Jugendhilfe aktuell - LWL
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LWL-Landesjugendamt Westfalen Jugendhilfe Ausgabe 1.2020 ISSN 1614-3027 aktuell Schwerpunkt: Kinder vor häuslicher Gewalt schützen – Strategien für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Frauenhilfe Interview Netzwerke Junge Geflüchtete Den Weg in ein Leben LWL unterstützt und bietet Kommunale Arbeit und das ohne Gewalt finden S. 20 Qualifizierungskurs S. 56 Landesprogramm S. 70
Orten Auf der Suche nach Heimat Mit dem Film „ORTEN“ der in Kanada und Berlin lebenden Regisseurin Margit Schild setzt das LWL-Me- dienzentrum für Westfalen die Serie von Dokumentationen fort, die es in den vergangenen Jahren zum Thema Integration in Westfalen-Lippe herausgebracht hat. Die Suche nach einem Ankerpunkt, nach Halt, nach Heimat und nach Raum zur Entfaltung beschäftigt Menschen auf der ganzen Welt. Wo ist Heimat? Was kann Heimat sein? Wenn es nicht mehr der Ge- burtsort ist, was ist es dann? Ist Heimat der Ort, der Möglichkeiten und Chancen zu einem erfüllten, selbstbestimmten Leben bereithält? Die fünf Menschen in diesem Film, die vor langer Zeit oder erst kürzlich nach Westfalen gekommen sind, durchfahren die Landschaft und tauschen sich aus über ihre Ideen von Heimat, von Chancen, die sich bieten und die sie ergriffen haben. Sie erzählen vom Ankommen und davon, genau hier in Westfalen am richtigen Platz zu sein. Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Spaltungen und zunehmend rassistischer Tendenzen spielt die Frage nach einer positiven Gestaltung unserer heterogenen Gegenwartsgesellschaft eine zentrale Rolle für eine zeitgemäße politische Bildung. Mit ihrem Film trägt Margit Schild nach dem Urteil der Bundes- zentrale für politische Bildung dazu bei, „relevante Themen der Zukunft auf die Agenda zu setzen. Das Setting des Roadmovies ist gelungen. Inkludierend, vielfältig und auf Augenhöhe mit den unterschiedli- chen Prägungen und individuellen Erfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten.“ LWL-Medienzentrum für Westfalen DVD mit Begleitheft, ca. 64 Min., plus Fassung mit englischen Untertiteln Preis: 14,90 €, Bezug: LWL-Medienzentrum für Westfalen Fürstenbergstraße 13-15, 48147 Münster E-Mail: medienzentrum@lwl.org, Fax: 0251 591-3982 Online-Bestellung, Download und weitere Angebote unter www.westfalen-medien.lwl.org
Editorial 3 Liebe Leserin, lieber Leser! Zuhausebleiben – dieser Slogan ist mit Diese Ausgabe der Jugend- der Corona-Pandemie zum Synonym hilfe aktuell dokumentiert für Sicherheit und Gesundheit gewor- die Ergebnisse der Tagung den. Von Beginn an war aber klar, dass „Väter/Täter im Umgang – die eigene Wohnung nicht für alle Schutz von Kindern und Schutz und Zuflucht bedeutet, sondern Frauen bei Partnerschafts- insbesondere für Frauen und Kinder gewalt“, die das LWL-Lan- auch vielfach ein Ort von Gewalt ist. desjugendamt erstmalig Auf Bundes-, Landes- und kommunaler gemeinsam mit der Kon- Ebene haben daher die Verantwortli- ferenz der Frauenhäuser NRW konzi- chen vielfältige und kreative Lösungen piert und durchgeführt hat und die entwickelt, um den Kontakt zu Famili- den Blick insbesondere auch auf die en nicht abreißen zu lassen und ihnen gewalttätigen Partner und Sorge- und auch in der Pandemie Auswege aus der Umgangsregelungen nach häuslicher Gewalt eröffnen zu können. Gewalt gelegt hat. Weiterhin finden Sie in dem Heft zahlreiche Praxisbeispiele Wenn überwiegend Frauen zuhause zur Unterstützung von Kindern nach Gewalt durch ihren Partner erleben, häuslicher Gewalt, die in Zusammen- sind immer auch die Kinder betrof- arbeit von Jugend- und Frauenhilfe fen, auch sie verlieren ihren sicheren realisiert werden. Lebensort. Bei Partnerschaftsgewalt gehören der Schutz von Kindern, der Aktuell entwickeln wir in bewährter Schutz des gewaltbetroffenen Eltern- Zusammenarbeit mit den örtlichen teils und die Inverantwortungsnahme Jugendämtern Empfehlungen zum des gewaltausübenden Elternteils Schutz von Kindern bei häuslicher Ge- untrennbar zusammen. walt und hoffen, damit zukünftig eine weitere Grundlage für eine gelingende Hilfen für Kinder können nur gelin- Zusammenarbeit schaffen zu können. gen, wenn sie sich nicht gleichzeitig um die Sicherheit ihrer Mütter sorgen Damit Kinder, die von häuslicher müssen. Parteiliche Unterstützung Gewalt betroffen sind, nicht nur, aber für die Frauen heißt auch, die eigenen auch in Zeiten der Corona-Pandemie unveräußerlichen Rechte der Mädchen verlässliche Hilfe und Unterstützung und Jungen auf Schutz zu wahren. finden. Effektive Hilfe und eine Perspektive für die Zukunft setzen die Verantwor- Ihre tungsübernahme durch die Gewalttä- ter voraus – auch im Zusammenhang mit Umgangs- und Sorgerechtsregelun- gen. Deshalb ist es dem LWL-Landes- jugendamt Westfalen ein besonderes Anliegen, die unterschiedlichen Hand- Birgit Westers lungsfelder, die mit häuslicher Gewalt Landesrätin befasst sind, zusammenzubringen und die Kooperation zu fördern.
4 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 Schwerpunktthema Kinder vor häuslicher Gewalt schützen – Strategien für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Frauenhilfe S. 6 Gemeinsamkeit stärkt – Perspektiven für Schutz und Hilfe S. 12 S. 16 S. 20 S. 26 Häusliche Gewalt und der Umgang um jeden Preis Interview zu Frauenhäusern: Traumainformierte Arbeit Umgang mit dem Umgang oder Neuanfang ohne Den Weg in ein Leben ohne mit Mädchen und Jungen im Angst? Gewalt finden Frauenhaus S. 30 S. 35 S. 37 S. 40 Innerfamiliäre Wie arbeitet man mit Tätern Karlsruher Gruppe Wendepunkt: Kinder- und Tötungsdelikte – in Fällen häuslicher Gewalt? für Kinder, die häusliche Jugendintervention nach Konsequenzen für Gewalt erlebt haben häuslicher Gewalt die Jugendhilfe S. 43 S. 46 S. 50 S. 52 Kinderzentrum Bielefeld: Projekt Richtungswechsel: Kooperationsvereinbarung Materialien Hilfen für Kinder als Kinder und Jugendliche als zwischen dem Jugendamt für die Praxis gemeinsame Aufgabe eigene Zielgruppe im Hamm und dem örtlichen Frauenhaus Espelkamp Frauenhaus
Inhalt 5 Aktuelles S. LWL-Servicestelle begleitet 56 zwei Netzwerk-Projekte Netzwerkkoordinierende - Allrounder mit 58 hoher Sozialkompetenz Arbeitshilfen Jugendarbeit & Unterhalt 60 Kinderrechte 61 Weiterbildungsreihe zur Demokratiebildung 62 in der offenen Kinder- und Jugendarbeit Eigenständige Jugendpolitik 63 Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung 64 Schulassistenzen im Kreis Paderborn 67 Zertifikatskurs Hilfeplanung 68 ASD im KatHo-Cast 69 Netzwerk Kinder von Inhaftierten 69 Kommunale Arbeit mit jungen geflüchteten 70 Menschen Suchtprävention in der stationären 74 Kinder- und Jugendhilfe Bundesforum Vormundschaft und 76 Pflegschaft LWL-Modellprojekt zu Care Leavern 76 abgeschlossen Nachruf Prof. Dr. Hiltrud von Spiegel 77 Online-Kurs: Mitentscheiden und Mithandeln 78 in der Kita AGJ-Veröffentlichung: Fachkräfte in der Kin- 78 der- und Jugendhilfe
6 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 „Gemeinsamkeit stärkt“ – Perspektiven für Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder Ergebnisse der Werkstattgespräche zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Frauenhäuser von Monika Weber und Jutta Möllers Das mit häuslicher Gewalt verbundene Klima von Anlass und Hintergrund: Angst und Bedrohung schränkt immer auch die Werkstattgespräche „Kinderschutz im Lebens- und Entwicklungsbedingungen der zuge- Frauenhaus“ hörigen Kinder ein. Sie verlieren das, was ihnen Familie und Wohnung bieten sollten: einen Ort Auf der Tagung „Schutz von Kindern und von Sicherheit und Geborgenheit. Frauen vor Partnerschaftsgewalt – Herausfor- derungen an die Kooperation von Jugendhil- Für die mehr als 3.500 Frauen, die jährlich fe und Frauenhilfe“ im Mai 2014 hatten die mit ihren durchschnittlich ca. 1-2 Kindern in Teilnehmer*innen den Wunsch geäußert, den einem der 62 Frauenhäuser in NRW Zuflucht Dialog der beiden Handlungsfelder zu verste- finden, gilt das auch im wörtlichen Sinne: Sie tigen und weitergehende Kooperationsmög- und ihre Kinder sehen sich gezwungen, zumin- lichkeiten gemeinsam auszuloten. Außerdem dest vorübergehend, ihr Zuhause und ihr sozia- hatten einige Jugendämter gegenüber dem les Umfeld zu verlassen. Eine solch krisenhafte LWL-Landesjugendamt Westfalen Gesprächs- Situation geht stets mit starken psychischen bedarf angemeldet, die Situation der Kinder Belastungen einher und stellt auch organisato- während des Frauenhausaufenthalts gemein- risch hohe Anforderungen an die betroffenen sam zu erörtern und das fachliche Handeln Frauen und Kinder. Sie birgt aber immer auch besser aufeinander abzustimmen. die Chance, nachhaltig einen Weg heraus aus der Gewalt zu finden. Eine Voraussetzung dafür Vor Beginn der Werkstattgespräche wurde eine ist, dass die gefragten Hilfeinstitutionen bei Umfrage unter allen Leitungskräften der All- Wahrung ihrer unterschiedlichen Aufträge gut gemeinen Sozialen Dienste in Westfalen-Lippe und effektiv zusammen wirken. sowie unter den Landesverbänden der Frauen- häuser zu Handlungsaufträgen und Selbstver- In den vergangenen Jahren hat das LWL-Lan- ständnis, zu Fragen der Zusammenarbeit und desjugendamt Westfalen die Zusammenarbeit zu ihrer jeweiligen Sicht auf Klärungs- und zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Handlungsbedarfe durchgeführt. Frauenhilfeinfrastruktur neben regelmäßigen überregionalen Fortbildungen und Fachta- In dann insgesamt sieben Werkstattgesprächen gungen auch durch Werkstattgespräche zum haben sich fünf Vertreter*innen der Frauen- Thema „Kinderschutz im Frauenhaus“ gestärkt. hauskonferenz NRW (Arbeiterwohlfahrt West- Über Verlauf und ausgewählte Ergebnisse wird liches Westfalen, Caritas, Diakonisches Werk im Folgenden berichtet. Rheinland-Westfalen-Lippe, LAG Autonomer Frauenhäuser NRW e.V., Paritätischer NRW) und sechs Vertreter*innen von Jugendämtern unterschiedlicher kommunaler Verfasstheit (Bochum, Hagen, Lippstadt, Münster, Bielefeld, Gladbeck) nach praxisorientierten Antwor-
Perspektiven für Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder 7 ten auf offene Fragen und Problemen an den ihren Blick vor allem auf den Schutz und die Verbindungsstellen gesucht, um so mittelbar notwendige Unterstützung der gewaltbetrof- auch eine verbesserte Zusammenarbeit auf der fenen Frauen (mit ihren Kindern) und mes- örtlichen Ebene zu unterstützen. sen – insbesondere angesichts der erfahrenen Grenzüberschreitungen und Missachtungen Die Werkstattgespräche mündeten schließlich ihrer Rechte – dem Selbstbestimmungsrecht in die gemeinsam vom LWL-Landesjugendamt der Frauen einen hohen Stellenwert bei. Die mit der Frauenhauskonferenz NRW durch- Kinder- und Jugendhilfe fokussiert vor allem geführten Tagung „Väter/Täter im Umgang auf das Wohl und das eigenständige Recht des – Schutz von Frauen und Kindern bei Partner- Kindes auf Schutz und ist gefragt, eine förder- schaftsgewalt“ am 11. Dezember 2017, die liche Entwicklung vorrangig über die notwen- den Blick vor allem auch auf die gewalttätigen dige Unterstützung (bei)der Eltern(teile) in der Partner/Väter und die Arbeit mit ihnen rich- Erziehung zu gewährleisten. Im Ringen um tete. Die Vorträge der Tagung sind als Beiträge die bestmöglichen Lösungen braucht es beide in diesem Heft dokumentiert (vgl. die Beiträge Perspektiven. von Anja Eichhorn, Alexander Korittko und die Empfehlungen zur Täterarbeit). Als Voraussetzung für eine wirkungsvolle Zusammenarbeit haben sich in den Werkstatt- Es braucht … geteiltes Wissen und gesprächen ein geteiltes fachliches Verständnis gemeinsame fachliche Orientierungen der spezifischen Dynamik häuslicher Gewalt und daraus abgeleitete gemeinsame fachliche Spätestens seit Einführung des Gewaltschutz- Orientierungen für die Arbeit in beiden Hand- gesetzes im Jahr 2002 ist klar, dass Gewalt unter lungsfeldern erwiesen. Als wesentliche Grund- Erwachsenen im häuslichen Kontext keine sätze können dabei etwa gelten: Privatsache ist, sondern staatliche Instanzen gefordert sind, eindeutig Position gegen Gewalt • Die Anwendung von Gewalt ist nicht ak- zu beziehen, konsequent Maßnahmen zum zeptabel, nicht verhandelbar und mit einer Schutz der Betroffenen zu ergreifen und auch verantwortlichen Wahrnehmung der Eltern- proaktiv Hilfe und Unterstützung anzubieten.1 rolle nicht vereinbar. Daraus folgt beispiels- weise Täterstrategien wie der Leugnung oder Frauen- und Jugendhilfe verfolgen in diesem Bagatellisierung des Geschehens deutlich Zusammenhang unterschiedliche Aufträge entgegen zu treten. und Handlungslogiken. Frauenhäuser richten 1 Ähnlich das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskri- • Die Gewährleistung der Rechte auf Schutz minierung der Frau (CEDAW) auf internationaler Ebene und die Anfang 2018 in Kraft getretene Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen/ und Sicherheit von Frauen und Kindern ha- häusliche Gewalt des Europarats, die den von Gewalt Betroffenen auch ben oberste Priorität. Das heißt beispielswei- individuelle Beschwerde- und Klagewege gegen staatliche Instanzen er- öffnen, falls ihre Rechte auf Gewaltschutz nicht entsprechend gewahrt se, dass Unterstützungsangebote für Kinder werden (vgl. dazu auch Eichhorn in diesem Heft). immer auch Sicherheitsaspekte der Mütter
8 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 berücksichtigen und Maßnahmen zum Die Frauenhäuser markieren Klärungsbedarf, Schutz der Frauen auch das eigenständige wie den Rechten auf Gewaltschutz für Frau- Recht der Kinder auf Gewaltschutz wahren. en und Kinder in diesem Zusammenhang Geltung verschafft wird (vgl. dazu auch • Alle Beteiligten benötigen Hilfe und Unter- Eichhorn in diesem Heft). stützung – aber mit unterschiedlicher Ziel- setzung: Stärkung für die Mütter, um sich Die im Rahmen der Werkstattgespräche ent- aus der Gewaltbeziehung zu befreien; wickelten Ideen und Vorschläge werden im eigene Ansprechpersonen und Unterstüt- Folgenden kurz skizziert. zungsangebote für die Mädchen und Jungen zur Entlastung von Isolation, Scham- und Herausforderung: Schuldgefühlen; Wahrnehmung des Schutzauftrags Täterarbeit mit dem Ziel der Sensibilisierung für die schädigenden Auswirkungen des Frauenhäuser bzw. deren Trägerorganisationen eigenen Handeln und die Verantwortungs- sind in der Regel nicht als Träger der freien übernahme für und nachhaltige Distanzie- Jugendhilfe tätig, so dass Vereinbarungen zur rung von Gewalt. Wahrnehmung des Schutzauftrags gemäß § 8a Abs. 4 SGB VIII nicht gesetzlich vorgeschrie- Besonders bedeutsam werden diese Haltungen ben sind. Nichtsdestotrotz haben auch Mitar- in der Kooperation der Handlungsfelder an beiterinnen in Frauenhäusern einen eigenen zwei Themenkomplexen: Schutzauftrag (vgl. § 4 KKG) und Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fach- • Wahrnehmung des Schutzauftrags im Frau- kraft. enhaus: Wie mit Fragen des Kinderschutzes im Frauenhaus umgegangen wird und wie Ideen und Vorschläge beispielsweise bei Rückkehr zum gewalt- tätigen Partner zwischen dem Recht auf • Ermutigung der Frauen bei den Aufnahme- Selbstbestimmung und dem eigenständigen gesprächen in den Frauenhäusern, bei Inan- Recht des Kindes auf Schutz abgewogen und spruchnahme von Leistungen der Jugend- gehandelt wird, erfährt in der Abfrage unter hilfe das zuständige Jugendamt über ihren den ASD-Leitungen hohe Aufmerksamkeit. Verbleib zu informieren. • Berücksichtigung häuslicher Gewalt in der • Absprachen zur Wahrnehmung des Schutz- Aushandlung und Umsetzung von Sorge- auftrags zwischen Frauenhaus und Jugend- und Umgangsregelungen: Mit einer räumli- amt: Was sind gewichtige Anhaltspunkte chen Trennung ist die häusliche Gewalt oft für eine Kindeswohlgefährdung? Wer steht nicht beendet; gerade in Trennungssituati- für das Frauenhaus als insoweit erfahrene onen droht die Gewalt weiter zu eskalieren. Fachkraft zur Beratung zur Verfügung? Wie
Perspektiven für Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt für Frauen und Kinder 9 gestaltet sich in Gefährdungsfällen konkret in Absprache mit der Mutter – Hinzuziehung die Zusammenarbeit? (vgl. LVR-LJA 2015, von Einschätzungen und Erkenntnissen aus der DKSB NRW 2015). Arbeit mit Frauen und Kindern im Frauenhaus kann das Jugendamt dazu beitragen, der Dy- • … insbesondere auch zur Kooperation bei namik häuslicher Gewalt und den Schutzerfor- vorliegenden Schutzplänen: Wenn mit dernissen im Verfahren Geltung zu verschaffen Frauen als Maßnahme zum Schutz der Kin- (vgl. BMFSFJ 2011, DIJUF 2017). der ein Aufenthalt im Frauenhaus vereinbart wird, wurde in den Werkstattgesprächen Ideen und Vorschläge vorgeschlagen, 1. vor Aufnahme Kontakt seitens des Jugendamts zum Frauenhaus • Gewährleistung, dass vorliegende Informati- aufzunehmen, 2. über die Inhalte der vor- onen zu häuslicher Gewalt regelhaft auch in ausgegangenen Gefährdungseinschätzung anschließende Sorge- und Umgangsrechts- und bestehende Schutzpläne/-vereinbarun- verfahren einfließen können gen Transparenz herzustellen und 3. ggf. das Jugendamt am Sitz des Frauenhauses ent- • Regelhafte Prüfung notwendiger Maßnah- sprechend der Regelungen gemäß § 8a Abs. 5 men zum Schutz von Frauen und Kindern SGB VIII zu informieren. in familiengerichtlichen Verfahren und bei Umgangskontakten (z.B. getrennte Ge- • Einbezug des Gewaltausübenden in die spräche mit beiden Elternteilen, regelhafte Gefährdungseinschätzung: Nimmt der Sicherheitseinschätzung, Beantragung der Vater sein Verhalten als problematisch wahr vorübergehenden Aussetzung von Umgangs- (Problemakzeptanz)? Übernimmt er Verant- kontakten während eines Frauenhausaufent- wortung (Problemkongruenz)? Ist er bereit, haltes etc.) Veränderung herbeizuführen (Hilfeakzep- tanz)? (vgl. BV kommSpV 2009). • Gemeinsame Fortbildungen zu häuslicher Gewalt mit Familienrichter*innen Herausforderung: Sicherer Umgang mit dem Umgang Und wie weiter …?! Wenn sich Frauen nach häuslicher Gewalt von Die Werkstattgespräche zwischen Jugend- ihrem Partner trennen, stellen sich Fragen von ämtern und Frauenhäusern haben deutlich Sorge- und Umgangsrechten, zu denen das gezeigt, dass ein vertieftes Verständnis für die Jugendamt im Rahmen der familiengerichtli- jeweils unterschiedlichen Aufträge und Hand- chen Verfahren regelmäßig zur Stellungnahme lungsweisen beider Arbeitsfelder Herausforde- aufgefordert ist. Getroffene Regelungen wer- rung wie Basis aller Zusammenarbeit ist (zur den teilweise im Anschluss durch Beratung, Arbeit in Frauenhäusern vgl. das Interview auf begleiteten Umgang etc. fachlich unterstützt. Seite 20 in diesem Heft). Durch aktive Ausgestaltung dieser Rolle und –
10 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 Illustration: strichfiguren.de / stock.adobe.com Die in allen Kreisen und kreisfreien Städten vor- Gemeinsam mit Frauenhäusern, Gerichten etc. handenen „Runden Tische gegen häusliche Ge- ist auch die Jugendhilfe ein Akteur – denn das walt“ sind die zentralen Gremien zur wechsel- Miterleben häuslicher Gewalt schränkt Kinder seitigen Information und Klärung von Fragen nachhaltig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung institutionenübergreifender Zusammenarbeit, ein und wirkt sich, jeweils unterschiedlich, so dass die Jugendämter dort regelmäßig betei- auch auf die Wahrnehmung der Mutter- bzw. ligt sein sollten. Wechselseitige Einladungen Vaterrolle aus. in Dienstbesprechungen, gemeinsame Fortbil- dungen, regelmäßige Kooperationsgespräche/ Angebote in Kooperation an der Schnittstelle Qualitätsdialoge können den Austausch und zu entwickeln, wie beispielsweise Gruppenan- das Verständnis füreinander weiter stärken. gebote für Kinder nach häuslicher Gewalt (vgl. Kooperationsvereinbarungen wurden in ei- Gauly in diesem Heft), Angebote der Tagesbe- nigen Kommunen bereits verabschiedet (vgl. treuung (vgl. Welscher in diesem Heft), Clea- z.B. Münster, Recklinghausen, Hamm - siehe ringstellen oder interdisiziplinäre Helferkonfe- Termath in diesem Heft). renzen für die gemeinsame Fallberatung bleibt eine Herausforderung für die Zukunft. Beispiele Gleichzeitig gibt es offene Handlungsbedarfe, dafür gibt es – das zeigt dieses Heft. die beide Handlungsfelder für sich bewerkstel- ligen müssen. So erarbeitet das LWL-Landesju- Literatur gendamt unter Beteiligung von Fachkräften aus BMFSFJ 2011: FamFG - Arbeitshilfe zum neu gestalteten Verfahren in der Praxis jetzt eine Arbeitshilfe zur häuslichen Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts- barkeit (FamFG) bei Vorliegen häuslicher Gewalt. Berlin Gewalt in Jugendämtern, um jugendamtsüber- Bundesvereinigung kommunale Spitzenverbände 2009: Empfehlun- greifend Orientierung zu geben. Einige Frauen- gen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendäm- tern bei Gefährdung des Kindeswohls. o.O. häuser ergänzen ihre Konzeptionen zur Arbeit DIJUF e.V. 2017: Beschwerdemöglichkeiten des Jugendamtes in Kind- mit Mädchen und Jungen um Hinweise zur schaftsverfahren vor dem Familiengericht, Heidelberg DKSB NRW 2015: Methodenmappe zur Umsetzung des Schutzauf- Wahrnehmung des Schutzauftrags. trags. Wuppertal Kavemann, Barbara/Kreyssig, Ulrike (Hrsg.) 2013: Handbuch Kinder Deutlich wurde vor allem aber auch, dass häus- und häusliche Gewalt. Wiesbaden LVR-Landesjugendamt 2015: Gelingensfaktoren bei der Wahrneh- liche Gewalt immer einen Hilfe- und Unterstüt- mung des Schutzauftrags gemäß § 8a SGB VIII. Köln zungsbedarf signalisiert, dass die Zugänge zu Hilfen für die betroffenen Frauen und Kinder aber erschwert sind – etwa weil die Frauen befürchten, ihre Kinder zu verlieren – und dass die Ressourcen für eine angemessene Unterstüt- zung nach häuslicher Gewalt nicht ausreichen. Dr. Monika Weber (linkes Foto) und Jutta Vielerorts fehlen vor allem Angebote für Mäd- Möllers sind chen und Jungen wie auch für die Täterarbeit Fachberaterinnen im nach häuslicher Gewalt. LWL-Landesjugendamt Westfalen
12 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 Häusliche Gewalt und der Umgang mit dem Umgang Foto: studio v-zwoelf – stock.adobe.com Herausforderungen, Widersprüche und Reflexionsbedarf von Anja Eichhorn Häusliche Gewalt1 als ein Querschnittthema im Kinderschutz und der Arbeit gegen Gewalt im Geschlech- terverhältnis stellt hohe Anforderungen an das professionelle Handeln von Fachkräften sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch in Frauenhäusern und -beratungsstellen. Wenn Frauen Gewalt erfahren und gleichzeitig Kinder involviert sind, bringen die Ansprüche an gelingenden Gewaltschutz besondere Herausforderungen mit sich. Vor allem der Umgang mit dem Umgangsrecht von Staaten bei Gewalt gegen Frauen ist die gewaltausübender Männer in ihrer Rolle als UN-Frauenrechtskonvention CEDAW2 . Frauen, Väter erweist sich als Konfliktfeld – nicht nur die sich in ihren durch die CEDAW geschütz- für betroffene Frauen und Kinder, sondern ten Rechten verletzt sehen, können sich unter auch in der Kooperation der Fachkräfte. Denn bestimmten Voraussetzungen beim CEDAW- diese müssen nicht nur zwischen verschiede- Ausschuss beschweren (Prasad 2011). nen Interessen und Rechtsgütern abwägen, sondern bewegen sich auch in einem von Wi- 2012 beschwerte sich Angela González Car- dersprüchen, Ambivalenzen und Stereotypen reño3 , deren Ex-Ehemann die gemeinsame geprägten Feld. Dies zeigen die Ergebnisse einer Tochter während eines unbegleiteten Umgangs Studie zu Rollenverständnis und Strategien bei erschossen und anschließend Suizid begangen Umgangsentscheidungen in Fällen häuslicher hatte, gegen Spanien. Der unbegleitete Umgang Gewalt in Jugendämtern und bei Familienge- war ohne vorherige Anhörung von Mutter und richten, die im Folgenden auszugsweise vorge- Kind und trotz jahrelanger häuslicher Gewalt, stellt werden (Eichhorn 2017). fehlender Unterhaltszahlungen des Vaters und unwirksam gebliebener bzw. vom Vater unter- Gewaltschutz als Menschenrecht und laufener zivilrechtlicher Schutzmaßnahmen staatliche Aufgabe gerichtlich angeordnet und vom Sozialdienst befürwortet worden, obwohl es Bedenken Von häuslicher Gewalt1betroffene Frauen erle- hinsichtlich des Vaters gegeben hatte und ben eine Verletzung elementarer Bedürfnisse obwohl das Kind nicht mehr Zeit mit ihm hatte und Grundrechte, zum Beispiel des Rechts auf verbringen wollen. Mehrere Entschädigungs- Freiheit und Sicherheit der Person, auf Gleich- forderungen von Frau G. C. nach dem Tod des behandlung in der Familie, auf Gesundheit Kindes waren abgewiesen worden. und bisweilen sogar des Rechts auf Leben. Ein zentraler Bezugsrahmen für die Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungsverpflichtungen 2 Im englischen Original Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, kurz: CEDAW. 1 Dem Beitrag liegt ein Verständnis von häuslicher Gewalt als ge- 3 CEDAW/C/58/D/47/2012. Ausführliche Darstellung: http:// schlechtsspezifischer Partnerschaftsgewalt von Männern gegenüber tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download. Frauen zugrunde. aspx?symbolno=CEDAW/C/58/D/47/2012&Lang=en.
Häusliche Gewalt und der Umgang mit dem Umgang 13 In seiner Entscheidung vom 18.07.2014 stuft land ist, hat sich die Bundesregierung ohnehin der CEDAW-Ausschuss die Gewährung der klar zur Umsetzung aktiver staatlicher Maßnah- unbegleiteten Umgänge im Kontext der häus- men zum Schutz von Betroffenen häuslicher lichen Gewalt, infolge derer das Kind zu Tode Gewalt bekannt. Nach Art. 31 der Konvention kam, sowie das Fehlen von Entschädigung als müssen Behörden sicherstellen, dass häusliche Menschenrechtsverletzung an Frau G. C. ein. Gewalt bei Entscheidungen zum Sorge- und Er nimmt gleichzeitig eine kinderrechtliche Umgangsrecht berücksichtigt wird bzw. dass Perspektive ein, indem er auf eine Verletzung die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechts des Rechts des Kindes auf Gehör verweist und die Rechte und Sicherheit der Gewaltbetroffe- kritisiert, dass sich Justiz und Sozialdienst in nen und der Kinder nicht gefährdet. Fragen des Umgangs nicht mit den Auswirkun- gen der Partnerschaftsgewalt auf das Erleben Was aber passiert, wenn ‚Kindeswohl' im Um- des Kindes befasst bzw. keine sorgfältige Ab- gang mit häuslicher Gewalt und in Umgangs- wägung von Nutzen und Schaden der Umgän- fragen bei/nach häuslicher Gewalt unterschied- ge vorgenommen haben. Vielmehr habe das lich interpretiert wird? Hauptinteresse der spanischen Behörden in der Normalisierung der Vater-Kind-Beziehung Kindeswohl – ein widersprüchlicher bestanden. Maßstab bei häuslicher Gewalt und Umgang Indem das Umgangsrecht des Vaters unter dem Aspekt „formaler Gleichheit“ betrachtet wor- Dass (mit)erlebte Gewalt die kindliche Entwick- den sei, seien der Mann bevorzugt und Frau lung beeinträchtigt, ist in Fachkreisen bekannt, und Kind in ihrer Rolle als Gewaltbetroffene und die Bewertung von häuslicher Gewalt als diskriminiert worden. Faktisch habe der Mann Indikator für eine mögliche Kindeswohlgefähr- sein Umgangsrecht dazu missbrauchen kön- dung hat sich überwiegend etabliert, so die nen, Mutter und Kind zu schaden bzw. Frau Einschätzung von Expertinnen und Experten C. G. zu schaden, indem er dem Kind Schaden aus Jugendämtern und Familiengerichten, die zufügt. für die Studie interviewt wurden. Die Argumentation des spanischen Staates, wo- Kinderschutz geht oft mit starken Belastungen nach dieses Risiko nicht vorhersehbar gewesen einher und erzeugt einen hohen Handlungs- sei, hält der CEDAW-Ausschuss für inakzepta- und Rechtfertigungsdruck. Wie die Auswertung bel. Er betont, dass in allen Fragen des Sorge- der Interviews zeigt, wird in Fällen häuslicher und Umgangsrechts das Wohl des Kindes ("best Gewalt, in die Kinder involviert sind, dieser interest of the child") zentrales Anliegen sein Druck von Seiten der Jugendhilfe nicht selten muss und die staatlichen Behörden dabei einen an die gewaltbetroffenen Frauen weitergegeben Kontext häuslicher Gewalt einbeziehen müs- und führt für diese zu einem spezifischen Prob- sen. lem: Sie werden vorrangig in ihrer Mutterrolle wahrgenommen, und es wird erwartet, dass sie Als Vertragsstaat der CEDAW ist Deutschland das Kind vor dem Miterleben weiterer Gewalt dazu verpflichtet, sich mit der Rechtsmeinung schützen, indem sie sich vom Täter trennen. des Ausschusses auseinanderzusetzen und Tun sie dies nicht, werden sie als diejenigen nationalstaatliches Recht entsprechend auszu- angesehen, die der elterlichen Verantwortung legen. zum Schutz des Kindes nicht nachkommen. Mit Ratifikation der Istanbul-Konvention4, die Dass solche Zuschreibungen dazu führen kön- seit Februar 2018 geltendes Recht in Deutsch- nen, dass gewaltbetroffene Frauen nicht (mehr) auf das Gewaltgeschehen aufmerksam machen 4 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, https://rm.coe. – zumal die Gefahr eines Sorgerechtsentzugs int/1680462535. gängiges Druckmittel gewalttätiger Partner ist
14 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 und das Risiko für weitere Gewalt bis hin zu gen ‚plötzlich' zum wichtigen Vater werden, Tötungsdelikten gerade in Trennungssituatio- mit dem die Frau auf der Elternebene kooperie- nen erheblich ansteigt (Heynen 2011) – wird ren soll, um die Vater-Kind-Beziehung nicht zu in der Praxis zwar als Hindernis für effektiven gefährden. Gewalt- und Kinderschutz reflektiert. Dennoch wird vorrangig den Frauen mangelnde Verant- Freilich findet eine solche Bewertungsverschie- wortung attestiert, während die gewalttätigen bung nicht pauschal in allen Fällen statt. Sie Männer in ihrer Rolle als Väter kaum adressiert markiert aber eine entscheidende systemimma- und in die Verantwortung genommen werden. nente Schutzlücke bei häuslicher Gewalt und stellt ein großes Problem an der Schnittstelle Paradoxe Neubewertungen der Jugendhilfe und der Arbeit gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis dar. Notwendige Wenn sich eine Frau nun vom misshandelnden Regelungen zum Gewaltschutz für Frauen und Partner getrennt hat und Entscheidungen zum Kinder drohen durch gerichtliche Umgangs- Umgang zwischen Vater und Kind anstehen, regelungen (und im Übrigen auch im Rahmen kommt es in der Praxis jedoch immer wieder zu von Sorgerechtsregelungen) faktisch außer paradoxen Neubewertungen des Kindeswohls: Kraft gesetzt zu werden. Während bei häuslicher Gewalt ‚an sich' eine Kindeswohlgefährdung primär in der Gewalt- Kein formales Rechtsanspruchsdenken dynamik gesehen wird, kann in Umgangs- fragen ebenfalls mit dem Kindeswohl argu- Mittlerweile gibt es eine Reihe von Arbeitshil- mentiert werden. Denn qua Gesetz gehört der fen zum Umgang mit dem Umgang(srecht) und Umgang mit beiden Elternteilen zum Kindes- zum Begleiteten Umgang bei/nach häuslicher wohl5, und das Kind hat ein Recht auf Umgang Gewalt, die eine gute Basis für sorgfältige Ent- mit jedem Elternteil, woraus sich Recht und scheidungen im genannten Feld bieten.7 Pflicht der Eltern zum Umgang mit dem Kind ableiten6. Solange Bewertungen der Kindeswohldienlich- keit von Umgängen zwischen einem Kind und Tatsächlich wird dem Umgangsrecht seit der einem Vater, der zugleich gewalttätiger Partner Kindschaftsrechtsreform 1998 erhebliche der Kindesmutter ist, allerdings losgelöst vom Bedeutung beigemessen. Und da das Gesetz an kindeswohlgefährdenden Kontext der Gewalt den genannten Stellen keine Ausnahmen defi- erfolgen und solange es kein durchgehendes niert, könn(t)en Einschränkung oder Abbruch Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Ver- von Umgangskontakten bzw. ein möglicher schränkung von Kinder- und Frauenschutz bei Beziehungsabbruch zwischen Vater und Kind häuslicher Gewalt gibt, wird es auch weiterhin praktisch ebenfalls als Kindeswohlgefährdung zu Umgangsentscheidungen kommen, die auf gewertet werden. Mit dem Urteil des Europäi- formalem Rechtsanspruchsdenken basieren – schen Gerichtshofes für Menschenrechte zur vor allem dann, wenn nicht (an)erkannt wird, elterlichen Sorge für nichtverheiratete Väter dass Partnerschaftsgewalt und damit assoziier- erfolgte 2009 zudem eine grundsätzliche Stär- te Gefährdungen durch eine Trennung nicht kung von Väterrechten, sodass Väter auch in automatisch beendet sind und die gerichtliche Umgangsfragen stärker als Rechteinhaber mit Durchsetzung von Umgangsansprüchen auch Rechtsansprüchen wahrgenommen werden. eine das Kind instrumentalisierende Täterstra- tegie darstellen kann. Ein Mann, der im Kontext häuslicher Gewalt als gewalttätiger Partner konnotiert wurde, von dem die Frau sich unbedingt trennen sollte, um das Kind zu schützen, kann so in Umgangsfra- 5 § 1626 Abs. 3 BGB 6 § 1684 Abs. 1 BGB 7 siehe etwa Übersicht auf Seite 52 dieses Heftes
Häusliche Gewalt und der Umgang mit dem Umgang 15 Jugendamt und Familiengericht Literatur sind gefragt Eichhorn, Anja (2017): Häusliche Gewalt und Umgang als Menschen- rechtsverletzung gegen Frauen. In: Soziale Arbeit 3/2017, S. 96-102. Heynen, Susanne (2011): Schutz und Hilfe in verbindlicher Kooperation Die an Umgangsentscheidungen beteiligten sichern. Hilfe und Schutz für Kinder als Mitbetroffene häuslicher Ge- Professionen in Jugendämtern und Familien- walt: eine Aufgabe für die Jugendhilfe. In: Jugendhilfe aktuell 1/2011, S. 7-13. gerichten müssen sich daher kontinuierlich fra- Prasad, Nivedita (2011): Mit Recht gegen Gewalt. Die UN-Menschen- gen, ob sie mit ihren Entscheidungen berech- rechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit. Opladen & Farming- ton Hills. tigte Bedürfnisse befriedigen oder zweifelhafte Schüler, Astrid (2011): Begleiteter Umgang nach häuslicher Gewalt. In: Motive bedienen – und von welchen Vorannah- Jugendhilfe aktuell 1/2011, S. 30-36. men zu häuslicher Gewalt, misshandelten Frau- Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst unter dem Titel „Häusliche Gewalt en, umgangsberechtigten Vätern, Trennungs- und Umgang als Menschenrechtsverletzung gegen Frauen“ in der Zeitschrift kindern und kindlichen Interessenslagen sie Soziale Arbeit erschienen. sich dabei leiten lassen. Dazu gehört auch die Frage, ob Gefährdungslagen gewaltbetroffener Frauen ausreichend ernst genommen werden und in die Bewertung einer Kindeswohlge- fährdung einfließen, wenn das Kind selbst als ‚unauffällig' gilt. Vor dem Hintergrund der Stärkung von Väterrechten steht nicht zuletzt eine intensive(re) Auseinandersetzung mit Va- terbildern und den Erwartungen an gelingen- de Vaterschaft an – vor allem in Bezug auf die Frage, ob und inwieweit gewalttätige Partner liebevolle Väter sein (oder werden) können. Umgangsfragen im Kontext häuslicher Ge- walt, die Einschränkung oder Aussetzung von Umgängen und die Entscheidung, Begleiteten Umgang einzusetzen und fachlich begründet durchzuführen, erfordern ein hohes Maß an Vorbereitung, Engagement und Kooperati- onswillen aller Beteiligten (Schüler 2011). Die sorgfältige Gestaltung von Umgangsverfahren und eine auf Sicherheit der Betroffenen fokus- sierte Umsetzung des Umgangsrechts werden in jedem Fall davon abhängen, welches Wissen die an den Prozessen beteiligten Professionel- len über häusliche Gewalt haben und wie sie ihr Wissen in die Prozesse einbringen. Anja Eichhorn, Sozialarbeiterin/- pädagogin (B.A.), Master of Social Work hat 7,5 Jahre im ASD gearbeitet, war Fachreferentin im Bundesnetzwerk Ombudschaft Kinder- und Jugendhilfe und ist seit April 2020 Promovendin im DFG-Graduiertenkolleg „Folgen sozialer Hilfen“ an der Uni Siegen.
16 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 Umgang um jeden Preis oder Neuanfang ohne Angst? Kinder benötigen spezielle Interventionen Foto: fizkes - stock.adobe.com bei Umgangskontakten nach häuslicher Gewalt von Alexander Korittko Werden Kinder Zeugen häusli- Trauma-Dynamik in der Unterwerfung erscheint cher Gewalt, besteht eine hohe der Mensch wie abgeschaltet. Wahrscheinlichkeit, dass sie da- Wenn Menschen in existen- runter leiden, auch wenn sie die ziell bedrohliche Situationen Während dieser Vorgänge Geschehnisse „nur“ miterleben. geraten, so genannte Psy- übernehmen Teile des Mit- Einige Untersuchungen gehen chotraumata, sind häufig die telhirns, die so genannten sogar davon aus, dass sie in ihrer alltäglichen Möglichkeiten, Mandelkerne (Amygdalae) die Mehrheit eine posttraumatische Stress zu bewältigen, überfor- Speicherung von minimalen Belastungsstörung entwickeln dert. Fragmenten aus der bedroh- – je jünger sie sind, umso eher. lichen Situation: ein Anblick, Selbst geschlagen zu werden sei Der Körper und das Gehirn ein Geräusch, ein Geruch, weniger bedrohlich, als in Angst schalten auf Notfall: die fili- eine Körperempfindung, eine um die Gesundheit und das granen Strukturen des Groß- Emotion. Die Mandelkerne Wohlergehen von überlebens- hirns werden außer Funktion funktionieren wie ein Früh- wichtigen Bezugspersonen Panik gesetzt, die neuronalen Ver- warnsystem. Wenn ein Teil zu entwickeln. schaltungen des limbischen der ursprünglich existenziell Systems (Mittelhirn) und des bedrohlichen Situation später Stammhirns übernehmen erneut wahrgenommen wird, in Form von Instinkten und schaltet das Gehirn wieder Reflexen die Steuerung. Blitz- auf Notfall, damit sich der schnelle hormonelle Reakti- Mensch diesmal schneller in onen führen zu Flucht- oder Sicherheit bringen kann. Die Kampfbereitschaft. Mandelkerne speichern sehr präzise, lösen jedoch übermä- Ist Entweichen oder Gegen- ßig häufig Alarm aus. wehr nicht möglich, bleiben nur Erstarrung oder Unter- So fühlen sich Menschen, die werfung als letzte Reaktionen Gewalt erlebt haben, immer übrig. In der Erstarrung wird wieder angetriggert: Fragmen- noch etwas wahrgenommen, te der ehemals bedrohlichen
Umgang um jeden Preis oder Neuanfang ohne Angst? 17 Situation lassen urplötzlich Nach wiederkehrenden Ge- Wenn Kinder den Kontakt eine Wahrnehmung entste- walttaten und Mordversu- zum ehemals gewalttätigen hen, als passiere das Schreckli- chen, die polizeilich bekannt Vater ablehnen, haben sie che erneut. Die Vergangenheit und in ihren Auswirkungen diese Konflikte ansatzwei- schiebt sich in der emotio- eindeutig medizinisch doku- se gelöst. Da mag noch ein nalen Wahrnehmung vor die mentiert sind, ist zu klären, ob Gefühl von Trauer eine Rolle Gegenwart. der Mutter zugemutet werden spielen, denn auch gewalttäti- kann, Kontakte des Kindes ge Väter sind nicht 24 Stunden Was bedeutet das für Kinder, zum Vater zu ermöglichen, ob sieben Tage in der Woche nur die immer wieder erleben, wie dem Kind zugemutet werden schlecht. Vielleicht gab es die Mutter vom Vater geschla- kann mit dem Gewalttäter auch angenehme Erlebnisse gen und verletzt wird? Zeit zu verbringen und ob der mit dem Vater, die noch mit Vater dem Kind im Umgangs- Sehnsucht verbunden sind. Sie können nicht dagegen kontakt guttut. Ich habe von Doch die Loyalität mit der ankämpfen. Sie erstarren einigen Urteilen des Familien- Mutter, mit der sie ja häufig vor Schreck. Auch wenn sie gerichts in solchen Kontexten tagtäglich zusammenleben, ist weglaufen könnten, um der Si- erfahren, die zu Umgangskon- stärker. Verständlicherweise. tuation zu entweichen, nimmt takten mit dem Vater führten, ihr Gehirn Trauma-Fragmente „da er dem Kind gegenüber Beschwichtigung wahr: Mutters ängstliches ja nicht gewalttätig gewesen aus Angst Gesicht, Vaters Rasierwas- sei“. Häufig werden begleitete ser, seine laute Stimme, das Umgänge angeordnet. Kinder, die Umgangskontak- ängstliche Gefühl im eigenen te mit gewalttätigen Vätern Körper, oder Ähnliches. Kinder, die nach häuslicher wahrnehmen (müssen), lösen Gewalt Kontakt mit dem Täter diese Konflikte oft anders. Sie Fragmente der Situation kön- haben, befinden sich oft nicht zeigen nicht die erwartete Vor- nen auch noch gespeichert nur in einem emotionalen sicht oder nähern sich nicht werden, wenn z.B. sehr kleine Loyalitätskonflikt, sondern zunächst nur schrittweise dem Kinder wie abgeschaltet im auch in einem kognitiven Menschen, der ihre Mutter Totstell-Reflex die Situation Ursachenkonflikt. wiederholt misshandelt hat erleben. und ihnen eine „Heidenangst“ Darf ich Mama sagen, dass es eingejagt hat. Sie umarmen Umgang nach Gewalt toll war mit Papa? Darf ich und herzen den Gewalttäter, Papa erzählen, dass ich mich sodass es den Anschein hat, Haben sich Mutter und Vater mit Mama wohl fühle? Mama hier habe echte Liebe gesiegt voneinander getrennt – oft hat erzählt, dass Papa zu viel und die schrecklichen Gewal- nach wiederkehrenden Ver- Alkohol getrunken hat und tereignisse seien vergessen. suchen, die Partnerschaft dann bei jeder Kleinigkeit aus- zu retten, was dann doch gerastet ist. Papa hat erzählt, Es gibt aber auch eine andere zu einer Spirale von Gewalt, dass ihn Mama immer wieder Erklärung, die aus der Sicht zerknirschter Reue, Verände- provoziert hat und dass ihm vieler Fachleute wahrscheinli- rungsversprechen und Verzei- dann die Hand ausgerutscht cher ist. hen, erneuten Spannungen ist. Wem soll ich glauben? und Gewalt führt – wird die Kann ein Kind sich einer be- Frage nach Kontakten des In diesen Konflikten befinden drohlichen Situation, in der es Kindes zum ehemals gewalt- sich viele Kinder mit getrenn- eine Bezugsperson als bedroh- tätigen Elternteil, meist dem ten Eltern, doch Kinder aus Fa- lich erlebt, nicht entziehen, Vater, zum neuen Konfliktfeld. milien mit häuslicher Gewalt bleibt neben Erstarrung oder am heftigsten. Totstell-Reflex noch die Reak-
18 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 tion der Beschwichtigung aus Kind ist nicht nur am Abend Angst, eine aktive Form von und am folgenden Morgen, Dissoziation. Die durch Trau- sondern viele Tage danach ma-Fragmente ausgelösten besonders aggressiv, besonders Gefühle von Panik und Schre- verschlossen oder reagiert cken aus der plötzlich wieder über einen langen Zeitraum vergegenwärtigten Vergangen- mit körperlichen Beschwerden heit der häuslichen Gewalt wie Bauch- oder Kopfschmer- werden verdrängt. Das Gesicht zen. des Vaters, seine Stimme, sein Geruch oder andere Trigger Auch in der Schule oder in der führen zu einer instinktiven Kindertagesstätte wird es über Reaktion von Beschwichti- mehrere Tage beschrieben, gung, damit nicht wieder als sei es in seinem Wesen etwas Schlimmes passiert. tiefgreifend verändert. „Er ist dann eine Woche lang nicht Diese Beschwichtigung wird zu gebrauchen“ oder ähnli- nicht bewusst geplant und ches wird dann geäußert. ausgeführt, sondern geschieht intuitiv. Diese Reaktion ist als Solche Signale müssen nicht „instinktive Täuschung“ be- bedeuten, dass während des kannt. Das Kind täuscht sich Umgangs etwas Schreckliches selbst und alle anderen, um passiert ist. Sie können auch die Begegnung emotional zu bedeuten, dass das Kind wäh- überleben. rend des Kontaktes mit dem gewalttätigen Vater durch mi- Wie kann man diesen Prozess nimale Fragmente an existen- von Beschwichtigung aus ziell bedrohliche Situationen Angst von echter Zuneigung erinnert worden ist und aus und liebevollem Kontakt Angst seine massiven Gefüh- unterscheiden? Rein äußerlich le von Wut oder Traurigkeit erscheint beides fast gleich. unterdrückt hat. Feine Nuancen können er- kennbar sein, wie etwa ein Interventionen weniger glückliches Gesicht des Kindes. Was kann getan werden, sodass die Kontakte für alle Deutliche Unterschiede sind Beteiligten ein Gewinn sind? allerdings vor dem Kontakt und nach dem Kontakt zu spü- Zu allererst sollte sichergestellt ren. Fragt man das Kind vor sein, dass Drohungen und dem Kontakt danach, worauf Gewalt tatsächlich beendet es sich beim Umgang freut, sind. Äußere Sicherheit ist erhält man vage Antworten. eine Grundvoraussetzung für Sehr klare Anzeichen für eine Umgangskontakte. erfolgte Beschwichtigung aus Angst sind dann nach dem Als zweites benötigt das Kind Kontakt zu erkennen. Das – und auch die erwachsene
Umgang um jeden Preis oder Neuanfang ohne Angst? 19 Überlebende – einen trauma- Begleitete Umgänge kön- Weiterführende Literatur sensibel gestalteten Alltag. nen dem Kind eine Zeit lang Hüther, G. (2005): Biologie der Angst. Wie Notwendig für das Kind sind dabei helfen, in der Nähe von aus Stress Gefühle werden. Göttingen (Van- denhoeck u. Ruprecht). wiederkehrende Abläufe, vertrauten Personen ange- Korittko, A. (2015): Posttraumatische Belas- Strukturen und Rituale, die messene Nähe und Distanz tungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberg (Carl Auer). beiden emotionale Sicherheit zu regulieren. Zeigt ein Kind Weinberg, D. u. A. Korittko (2013): Instink- und Voraussagbarkeit für den hingegen dauerhaft nach tive Täuschung – die verborgene Traumare- aktion. Informationen für Erziehungsbera- Alltag geben. Das Leben war Kontakten Angst- oder Panik- tungsstellen 2. Fürth (Bundeskonferenz für lange Zeit zu sehr mit be- zustände, psychosomatische Erziehungsberatung), S. 21–25. drohlichen Überraschungen Symptome oder leidet es unter gespickt. Albträumen, kann nach sorg- fältiger Diagnose auch davon Als drittes benötigt das Kind – ausgegangen werden, dass die und vielleicht auch die er- Kontakte zu ehemals gewalttä- wachsene Überlebende – the- tigen Elternteil nicht dem Kin- rapeutische Begleitung, in der deswohl entsprechen. Sowohl beide kognitiv lernen und dies Oberlandesgerichte als auch auch emotional verankern: das Bundesverfassungsgericht die erlittenen Gewalt-Szenen haben inzwischen Urteile aus- gehören der Vergangenheit gesprochen, die unter diesen an. Wenn ein familiäres Nar- Umständen Umgangskontakte rativ über die erlebte Gewalt aussetzen, beziehungsweise entstehen kann, wird es Teil auf schriftliche Informationen des vergangenheitsbezogenen über das Kind beschränken1 . Gedächtnisses. Den Triggern wird damit Kraft entzogen. Viertens benötigt das Kind die Verantwortungsübernahme des Täters für dessen begange- ne Taten. Meist ist ein solches Gespräch zwischen Vater und Kind nur durch vorherige Beratung des Vaters zu erzie- len. Er könnte dabei erkennen, dass es ihm trotz bester Vor- 1 „Begründet die konkrete Umsetzung der Umgangskontakte eine unmittelbare Gefahr sätze nicht gelungen ist, ein für die Hauptbezugsperson der Kinder, guter Vater zu sein. Er könnte bedeutet auch dies eine konkrete Kindes- wohlgefährdung, die der Durchführung von lernen, über das Furchtbare Umgangskontakten entgegensteht.“ zu sprechen, seine Verantwor- BVerfG, 2. Kammer des ersten Senats, Be- schluss vom 13.12.2012 – 1 BvR 1766/12 tung dafür klar zu benennen Beschränkung des Umgangsrechts auf und Reue zu zeigen. Natürlich Briefkontakt und das Schicken von Ge- muss abgeschätzt werden, ob schenkpaketen we- das Kind in einem Alter ist, in gen Traumatisierung der Kinder aufgrund Alexander Korittko dem es die Inhalte eines sol- erfahrener Gewaltan- chen Gespräches versteht und wendung des Vaters ist Dipl. Sozialarbeiter, Systemischer gegenüber der Mut- Lehrtherapeut und Lehrsupervisor, sich dazu äußern kann, ob es ter. OLG Köln, Beschl. Mitbegründer des Zentrums für glaubt, dass es dem Vater ernst v. 06.12.2010 – 4 Psychotraumatologie und UF 183/10, DRsp-Nr. ist, zu bereuen. 2010/22494 Traumatherapie Niedersachsen (zptn), Buchautor
20 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 „Den Weg in ein Leben ohne Gewalt finden“ Wie arbeiten Frauenhäuser? Welche Unterstützung bieten sie den dort vorübergehend lebenden Kinder? Wie gehen sie mit Fragen des Kinderschutzes um? Gespräch mit Lara Salewski und Xenja Winziger, den Vertreterinnen der Dachkonferenz der Frauenhäuser in NRW Fotos (3): alesmunt - stock.adobe.com, Privat Das LWL-Landesjugendamt Westfalen hat im Rahmen mehrerer die Frauen, dass auch andere Werkstattgespräche einen Austausch zwischen Jugendämtern und Frauen von Gewalt betroffen Frauenhäusern zu Fragen der Hilfe und Unterstützung für Frauen sind. Dies mildert Gefühle von und Kinder bei häuslicher Gewalt initiiert. Ein Ziel war es, dass Isolation und Ausgrenzung, sich die Handlungsfelder wechselseitig besser kennen lernen und die sie in der Gewaltbeziehung Ansatzpunkte zur Verbesserung der Zusammenarbeit identifiziert und mit der Trennung erlebt werden. haben. Können Sie kurz erklären, was In einem Frauenhaus arbeiten die zentralen Merkmale eines in der Regel zwei Sozialar- Frauenhauses sind? beiterinnen, eine Erzieherin und Verwaltungs- bzw. Haus- Lara Salewski: Ein Frauenhaus wirtschaftskräfte. Wichtig zu ist in erster Linie ein Schutz- wissen ist, dass ein Frauenhaus raum für Frauen und deren keine Einrichtung ist, in der Kinder, die häusliche Gewalt die Bewohnerinnen rund um erfahren haben. Die Frauen die Uhr begleitet werden. Die wohnen dort mit ihren Kin- Mitarbeiterinnen sind tags- dern meist in einem Zimmer über vor Ort. Abends, nachts zusammen. Ziel eines Frauen- sowie an Wochenenden und hauses ist, den Frauen Raum, Feiertagen sind keine Fachkräf- Zeit und die notwendige Un- te im Haus. terstützung zu geben, sodass sie für sich und ihre Kinder Wie kommen Frauen eigent- eine Perspektive für ein selbst- lich ins Frauenhaus? Wie sieht bestimmtes und gewaltfreies ganz praktisch das Ankom- Leben entwickeln können. men einer Frau mit ihren Kin- In der Gemeinschaft, erleben dern im Frauenhaus aus?
Interview Frauenhäuser 21 Lara Salewski (linkes Bild), ehemals Referentin für die Frauenhäuser bei der Diakonie Rheinland- Westfalen-Lippe und Xenja Winziger, Referentin für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Westliches Westfalen, sprachen mit Dr. Monika Weber vom LWL- Landesjugendamt Westfalen Lara Salewski: Der Schritt in ziehen. Im Aufnahmegespräch tenz zu sichern oder andere ein Frauenhaus zu fliehen, werden formale Dinge geklärt Angelegenheiten zu klären. ist für viele Frauen enorm und es wird geschaut, was die schwierig. Er erfordert von Frau in den nächsten Tagen Wie sieht der Alltag – soweit ihnen viel Kraft und Mut, braucht. Außerdem werden es ihn denn gibt – in den insbesondere wenn sie Kinder die Kinder sehr genau in den Einrichtungen aus? Welche haben, die sie mitnehmen. Die Blick genommen: Wie geht es Unterstützung bekommt die Kontaktaufnahme einer Frau ihnen? Welche Bedürfnisse Frau von den Mitarbeiterin- erfolgt meistens über das Tele- haben sie? Was wünschen sie nen im Frauenhaus? fon. Die Frauen haben sich im sich? Wo können sie in die Internet informiert oder sind Schule oder in die KiTa gehen? Lara Salewski: Den Alltag über Bekann- Gegebenen- gestalten die Frauen überwie- te, Fachkräf- „Dieser Schritt erfordert viel falls auch: gend selbst. Es gibt einen ge- te etwa in Kraft und Mut, insbesonde- Hatten Sie wissen Rahmen, der allerdings Schulen und re wenn die Frauen Kinder bisher Un- in jedem Frauenhaus etwas Gesundheits- dabei haben.“ terstützung anders aussieht. Meist gibt wesen oder Lara Salewski durch die es einen festen Termin in der Medien wie Jugendhilfe? Woche, an dem alle Bewohne- beispielsweise Flyer aufmerk- rinnen und Mitarbeiterinnen sam gemacht worden. Die Xenja Winziger: Wenn eine zur Hausversammlung zusam- Entscheidung, in ein Frauen- Frau im Frauenhaus ankommt, menkommen. haus zu gehen, muss von jeder muss sie sich meistens erst ein- Frau freiwillig und intrinsisch mal erholen, da sie aus einer Ansonsten ist die Alltags- motiviert erfolgen. Phase höchster Anspannung struktur geprägt durch kommt. Aber oft müssen die verschiedene Einzel- und Im Frauenhaus angekommen, Frauen gleich am Anfang auch Gruppenangebote. Die Mitar- kann eine Frau mit ihren Kin- viele Behördengänge erledi- beiterinnen unterstützen die dern zunächst ihr Zimmer be- gen, um ihre finanzielle Exis- Frauen in vielerlei Hinsicht.
22 Jugendhilfe-aktuell 1.2020 Die psychosoziale Begleitung Die Kinder erleben, wie sich umfasst die Bearbeitung der die Gewalt direkt gegen sie Gewalterfahrung wie auch richtet oder sie sind Zeuge der ganz lebenspraktische Dinge, Gewalthandlungen gegen die etwa das Stellen von Anträgen Mutter. Sie erleben die Eltern- bei Behörden oder die Woh- teile in der machtgeprägten nungssuche. Hierbei wird mit Misshandlungsbeziehung. Die örtlichen Kooperationspartne- Arbeit mit den Kindern ist ein rinnen und -partnern zusam- wesentlicher Teil. mengearbeitet. Bei Fragen zum Sorgerecht und Unterhalt Der Kinderschutz beginnt oder wenn die Mutter Unter- mit der Aufnahme. Die Jun- stützung bei der Erziehung gen und Mädchen müssen möchte, arbeiten die Frauen- vor Übergriffen oder dem hausmitar- Miterleben beiterinnen „Die Kinder erleben den der Gewalt eng mit dem Einzug in das Frauenhaus als geschützt Jugendamt Krisenzeit. Sie vermissen ihr werden. zusammen. Zuhause und sind unsicher.“ Die Kinder Xenja Winziger erleben den Für Kinder Einzug in das ist die Zeit im Frauenhaus Frauenhaus als Krisenzeit. Sie eine Art Ausnahmezustand. vermissen das Zuhause und Sie sind plötzlich aus ihrem fühlen sich unsicher. Sie müs- vertrauten Umfeld heraus- sen sich einschränken und gerissen. Inwieweit ist ein sind mit fremden Menschen Frauenhaus auch ein Kinder- konfrontiert. Aber sie spüren schutzhaus? auch den gebotenen Schutz. Xenja Winziger: Die Jungen Weitergefasst ist der Schutz und Mädchen sind immer auch die Begleitung bei der von der Gewalt mitbetroffen. Überwindung der erlebten Alle spüren die destruktive Gewalt und dem Beziehungs- Atmosphäre in der Familie: erleben in der Familie. Viele das Misstrauen, die ständige Konzepte sehen zudem regel- Angst und die Aggression.
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