Gewalt gegen Kinder Thüringer Leitfaden für Ärzte
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Thüringer Leitfaden für Ärzte Gewalt gegen Kinder Landesärztekammer Thüringen Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit Techniker Krankenkasse, Landesvertretung Thüringen Weiterentwickelt und adaptiert durch die Arbeitsgruppe „Gewalt gegen Kinder“ bei der Landesärztekammer Thüringen 2. Auflage, 2007
2 Impressum: Herausgeber - Landesärztekammer Thüringen - Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit - Techniker Krankenkasse, Landesvertretung Thüringen Unterstützt durch - Kassenärztliche Vereinigung Thüringen - Berufsverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Landesverband Thüringen Projektentwicklung Weiterentwickelt und adaptiert durch die Arbeitsgruppe “Gewalt gegen Kinder” bei der Landesärztekammer Thüringen: - Dr. Sibylle Banaschak, Köln, Fachärztin für Rechtsmedizin - Dr. Christiane Becker, Ärztliche Geschäftsführerin der Landesärztekammer Thüringen - Dr. Bernhard Blochmann, Nordhausen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie - Dr. Roland Eulitz, Dingelstädt, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie - Dr. Bernd Lutter, Landesfachkrankenhaus Stadtroda, Kinderneuropsychiatrische Abteilung, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie - Ina Schairer, Arztpraxis Stadtroda, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie - Dr. Ingrid Schlonski, Arztpraxis Gera, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin - Dr. Carsten Wurst, Zentralklinikum Suhl gGmbH, Sozialpädiatrisches Zentrum, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Ein herzlicher Dank für die Mitwirkung gilt: - Steffi Lippold für die umfangreiche Sachbearbeitung Wir danken der Freien und Hansestadt Hamburg für die Gestattung des teilweisen Nach- drucks einzelner Textpassagen sowie allen Projektbeteiligten für die Zusammenarbeit und Unterstützung. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
3 Inhalt Teil I Seite Vorworte 4 Allgemeine Hinweise 7 Grundlagen für das ärztliche Vorgehen bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 8 1. Gewalt in der Familie - ein gesellschaftliches Problem 10 2. Was ist Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 12 3. Epidemiologische Aspekte 17 4. Risikofaktoren der Kindesmisshandlung 18 5. Diagnostische Kriterien 20 6. Ärztliches Vorgehen bei Misshandlungs- und Gewaltverdacht 27 7. Probleme der multiprofessionellen Kooperation 34 8. Probleme von Ärzten im Umgang mit Kindesmisshandlung 37 9. Defizite und Forderungen 40 10. Literatur 41 11. Autoren 47 Auszüge aus der Berufsordnung der Landesärztekammer Thüringen, dem Strafgesetzbuch (StGB), dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sowie dem Sozialgesetzbuch VIII (SGB) 48 „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
4 Vorwort Seit der Publikation des letzten Leitfadens „Gewalt gegen Kinder“ 1998 ist viel passiert: Nachrichten von getöteten, misshandelten und vernachlässigten Babys und Kleinkindern sind in erschreckendem Ausmaß fast schon alltäglich geworden, gleichzeitig werden so in- tensiv wie schon lange nicht mehr die Probleme, insbesondere natürlich die Prävention, aber auch das Erkennen der Gewaltanwendungen, diskutiert und Maßnahmen ergriffen. Erinnert sei hier beispielsweise an die Thüringer Ambulanz für Kinderschutz am Universitätsklinikum Jena. Häufig sind Misshandlungen, Vernachlässigungen sowie Missbrauch Wiederholungstaten. Ein frühes Erkennen kann deshalb die Zahl schwerer, bleibender Schäden oder auch von Todesfällen verringern helfen. Mit dem Leitfaden „Gewalt gegen Kinder“ wollen wir Ärztinnen und Ärzten ein Instrument zur rechtzeitigen Diagnose und zum rechtzeitigen Handeln in die Hand geben. Mit ihm soll die Wachsamkeit von Ärztinnen und Ärzten geschärft und unsere Berufsgruppe ermutigt werden, couragiert in den nötigen Fällen einzugreifen. Den Kolleginnen und Kollegen vom Ausschuss „Gewalt gegen Kinder“ der Landesärzte- kammer danke ich herzlich für Ihr Engagement bei der Neuherausgabe des Leitfadens. Dr. med. Mathias Wesser Präsident der Landesärztekammer Thüringen „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
5 Vorwort Gewalt gegen Kinder hat vielfältige Formen. Körperliche und seelische Misshandlung, sexu- eller Missbrauch, aber auch psychische und emotionale Vernachlässigung haben weit rei- chende Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern. Körperliche und seelische Verlet- zungen, Angst, mangelndes Selbstwertgefühl, Aggressivität und Suchtmittelmissbrauch kön- nen Auswirkungen von Gewalt sein. Alle am Entwicklungsprozess von Kindern Beteiligten brauchen Verantwortungsgefühl, Sen- sibilität und Fachkompetenz, um Anzeichen von Gewalt frühzeitig zu erkennen und adäquate Schritte dagegen einleiten zu können. Die Hilfen, die ein misshandeltes oder missbrauchtes Kind und im Einzelfall auch dessen Familie benötigen, sind sehr differenziert und zeitintensiv. Sie können meist nicht allein von einer Person oder Einrichtung erbracht werden. Die Zusammenarbeit mit anderen Partnern und Hilfeeinrichtungen ist somit sehr oft erforderlich. Die Thüringer Landesregierung hat daher bereits Ende 2006 einen umfassenden Maßnah- mekatalog verabschiedet, der frühzeitige Hilfen für Familien und einen wirksamen Kinder- schutz vorsieht. Gleichzeitig begrüßen wir alle Initiativen gegen Gewalt an Kindern. Auch dieser Leitfaden leistet einen effektiven Beitrag zur Aufdeckung, Verarbeitung und Abwen- dung weiterer Gefährdungen durch Gewalt gegen Kinder. Das Thema "Gewalt gegen Kinder" hat leider nicht an Aktualität verloren. Wir müssen daher auch weiterhin gemeinsam alles dafür tun, um Gewalt gegen Kinder zu verhindern. Es gilt also: bei Anzeichen von Gewalt - unabhängig ob physisch oder psychisch ausgerichtet - frühzeitig und sachgerecht zu intervenieren, um Kinder bzw. Betroffene besser zu schützen. Das sind wir unseren Kindern und ihrer Zukunft schuldig. Ich möchte Sie daher ermuntern, dieses Material griffbereit stehen zu haben und mit diesem Material zu arbeiten. Ausdrücklich möchte ich Sie auf das Verzeichnis der Beratungs- und Hilfsangebote in Ihrer Nähe im Serviceteil aufmerksam machen. Nutzen Sie bitte die Kompe- tenz anderer Beratungs- und Hilfsangebote, von Jugendämtern über Jugendschutzdienste bis hin zum Frauenhaus in ihrer Region. Der Landesärztekammer, den Autoren und der Techniker Krankenkasse möchte ich stellver- tretend für alle Mitwirkenden danken, dass diese wichtige Publikation hat entstehen können. Dr. Klaus Zeh Thüringer Minister für Soziales, Familie und Gesundheit „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
6 Vorwort Immer wieder lösen Medienberichte über vernachlässigte, verwahrloste, misshandelte oder gar getötete Kinder Betroffenheit und Entsetzen aus. Wie hoch darüber hinaus die Dunkelzif- fer im Bereich der Kindesmisshandlung ist, können selbst Experten nur schwer einschätzen. Körperliche und seelische Misshandlung von Kindern, sexueller Missbrauch und Vernachläs- sigung haben vielfältige Ursachen. Diese zu beseitigen oder wenigstens einzudämmen, zählt zu den wichtigen Aufgaben der im Gesundheitswesen Tätigen. Erhöhte Aufmerksamkeit, ein zuverlässiges Frühwarnsystem und Rechtssicherheit für die Handelnden sind dabei wichtige Bausteine, um gefährdete Kinder und Jugendliche rechtzei- tig zu erkennen und ihnen und ihren Familien Hilfe und Unterstützung zu geben. Das Projekt "Gewalt gegen Kinder" will mithelfen, die auch bei Fachleuten bestehenden Informationsdefi- zite abzubauen, wenn es darum geht, gegen Kinder verübte Gewalt zu erkennen und sach- gerecht darauf zu reagieren. Bereits seit 1999 steht ein Leitfaden "Gewalt gegen Kinder" in vielen Thüringer Arztpraxen, in Kinderkliniken und Kinderschutzdiensten, gemeinsam herausgegeben von Gesundheitsmi- nisterium, Landesärztekammer und Techniker Krankenkasse in Thüringen. Er war und ist eine wichtige Hilfe, um Symptome von Misshandlungen und Gewalt rechtzeitig zu erkennen und bei entsprechendem Verdacht die richtigen Partner für eine weiteres Vorgehen einzube- ziehen. Die positive Resonanz auf unseren ersten Handlungsleitfaden für Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation hat uns darin bestärkt, das Projekt "Gewalt gegen Kinder" weiter auszubauen und den vorliegenden Leitfaden in einer aktualisierten Version neu aufzulegen. Es ist uns als Krankenkasse ein besonderes Anliegen, verschiedenen Akteure des Gesund- heitswesens bei einem gemeinsamen Ziel zu unterstützen: dem Schutz unserer Kinder. Guido Dressel Leiter der TK-Landesvertretung Thüringen „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
7 Allgemeine Hinweise Dieser Leitfaden richtet sich an Ärzte aller Fachrichtungen, die mit dieser Problematik be- fasst sind, soll aber auch die Arbeit anderer Institutionen und Professionen unterstützen. Der Leitfaden soll außerdem dazu anregen, sich selbst ein persönliches Netzwerk aufzubauen, um bei einer entsprechenden Problemlage rasch in der Lage zu sein, Kontakt mit weiterhel- fenden Institutionen oder Personen aufnehmen zu können. In einem Textbeitrag werden die wichtigsten Aspekte von Gewalt gegen Kinder beschrieben. Zusätzlich informiert der Leitfaden in einem Serviceteil über Hilfseinrichtungen für Opfer und Angehörige und über Beratungsmöglichkeiten in Thüringen. Diese Institutionen sind in zwei Adressverzeichnissen zusammengestellt. Das erste Verzeichnis führt medizinische Einrich- tungen bzw. landesweite Verbände und Institutionen auf, während der zweite Teil sonstige Beratungs- und Hilfsangebote enthält. Beide Verzeichnisse wurden aufgrund einer zielge- richteten schriftlichen Befragung erstellt. Ärzte finden in dem Leitfaden Vorlagen zur praxisinternen Falldokumentation. Eine Vorlage sollte für Kopien zurückgehalten werden. Wir bitten die Anwender des Leitfadens um Mitteilung geänderter Anschriften und Telefon- nummern. Dankbar sind wir für inhaltliche und konzeptionelle Änderungs- und Ergänzungs- wünsche. Zu diesem Zweck liegt ein Rückmeldebogen bei. Diesen Bogen bitten wir an fol- gende Anschrift zu übersenden: Arbeitsgruppe „Gewalt gegen Kinder“ Landesärztekammer Thüringen Frau Dr. med. Chr. Becker Im Semmicht 33 07751 Jena „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Inhaltsverzeichnis 8 Grundlagen für das ärztliche Vorgehen bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Inhaltsverzeichnis Seite 1. Gewalt in der Familie - ein gesellschaftliches Problem 10 2. Was ist Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 12 2.1. Körperliche Gewalt 12 2.2. Seelische Gewalt 13 2.3. Vernachlässigung 14 2.4. Sexuelle Gewalt 14 2.5. Genitale Verstümmelung 15 2.6. Häusliche Gewalt 15 3. Epidemiologische Aspekte 17 4. Risikofaktoren der Kindesmisshandlung 18 4.1. Anamnestische Merkmale des Kindes 18 4.2. Anamnestische Merkmale der Eltern bzw. des Misshandlers 18 4.3. Anamnestische Merkmale der Familie als Ganzes 19 5. Diagnostische Kriterien 20 5.1. Körperliche Misshandlungszeichen 20 5.1.1. Äußere Verletzungen 20 5.1.2. Innere Verletzungen 22 5.1.3. Frakturen 22 5.1.4. Verborgene Verletzungen 23 5.1.5. Weitere Verletzungen 23 5.2. Zeichen der Vernachlässigung 23 5.3. Sozial-emotionale Störungen 24 5.4. Diagnostische Hinweise auf sexuelle Gewalt 25 5.5. Kennzeichnendes Verhalten misshandelnder Personen 26 „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Inhaltsverzeichnis 9 6. Ärztliches Vorgehen bei Misshandlungs- und Gewaltverdacht 27 6.1. Untersuchung 27 6.2. Dokumentation 27 6.3. Diagnosesicherung 28 6.4. Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Professionen 28 6.5. Umgang mit den Eltern 31 6.6. Stufenplan zur Sicherstellung des Schutzes des betroffenen Kindes 33 7. Problem der multiprofessionellen Kooperation 34 7.1. Problem der ärztlichen Schweigepflicht 34 7.2. Probleme zwischen Kinderschutz, Therapie und Ermittlung bzw. Strafverfolgung 35 7.3. Konflikte und Stellvertreterkonflikte zwischen Professionellen 35 8. Probleme von Ärzten im Umgang mit Kindesmisshandlung 37 8.1. Aggressionen 37 8.2. Identifikation mit dem Opfer 37 8.3. Hilflosigkeit 37 8.4. Problem der Verdrängung 37 8.5. Diagnoseschwierigkeiten 38 8.6. Die Notwendigkeit, mit nicht-ärztlichen Stellen zusammenarbeiten zu müssen 39 8.7. Mangel an Rechtskenntnissen 39 9. Defizite und Forderungen 40 10. Literatur 41 11. Autoren 47 „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Gewalt in der Familie – ein gesellschaftliches Problem 10 1. Gewalt in der Familie - ein gesellschaftliches Problem Körperliche Gewalt, Vernachlässigung, emotionale Misshandlung und Kindesmisshandlung - sexuelle Gewalt von Minderjährigen sind in unserer Gesellschaft Prob- ein ungelöstes Prob- lem der Gesellschaft leme ersten Ranges. Nach Einschätzung der "Unabhängigen Regie- rungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt" (Ge- waltkommission) ist Gewalt in der Familie die bei weitem verbreitetste Form von Gewalt überhaupt (Schwind). Gewalterlebnisse, die Minderjährige innerhalb des Familienlebens er- leiden mussten, bestimmen dabei wesentlich die späteren Möglichkeiten der Betroffenen, als Erwachsene mit Konflikten umgehen zu können ("Kreislauf der Gewalt"). Gewaltsame Interaktionen im Elternhaus stehen in enger Beziehung zu psychosozialen Störungen, zum Auftreten von sozialabweichendem Verhalten und Kriminalität im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Misshandlungserlebnisse wirken sich negativ auf die somatische und psychische Entwicklung und Wertvorstellung beim Kind sowie letztlich desozialisierend aus. Gewalt in der Familie wird somit als „Schlüssel zur Gewalt in der Gesell- schaft" angesehen. Sie ist deshalb nicht nur wegen ihrer erheblichen individuellen Bedeutung für die Betroffenen, sondern auch wegen ihrer gewichtigen sozialen Folgen als bedeutsames gesundheits-, sozial- und rechtspolitisches Problem anzusehen. Dabei ist jede Form von Gewalt in der Familie Produkt und Bestandteil von Interaktionsprozessen innerhalb der Familie, ihren Lebensbedingungen und Verflechtungen mit dem so- zialen Umfeld, ebenso wie von Normen, Einstellungen und Wertvorstel- lungen der Gesellschaft. Nach langer politischer Diskussion trat am 2. November 2000 eine Än- derung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Kraft, die in diesem Zusammenhang eine vielleicht auf den ersten Blick unbedeutende Ände- rung bewirkte. Nach §1631 BGB haben Kinder seither ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzun- gen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Dies führt dazu, dass das (schon lange umstrittene) elterliche Züchtigungsrecht nun auch in Deutschland vom Gesetzgeber verneint wird. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Inhaltsverzeichnis 11 Bereits 1991 forderte der 94. Deutsche Ärztetag die Öffentlichkeit auf, Verstärkte Integration sich dem Problem der Vernachlässigung und Misshandlung von Minder- des Problems in die jährigen intensiver als bisher in Erziehung und öffentlicher Diskussion zu ärztliche Tätigkeit widmen. Darüber hinaus beauftragte er, zur verstärkten Integration die- ser Problematik in die ärztliche Tätigkeit, die Landesärztekammern, “Ar- beitsgruppen zu den ärztlichen Problemen der Misshandlung Minderjäh- riger” einzurichten. Im Mai 1995 konstituierte sich bei der Landesärztekammer Thüringen die interdisziplinäre Arbeitsgruppe “Gewalt gegen Kinder”, zu der sich bisher Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, für Psychotherapeutische Medizin, Kinderärzte, Rechtsmediziner und Psychologen zusammengefunden haben. Seine Aufgaben sieht der Arbeitskreis im Fortsetzen der begonnenen Fortbildungen für Ärzte zu Fragen von Kindesmisshandlungen, sexuel- lem Gewalt und Kindesvernachlässigung. Gleichzeitig versteht er sich als ansprechbereiter und kooperativer Partner für Ärzte, Jugendämter und Kinderschutzdienste, um unmittelbare Verbindungen zur Praxis in Thüringen zu entwickeln und zu vermitteln. Kontakte zu Arbeitskreisen anderer Bundesländer werden gepflegt, um bereits vorhandene Erfah- rungen zugunsten der Kinder zu nutzen. Das Bemühen um Aufklärung und Wissensvermittlung soll einen wir- kungsvollen Beitrag zur Prävention von Gewalt gegen Kinder darstellen. Der Arbeitskreis „Gewalt gegen Kinder“ vertritt durch Teilnahme an Fo- ren, Gesprächsrunden und Fortbildungen auch anderer Fachleute und gesellschaftlicher Gruppen die Landesärztekammer Thüringen. Damit möchte der Arbeitskreis seinen Beitrag zur Sensibilisierung der Öffent- lichkeit für Belange des Kindeswohls leisten. Der vorliegende Leitfaden stützt sich auf die Inhalte von bereits vorlie- genden Texten aus der Broschüre der BÄK sowie Leitfäden anderer Bundesländer in Deutschland zur Problematik „Gewalt gegen Kinder“ und dem Abschlußbericht des Projektes „Wege aus der häuslichen Ge- walt“ beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 12 2. Was ist Gewalt gegen Kinder und Jugendliche? “Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige (bewusste oder unbewuss- Definition te) gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Fami- lien oder Institutionen (z. B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht, und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen, schwere Entwick- lungsstörungen oder sogar zum Tode führt, und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht”. (nach BAST, 1978) In dieser Definition wird deutlich, dass Gewalt gegen Kinder folgende Formen annehmen kann: körperliche Gewalt, seelische Gewalt, Ver- nachlässigung und sexuelle Gewalt. Zu unterscheiden ist jeweils die Misshandlung als aktive und die Vernachlässigung als passive Form. Mehrere Formen können bei einem Kind auch gleichzeitig vorkommen. Es muss von dem Umstand ausgegangen werden, dass Kindesmiss- handlung gegen den Willen des Kindes stattfindet, bzw. die Willenlosig- keit des Kindes, seine Hilflosigkeit und Abhängigkeit ausgenutzt werden. Bei der Kindesmisshandlung geschieht die Schädigung des Kindes nicht zufällig. Meist wird eine verantwortliche erwachsene Person wiederholt Gewalt wird meist in gegen ein Kind gewalttätig. Gewalt wird fast immer in der Familie oder in der Familie ausgeübt anderen Zusammenlebenssystemen ausgeübt. Häufig ist die Gewalt- anwendung der Erwachsenen ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit und Überforderung, d. h. Folge einer eigenen gestörten Entwicklung. Den verantwortlichen Erwachsenen sollen frühzeitig Hilfen zur Selbsthil- fe angeboten werden. Dabei müssen verschiedene Institutionen unter- Hilfe für Opfer und stützend zusammenarbeiten, um dem komplexen Problem gerecht zu Täter ist notwendig werden. In diesem Leitfaden sollen Hilfen für das Kind im Vordergrund stehen, aber es darf nicht übersehen werden, dass auch die Täter Hilfe (Therapie) benötigen. Möglichkeiten für ein gemeinsames Vorgehen mit anderen Einrichtungen werden aufgezeigt. 2.1. Körperliche Gewalt Erwachsene üben körperliche Gewalt an Kindern in vielen verschiede- nen Formen aus. Verbreitet sind Schläge mit oder ohne Gegenständen, Kneifen, Treten und Schütteln des Kindes. Daneben werden Stichverlet- Formen der Gewalt zungen, Vergiftungen, Würgen und Ersticken, sowie thermische Schä- sind vielfältig den (Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen) bei Kindern beobachtet. Das Kind kann durch diese Verletzungen bleibende körperliche, geistige und seelische Schäden davontragen und in Extremfällen daran sterben. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 13 Viele Erwachsene halten Schläge nach wie vor für ein legitimes Schläge – ein legitimes Erziehungsmittel. Die meisten geben dabei an, dass ihnen „ein Klaps zur Erziehungsmittel? rechten Zeit auch nicht geschadet habe“ und dass sie dieses Prinzip genauso für ihre Kinder angemessen finden. Körperliche Gewalt ist aus den o. g. Gründen kein Bagatelldelikt und muss deshalb gesellschaftlich auch so bewertet werden. Der Schutz von Kindern vor jeder Form von Gewalt innerhalb und außerhalb ihrer Familien muss im Erziehungsalltag oberstes Gebot darstellen. Ziel ist die Befähigung der Eltern, andere Konfliktlösungsmöglichkeiten im Zusammenleben mit ihren Kindern zu entwickeln. Ächtung der Gewalt als Erziehungsmittel muss gesellschaftliches Anliegen sein. 2.2. Seelische Gewalt Seelische oder psychische Gewalt sind „Haltungen, Gefühle und Aktio- Beziehungskrise nen, die zu einer schweren Beeinträchtigung einer vertrauensvollen Be- zwischen Eltern und ziehung zwischen Bezugsperson und Kind führen und dessen geistig- Kindern seelische Entwicklung zu einer autonomen und lebensbejahenden Per- sönlichkeit behindern.“ (EGGERS, 1994). Die Schäden für die Kinder sind oft folgenschwer, d. h. sie haben Krankheitswert und sind daher mit denen der körperlichen Misshandlung vergleichbar. Bei seelischer Gewalt wird dem Kind ein Gefühl der Ablehnung vermit- telt. Das Kind wird gedemütigt und herabgesetzt, durch unangemessene schulische, sportliche oder künstlerische Leistungen überfordert, oder durch Liebesentzug, Zurücksetzung, Gleichgültigkeit und Ignorieren be- straft. Schwerwiegend sind ebenfalls Handlungen, die dem Kind Angst machen: Einsperren in einen dunklen Raum, Alleinlassen, Isolation des Kindes, Drohungen, Anbinden. Vielfach beschimpfen Eltern ihre Kinder in einem extrem überzogenen Maß oder brechen in Wutanfälle aus, die für das Kind nicht nachvollziehbar sind, weil es oft nur Auslöser, aber nicht Verursacher der Wut ist. Kinder werden auch für die Bedürfnisse der Eltern missbraucht, indem sie Kinder werden in Part- gezwungen werden, sich elterliche Streitereien anzuhören, oder sie nerschaftskonflikten werden in Beziehungskonflikten zur Parteinahme aufgefordert und damit missbraucht zu Entscheidungen gezwungen, die sie überfordern. Auch überbehütendes und überfürsorgliches Verhalten kann zur seelischen Gewalt werden, wenn es Ohnmacht, Wertlosigkeit und Abhängigkeit vermittelt. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 14 2.3 Vernachlässigung Die Vernachlässigung stellt eine Besonderheit sowohl der körperlichen als auch der seelischen Kindesmisshandlung dar. Eltern können Kinder Mangel an Fürsorge und Pflege vernachlässigen, indem sie ihnen Zuwendung, Liebe und Akzeptanz, Betreuung, Schutz und Förderung verweigern, oder indem die Kinder physischen Mangel erleiden müssen. Dazu gehören mangelnde Ernäh- rung, unzureichende Pflege und gesundheitliche Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung. Diese Merkmale sind Ausdruck einer stark be- einträchtigten Beziehung zwischen Eltern und Kind. 2.4. Sexuelle Gewalt "Diese Gewaltform umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor ei- Definition nem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind auf Grund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend wehren und verweigern zu können. Die MissbraucherInnen nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition sowie die Liebe und Abhängigkeit der Kinder aus, um ihre eigene (sexuellen, emotionalen und sozialen) Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen und diese zur Kooperation und Ge- heimhaltung zu veranlassen." (SCHECHTER UND ROBERGE, 1976) Formen sexueller Gewalt sind das Berühren des Kindes an den Ge- schlechtsteilen, die Aufforderung, den Täter anzufassen, Zungenküsse, Sexuelle Gewalt ist oraler, vaginaler und analer Geschlechtsverkehr, Penetration mit Fin- nicht nur körperliche Gewalt gern oder Gegenständen. Auch Handlungen ohne Körperkontakt wie Exhibitionismus, Darbieten von Pornographie, sexualisierte Sprache und Herstellung von Kinderpornographie sind sexuelle Gewaltakte. Im Unterschied zur körperlichen Misshandlung misshandelt der Täter bei Sexuelle Gewalt sexueller Gewalt meist in überlegter Absicht. Sexuelle Übergriffe sind meist nicht spontan eher geplant als körperliche Gewalttaten. Einige spezifische Merkmale sind charakteristisch für die sexuelle Ge- walt, wenn er in der Familie oder durch Bezugspersonen stattfindet. Der Täter nutzt in besonderem Maße das Macht- und Abhängigkeitsverhält- nis aus, das zwischen ihm und dem betroffenen Kind besteht. Dieses Machtgefälle und das Vertrauen des Kindes ermöglichen ihm, das Kind zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Dabei wendet er meist keine kör- perliche Gewalt an. Das Kind wird mit Drohungen zur Geheimhaltung verpflichtet. Übergriffe können auch mit Zuwendungen verbunden sein. Auf diese Weise wird das Kind zunächst scheinbar aufgewertet. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 15 Die Widersprüche im Verhalten des Täters sind für das Kind nicht zu durchschauen. Das Kind sucht daher die Schuld für die sexuellen Über- griffe bei sich und schämt sich dafür. Scham und Schuldgefühle, von einer meist geliebten und geachteten Scham und Angst- Person sexuelle Gewalt erfahren zu haben, machen es dem Kind nahe- gefühle verhindern ein zu unmöglich, sich einer dritten Person anzuvertrauen. Vor allem Jun- Sich-Anvertrauen gen sind häufig noch weniger in der Lage, sich mitzuteilen. Für sie kann die sexuelle Gewalt zusätzlich mit dem Stigma der Homosexualität be- haftet sein. Außerdem wird von Jungen erwartet, keine Schwächen zu zeigen und sich zu wehren. Die meisten Kinder schützen den Täter, um den Familienzusammenhalt nicht zu gefährden. Ein weiterer Grund für Kinder, die Erlebnisse für sich zu behalten, ist die Androhung durch den Täter, im Fall der Offenbarung in ein Heim zu müssen. Häufig wird Kindern vom Täter eingeredet, niemand werde ih- nen glauben. 2.5. Genitale Verstümmelung Bei der so genannten Genitalverstümmelung handelt es sich um eine rituelle Form der „Beschneidung“ bei Mädchen, die von der Entfernung der Klitoris bis zur Entfernung der Klitoris und der großen und kleinen Schamlippen reichen kann. Die Durchführung des Eingriffes in Deutsch- land ist verboten, eine Einwilligung nicht möglich, da der Eingriff an sich sittenwidrig ist. Wenn eine Gefährdung eines Mädchens absehbar ist, sollten Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. 2.6. Häusliche Gewalt – (siehe auch Literaturverzeichnis) Definition: Häusliche Gewalt bezeichnet Gewaltstraftaten physischer und Definition psychischer Art zwischen Personen - einer partnerschaftlichen Beziehung, die derzeit besteht, sich in Auf- lösung befindet oder aufgelöst ist (unabhängig vom Tatort, auch oh- ne gemeinsamen Wohnsitz) - oder die in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen, soweit es sich nicht um Straftaten ausschließlich zum Nachteil von Kindern handelt Kinder und Jugendliche, die in solchen Gemeinschaften le- ben, gelten hierbei als Opfer, da sie solche Gewaltgeschehen miter- leben. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 16 Kinder und Jugendliche, die wiederholt ernste physische und psychische Folgen häuslicher Gewalthandlungen gegen ihre Mutter, die von deren Beziehungspartner Gewalt ausgingen, erlebt haben, sind in indirekter Weise ebenfalls betroffen von dieser Gewalt. Zusätzlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei Vorliegen häuslicher Gewalt auch die Kinder direkt misshandelt wer- den. Kinder, die häusliche Gewalt erleben, sind darauf angewiesen von au- ßen Schutz und Unterstützung zu erhalten. Die Verantwortung für den Schutz der Kinder kann nicht allein von dem misshandelten Elternteil getragen werden, da dieses selbst Opfer von Gewalt ist und den eige- nen Schutz nicht sicherstellen kann. Das Erleben von Gewalt und Bedrohung bedeutet für jeden Menschen Auswirkungen eine massive Erschütterung der Lebensgefühle und der inneren Sicher- häuslicher Gewalt heit, mit oft schwerwiegenden Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit. Die Auswirkung und die Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind umso gravierender, wenn nahe stehende Menschen an dem Gewaltgeschehen beteiligt sind. Dies im besonderen Maße für Kinder, da sie für ihre emotionale Entwicklung von Normen, Werten und Verhaltensweisen auf Sicherheit und Geborgenheit ange- wiesen sind und nachahmenswerte Vorbilder benötigen. (Ostbomk – Fischer 2004) 50 bis 70 Prozent der Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, Posttraumatische leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie werden ver- Belastungs- mutlich achtmal häufiger selber misshandelt als Kinder in Familien ohne störungen Partnerschaftsgewalt, sie haben ein höheres Risiko im Laufe ihres Le- bens selber Täter oder Opfer zu werden (Kindler 2003, Heynen 2003). Häusliche Gewalt kann Auslöser oder Hintergrund für diverse psychi- sche und physische (psychosomatische) Beschwerden sowie Verhal- tensstörungen sein. Frauenhäuser und -schutzwohnungen nehmen ne- ben misshandelten Frauen auch deren Kinder auf (siehe Serviceteil). „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 17 3. Epidemiologische Aspekte Es ist unmöglich, einen zuverlässigen Überblick über die Häufigkeit von Gewaltanwendung gegenüber Minderjährigen in Deutschland zu gewin- nen. Die "Epidemiologie" ist in beeindruckender Weise unbekannt. Alle Experten sind sich darüber einig, dass neben den bekannt gewordenen Fällen von einer erheblichen Dunkelziffer insbesondere bei sexueller Gewalt - auszugehen ist. Völlig ungeklärt ist die Häufigkeit seelischer Misshandlungen. In der Lite- Die Epidemiologie ist in ratur werden eklatante Fälle (Freiheitsbeschränkung, Diffamierung, De- beeindruckender Weise mütigung der Kinder von z. T. sadistischem Ausmaß) beschrieben (z. B. unbekannt Strunk, Stutte, Garbarino). Insbesondere kinderpsychiatrische Erfahrun- gen sprechen dafür, dass die Problematik der seelischen Misshandlung von erheblicher Relevanz ist. Im westlichen Ausland (z. B. USA, Großbritannien, Niederlande) ist das Thema Misshandlung Minderjähriger in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik schon viel früher aus dem Schattendasein eines gesellschaftli- chen Tabuthemas herausgetreten. In den USA wird Kindesmisshand- lung heute als sozialpolitisches Problem erster Linie („National Emer- gency“) eingeschätzt (Krugmann). Anders als in den USA (Meldepflicht) gibt es in den Niederlanden seit Ausland reagierte 1972 ein freiwilliges Meldesystem (Koers, Pieterse). Seitdem hat die schon früher Zahl der gemeldeten Fälle von Kindesmisshandlung und sexueller Ge- walt ständig zugenommen. Die Erfahrungen aus den Niederlanden (so- wie inzwischen auch aus den Kinderschutzeinrichtungen in der Bundes- republik) zeigen, dass die Meldefrequenz stark durch die öffentliche Dis- kussion sowie Zusichern von Vertraulichkeit im Einzelfall beeinflusst wird. In zahlreichen Studien aus dem In- und Ausland wurde festgestellt, dass insbesondere bezüglich der Häufigkeit der schweren körperlichen Kin- desmisshandlung Familien aus den unteren sozioökonomischen Schich- ten in den jeweils betrachteten Untersuchungskollektiven überrepräsen- tiert waren (Gil, Mätz, Schwind). In der Dunkelfeldforschung (Straus 1980) werden ähnliche Beziehungen zwischen Berufsstand, Arbeitslo- sigkeit, Wohnverhältnissen, Kriminalität und Gewalt in der Familie deut- lich. Es muss dem Vorurteil entgegengetreten werden, Misshandlungen sei- Alle Bevölkerungs- en nur ein typisches Unterschichtenproblem. Insbesondere seelische schichten sind be- Misshandlung und sexuelle Gewalt kommen in allen Schichten in erheb- troffen lichen Umfang vor und auch „geordnete Familienverhältnisse“ und ein „ordentlicher Haushalt“ schließen schwere körperliche, seelische und sexuelle Misshandlung nicht aus. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 18 4. Risikofaktoren der Kindesmisshandlung Risikofaktoren der Kindes 4.1. Anamnestische Merkmale des betroffenen Kindes Der Gefährdung eines Kindes, misshandelt zu werden, können sowohl Anamnestische Merk- objektive Faktoren zugrunde liegen, als auch die subjektive Einstellung male des Kindes der Eltern oder Betreuer. Die im Folgenden aufgelisteten Faktoren sind nicht individuelle Ursachen, die obligatorisch zu Vernachlässigung und Kindesmisshandlung führen. Sie sind aber häufig charakteristische Merkmale, die in den betroffenen Familien zu beobachten sind und ge- zielt erfragt werden sollen: - unerwünschte Schwangerschaft ohne postnatale Veränderung der negativen Einstellung zum Kind, - geplanter Schwangerschaftsabbruch, der verworfen oder verwei- gert wurde, - kurz aufeinander folgende Schwangerschaften, - Risikoschwangerschaften, - Tod eines nahe stehenden Menschen in der Schwangerschaft, - Krisen während der Schwangerschaft, die im Erleben der Eltern (der Mutter) mit der Geburt des Kindes verbunden werden, - ungeklärte Vaterschaft bzw. Zweifel über die Vaterschaft, - Früh- oder Mangelgeburtlichkeit des Kindes, - neonatale Erkrankungen von Mutter und Kind, - tief greifende Enttäuschung über das Geschlecht oder angebore- ne Missbildungen bzw. Behinderungen des Kindes, - ungewöhnliches Verhalten des Neugeborenen wie Unruhezu- stände, außergewöhnliches Schreien, extrem unregelmäßiger Tages- und Nachtrhythmus, Apathie und Kontaktverweigerung, - Trennung von Mutter und Kind in den ersten drei Monaten nach der Geburt. 4.2. Anamnestische Merkmale der Eltern bzw. des Misshandlers Bei Gewaltphänomenen innerhalb der Familie werden sehr häufig Fakto- Anamnestische ren sichtbar, die eine adäquate Eltern-Kind-Beziehung nicht entstehen Merkmale des Miss- lassen: handlers - intrafamiliäre Gewalterfahrung in der Kindheit der Eltern, - die Erfahrung unangemessener oder unbeständiger elterlicher Sorge in der Kindheit der Eltern, - längere Perioden von Klinikaufenthalten und Heimunterbringung, - belastete Schulkarrieren ohne erreichten Schul- bzw. Ausbildungs- abschluss, - Fehlen fester sozialer Beziehungen in der Adoleszenz, - zu frühes Verlassen des Elternhauses, „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 19 - Häufung von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder häufiger Wech- sel der Arbeitsverhältnisse, - fehlende Freundschaftsbeziehungen bis hin zur sozialen Isolation, - ständig wechselnde Partnerschaftsbeziehungen, - stress- und/oder krankheitsbedingte Dekompensation mit krisenhaf- ten Zuständen, die zu Angst, Verzweiflung und aggressiven Hand- lungen führen, - physische und psychische Leistungsbeschränkung, noch ohne Krankheitswert, - Persönlichkeitsstörungen oder geistige Behinderung eines oder beider Elternteile, - Alkohol- oder Drogenmissbrauch, - Bejahung des elterlichen Züchtigungsrechtes. 4.3. Anamnestische Merkmale der Familie als Ganzes Familiensituationen sind u. a. abhängig von den Lebensbedingungen, Anamnestische dem sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen. Familien, in Merkmale der Familie denen Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden, weisen oft eine Reihe von Merkmalen auf: - instabile partnerschaftliche oder eheliche Verhältnisse mit häufigen Streitigkeiten und/oder gewalttätigen Auseinandersetzungen, - soziale Benachteiligung (z. B. niedriges Einkommen, beengte, schlecht ausgestattete Wohnverhältnisse mit ungünstigem Wohn- umfeld, häufige und langzeitige Arbeitslosigkeit), - drei und mehr Kinder, - soziale Isolation, - intrafamiliäre Ghettoisierung. Trotz dieser Aufzählung muss vor der Annahme gewarnt werden, dass körperliche und seelische Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt abhängig vom sozialen Status der Familie seien. Viele schwer einzuordnende Verhaltensauffälligkeiten und Krankheits- bilder - auch ohne äußere Verletzungszeichen - können Folgen von Ge- waltanwendung im körperlichen und seelischen Bereich von Kindern sein. Da aber Gewalt gegen Kinder nach wie vor zu den bestgehütetsten Geheimnissen gehört, gelingt es den Eltern aus Mittel- und höheren Schichten aufgrund ihrer günstigeren Bildungs- und Lebenssituation besser, die Folgen der innerfamiliären Gewaltanwendung zu vertuschen. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 20 5. Diagnostische Kriterien 5.1. Körperliche Misshandlungszeichen Entscheidend für die Diagnosestellung ist, dass der Arzt bei kindlichen Man muss an Verletzungen stets auch an die Möglichkeit einer Misshandlung denkt. Misshandlung denken! Das Verletzungsmuster, einschließlich so genannter „Bagatellverletzun- Aussage zur gen", ist unter funktionellen Gesichtspunkten sowie unter Berücksichti- Verletzungsentstehung gung der motorischen Entwicklung des Kindes zu analysieren. Angaben kritisch überprüfen der Eltern zu Verletzungsmechanismen (z.B. Sturz vom Wickeltisch, Auseinandersetzung mit anderen Kindern) sollten nicht kritiklos über- nommen werden. Diskrepanzen lenken den Verdacht auf eine mögliche Misshandlung. Zu bedenken ist, dass selbst ältere Kinder nicht selten eine unkorrekte Schilderung über die Verletzungsursachen geben, weil sie eingeschüchtert sind oder Angst vor weiteren Misshandlungen oder Folgen der Aufdeckung haben. 5.1.1. Äußere Verletzungen Die häufigste Verletzungsart bei Kindesmisshandlungen ist die Einwir- Einwirkung stumpfer kung stumpfer Gewalt (Schlagen mit der Hand, Faust oder einem Ge- Gewalt am häufigsten genstand, Zerren und Verdrehen von Körperteilen, Quetschmechanis- men wie Kneifen und Beißen, Treten). Es entstehen Abschürfungen, intrakutane und subkutane Hämatome sowie Riss-, Quetsch- und Platz- wunden. Thermische Einwirkungen sind nicht selten (Verbrennungen, Verbrühungen, brennende Zigaretten). Auch Einwirkungen scharfer Ge- walt (Stich- und Schnittverletzungen) werden beobachtet. Besonders folgende Kriterien sind zu beachten: Lokalisation, Formung, Gruppie- rung, Mehrzeitigkeit (Brinkmann). Lokalisation Misshandlungsbedingte Hämatome und Hautabschürfungen sind häufig an folgenden Körperteilen: Rücken, Hinterseite der Beine, Innenseiten Lokalisation an ge- schützten Körperteilen der Arme, Gesäß, Anal- und Genitalregion, Bauch, Hals, Mund, Augen und Ohren. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 21 Prädilektionsstellen für Misshandlungen durch stumpfe Gewalteinwir- kung sind der Kopf und das Gesäß. Zur differentialdiagnostischen Be- wertung der Gesichts- und Kopfverletzungen sind zwei Lokalisationsty- pen zu unterscheiden: - sturztypische Lokalisation an prominenten Gesichtsteilen (Nase, Lokalisationstypen Stirn, Kinn), sowie bei älteren Kindern Verletzungen unterhalb der am Kopf so genannten Hutkrempenlinie. Jüngere Kinder können als Sturz- verletzungen durchaus auch höher liegende Wunden und Hämato- me in der Scheitelgegend aufweisen, wobei allerdings doppelseitige und mehrfache Verletzungen meist gegen die Entstehung durch Sturz sprechen; - misshandlungstypische Lokalisation an geschützt liegenden und seitlichen Gesichtspartien wie Augen und Wangen. Insbesondere ist die Entstehung durch Sturz unwahrscheinlich, wenn beide Seiten der "Halbkugel" des Gesichts verletzt sind. Besonders zu beachten sind Abwehrverletzungen an den Streckseiten der Unterarme sowie symmetrische Griffmarken an den Armen, am Brustkorb und der Umgebung des Mundes (insbesondere bei Kleinkin- dern). Sturz- bzw. Anstoßverletzungen liegen demgegenüber bevorzugt über Handflächen, Ellenbogen, Knie und Schienbeinen. Formung Je nach Beschaffenheit des verwendeten Schlagwerkzeuges kann die Differentialdiagnose Formung von Verletzungen mannigfaltig aber z. T. spezifisch sein: dia- Abwehrverletzungen, gnostisch von herausragender Bedeutung sind doppelstriemenförmige Griffmarken, Sturz- Hautunterblutungen bei stockähnlichen schmalen Werkzeugen, Gürteln, und Anstoßverletzun- gelegentlich auch bei Einwirkung der Finger. Je kantiger, kleinflächiger, gen geformter das Werkzeug ist und je stärker und schneller die Einwirkung, desto eher entstehen geformte Hämatome oder auch Platzwunden, die die Geometrie des Schlagwerkzeuges wiedergeben (Kochlöffel, Gürtel- schnallen, Schuhsohlen und ähnliches). Menschliche Bisse können ova- le oder halbmondförmige, individuelle Zahnabdrücke hinterlassen. Ungewöhnlich geformte Narben (z. B. Rundnarben nach Zigaretten- Hinweise auf Gegen- verbrennungen) oder große Narben, die offensichtlich nicht medizinisch stände versorgt wurden, sind grundsätzlich verdächtig. Gruppierung Bei einer Einzelverletzung kann der objektive Nachweis einer Misshand- lung Schwierigkeiten bereiten. Gruppierte Verletzungen sind typischer. Sie sind gekennzeichnet durch die Zusammenordnung von mehreren, unter Umständen einer Vielzahl von unterschiedlich geformten und gro- ßen Einzelverletzungen. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 22 Mehrzeitigkeit Die Kindesmisshandlung ist ein typisches Wiederholungsdelikt (Stich- Wiederholungs- wort: "chronische Krankheit"). Deshalb ist das Nebeneinander frischer, delikt älterer und ganz alter Verletzungen (Narben) ein wichtiges diagnosti- sches Kriterium. Manchmal ergibt sich der Hinweis auf eine mehrzeitige Misshandlung erst durch wiederholte Untersuchungen eines einmal misshandelten Kindes und bei sorgfältiger Erhebung der Anamnese. 5.1.2. Innere Verletzungen Ohne äußerlich erkennbare Verletzungen bleibt das so genannte Schüt- Schütteltrauma und teltrauma der Säuglinge: infolge von Brückenvenen-Abrissen kann es subdurales Hämatom hier zu subduralen Hämatomen mit Hirnschädigung bzw. sogar mit leta- lem Ausgang kommen. Bei Verdacht auf ein Schütteltrauma sollten bild- gebende Schädeluntersuchungen (Sonographie, CT, MRT) sowie eine Fundoskopie durchgeführt werden. Ebenfalls ohne äußerlich erkennbare Verletzungen kann das stumpfe Bauchtrauma bleiben. Im Widerspruch dazu können jedoch massive Rupturen innerer Organe bis hin zu Todes- Stumpfes Bauchtrauma fällen resultieren. Wegen der hohen Elastizität der kindlichen Thorax- wand gilt dieses auch für die Brustorgane. Bedingt durch Unzulänglichkeiten im System der Leichenschau und der Dunkelziffer tödlicher Todesursachenfeststellung ist mit einer Dunkelziffer bei tödlichen Miss- Misshandlungen handlungen zu rechnen. Es sollte deshalb bei unklaren Todesursachen die Obduktion angestrebt werden. 5.1.3. Frakturen Bei Verdacht auf Misshandlung sollte stets ein Röntgenstatus des ge- samten Skelettsystems erwogen werden. Kennzeichnend sind: multiple, Röntgenstatus verschieden alte Frakturen an sonst unauffälligen Knochen, differente Stadien der Periostreaktion mit Manschettenbildungen an den langen Röhrenknochen, metaphysäre Infraktionen und Kantenabbrüche, Epiphysenlösungen und deren Folgen, eventuell mehrere Bruchzentren bei Schädelfrakturen. Schläge, Stöße, Verdrehungen kindlicher Glied- Cave: Frakturen im maßen müssen nicht immer zu Knochenbrüchen führen. Statt dessen 1. Lebensjahr kommt es zu Blutungen unter der Knochenhaut und späteren subperi- ostalen Verkalkungen. Typisch ist dabei das komplikationslose Aushei- len von Knochenläsionen in der geschützten Krankenhaussituation. Frakturen bei Kindern unter einem Jahr sind ausnahmslos als hoch ver- dächtig anzusehen. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 23 5.1.4. Verborgene Verletzungen Hierzu gehören z. B. Narben nach Kopfplatzwunden im Behaarungsbe- reich, zirkumskripte Alopezien, Trommelfellblutungen, Retinablutungen, Inspektion des behaar- ten Kopfes und der retroaurikuläre Hämatome und Hautrisse (z. B. nach Zerren an den Oh- Schleimhäute! ren), Verletzungen in der Mundschleimhaut sowie (besonders wichtig!) punktförmige Blutungen an den Augenlidern und in den Augenbindehäu- ten (nach Würge- und Strangulationsmechanismen). Strangulationsmar- ken bzw. Würgemale dagegen können bei Kindern auch fehlen (große Hand am kleinen Kinderhals, Wehrlosigkeit des Opfers). 5.1.5. Weitere Verletzungen Auch bei Verbrennungs- und Verbrühungszeichen muss der Verdacht Verbrennungen und einer Misshandlung in der Differentialdiagnose berücksichtigt werden; Verbrühungen die Häufigkeitsangaben schwanken zwischen 3 Prozent und 25 Prozent bei körperlicher Misshandlung. Bei der körperlichen Untersuchung sollte z. B. daran gedacht werden, dass sich ein Kind kaum durch Unfall das Gesäß verbrühen kann, ohne dass die Füße beteiligt sind. Rundliche, pfennigstückgroße Verletzungen können Abdrücke brennender Zigaret- ten sein. Symmetrische, ufoscharf begrenzte Verbrühungen sind grund- sätzlich verdächtig. Seltenere Verletzungsarten sind lokale Erfrierungen oder generelle Un- seltene terkühlung mit Frostflecken, Stromverletzungen mit Strommarken, Ver- Verletzungsarten giftungen mit eventuellen Veränderungen der Haut und Schleimhäute, Schnitt-, Stich- und Schussverletzungen sowie Säure- und Laugenverät- zungen. Grundsätzlich muss jede Verbrennung oder Verätzung mit kla- ren Begrenzungen und mit gleichmäßiger Tiefe über ein großes Körper- gebiet als verdächtig angesehen werden. Unter "Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom" versteht man kindliche “Münchhausen- Krankheitssymptome, welche von den Eltern vorgetäuscht (z. B. Blut- Stellvertreter-Syndrom” beimischung zu einer Urinprobe) oder induziert werden (z. B. durch Diu- retika induzierte Enuresis). Die betroffenen Kinder werden oftmals lang- wierigen Krankenhausaufenthalten mit zum Teil schwerwiegenden Un- tersuchungen und Behandlungen unterzogen. 5.2. Zeichen der Vernachlässigung Symptome der Vernachlässigung sind z. T. weniger eindeutig. Die Diag- nose "nicht organische Gedeihstörung" kann nur nach Ausschluss so- matischer Ursachen gestellt werden. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 24 Der Verdacht auf Misshandlung infolge von Vernachlässigung muss bei Hinweise auf Vernach- Vorliegen folgender Symptome aufkommen: lässigung - verwahrlostes Äußeres, Parasitenbefall; - Hautaffektionen: Eiterungen, „Wundsein", unbehandelte Dermatitis im Ano-Genitalbereich; - psychosozialer Minderwuchs; - Zeichen der Unterernährung, der Fehlernährung und des Flüssig- keitsmangels: Abmagerung, Anämie, Vitamin- Mangelerscheinungen, Wachstumsverzögerungen und allgemeine körperliche und geistige Entwicklungsverzögerung, unersättlicher Appetit; - charakteristische Verhaltensweisen wie allgemeine Apathie, Katato- nie, sprachliche Entwicklungsstörung, soziale Inkompetenz (verzö- gerte Sozialisation), emotionale Verwahrlosung (Distanzlosigkeit, Unruhe, Konzentrationsstörungen, Angst vor Beziehungsangeboten, "everyone's friend"). 5.3. Sozial-emotionale Störungen Misshandelte Kleinkinder sind Fremden gegenüber weit über das nor- Ängstlichkeit, Über- male Maß hinaus und vor allem auch den Misshandlern (meist einem höflichkeit, mangelnde Elternteil) gegenüber ängstlich und ablehnend. Sie lassen sich nicht Emotion "drücken" (schmiegen sich z. B. auf dem Arm nicht an, sondern machen sich absichtlich steif). Ältere Kinder sind überhöflich bemüht, die Erwar- tungen von Ärzten und Eltern zu erfüllen, reagieren jedoch emotionslos, wenn sie von den Eltern getrennt werden. Typische Verhaltensauffälligkeiten Betroffener sind: Passivität, Schüch- Typische Verhaltens- ternheit, Freudlosigkeit, Misstrauen, Aggressivität gegenüber Gleichaltri- auffälligkeiten gen und Fremden, Kontaktarmut, fast berechnend wirkende Zuvorkom- menheit und Anpassungsbereitschaft (durch Angst diktiert), Unruhe, Erregbarkeit, Hyperaktivität, Enuresis, Ticks, Neigung zu Wutanfällen, Eigensinn, Ungehorsam, Überempfindlichkeit, Gehemmtheit, Apathie, Neigung zur Selbstbeschuldigung (Engfer), Pseudoreife (unkindliches Verhalten). In Einzelfällen sind misshandelte Kinder bei der Hospitalisie- rung extrem ängstlich, gehemmt und passiv. Sie lassen medizinische Maßnahmen widerstandslos über sich ergehen, weinen kaum, verharren z. T. bewegungslos (katatonisch), mustern ihre Umgebung mit erhöhter Wachsamkeit (Kempe). Bei dem Verdacht auf eine Misshandlung sollte man daher das Verhal- ten des misshandelten Kindes sehr genau beobachten und dokumentie- ren. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 25 5.4. Diagnostische Hinweise auf sexuelle Gewalt Sexuelle Gewalt ist häufiger als früher angenommen wurde. Jeder Hin- Sexuelle Gewalt sog. weis oder Verdacht, dass ein Kind sexuelle Gewalt erfahren hat, muss „sanfte Gewalt“ unbedingt ernst genommen werden. Im Unterschied zu anderer körperlicher Gewaltanwendung führt die se- xuelle Gewalt häufig nicht zu offensichtlichen körperlichen Hinweisen. Folgende körperliche Symptome können als verdächtig angesehen wer- Körperlicher Befund den: nicht lokalisierbare Schmerzen im Unterleib, Schmerzen beim Sit- bei sexueller Gewalt zen, Gehen oder Wasserlassen, Schwellungen, Rötungen, Juckreiz, Wundsein, ungeklärte Blutungen, Entzündungen oder Ausfluss im Geni- tal- und/oder Analbereich, wiederholte Harnweginfektionen, Fremdkör- per in Urethra, Vagina oder Rektum, frühkindliche Defloration, Genital- und Analverletzungen, Bissverletzungen. Weitere Anhaltspunkte können sein: Wiederauftreten von Bettnässen Psychosomatische und Einkoten, Kopf- und Bauchschmerzen sowie andere psychosomati- Symptome sche Symptome. Bei folgenden Verhaltensstörungen ist sexuelle Gewalt in die Differenti- aldiagnose einzubeziehen: Verhaltensstörungen Schlafstörungen, Essstörungen, Angst, sich auszuziehen und an sportli- chen Schulaktivitäten teilzunehmen, unangemessene genital-sexuelle Aktivität in der frühen Kindheit, sexual-provozierendes Verhalten; alters- unangemessenes Sexualwissen; sozialer Rückzug und unerklärte Schulschwierigkeiten in der Vorpubertät, Promiskuität, Prostitution, Dro- genkonsum, Depression, Selbstmutilation, Suizidversuch, Konversions- symptome und pseudoepileptische (sogenannte "hysterische") Anfälle im Adoleszentenalter (Olbing). „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
Diagnostische Kriterien 26 5.5. Kennzeichnendes Verhalten misshandelnder Personen Normalerweise werden Kinder nach einer schweren Verletzung sofort Verspätete medizini- einem Arzt vorgestellt. Bei körperlich misshandelten Kindern erfolgt die sche Vorstellung Vorstellung häufig erst verzögert, nach Stunden oder sogar Tagen - oft erst, wenn sich die gesundheitliche Situation verschlechtert hat oder als Notfall. Typischerweise werden dabei Erklärungen für das Zustandekommen der Unglaubhafte Verletzungen angegeben, die mit den Verletzungsspuren nicht überein- Unfallschilderungen stimmen. Derartige stereotype Angaben sind z. B.: Sturz von der Trep- pe, vom Arm oder Wickeltisch, Verletzungen durch andere Kinder, Selbstverletzungen von Säuglingen durch lebhafte Bewegung im Bett- chen. Bei wiederholten Verletzungen wird häufig ein anderer Arzt aufge- sucht, der die vorherige Krankengeschichte nicht kennt. Bei der stationären Einlieferung körperlich misshandelter Kinder verlas- sen die einliefernden Eltern charakteristischerweise auffällig rasch das Beziehung zum Kind Krankenhaus, z. B. noch bevor eine vom aufnehmenden Arzt verordnete beobachten Röntgenuntersuchung durchgeführt wurde. Unter Umständen verhindern die Eltern aber auch, dass das Kind allein mit den Betreuern bleibt. Be- suche während eines stationären Aufenthaltes sind in der Regel relativ selten und kurz. Bei den Besuchen weichen die Eltern Gesprächen mit den Ärzten bzw. dem Pflegepersonal oft aus. Bei der Vorstellung eines frisch verletzten Kindes durch offenbar betrun- kene oder unter Drogeneinfluss stehende Eltern muss besonders an die Möglichkeit der Misshandlung gedacht werden. „Gewalt gegen Kinder“ – Thüringer Leitfaden für Ärzte
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