toll war mit Papa? Darf ich          und herzen den Gewalttäter,
                                   Papa erzählen, dass ich mich         sodass es den Anschein hat,
Haben sich Mutter und Vater        mit Mama wohl fühle? Mama            hier habe echte Liebe gesiegt
voneinander getrennt – oft         hat erzählt, dass Papa zu viel       und die schrecklichen Gewal-
nach wiederkehrenden Ver-          Alkohol getrunken hat und            tereignisse seien vergessen.
suchen, die Partnerschaft          dann bei jeder Kleinigkeit aus-
zu retten, was dann doch           gerastet ist. Papa hat erzählt,      Es gibt aber auch eine andere
zu einer Spirale von Gewalt,       dass ihn Mama immer wieder           Erklärung, die aus der Sicht
zerknirschter Reue, Verände-       provoziert hat und dass ihm          vieler Fachleute wahrscheinli-
rungsversprechen und Verzei-       dann die Hand ausgerutscht           cher ist.
hen, erneuten Spannungen           ist. Wem soll ich glauben?
und Gewalt führt – wird die                                             Kann ein Kind sich einer be-
Frage nach Kontakten des           In diesen Konflikten befinden        drohlichen Situation, in der es
Kindes zum ehemals gewalt-         sich viele Kinder mit getrenn-       eine Bezugsperson als bedroh-
tätigen Elternteil, meist dem      ten Eltern, doch Kinder aus Fa-      lich erlebt, nicht entziehen,
Vater, zum neuen Konfliktfeld.     milien mit häuslicher Gewalt         bleibt neben Erstarrung oder
                                   am heftigsten.                       Totstell-Reflex noch die Reak-
18   Jugendhilfe-aktuell 1.2020

                                  tion der Beschwichtigung aus       Kind ist nicht nur am Abend
                                  Angst, eine aktive Form von        und am folgenden Morgen,
                                  Dissoziation. Die durch Trau-      sondern viele Tage danach
                                  ma-Fragmente ausgelösten           besonders aggressiv, besonders
                                  Gefühle von Panik und Schre-       verschlossen oder reagiert
                                  cken aus der plötzlich wieder      über einen langen Zeitraum
                                  vergegenwärtigten Vergangen-       mit körperlichen Beschwerden
                                  heit der häuslichen Gewalt         wie Bauch- oder Kopfschmer-
                                  werden verdrängt. Das Gesicht      zen.
                                  des Vaters, seine Stimme, sein
                                  Geruch oder andere Trigger         Auch in der Schule oder in der
                                  führen zu einer instinktiven       Kindertagesstätte wird es über
                                  Reaktion von Beschwichti-          mehrere Tage beschrieben,
                                  gung, damit nicht wieder           als sei es in seinem Wesen
                                  etwas Schlimmes passiert.          tiefgreifend verändert. „Er ist
                                                                     dann eine Woche lang nicht
                                  Diese Beschwichtigung wird         zu gebrauchen“ oder ähnli-
                                  nicht bewusst geplant und          ches wird dann geäußert.
                                  ausgeführt, sondern geschieht
                                  intuitiv. Diese Reaktion ist als   Solche Signale müssen nicht
                                  „instinktive Täuschung“ be-        bedeuten, dass während des
                                  kannt. Das Kind täuscht sich       Umgangs etwas Schreckliches
                                  selbst und alle anderen, um        passiert ist. Sie können auch
                                  die Begegnung emotional zu         bedeuten, dass das Kind wäh-
                                  überleben.                         rend des Kontaktes mit dem
                                                                     gewalttätigen Vater durch mi-
                                  Wie kann man diesen Prozess        nimale Fragmente an existen-
                                  von Beschwichtigung aus            ziell bedrohliche Situationen
                                  Angst von echter Zuneigung         erinnert worden ist und aus
                                  und liebevollem Kontakt            Angst seine massiven Gefüh-
                                  unterscheiden? Rein äußerlich      le von Wut oder Traurigkeit
                                  erscheint beides fast gleich.      unterdrückt hat.
                                  Feine Nuancen können er-
                                  kennbar sein, wie etwa ein         Interventionen
                                  weniger glückliches Gesicht
                                  des Kindes.                        Was kann getan werden,
                                                                     sodass die Kontakte für alle
                                  Deutliche Unterschiede sind        Beteiligten ein Gewinn sind?
                                  allerdings vor dem Kontakt
                                  und nach dem Kontakt zu spü-       Zu allererst sollte sichergestellt
                                  ren. Fragt man das Kind vor        sein, dass Drohungen und
                                  dem Kontakt danach, worauf         Gewalt tatsächlich beendet
                                  es sich beim Umgang freut,         sind. Äußere Sicherheit ist
                                  erhält man vage Antworten.         eine Grundvoraussetzung für
                                  Sehr klare Anzeichen für eine      Umgangskontakte.
                                  erfolgte Beschwichtigung aus
                                  Angst sind dann nach dem           Als zweites benötigt das Kind
                                  Kontakt zu erkennen. Das           – und auch die erwachsene
Umgang um jeden Preis oder Neuanfang ohne Angst?         19

Überlebende – einen trauma-       Begleitete Umgänge kön-                     Weiterführende Literatur
sensibel gestalteten Alltag.      nen dem Kind eine Zeit lang                 Hüther, G. (2005): Biologie der Angst. Wie
Notwendig für das Kind sind       dabei helfen, in der Nähe von               aus Stress Gefühle werden. Göttingen (Van-
                                                                              denhoeck u. Ruprecht).
wiederkehrende Abläufe,           vertrauten Personen ange-                   Korittko, A. (2015): Posttraumatische Belas-
Strukturen und Rituale, die       messene Nähe und Distanz                    tungsstörung bei Kindern und Jugendlichen.
                                                                              Heidelberg (Carl Auer).
beiden emotionale Sicherheit      zu regulieren. Zeigt ein Kind               Weinberg, D. u. A. Korittko (2013): Instink-
und Voraussagbarkeit für den      hingegen dauerhaft nach                     tive Täuschung – die verborgene Traumare-
                                                                              aktion. Informationen für Erziehungsbera-
Alltag geben. Das Leben war       Kontakten Angst- oder Panik-
                                                                              tungsstellen 2. Fürth (Bundeskonferenz für
lange Zeit zu sehr mit be-        zustände, psychosomatische                  Erziehungsberatung), S. 21–25.
drohlichen Überraschungen         Symptome oder leidet es unter
gespickt.                         Albträumen, kann nach sorg-
                                  fältiger Diagnose auch davon
Als drittes benötigt das Kind –   ausgegangen werden, dass die
und vielleicht auch die er-       Kontakte zu ehemals gewalttä-
wachsene Überlebende – the-       tigen Elternteil nicht dem Kin-
rapeutische Begleitung, in der    deswohl entsprechen. Sowohl
beide kognitiv lernen und dies    Oberlandesgerichte als auch
auch emotional verankern:         das Bundesverfassungsgericht
die erlittenen Gewalt-Szenen      haben inzwischen Urteile aus-
gehören der Vergangenheit         gesprochen, die unter diesen
an. Wenn ein familiäres Nar-      Umständen Umgangskontakte
rativ über die erlebte Gewalt     aussetzen, beziehungsweise
entstehen kann, wird es Teil      auf schriftliche Informationen
des vergangenheitsbezogenen       über das Kind beschränken1 .
Gedächtnisses. Den Triggern
wird damit Kraft entzogen.

Viertens benötigt das Kind die
Verantwortungsübernahme
des Täters für dessen begange-
ne Taten. Meist ist ein solches
Gespräch zwischen Vater und
Kind nur durch vorherige
Beratung des Vaters zu erzie-
len. Er könnte dabei erkennen,
dass es ihm trotz bester Vor-
                                  1
                                    „Begründet die konkrete Umsetzung der
                                  Umgangskontakte eine unmittelbare Gefahr
sätze nicht gelungen ist, ein     für die Hauptbezugsperson der Kinder,
guter Vater zu sein. Er könnte    bedeutet auch dies eine konkrete Kindes-
                                  wohlgefährdung, die der Durchführung von
lernen, über das Furchtbare       Umgangskontakten entgegensteht.“
zu sprechen, seine Verantwor-     BVerfG, 2. Kammer des ersten Senats, Be-
                                  schluss vom 13.12.2012 – 1 BvR 1766/12
tung dafür klar zu benennen       Beschränkung des Umgangsrechts auf
und Reue zu zeigen. Natürlich     Briefkontakt und das
                                  Schicken von Ge-
muss abgeschätzt werden, ob       schenkpaketen we-
das Kind in einem Alter ist, in   gen Traumatisierung
                                  der Kinder aufgrund                          Alexander Korittko
dem es die Inhalte eines sol-     erfahrener Gewaltan-
chen Gespräches versteht und      wendung des Vaters                           ist Dipl. Sozialarbeiter, Systemischer
                                  gegenüber der Mut-                           Lehrtherapeut und Lehrsupervisor,
sich dazu äußern kann, ob es      ter. OLG Köln, Beschl.                       Mitbegründer des Zentrums für
glaubt, dass es dem Vater ernst   v. 06.12.2010 – 4
                                                                               Psychotraumatologie und
                                  UF 183/10, DRsp-Nr.
ist, zu bereuen.                  2010/22494                                   Traumatherapie Niedersachsen (zptn),
                                                                               Buchautor
20   Jugendhilfe-aktuell 1.2020

                                  „Den Weg in ein Leben
                                   ohne Gewalt finden“
                                  Wie arbeiten Frauenhäuser? Welche Unterstützung bieten sie den
                                  dort vorübergehend lebenden Kinder? Wie gehen sie mit Fragen
                                  des Kinderschutzes um?

                                  Gespräch mit Lara Salewski und Xenja Winziger,
                                  den Vertreterinnen der Dachkonferenz der Frauenhäuser in NRW

                                                                               Fotos (3): alesmunt - stock.adobe.com, Privat

Das LWL-Landesjugendamt Westfalen hat im Rahmen mehrerer                    die Frauen, dass auch andere
Werkstattgespräche einen Austausch zwischen Jugendämtern und                Frauen von Gewalt betroffen
Frauenhäusern zu Fragen der Hilfe und Unterstützung für Frauen              sind. Dies mildert Gefühle von
und Kinder bei häuslicher Gewalt initiiert. Ein Ziel war es, dass           Isolation und Ausgrenzung,
sich die Handlungsfelder wechselseitig besser kennen lernen und             die sie in der Gewaltbeziehung
Ansatzpunkte zur Verbesserung der Zusammenarbeit identifiziert              und mit der Trennung erlebt
werden.                                                                     haben.

                                         Können Sie kurz erklären, was      In einem Frauenhaus arbeiten
                                         die zentralen Merkmale eines       in der Regel zwei Sozialar-
                                         Frauenhauses sind?                 beiterinnen, eine Erzieherin
                                                                            und Verwaltungs- bzw. Haus-
                                         Lara Salewski: Ein Frauenhaus      wirtschaftskräfte. Wichtig zu
                                         ist in erster Linie ein Schutz-    wissen ist, dass ein Frauenhaus
                                         raum für Frauen und deren          keine Einrichtung ist, in der
                                         Kinder, die häusliche Gewalt       die Bewohnerinnen rund um
                                         erfahren haben. Die Frauen         die Uhr begleitet werden. Die
                                         wohnen dort mit ihren Kin-         Mitarbeiterinnen sind tags-
                                         dern meist in einem Zimmer         über vor Ort. Abends, nachts
                                         zusammen. Ziel eines Frauen-       sowie an Wochenenden und
                                         hauses ist, den Frauen Raum,       Feiertagen sind keine Fachkräf-
                                         Zeit und die notwendige Un-        te im Haus.
                                         terstützung zu geben, sodass
                                         sie für sich und ihre Kinder       Wie kommen Frauen eigent-
                                         eine Perspektive für ein selbst-   lich ins Frauenhaus? Wie sieht
                                         bestimmtes und gewaltfreies        ganz praktisch das Ankom-
                                         Leben entwickeln können.           men einer Frau mit ihren Kin-
                                         In der Gemeinschaft, erleben       dern im Frauenhaus aus?
Interview Frauenhäuser   21

                                        Lara Salewski (linkes
                                        Bild), ehemals
                                        Referentin für die
                                        Frauenhäuser bei der
                                        Diakonie Rheinland-
                                        Westfalen-Lippe und
                                        Xenja Winziger,
                                        Referentin für Kinder-,
                                        Jugend- und
                                        Familienhilfe bei der
                                        Arbeiterwohlfahrt
                                        Bezirksverband
                                        Westliches Westfalen,
                                        sprachen mit Dr. Monika
                                        Weber vom LWL-
                                        Landesjugendamt
                                        Westfalen

Lara Salewski: Der Schritt in      ziehen. Im Aufnahmegespräch        tenz zu sichern oder andere
ein Frauenhaus zu fliehen,         werden formale Dinge geklärt       Angelegenheiten zu klären.
ist für viele Frauen enorm         und es wird geschaut, was die
schwierig. Er erfordert von        Frau in den nächsten Tagen         Wie sieht der Alltag – soweit
ihnen viel Kraft und Mut,          braucht. Außerdem werden           es ihn denn gibt – in den
insbesondere wenn sie Kinder       die Kinder sehr genau in den       Einrichtungen aus? Welche
haben, die sie mitnehmen. Die Blick genommen: Wie geht es             Unterstützung bekommt die
Kontaktaufnahme einer Frau         ihnen? Welche Bedürfnisse          Frau von den Mitarbeiterin-
erfolgt meistens über das Tele-    haben sie? Was wünschen sie        nen im Frauenhaus?
fon. Die Frauen haben sich im      sich? Wo können sie in die
Internet informiert oder sind      Schule oder in die KiTa gehen?     Lara Salewski: Den Alltag
über Bekann-                                        Gegebenen-        gestalten die Frauen überwie-
te, Fachkräf-      „Dieser Schritt erfordert viel   falls auch:       gend selbst. Es gibt einen ge-
te etwa in          Kraft und Mut, insbesonde- Hatten Sie             wissen Rahmen, der allerdings
Schulen und         re wenn die Frauen Kinder       bisher Un-        in jedem Frauenhaus etwas
Gesundheits-        dabei haben.“                   terstützung       anders aussieht. Meist gibt
wesen oder          Lara Salewski                   durch die         es einen festen Termin in der
Medien wie                                          Jugendhilfe?      Woche, an dem alle Bewohne-
beispielsweise Flyer aufmerk-                                         rinnen und Mitarbeiterinnen
sam gemacht worden. Die            Xenja Winziger: Wenn eine          zur Hausversammlung zusam-
Entscheidung, in ein Frauen-       Frau im Frauenhaus ankommt,        menkommen.
haus zu gehen, muss von jeder      muss sie sich meistens erst ein-
Frau freiwillig und intrinsisch    mal erholen, da sie aus einer      Ansonsten ist die Alltags-
motiviert erfolgen.                Phase höchster Anspannung          struktur geprägt durch
                                   kommt. Aber oft müssen die         verschiedene Einzel- und
Im Frauenhaus angekommen,          Frauen gleich am Anfang auch       Gruppenangebote. Die Mitar-
kann eine Frau mit ihren Kin-      viele Behördengänge erledi-        beiterinnen unterstützen die
dern zunächst ihr Zimmer be-       gen, um ihre finanzielle Exis-     Frauen in vielerlei Hinsicht.
22   Jugendhilfe-aktuell 1.2020

                                  Die psychosoziale Begleitung        Die Kinder erleben, wie sich
                                  umfasst die Bearbeitung der         die Gewalt direkt gegen sie
                                  Gewalterfahrung wie auch            richtet oder sie sind Zeuge der
                                  ganz lebenspraktische Dinge,        Gewalthandlungen gegen die
                                  etwa das Stellen von Anträgen       Mutter. Sie erleben die Eltern-
                                  bei Behörden oder die Woh-          teile in der machtgeprägten
                                  nungssuche. Hierbei wird mit        Misshandlungsbeziehung. Die
                                  örtlichen Kooperationspartne- Arbeit mit den Kindern ist ein
                                  rinnen und -partnern zusam-         wesentlicher Teil.
                                  mengearbeitet. Bei Fragen
                                  zum Sorgerecht und Unterhalt        Der Kinderschutz beginnt
                                  oder wenn die Mutter Unter-         mit der Aufnahme. Die Jun-
                                  stützung bei der Erziehung          gen und Mädchen müssen
                                  möchte, arbeiten die Frauen-        vor Übergriffen oder dem
                                  hausmitar-                                             Miterleben
                                  beiterinnen        „Die Kinder erleben den             der Gewalt
                                  eng mit dem         Einzug in das Frauenhaus als geschützt
                                  Jugendamt           Krisenzeit. Sie vermissen ihr werden.
                                  zusammen.           Zuhause und sind unsicher.“ Die Kinder
                                                      Xenja Winziger                     erleben den
                                  Für Kinder                                             Einzug in das
                                  ist die Zeit im Frauenhaus          Frauenhaus als Krisenzeit. Sie
                                  eine Art Ausnahmezustand.           vermissen das Zuhause und
                                  Sie sind plötzlich aus ihrem        fühlen sich unsicher. Sie müs-
                                  vertrauten Umfeld heraus-           sen sich einschränken und
                                  gerissen. Inwieweit ist ein         sind mit fremden Menschen
                                  Frauenhaus auch ein Kinder-         konfrontiert. Aber sie spüren
                                  schutzhaus?                         auch den gebotenen Schutz.

                                  Xenja Winziger: Die Jungen         Weitergefasst ist der Schutz
                                  und Mädchen sind immer             auch die Begleitung bei der
                                  von der Gewalt mitbetroffen.       Überwindung der erlebten
                                  Alle spüren die destruktive        Gewalt und dem Beziehungs-
                                  Atmosphäre in der Familie:         erleben in der Familie. Viele
                                  das Misstrauen, die ständige       Konzepte sehen zudem regel-
                                  Angst und die Aggression.
Sie können auch lesen