ZUR UMSETZUNG DER ISTANBUL-KONVENTION IN BEZUG AUF GEFLÜCHTETE FRAUEN UND MÄDCHEN IN DEUTSCHLAND - Flüchtlingsrat ...

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ZUR UMSETZUNG DER ISTANBUL-KONVENTION IN BEZUG AUF GEFLÜCHTETE FRAUEN UND MÄDCHEN IN DEUTSCHLAND - Flüchtlingsrat ...
ZUR UMSETZUNG DER
ISTANBUL-KONVENTION
IN BEZUG AUF GEFLÜCHTETE
FRAUEN UND MÄDCHEN
IN DEUTSCHLAND
Schattenbericht für GREVIO

Herausgegeben von
PRO ASYL
Bayerischer Flüchtlingsrat
Flüchtlingsrat Brandenburg
Hessischer Flüchtlingsrat
Flüchtlingsrat Niedersachsen
Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt
Prof. Dr. Sabine Hess, Universität Göttingen
IMPRESSUM      2

Impressum:

Autorinnen: Johanna Elle, Andrea Kothen
Redaktion: Ivana Domazet, Simone Eiler, Anna Hartnagel
Laura Müller, Nicole Viusa
Wir bedanken uns für die Expertise bei:
Anke Achhammer, Helen Deffner, Michelle Kerndl-Özcan,
Prof. Dr. jur. Susanne Nothhafft, Lena Ronte, Benita
Suwelack, Meral Zeller
Titelfoto: © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Veröffentlicht im Juli 2021

Herausgeber:innen                                                Zu den Herausgeber:innen
Förderverein PRO ASYL e.V. –
                                                                 PRO ASYL ist die unabhängige Stimme für die Menschen-
Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
                                                                 rechte und den Schutz von Flüchtlingen deutschlandweit
Postfach 160624, 60069 Frankfurt am Main
                                                                 und in Europa. Der Verein realisiert Hilfs­maßnahmen für
Tel.: 069 - 24 23 14 - 0, Email: proasyl@proasyl.de
                                                                 Flüchtlinge, Einzelfall- und Rechtshilfe sowie Projekte,
www.proasyl.de
                                                                 Dokumentationen und Recherchen. Er organisiert politi-
Ansprechpartnerinnen: Andrea Kothen, Nicole Viusa
                                                                 sche Kampagnen, leistet Informations- und Öffentlichkeits-
Bayerischer Flüchtlingsrat e.V.                                  arbeit und ist mit nationalen und internationalen Hilfs-
Geschäftsstelle, Westendstr. 19 Rgb, 80339 München               und Menschenrechtorganisationen vernetzt. Die Arbeit der
Tel.: 089 - 76 22 34, Email: kontakt@fluechtlingsrat-bayern.de   Organisa­tion wird durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und
www.fluechtlingsrat-bayern.de                                    Stiftungszuwendungen finanziert.
Ansprechpartnerin: Simone Eiler
                                                                 Die Landesflüchtlingsräte sind vernetzt und Mitglieder
Flüchtlingsrat Brandenburg e.V.
                                                                 in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Rudolf-Breitscheid-Str. 164, 14482 Potsdam
                                                                 PRO ASYL. Sie sehen es als staatliche Auf­gabe an, Flücht­
Tel.: 0331 - 71 64 99
                                                                 lingen unter seriöser Beachtung ihrer Fluchtgründe und
Email: info@fluechtlingsrat-brandenburg.de
                                                                 humanitären Nöte, großzügige Aufnahme, effektiven
www.fluechtlingsrat-brandenburg.de
                                                                 Schutz, nachhaltige Integration und eine selbst bestimmte
Ansprechpartnerin: Lotta Schwedler
                                                                 Zukunftsperspektive einzuräumen.
Hessischer Flüchtlingsrat e.V.
Leipziger Straße 17, 60487 Frankfurt am Main                     Die Landesflüchtlingsräte sind gemeinnützige Vereine,
Tel.: 069 - 076 987 10, Email: hfr@fr-hessen.de                  die in ihren Bundes­ländern Beratung, Projektarbeit und
www.fr-hessen.de                                                 politische Arbeit leisten. Sie ver­stehen sich als unabhängi-
Ansprechpartnerin: Anna Hartnagel                                ge Vertretungen von in den Bundesländern engagierten
                                                                 Unterstützungsgruppen, Solidaritäts­initiativen und Flücht-
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
                                                                 lingsselbstorganisationen.
Röpkestraße 12, 30173 Hannover
Tel.: 0 511 - 98 24 60 30, Email: nds@nds-fluerat.org
                                                                 Im Forschungsprojekt der Georg-August Universität
www.nds-fluerat.org
                                                                 Göttingen unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Hess
Ansprechpartnerin: Laura Müller
                                                                 (Institut für Kultur­anthropologie/ Europäische Ethnologie)
Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.                               wurden als Teil des Forschungsverbundes »Gender,
Landsberger Straße 1, 06612 Halle (Saale)                        Flucht, Auf­nahmepolitiken. Prozesse vergeschlechtlichter
Tel.: 0345 - 44 50 25 21, Email: info@fluechtlingsrat-lsa.de     In- und Exklusionen in Niedersachsen« genderspezifische
www.fluechtlingsrat-lsa.de                                       Ankunfts- und Aufnahmepolitiken beforscht.
Ansprechpartnerin: Helen Deffner
                                                                 Die Forschung, welche die unsichere Situation von ge­
Universität Göttingen
                                                                 flüchteten Frauen sowie verschiedene (Unterstützungs‑)
Institut für Kultur­anthropologie/ Europäische Ethnologie
                                                                 Maßnahmen für geflüchtete Frauen seit 2017 untersucht
Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen
                                                                 hat, fließt maßgeblich in diesen Bericht ein.
Tel.: +49 551 39 253 55
www.gender-flucht.uni-osnabrueck.de/projekt/
forschungsverbund.html
Prof. Dr. Sabine Hess (Leitung)
Email: shess@uni-goettingen.de
Johanna Elle (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)
Email: jelle@gwdg.de
3

INHALT

         Zu den Herausgeber:innen                                            2

         EINLEITUNG:
         Bekämpfung und Prävention von Gewalt im Asyl- und
         Aufnahmeverfahren geflüchteter Frauen und Mädchen                   5

         1. UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                                     8

           a) Sammelunterbringung als gesetzlich gewünschte
              Unterbringungsform                                              8
              Schutzräume / Extraeinrichtungen / alternative Einrichtungen   10
              Trennung und Wegweisung des Täters                             10
              Sammelunterbringung in Zeiten der Corona-Pandemie              11

           b) Gewaltschutzkonzepte und Mindeststandards
              in Ländern und Kommunen                                        13
              Gewaltvorfälle in der Praxis                                   14
              Heterogene Ländervorgaben                                      14
              Monitoring, Evaluation und Weiterentwicklung von Standards     15

         2. GESCHLECHTSSPEZIFISCHE AUFNAHME-
            UND ASYLVERFAHREN                                                18

           a) Identifizierung besonderer Schutzbedürftigkeit
              in der Erstaufnahme                                            19

           b) Staatliche Asylverfahrensberatung (AVB)                        21

            c) Gendersensible Anhörung                                       23
               Sonderbeauftragte und weibliche Anhörer:innen                 23
               Dolmetscher:innen                                             24
               Anwesenheit von Familienmitgliedern                           24
               Ansprechen von frauenspezifischer Gewalt in der Anhörung      25
               Glaubhaftigkeit und Nachweispflichten                         25

            d) Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe              27
               Ablehnungen                                                   27
               Verfolgung als soziale Gruppe                                 28
               Strukturelle Gewalt gegen Frauen als Privatsache              29
               Ausschlussgrund interne Fluchtalternative                     29
INHALT   4

3. GESUNDHEITLICHE VERSORGUNG                                            31

a) Das AsylbLG als einschränkendes Recht                                 32
   Eingeschränkte Leistungen nach dem AsylbLG                            32
   Heterogene Praxis                                                     33
   Krankenscheine und Gesundheitskarte                                   33
   Mangelnde Gesundheitsversorgung in der Erstaufnahme                   33

b) Versorgungsdefizite in Spezial- und Regelversorgung                   35
   Fehlende Kapazitäten in der psychologischen Versorgung                35
   Defizite in der medizinischen und psychologischen Regelversorgung     35

c) Sprachbarrieren in der Gesundheitsversorgung                          37
   Kostenübernahme für Sprachmittlung                                    37
   Dolmetscher:innenpools                                                37

d) Weitere Aspekte für die Gesundheit von geflüchteten Frauen            39

4. BERATUNG UND UNTERSTÜTZUNG                                            40

a) Zugangshindernisse zu Fach- und Regeldiensten                         41
   Mangelnde Kapazitäten bei den Fachdiensten                            41
   Finanzierung                                                          41
   Mehrsprachigkeit/Sprachmittlung                                       42
   Aufsuchende Angebote                                                  42
   Niederschwellige Erreichbarkeit                                       42
   Zugangsbarrieren in den sozialen Regeldiensten                        42
   Sozialarbeiterische Betreuung von Geflüchteten                        43

b) Spezifische rechtliche Hindernisse                                    44
   Zuweisungssystem                                                      44
   Wohnsitzauflage und Residenzpflicht                                   44
   Deutschkurs                                                           46
   Bildung und Arbeitsmarkt                                              46
   Sozialleistungen                                                      47

5. FRAUEN AUF DER FLUCHT UND AN EUROPAS GRENZEN                          48

Quellenverzeichnis                                                       50
EINLEITUNG         5

EINLEITUNG:
BEKÄMPFUNG UND PRÄVENTION VON
GEWALT IM ASYL- UND AUFNAHME­
VERFAHREN GEFLÜCHTETER FRAUEN
UND MÄDCHEN
2017 wurde in Deutschland die Konvention des Europarats                         Der vorliegende Bericht geht der Frage nach, inwieweit die
zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen                            zentrale Verpflichtung der Istanbul-Konvention, der Schutz
und häuslicher Gewalt – im Weiteren: Istanbul-Konvention                        von Frauen 1 und Mädchen vor Gewalt und ihre Bekämp-
(IK) – ratifiziert. Im Februar 2018 trat sie in Kraft und gilt seit-            fung, in Bezug auf geflüchtete Menschen in Deutschland
her im Rang eines Bundesgesetzes sowie als Internationales                      umgesetzt ist.
Recht, das eine völkerrechtskonforme Auslegung des natio-
nalen Rechts verlangt. »In dem Bestreben, ein Europa zu                         Im Jahr 2020 waren in Deutschland rund 42 % aller Asyl­
schaffen, das frei von Gewalt gegen Frauen und häuslicher                       antragsteller:innen weiblich. 2 Hauptherkunftsland ist mit
Gewalt ist«, wie es in der Präambel heißt, haben die Unter-                     großem Abstand Syrien, danach folgen Länder wie Irak,
zeichnerstaaten in Art. 1 folgenden Zweck festgelegt:                           Somalia, Eritrea, Afghanistan und andere. Dabei handelt
                                                                                es sich überwiegend um langjährige Kriegs- und Krisenge-
                                                                                biete. Frauenrechte im Allgemeinen sowie die körperliche
  Artikel 1 IK – Zweck des Überein­                                             und seelische Unversehrtheit von Frauen im Speziellen sind
  kommens                                                                       in einem solchen Umfeld besonders gefährdet. In vielen
                                                                                Bürgerkriegen gehören systematische Vergewaltigungen
  (1) Zweck dieses Übereinkommens ist es
                                                                                von Frauen und Mädchen zur Kriegsstrategie. Physische,
  a Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen                              sexualisierte wie auch psychische und strukturelle Gewalt
    und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu                             gegen Frauen und Mädchen ist dort vielfach alltägliche
    verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen;                                   Praxis. Eine Vielzahl von Frauen flieht aufgrund von indivi-
                                                                                dueller geschlechtsspezifischer Verfolgung. Dazu gehören
  b einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von
                                                                                etwa Zwangsverheiratungen, Femizide, Genitalbeschnei-
    Diskriminierung der Frau zu leisten und eine echte
                                                                                dung / »Female Genital Mutilation/Cutting« (FGM/C), häus­
    Gleichstellung von Frauen und Männern, auch durch
                                                                                liche Gewalt, Zwangsprostitution und Frauenhandel.
    die Stärkung der Rechte der Frauen, zu fördern;
  c einen umfassenden Rahmen sowie umfassende                                   Die Situation geflüchteter Frauen und Mädchen muss aber
    politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz                                nicht nur aufgrund der bereits im Herkunftsland erlittenen
    und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt ge-                            Gewalt besondere Beachtung finden. Ihre Lebenswirklich-
    gen Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen;                              keit ist an vielen Stationen ihres Lebens, in vielerlei Hin-
                                                                                sicht und von verschiedenen Täter:innen früher und aktuell
                                                                                von Gewaltverhältnissen geprägt. Wissenschaftler:innen
                                                                                sprechen in diesem Zusammenhang von einem Gewalt­
                                                                                kontinuum. 3 Dies betrifft die Situation im Herkunftsland
                                                                                oft nicht weniger als den monate- oder jahrelangen Flucht-
                                                                                weg. Und es endet nicht mit der Ankunft in Deutschland.

 1 Frauen und Mädchen inklusive Menschen, die als solche gelesen werden,         2 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 2021. Aktuelle Zahlen. Ausgabe
   sind unverhältnismäßig stark von geschlechtsspezifischer Gewalt und häus-       Dezember 2020.
   licher Gewalt betroffen, so führen es auch die Staaten in der Präambel der    3 Vgl. Krause, Ulrike. 2018. Gewalterfahrungen von Geflüchteten. In: State-of-
   Istanbul-Konvention aus. Auch Transpersonen und Menschen, die sich nicht        Research Papier 03, Verbundprojekt ›Flucht: Forschung und Transfer‹, Os-
   im binären Geschlechtersystem wiederfinden, sind von geschlechtsspezi-          nabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS)
   fischer Gewalt und Diskriminierung betroffen. In diesem Bericht wird die        der Universität Osnabrück / Bonn: Internationales Konversionszentrum
   Schreibweise mit einem Doppelpunkt in der Wortmitte verwendet, die das          Bonn (BICC), Juni 2018. https://flucht-forschung-transfer.de/wp-content/up-
   binäre System symbolisch aufzubrechen versucht und alle Betroffenen mit-        loads/2017/05/State-of-Research-03-Gewalterfahrungen-von-Flüchtlingen-
   einschließt. Gleichzeitig wird weitestgehend von Frauen gesprochen, um zu       Ulrike-Krause-1.pdf [Zugriff am 2.6.2021]
   zeigen, dass Gewalt gegen Frauen als solche benannt werden muss.
EINLEITUNG     6

Geflüchtete Frauen und Mädchen sind oft Gewalt ausge-            Schließlich sind es, bei allen positiven Bestrebungen, die
setzt und haben schwierigeren Zugang zu Unterstützung            rechtlichen, institutionellen und strukturellen Bedingun-
bei Gewaltvorfällen. Sie sind eine Gruppe, die besonderer        gen des Umgangs mit geflüchteten Menschen, unter denen
Aufmerksamkeit bedarf, wenn es um den Schutz von Frau-           die Möglichkeiten des Gewaltschutzes von vornherein be-
en vor Gewalt geht.                                              schränkt sind, und die sogar von Gewalt geprägt sind oder
                                                                 Gewalt befördern. Dies beginnt beim Versuch, Zugang zum
Die Istanbul-Konvention unterstreicht diese Tatsache inso-       Asylverfahren in Europa zu erhalten. Als traumatische Ge-
fern, als sie in den Artikeln 59 bis 61 spezifische Regelungen   walterfahrung für Frauen können sich etwa die Durchfüh-
im Bereich Asyl und Migration trifft. In Artikel 4 Absatz 3      rung von rechtswidrigen Push-Backs an den Grenzen Euro-
werden die Staaten verpflichtet, die Rechte der Konvention       pas und die zwangsweise Verbringung in libysche Haftlager
diskriminierungsfrei für alle Frauen und Mädchen zu ge-          gestalten oder das Festhalten von Schwangeren und Frau-
währleisten – ausdrücklich unabhängig davon, welchen             en mit Babys in überfüllten Zeltlagern am Rande Europas.
asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Status die Betroffenen         Die europäische Flüchtlingspolitik steht häufig zumindest
innehaben:                                                       mittelbar in der Einflusssphäre der deutschen Bundesregie-
                                                                 rung.

  Artikel 4 Abs.3 IK                                             Die von staatlicher Gewalt geprägten Verhältnisse enden
                                                                 für geflüchtete Frauen und Mädchen nicht mit der Ankunft
  (3) Die Durchführung dieses Übereinkommens durch               in Deutschland: Auch die vergleichsweisen besseren Bedin-
      die Vertragsparteien, insbesondere von Maßnah-             gungen innerhalb Deutschlands, vor allem die Unterbrin-
      men zum Schutz der Rechte der Opfer, ist ohne Dis-         gung in Sammellagern, setzen und befördern gewaltvolle
      kriminierung insbesondere wegen des biologischen           Verhältnisse, innerhalb derer auch gute und engagierte
      oder sozialen Geschlechts, der Rasse, der Haut­farbe,      Maßnahmen des Gewaltschutzes, wie etwa Notfallpläne
      der Sprache, der Religion, der politischen oder            für Sammelunterkünfte, notgedrungen beschränkt bleiben
      sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen         müssen. Wir gehen daher im Folgenden immer wieder auf
      Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen            die in Deutschland staatlich verantworteten Bedingungen
      Minderheit, des Vermögens, der Geburt, der sexuel-         und Regeln der Flüchtlingsaufnahme grundsätzlich ein,
      len Ausrichtung, der Geschlechtsidentität, des             die Frauen und Mädchen in spezifischer Weise und häufig
      Alters, des Gesundheitszustands, einer Behinde-            mit dramatischeren Folgen, in ihren Rechten und Möglich-
      rung, des Familienstands, des Migranten- oder              keiten beeinflussen.
      Flüchtlingsstatus oder des sonstigen Status sicher-
      zustellen.                                                 Dabei konzentrieren wir uns auf einige zentrale Bereiche,
                                                                 in denen Frauen als (potenziell) Betroffene von Gewalt
                                                                 Unterstützung brauchen und in denen geschlechtsspezifi-
Die Bundesrepublik Deutschland hat im August 2020                sche Gewalt verhindert und bekämpft werden muss:
ihren ersten Bericht zur Umsetzung der Konvention veröf-         Unterbringung und Gewaltschutz (Kap.1), geschlechter-
fentlicht: GREVIO. Erster Staatenbericht der Bundesrepublik      sensible Asyl- und Aufnahmeverfahren (Kap.2), Gesund-
Deutschland 2020 (im Weiteren: Staatenbericht). Dazu lässt       heitliche Versorgung (Kap.3) sowie Beratung und Unter-
sich zunächst konzedieren, dass es – wie dort dargestellt –      stützung (Kap. 4). Abschließend nimmt ein kurzes Kapitel
viele ambitionierte Initiativen, Konzepte und Standards          die europäische Dimension in den Blick, die wir im Rah-
gibt. Innerhalb Deutschlands werden Gewaltschutzmaß-             men dieser Arbeit allerdings nur anreißen können. Aus den
nahmen auf Regierungsebene insbesondere durch das                Erkenntnissen der Kapitel werden ableitend Empfehlun-
Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) und vor allem zivilge-        gen formuliert und am Ende des Textes noch einmal zu-
sellschaftlich durch zahlreiche engagierte Nichtregierungs-      sammengefasst.
organisationen und Akteur:innen vor Ort vorangetrieben.
Es gibt hier positive Entwicklungen, die zeigen, dass das        Die Verfasserinnen dieses Berichts sind Expertinnen von
Thema Gewaltschutz und Vulnerabilität stärker in den             Flüchtlingsräten aus den Bundesländern Bayern, Branden-
Fokus gerät, dass personell und finanziell aufgestockt wur-      burg, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, von
de. Da sich die Umsetzung der IK »an einen Vertragsstaat         der bundesweit tätigen Organisation PRO ASYL und dem
in all seinen Teilen« (Bund, Länder, Kommunen) richtet,          Forschungsprojekt »Gender, Flucht, Aufnahmepolitiken«
gestaltet sich die Umsetzung allerdings komplex, unüber-         der Universität Göttingen.
sichtlich und auch an wichtigen Stellen lückenhaft. De
facto entstehen im Zuständigkeitsgeflecht Leerstellen und        Grundlage dieses Berichts sind die vielfältigen und praxis-
Qualitätsunterschiede und nicht alle Projektmaßnahmen            nahen Erfahrungen und Perspektiven von Institutionen
wurden verstetigt, so dass am Ende viele Frauen und Mäd-         aus der Arbeit mit Geflüchteten, der psychosozialen Arbeit
chen von den vorhandenen guten Ideen und Initiativen             und der frauenpolitischen Arbeit. Die angeführten Zitate
erst spät oder gar nicht profitieren können.                     entstammen einer 2020 von den Flüchtlingsräten durch­
                                                                 geführten, bundesweit angelegten Abfrage bei Unterstüt-
EINLEITUNG         7

zungs- und Informationsstrukturen für geflüchtete Frauen,                     zugnahme darauf und ggf. auch auf bestehende Unter-
wie Frauenberatungsstellen, Psychosozialen Beratungs­                         schiede hätte den Rahmen dieser Arbeit überfordert. Auch
stellen und Institutionen der Geflüchtetenarbeit mit insge-                   die intensivere Auseinandersetzung mit speziellen Flucht-
samt 65 Antwortbögen aus 16 Bundesländern. Es handelt                         gründen und Umständen wie Femizide, Zwangsverheira-
sich um eine qualitativ konzipierte und ausgewertete Um-                      tung, weibliche Genitalbeschneidung, Menschenhandel
frage, mit der Einblicke in die Praxis ermöglicht und die vor-                etc. musste unterbleiben, ebenso wie die explizite Ausein-
handenen grundlegenden Einschätzungen überprüft                               andersetzung mit rassistischer Diskriminierung und Gewalt
werden, aber keine validen quantitativen Aussagen zu be-                      sowie die Situation illegalisierter Frauen und Mädchen.
stimmten Umständen getroffen werden können. Im Haupt-                         Wir verweisen an dieser Stelle ausdrücklich auf den Parallel-
teil werden Aussagen mit direkten Zitaten aus der Befra-                      bericht von LebKom, Lessan, Terre des Femmes und End-
gung illustriert, diese sind kursiv markiert. Forderungen und                 FGM zu weiblicher Genitalbeschneidung (FGM/C) 4, den
Empfehlungen, die sich aus dem Text ergeben, sind einge-                      Bericht des Bündnis Istanbul-Konvention 5 und den Schat-
rückt und mit einem Pfeil > versehen.                                         tenbericht von DaMigra, deren Einschätzungen wir weitest-
                                                                              gehend teilen. Dies gilt insbesondere für den Appell zur
Bezogen auf den gesamten Bereich der Migrations- und                          Rücknahme der deutschen Vorbehalte gegen Artikel 59
Asylpolitik stellt dieser Bericht weder eine vollständige                     Abs.2 und 3. 6
noch abschließende Bestandsaufnahme der deutschen
Umsetzung der Istanbul-Konvention dar. Weitgehend                             Wir danken GREVIO für die Gelegenheit, dass wir als
ausgeklammert bleibt etwa die spezifische Situation von                       NGO unsere Expertise und Empfehlungen vorbringen
LSBTI*-Menschen, die von der Istanbul-Konvention fraglos                      können, damit auch geflüchtete Frauen und Mädchen
erfasst sind. Ihre Ansprüche und Bedarfe dürften sich in                      in Deutschland entsprechend der Istanbul-Konvention
Vielem der hier beschriebenen decken. Eine explizite Be-                      vor Gewalt geschützt werden.

 4 LebKom / Terre des Femmes / Lessan / End FGM. 2020. Gemeinsamer             6 Die dort angesprochenen Problematiken betreffen zwar auch geflüchtete
   Schattenbericht Deutschland. Deutsche Fassung: https://www.frauenrechte.      Frauen, etwa wenn sie vom Aufenthaltsrecht ihres gewalttätigen Partners
   de/images/downloads/fgm/2020/TDF_LebKom_Lessan_End_FGM_EU_GRE-                abhängig sind. Da sie in dieser Situation aber wenig von der Situation ande-
   VIO_Schattenbericht_-_Deutschland.pdf                                         rer Migrantinnen unterscheidet, bleiben derartige Probleme in diesem Be-
 5 Bündnis Istanbul-Konvention. 2021. Alternativbericht zur Umsetzung des        richt ausgeklammert.
   Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von
   Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. https://www.buendnis-istan-
   bul-konvention.de/alternativbericht-buendnis-istanbul-konvention-2021/
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ            8

1. UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ

Mit der Istanbul-Konvention verpflichtet sich die Bundes­                  diese eingehalten und wird ihre Einhaltung überprüft?
republik Deutschland, auf allen staatlichen Ebenen alles                   Der Handlungsrahmen soll dabei nicht aus den Augen
dafür zu tun, dass Gewalt gegen Frauen bekämpft, Betrof­                   verloren werden: Dass geflüchtete Frauen – die vielfach
fenen Schutz und Unterstützung geboten und Gewalt ver-                     schweren Menschenrechtsverletzungen erlebt, Folter,
hindert wird. Unter diesem Aspekt stehen auch Flüchtlings-                 Krieg und Verfolgung überlebt oder sexualisierte Gewalt
unterkünfte, die seit 2015 in großer Zahl neu entstanden                   erfahren haben – überhaupt verpflichtet sind, in Sammel-
sind, im Blickpunkt. Das Bundesministerium für Familie,                    unterkünften zu leben, ist keine Naturnotwendigkeit, son-
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat sich im Rahmen                    dern eine politische Entscheidung. Wären Geflüchtete statt-
der »Initiative zum Schutz von geflüchteten Menschen in                    dessen in Wohnungen untergebracht, würden sich viele
Flüchtlingsunterkünften« in Zusammenarbeit mit der Zivil­                  Fragen für ihren Gewaltschutz innerhalb der Unterkünfte
gesellschaft das Thema Gewaltschutz in den Unterkünften                    überhaupt nicht stellen. Einige Gewaltvorfälle würden gar
auf die Fahne geschrieben, Mindeststandards entwickelt und                 nicht erst eintreten. Nur aufgrund der Existenz von Sam-
zahlreiche Pilotprojekte im Bereich Gewaltschutz ange-                     melunterkünften muss man sich die Frage stellen, ob ein
schoben und unterstützt. 7                                                 umfassender Schutz vor allen Formen von Gewalt in dieser
                                                                           Struktur überhaupt gewährleistet werden kann und welche
Dass das Thema Gewaltschutz und Vulnerabilität im Zu-                      Auswirkungen die Bedingungen dort zudem auf die psychi-
sammenhang mit geflüchteten Frauen politisch in den                        sche Gesundheit von Menschen haben, die Gewalterfah-
Fokus genommen wird, personelle und finanzielle Ressour-                   rungen mitbringen und diese Erfahrungen noch nicht ver-
cen für einen aktiven Gewaltschutz aktiviert werden, ist zu                arbeiten konnten.
begrüßen. Die Erfolge und die Praxis des Gewaltschutzes
in Unterkünften für Geflüchtete sind gleichwohl kritisch                   Bevor wir uns mit der Praxis von Gewaltschutz in Sammel-
zu beleuchten. Wir gehen im Wesentlichen den folgenden                     unterkünften auseinandersetzen, werden wir zunächst dar-
Fragen nach: Wie gestalten sich die gesetzlichen und                       legen, dass die Sammelunterbringung für einen effektiven
administrativen Vorgaben, um Frauen und Mädchen in                         Gewaltschutz geflüchteter Frauen nicht nur eine Hürde
Sammelunterkünften vor Gewalt zu schützen? Gibt es                         darstellt, sondern sogar das Gegenteil bewirkt, nämlich
besondere Schutzräume für geflüchtete Frauen? Gibt es                      gewaltfördernd ist.
Mindeststandards, normierte Konzepte, Regeln? Werden

a) SAMMELUNTERBRINGUNG ALS GESETZLICH GEWÜNSCHTE
   UNTERBRINGUNGSFORM

Geflüchtete Frauen müssen sich, wie alle Asylsuchenden,                    betrifft Menschen mit »offensichtlich unbegründet« ab­
zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen, auch Anker-/                        gelehnten Asylanträgen, solche aus den so genannten
Ankunftszentren genannt, begeben. Dort werden sie                          »sicheren Herkunftsstaaten« oder Menschen im Dublin-Zu-
durch Personal der Länder erkennungsdienstlich behan-                      weisungsverfahren. Als »sichere« Herkunftsländer gelten
delt, m
      ­ edizinisch erstversorgt, untersucht und verpflich-                 derzeit Senegal, Ghana, Albanien, Bosnien und Herzegowi-
tend vor Ort untergebracht. Sie leben dort auf einem                       na, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien sowie Serbien.
Gelände zusammen mit mehreren Hundert bis mehr als                         Frauen aus diesen Staaten sind von einer Dauerunterbrin-
tausend Menschen.                                                          gung in der Erstaufnahme stärker betroffen, aber auch
                                                                           solche Frauen, deren Gewalterfahrungen im Asylverfahren
Die Pflicht von Asylsuchenden, in den zentralisierten                      nicht (ausreichend) thematisiert werden konnten oder
Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, wurde 2015 zu-                        nicht geglaubt wurden (siehe dazu ausführlich Kapitel 2).
nächst von maximal drei auf sechs Monate, 2019 auf bis zu                  Lediglich Familien mit minderjährigen Kindern sollen nach
18 Monate im Regelfall verlängert. Dieser Zeitraum kann                    spätestens sechs Monaten von der Kommune unterge-
noch einmal auf bis zu 24 Monate gestreckt und soll für be-                bracht werden. Für alleinstehende Frauen bzw. Frauen
stimmte Gruppen sogar ganz entfristet werden. Letzteres                    ohne Kinder gilt dies aber nicht.

 7 Die Web-Adresse der Bundesinitiative: https://www.gewaltschutz-gu.de/
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                        9

Diese Unterbringung in großen Erstaufnahmeeinrichtun-                             zu sein; das enge Zusammenleben bzw. Teilen von Gemein-
gen ist stark reglementiert: Sie ist verbunden mit einem                          schaftsräumen mit ihnen fremden Männern; das Fehlen
mindestens neunmonatigen Arbeitsverbot, Zugang zu                                 sicherer Rückzugsorte, weil Zimmer nicht abschließbar sind
Bildung und Deutschkursen besteht für viele Frauen nicht                          oder das Personal diese Grenze nicht respektiert; die feh-
(siehe dazu Kapitel 4b). Die Möglichkeit der Selbstversor-                        lende Ruhe; schlechte hygienische Bedingungen; offen
gung mit Lebensmitteln ist stark eingeschränkt, selbst zu                         zugängliche Sanitärräume, die potenziell Übergriffe ermög-
kochen zumeist nicht erlaubt. Die entmündigenden Bedin-                           lichen; und Vieles mehr.
gungen und das verordnete Nichtstun in der Erstaufnahme
stellen von Gewalt betroffene Frauen, die vor dem Hinter-                         Manches davon lässt sich mit Geld und Engagement zwei-
grund ihrer Erfahrungen um die Wiedergewinnung von                                fellos verbessern – ein Auszug aus der Sammelunterkunft
Selbstbestimmung und Normalität kämpfen, vor besonde-                             in eine eigene Wohnung würde nahezu alle beschriebenen
re Herausforderungen.                                                             Probleme auf einen Schlag beheben. Solange noch kein
                                                                                  Aufenthaltsrecht besteht, erlaubt aber die zuständige Aus-
In einem offenen Brief schildert eine asylsuchende Frau aus                       länderbehörde häufig keinen Auszug. Wenn doch, ist die
einem bayerischen ANKER-Zentrum ihr Lebensgefühl:                                 Wohnungssuche für eine geflüchtete Frau ausgesprochen
                                                                                  schwierig. Gründe dafür sind ein Mangel an günstigem
   »Die Unterbringung in unserem Zentrum ist ein Horror,                          Wohnraum und Diskriminierung auf dem Wohnungs-
   denn wir leben mit fünf Frauen pro Zimmer, ohne jegliche                       markt. 10
   Privatsphäre, mit einer sehr prekären sanitären Situation,
   zumal sich einige Frauen während ihrer Aufenthalte in                          Dass Sammelunterbringungen strukturell gewaltfördernd
   Libyen oder Marokko als sexuelle Sklavinnen mit übertrag­                      sind, führt selbst das Bundesministerium für Familie, Senio-
   baren Krankheiten angesteckt haben. … Die Lebensbedin­                         ren, Frauen und Jugend (BMFSJF) in ihrem Mindeststan-
   gungen hier sind unmenschlich, zu viel Stress verbunden                        dardkonzept für Unterkünfte aus: »Flüchtlingsunterkünfte
   mit der Schwierigkeit für uns, in diesem ›Gefängnis‹ zu                        sind für viele asylsuchende Menschen, die nach Deutschland
   leben, fast zwei Jahre lang, ohne etwas zu tun, ohne zu                        kommen, der zentrale Lebensmittelpunkt. Trotz enormer An­
   arbeiten, ohne die Möglichkeit zu studieren oder andere                        strengungen von Politik, Behörden und Zivilgesellschaft wer­
   Aktivitäten auszuüben.« 8                                                      den die Bedarfe und Rechte von geflüchteten Menschen in
                                                                                  den Unterkünften noch nicht ausreichend beachtet. Oft leben
Auch nach Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung leben                             die Geflüchteten über sehr lange Zeiträume in einem wenig
viele geflüchtete Frauen weiterhin in sogenannten »Ge-                            menschenwürdigen, nicht familien- und kindgerechten Um­
meinschaftsunterkünften«, was vom Gesetzgeber so ge-                              feld, in dem sie nicht immer vor Gewalt, Missbrauch und Aus­
wollt ist (§ 53 AsylG). Dort erhalten die Frauen in der Regel                     beutung geschützt sind und in dem ihre gesellschaftliche Teil­
keine Fremdversorgung mit Essen mehr und unterliegen                              habe sowie ihre Entwicklungs- und Integrationsmöglichkeiten
auch nicht zwingend einem Arbeitsverbot. Sie erhalten                             erheblich eingeschränkt oder gar nicht vorhanden sind.“ 11
allerdings auch keine systematische Unterstützung bei
Deutschlernen, Ausbildung oder Arbeitssuche. Der Aufent-                          Auch das Institut für Menschenrechte schreibt: »Untätig-
halt in kommunalen Unterkünften geht mit im Vergleich                             keit und Isolation führen zu einer angespannten Situation.
zu den Sozialhilfesätzen (SGB II, XII) deutlich reduzierten                       Frauen und Mädchen haben in den Unterkünften wenig
Sozialleistungen einher. Nicht selten befinden sich die                           Schutz- oder Rückzugsräume. Frauenspezifische soziale Netz­
Unterkünfte in Gegenden weitgehend ohne Infrastruktur.                            werke haben sie häufig durch die Flucht verloren. Familien­
Die Lebensbedingungen in den Unterkünften werden von                              zusammen­hänge und Partnerschaften sind in diesem Kontext
NGOs und Wissenschaft seit vielen Jahren massiv kritisiert. 9                     stark belastet. Diese Bedingungen tragen dazu bei, dass
Insbesondere für traumatisierte Frauen führen diese Um-                           Frauen geschlechtsspezifische Gewalt durch Partner, Mitbe­
stände zu Unsicherheit, starken Ängsten und Belastungen:                          wohner, Wachschutz oder anderes Personal erfahren.« 12
Die durch Mehrbettzimmer fehlende Möglichkeit, allein

 8 Anker Watch (Website). 2020. Offener Brief einer Bewohnerin aus dem            11 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
   ANKER-Zentrum Geldersheim. https://www.anker-watch.de/brief-einer-be-             2018. Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flücht-
   wohnerin-aus-dem-anker-zentrum-geldersheim/                                       lingsunterkünften. S.3. Berlin. https://www.gewaltschutz-gu.de/fileadmin/
 9 Vgl. etwa Johansson, Susanne. 2016. Was wir über Flüchtlinge (nicht) wissen.      user_upload/PDFs/2018-11-08Mindeststandards3.Auflage.pdf
   S.31 f. Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen        12 Rabe, Heike und Britta Leisering. 2018. Analyse: Die Istanbul-Konvention
   für Integration und Migration (SVR). Berlin. https://www.svr-migration.de/        – Neue Impulse für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt.
   wp-content/uploads/2017/07/SVR-FB_Fluechtlinge_wissen.pdf                         Deutsches Institut für Menschenrechte. S. 31. Berlin. https://www.institut-
10 Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. 2020. Rassistische Diskriminie-       fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/
   rung auf dem Wohnungsmarkt: Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage.             Analyse_Istanbul_Konvention.pdf
   Berlin. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/
   DE/publikationen/Umfragen/umfrage_rass_diskr_auf_dem_wohnungs-
   markt.pdf;jsessionid=9B27EE0576BF86ECA7CF0C348C0C5B66.2_cid341?__
   blob=publicationFile&v=10
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                   10

Probleme bereiten nicht zwingend nur große und unüber-                                 Gruppen von bes. Schutzbedürftigen untergebracht, auch
sichtliche Einrichtungen mit sehr vielen Menschen, sondern                             z.B. psychische erkrankte Männer oder männliche Famili­
teilweise auch kleinere Einrichtungen, die wenig Raum bie-                             enangehörige von schwerkranken Frauen.« (Beratungs­
ten, um Mituntergebrachten aus dem Weg zu gehen, und                                   stelle, Brandenburg)
in denen es wenige Betreuungs- oder Ansprechpersonen
gibt. Besonders im ländlichen Raum, wo oft auch keine                                  »Es gibt in der [Erstaufnahmeeinrichtung] zwar einen ab­
anderen Begegnungsorte zur Verfügung stehen, die ge-                                   getrennten Bereich für Frauen, diese müssen aber trotzdem
sellschaftliche Isolation höher ist und Austauschpart­                                 in die Bereiche des Camps, in denen auch Männer wohnen,
ner:innen fehlen, ist die Situation für geflüchtete Frauen                             wenn sie beispielswiese essen möchten, ihre Leistungen ab­
und Mädchen häufig sehr angespannt.                                                    holen, etc. Es gibt auch Einzelfälle, in denen Securities mit
                                                                                       Personen, von denen Bedrohung ausgeht, in Kontakt sind.«
Schutzräume / Extraeinrichtungen /                                                     (Beratungsstelle, Hessen)
alternative Einrichtungen
                                                                                    Trennung und Wegweisung des Täters
Weil und solange es Sammelunterkünfte für Geflüchtete
gibt, deren Ausgestaltung insbesondere dem Schutzbedarf                             Auch im Fall von häuslicher Gewalt zeigen sich Flüchtlings-
vieler Frauen nicht gerecht wird, muss es spezielle Schutz-                         unterkünfte als Räume geringerer Sicherheit. So unterläuft
räume im Sinne von eigenen Häusern oder Wohntrakten /                               die Situation in Flüchtlingsunterkünften die Prämissen des
Fluren für weibliche Geflüchtete geben.                                             Gewaltschutzes meist dann, wenn für den sofortigen und
                                                                                    effektiven Schutz eine räumliche Trennung von Täter und
Eine separate Unterbringung kann das Sicherheits- und                               Opfer notwendig wird. In Artikel 52 und 53 der Istanbul-
Freiheitsgefühl von betroffenen Frauen stärken. Vielerorts                          Konvention werden Maßnahmen klar definiert, um im Fall
scheint es solche separaten Frauen-Unterkünfte zu geben,                            von geschlechtsspezifischer Gewalt Täter und Opfer zu
so sind sie etwa im Gewaltschutzkonzept des Landes                                  trennen beziehungsweise den Täter wegzuweisen und so
Niedersachsen für die Erstaufnahmeeinrichtung vorge-                                die betroffene Frau effektiv zu schützen. Entsprechende
schrieben, allerdings nur teilweise – und ungenügend                                rechtliche Maßnahmen sind in den Polizeigesetzen der
sicher – in Form eines separaten Stockwerks umgesetzt.                              Länder und dem Gewaltschutzgesetz des Bundes bereits
                                                                                    verankert.
Es gibt sie aber längst nicht in allen Bundesländern und
oft nicht in den Kommunen. Überdies erübrigen sich in                               Die Wegweisung des Täters gilt auch für Personen in Unter-
den definierten »Schutzräumen« oder »Schutzhäusern«                                 künften für Geflüchtete. Die definierten Maßnahmen bie-
die Probleme einer Sammelunterkunft nicht. Die von uns                              ten auch Mitarbeitenden in Unterkünften im Rahmen des
befragten Berater:innen beklagen vor allem mangelnde                                Hausrechts die Möglichkeit, Hausverbote gegen gewalt­
Kapazi­täten – zu wenig Schutzhäuser, aber auch offenkun-                           tätige Personen zu erteilen. Dies ist rechtlich allerdings nur
dig mangelhafte Konzepte.                                                           unzureichend ausdefiniert, was zu sehr unterschiedlicher
                                                                                    Handhabung in der Praxis führt und geflüchteten Frauen
   »Es gibt Frauenunterkünfte … Jedoch sind die Kapazitäten                         keinen verlässlichen Schutz bietet. 13 Der Erfolg hängt ab
   hier ausgeschöpft und Wartezeiten sehr lang.« (Therapie­                         vom Ausmaß der Unterstützung und Ressourcen der Be-
   einrichtung, Bayern)                                                             troffenen sowie dem Wissen um das Thema in den zustän-
                                                                                    digen Behörden und den Unterkünften:
   »In Städten eher als im ländlichen Raum. In Stuttgart
   Unterkünfte mit Security und Frauenflur…. Selbst in ent­                            »Kontakt- und Näherungsverbote für die Täter sind in
   sprechenden Unterkünften [gibt es] teils zu wenig Sensibili­                        Unterkünften z.T. schwer umzusetzen.« (Beratungsstelle,
   tät für das Thema Gewalt an Frauen.« (Fachberatung für                              Rheinland-Pfalz)
   geflüchtete Frauen, Baden-Württemberg)
                                                                                    Es kommt vor, dass Wegweisungen nur für kurze Zeit erfol-
   »Ja, Unterkünfte, die aber schlecht ausgestattet sind und                        gen, oder eine Trennung nur innerhalb der Unterkunft vor-
   beispielsweise Männer als Securities haben.« (Therapie­                          genommen wird, wobei ein großes Risiko besteht, dass sich
   einrichtung, Berlin)                                                             Täter und Betroffene begegnen. Auch ist die Anonymität
                                                                                    der Frauen – und damit ein sicherer Ort – in den Unterkünf-
   »Es gibt in den Erstaufnahmeeinrichtungen ein ›Schutz­                           ten kaum garantiert:
   haus‹ mit 215 Plätzen. Hier werden allerdings verschiedene

13 Vgl. Rabe, Heike. 2015. Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt –      upload/Publikationen/Policy_Paper/Policy_Paper_32_Effektiver_Schutz_
   auch in Flüchtlingsunterkünften. Deutsches Institut für Menschenrechte.             vor_geschlechtsspezifischer_Gewalt.pdf
   S. 17. Berlin. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                         11

   »Wenn es eine Identifizierung von z. B. häuslicher Gewalt                      ständigen Behörden der Bundesländer 2020/21 mit Kollek-
   gegeben hat, ist die Erfahrung, dass sehr schnell Konse­                       tivquarantänen, die ganze Häuser mit teils mehreren
   quenzen bzgl. der gemeinsamen Unterbringung gezogen                            hundert Bewohner:innen umfassten. 16 Die Quarantäne­
   werden. Allerdings gibt es in einigen Fällen nach Separie­                     rege­lungen wurden von den Bewohner:innen als intranspa-
   rung vom Täter dann akute Bedrohungslagen für die                              rent und nicht nachvollziehbar erlebt, führten häufig zu
   Frauen, die nicht ausreichend geschützt werden, da ihr                         chaotischen Zuständen und erschienen aus epidemiologi-
   Aufenthaltsort bekannt ist.« (Beratungsstelle, Schleswig-                      scher Sicht als nicht zielführend. Gleichzeitig kritisierten
   Holstein)                                                                      die Bewoh­ner:innen unterkunftsinterne Hygienekonzepte
                                                                                  zur Bekämpfung des Virus als unzureichend 17. Zahlreiche
   »Unterkunftspersonal nicht ausreichend geschult, teil-                         Unterkünfte wurden über mehrere Wochen komplett abge-
   weise sogar Schutz des Täters … Komplizenhaft (…)                              schottet – Neuinfektionen führten immer wieder zu einer
   rechtswidrige Herausgabe von Adresse (durch Personal,                          Verlängerung der Kollektivquarantäne. Aufgrund dieses
   Behörden etc.) (Beratungsstelle, Berlin)                                       Vorgehens sind von Gewalt betroffene Frauen wie alle
                                                                                  Bewohner:innen von Geflüchtetenunterkünften erheblich
Nicht nur ist das Fernhalten des Täters in Sammelunter-                           häufiger und länger einer Quarantänesituation und den
künften schwer umzusetzen – die betroffene Frau ist auch                          damit einhergehenden psychischen Folgen ausgesetzt.
gehindert, selbst in eine andere, sichere Unterkunft umzu-
ziehen. Grund dafür ist, dass Frauen, die noch kein Aufent-                       Neben dem erhöhten Infektionsrisiko ist die verstärkte
haltsrecht erworben haben, sowohl der Unterkunft als                              Isolation und Belastungssituation besorgniserregend.
auch dem Wohnort verpflichtend zugewiesen sind und ein                            Während der Pandemie wurde und wird Sozialdiensten
Umzug beantragt und von den Behörden erlaubt werden                               und Ehrenamtlichen teilweise oder vollständig der Zugang
muss. Dies hindert gewaltbetroffene Frauen auch daran,                            zu den Unterkünften verwehrt. Für von Gewalt betroffene
sich Zugang zu Beratung und Hilfe zu verschaffen, und ver-                        Frauen verringern sich dadurch Beratungsangebote und
ursacht selbst bei der Schutzsuche in einem Frauenhaus                            die Chance auf vertrauensvolle Ansprechpersonen erheb-
oder einer Schutzwohnung Probleme (siehe dazu ausführ­                            lich. Die wegfallende Kinderbetreuung und geschlossene
licher Kapitel 4 b).                                                              Schulen bedeuten für Frauen, denen vielfach die Familien-
                                                                                  arbeit zugewiesen wird, weitere Belastungen, in für eine
Sammelunterbringung in Zeiten der                                                 kindgerechte Erziehung schwierigen Umständen. 18 Auf-
Corona-Pandemie                                                                   grund fehlender WLAN-Abdeckung in den Unterkünften
                                                                                  konnten auch Online-Angebote für Sprach- und Fortbil-
Die Corona-Pandemie hat die Bedingungen für Frauen in                             dungskurse nicht besucht und Homeschooling nicht um­
der Sammelunterbringung besonders verschärft. Denn                                gesetzt werden. 19
dort können die einfachsten Hygieneregeln nicht eingehal-
ten werden: »Wer mit vielen anderen Menschen in Mehr-                             Insgesamt steigt der Druck auf Familienzusammenhänge
bettzimmern lebt und Küchen, Waschräume und Toiletten                             und Partnerschaften: Eine gesamtgesellschaftliche Studie
teilt, ist einem massiv erhöhten Infektionsrisiko ausge­                          zu Beginn der Pandemie verweist auf ein erhöhtes Risiko
setzt.« 14 Ein Ansteckungsrisiko von 17 % in einer Unterkunft                     häuslicher Gewalt, in Quarantäne zu Hause, bei finanziellen
ab einem ersten nachgewiesenen Fall von SARS‐CoV‐2 ist                            Sorgen oder bei schlechter psychischer Gesundheit (z.B.
als hoch einzustufen. 15                                                          Depression und Angst) eines oder beider Elternteile wäh-
                                                                                  rend COVID-19 20. Auch der Jahresbericht des Hilfetelefon
Entgegen wissenschaftlichen Empfehlungen, vor allem                               verweist auf die steigenden Beratungsanfragen. 21
des staatlichen Robert-Koch-Instituts, reagierten die zu-

14 Vgl. Bayerischer Flüchtlingsrat. 4.2.2021. Pressemitteilung: Corona Pandemie   18 Vgl. beispielhafte Erzählungen mit Fotos aus der Landeserstaufnahmeein-
   wütet in bayerischen Unterkünften. https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/         richtung Ellwangen: UNICEF. 2020. Unter Quarantäne: spielen, essen, schlafen
   corona-pandemie-wuetet-in-bayerischen-unterkuenften/                              in einem einzigen Zimmer.
15 Vgl. Kompetenznetz COVID-19. 2020. Factsheet: SARS‐CoV‐2 in Aufnah­            19 Vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen. 2020. Schulcomputer für Einkommens-
   meeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete.                    schwache Haushalte. https://www.nds-fluerat.org/43650/aktuelles/schul-
   https://www.gewaltschutz-gu.de/die-initiative/details-2-08-2020/factsheet-        computer-fuer-einkommensschwache-haushalte/
   sars-cov-2-in-aufnahmeeinrichtungen-und-gemeinschaftsunterkuenften-            20 Vgl. Steinert Prof. Dr., Janina. 2020. Gewalt an Frauen und Kindern in
   fuer-gefluechtete-kompetenznetz-covid-19-2020                                     Deutschland während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen: Zu-
16 Vgl. Bayerischer Flüchtlingsrat. 23.11.2020. Pressemitteilung: Corona in          sammenfassung der Ergebnisse. Technischen Universität München (TUM)
   Geflüchtetenunterkünften https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/corona-            und Dr. Cara Ebert vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung.
   in-gefluechtetenunterkuenften/ und 12.06.2020. Pressemitteilung: Robert-          https://www.hfp.tum.de/globalhealth/forschung/covid-19-and-domestic-
   Koch-Institut empfiehlt Schutz Geflüchteter-nichts passiert. https://www.         violence/
   fluechtlingsrat-bayern.de/robert-koch-institut-empfiehlt-schutz-gefluechte-    21 Bundesweites Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen: https://www.hilfetele-
   ter-nichts-passiert/                                                              fon.de/index.php?id=318
17 Vgl. z.B. Bericht einer Geflüchteten zu den Aufnahmebedingungen, Pande-
   mie Maßnahmen und Kollektivquarantäne auf der Website My home is not
   safe: https://myhomeisnotsafe.wordpress.com/2021/01/20/even-animals-
   are-not-treated-like-that/
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ   12

                   Geflüchtete Frauen sind über einen langen Zeitraum in Sammelunterkünften unter­
Empfehlung         gebracht. Sowohl die Erstaufnahmeeinrichtungen/ANKER-Zentren als auch die so
                   genannten »Gemeinschaftsunterkünfte« sind strukturell konflikt- und gewaltfördernd.
                   Zudem werden Frauen daran gehindert, selbstbestimmt für die eigene Sicherheit zu
                   sorgen. Ungeachtet der Bemühungen um einen besseren Gewaltschutz in Sammelunter-
                   künften sind diese grundsätzlich nicht als verpflichtende Wohnform für von Gewalt
                   betroffene Frauen geeignet. Wir empfehlen:

> Die Zeit in der Erstaufnahme für Geflüchtete sollte gesetzlich auf maximal vier Wochen beschränkt
  werden.

> Die Wohnungsunterbringung von Geflüchteten muss Vorrang haben vor der Unterbringung in Sammel-
  unterkünften. Der gesetzliche Auftrag zur Gemeinschafts­unterbringung muss auf­gehoben werden.
  Auch Städte und Gemeinden haben über die allgemeinen politischen Maß­nahmen die Voraussetzungen
  dafür zu schaffen (z.B. Förderung sozialen Wohnungsbaus)

> In vorhandenen Sammelunterkünften müssen die verantwortlichen Länder bzw. Kommunen ein
  strategisches Auszugsmanagement sicherstellen, das alle Bewohner:innen dabei unterstützt, geeignete
  Wohnungen zu finden.
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                       13

b) GEWALTSCHUTZKONZEPTE UND MINDESTSTANDARDS
   IN LÄNDERN UND KOMMUNEN

Solange die Unterbringung in Sammelunterkünften den                             Einige überregionale Initiativen sind als sehr positive und
Modus Operandi der Unterbringung von Geflüchteten                               unterstützende Entwicklungen zum Gewaltschutz für ge-
darstellt, sind Gewaltschutzkonzepte und -standards not-                        flüchtete Frauen zu werten. Allerdings mangelt es an einer
wendig. In den letzten Jahren hat sich der Gewaltschutz                         flächendeckenden Anwendung und entsprechenden Ver-
in Unterkünften für Geflüchtete in Deutschland deutlich                         pflichtung der Länder, die Angebote zu nutzen.
weiterentwickelt.
                                                                                Zu nennen ist hier beispielsweise die dezentralen Be­
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und                         ratungs- und Unterstützungsstruktur für Gewaltschutz
Jugend (BMFSFJ) hat die »Initiative zum Schutz von ge­                          in Flüchtlingsunterkünften« (DeBUG). Vom Bund werden
flüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften« ins                             sieben Multiplikator:innen gefördert. Jene haben eine
Leben gerufen. Hier wurden unter anderem in Zusammen-                           beratende Funktion und erstellen keine Schutzkonzepte.
arbeit mit UNICEF und zahlreichen Organisationen »Min­                          Die Aufgabe, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und
dest­standards zum Schutz von geflüchteten Menschen                             zu implementieren, hängt damit im Wesentlichen von den
 in Flüchtlingsunterkünften 22« entwickelt. Ziel ist es, diese                  Möglichkeiten, dem Willen und der Kompetenz der in den
Mindeststandards in allen Unterkünften für Geflüchtete in                       einzelnen Einrichtungen Beschäftigten ab. Dies gestaltet
Deutschland umzusetzen. Als »Leitlinien für die Erstellung,                     sich wiederum unterschiedlich vor dem Hintergrund der
Umsetzung und das Monitoring von einrichtungsinternen                           landeseigenen rechtlichen oder nichtverbindlichen Vor­
Schutzkonzepten in jeder Form von Flüchtlingsunterkünf-                         gaben zum Gewaltschutz. 24
ten« sowie als »Orientierung für die (Weiter-) Entwicklung
von länderspezifischen bzw. kommunalen Schutzkonzep-                            Ein weiteres Beispiel ist beSAFE, ein Modellprojekt zur Ent-
ten« sind sie jedoch rechtlich nicht verbindlich und haben                      wicklung und Erprobung eines Konzepts zur Identifizierung
lediglich Empfehlungscharakter. 23                                              besonderer Schutzbedarfe bei der Aufnahme von Geflüch-
                                                                                teten 25. Es ist von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft
Mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der                            der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folter­-
Ausreisepflicht sind im August 2019 mit § 44 Abs. 2a und                        opfer (BAfF e.V.) in Kooperation mit dem psychosozialen
§ 53 Abs. 3 Asylgesetz (AsylG) bundesgesetzliche Regelun-                       Beratungszentrum für LSBTI*-Personen »Rosa Strippe e.V.«
gen zum Schutz vulnerabler Personengruppen in Aufnah-                           entwickelt worden 26. Auch dieses soll lediglich ein unver-
meeinrichtungen und Sammelunterkünften in Kraft ge­tre­                         bindliches Angebot werden, das auf Länderebene genutzt
ten. Die Gesetzesänderung sieht vor, dass die Bundes­länder                     werden kann.
Maßnahmen treffen sollen, um bei der Unterbringung
Asylbegehrender den Schutz von Frauen und schutzbe-                             Ein wichtiger Bestandteil von Gewaltschutzkonzepten in
dürftigen Personen zu gewährleisten. Die Länder regeln                          Unterkünften ist, dass sie an ein niedrigschwelliges, funk­
und vollziehen die Unterbringung vor allem in den landes-                       tionierendes Beschwerdeverfahren angebunden sind,
eigenen Erstaufnahmeeinrichtungen selbst. Für die an-                           zu dem Bewohner:innen und Mitarbeitende anonym Zu-
schließende Unterbringung nach der Zuweisung auf die                            gang haben. Hier hat die Frauenhauskoordination in An­
Städte und Gemeinden haben die Bundesländer die dies-                           lehnung an ein Pilotprojekt eine sehr gute Handreichung
bezüglichen Aufgaben oft den Kommunen übertragen.                               ent­wickelt. 27 Von einer flächendeckenden Nutzung kann
Die Praxis ist dementsprechend vielfältig und unübersicht-                      aber wohl (noch) keine Rede sein.
lich – und lückenhaft.

22 Vgl. BMFSFJ (Hg.). 2018. Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten        24 Informationen zum Projekt DeBUG: https://www.gewaltschutz-gu.de/projek-
   Menschen in Flüchtlingsunterkünften. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/      te/debug
   publikationen/mindeststandards-zum-schutz-von-gefluechteten-menschen-        25 Informationen zum Projekt besafe: https://www.gewaltschutz-gu.de/projek-
   in-fluechtlingsunterkuenften/117474 (english version: Minimum Standards         te/besafe-besondere-schutzbedarfe-bei-der-aufnahme-von-gefluechteten-
   for the Protection of Refugees and Migrants in Refugee Accommodation            erkennen
   Centres: https://www.bmfsfj.de/blob/121372/ab3a1f0c235a55d3b37c81d-          26 Weiteren Projekte der Bundesinitiative: https://www.gewaltschutz-gu.de/
   71f08c267/minimum-standards-for-the-protection-of-refugees-and-mig-             projekte/uebersicht
   rants-in-refugee-accommodation-centres-data.pdf                              27 Vgl. Frauenhauskoordinierung. 2019. Beschwerdeverfahren für geflüchtete
23 Vgl. BMFSFJ (Hg.). 2018. Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten           Menschen in Unterkünften: Empfehlungen und Material zur Umsetzung.
   Menschen in Flüchtlingsunterkünften, S. 9 https://www.gewaltschutz-gu.de/       www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/
   fileadmin/user_upload/PDFs/2018-11-08Mindeststandards3.Auflage.pdf              Handreichung_BM/FHK_Handreichung_BM_fuer_gefluechtete_Menschen_
                                                                                   web.pdf
UNTERKÜNFTE UND GEWALTSCHUTZ                     14

Gewaltvorfälle in der Praxis                                                         »Es gibt solche Fälle (Belästigung, Vergewaltigung), eine
                                                                                     Häufigkeit ist uns nicht bekannt.« (Therapieeinrichtung,
In unserer Befragung hatten nahezu alle befragten Bera-                              Nordrhein-Westfalen)
tungseinrichtungen Kenntnis von konkreten Gewaltvor­
fällen in Unterkünften für Geflüchtete. Sie machen in ihrer                          »Ja bekannt sind: häusliche Gewalt, Prostitution, sexuali­
Gesamtheit deutlich, dass Gewaltschutz in der Praxis auch                            sierte Gewalt, psychische Gewalt.« (Beratungsstelle,
aktuell häufig nicht funktioniert 28 – im Folgenden eine                             Bayern)
Auswahl:
                                                                                     »Häufigkeit unklar, sexuelle Belästigung [gibt es] auf jeden
   »Ja. [Es gibt Gewaltvorfälle in den Unterkünften.] Häus-                          Fall, die Frauen haben große Angst davor, auch in Bezug
   liche Gewalt. Und vereinzelt auch sexualisierte Gewalt.«                          auf ihre Kinder, besonders bei Gemeinschaftsduschen,
   (Therapieeinrichtung Berlin)                                                      Küchen, Toiletten, teilweise Duschräume im UG, nicht ab­
                                                                                     schließbar….« (Therapieeinrichtung, Rheinland-Pfalz)
   »Im Erdgeschoss klopfen Leute nachts ans Fenster;
   Be­drohung und Übergriffe durch gewalttätige Ehemänner
                                                                                  Heterogene Ländervorgaben
   und Ex-Männer« (Therapieeinrichtung, Baden-Württem­
   berg)
                                                                                  Die Gewaltschutzkonzepte der Länder sind jedoch völlig
    »Die Dunkelziffer ist sehr hoch. (…) Vergewaltigungen,                        unterschiedlich in der Qualität und der Rechtsverbindlich-
   versuchte Vergewaltigungen, sexuelle Belästigungen &                           keit. Dies zeigt eine aktuelle Studie von UNICEF und dem
   Übergriffe, Körperverletzungen jeglicher Art, häusliche                        Deutschen Institut für Menschenrechte: Für Landeseinrich-
   Gewalt, psychische Gewalt, Stalking. Es gibt Berichte                          tungen werden rechtsverbindliche Gewaltschutzkonzepte
   von Übergriffen auch durch das Sicherheitspersonal.«                           von den meisten Bundesländern angegeben. Manche Bun-
   (Beratungszentrum, Brandenburg)                                                desländer haben Gewaltschutzanforderungen in die Ver-
                                                                                  träge mit Betreiber:innen von Unterkünften aufgenommen.
   »Ja! Sexualisierte und häusliche Gewalt; bekommen wir                          Andere (Baden-Württemberg, Hamburg, Sachsen, Schles-
   oft mit. Während Corona vermehrt.« (Fachberatungsstelle,                       wig-Holstein und Thüringen) setzen dagegen auf einrich-
   Baden-Württemberg)                                                             tungsspezifische Gewaltschutzkonzepte und haben keine
                                                                                  landesweiten verbindlichen Vorgaben.
   »Alleinstehende Frauen beklagen sich außerdem häufig
   über anzügliche Bemerkungen und Anmache durch Be­                              Bezogen auf kommunale Einrichtungen für geflüchtete
   wohner« (Therapieeinrichtung, Rheinland-Pfalz)                                 Menschen gibt es rechtlich verbindliche Gewaltschutzvor-
                                                                                  gaben nur in Bayern, Brandenburg und Thüringen. Baden-
   »Klient:innen berichten von ungewolltem Eindringen von
                                                                                  Württemberg und Bremen geben lediglich Mindeststan-
   Security-Personal in private Zimmer, da Räume nicht abge­
                                                                                  dards (vor allem für die räumlichen Anforderungen) vor.
   schlossen werden können; keine Wahrung der Privatsphäre
                                                                                  Berlin sieht Gewaltschutzkonzepte als Teil von Betreiber-
   möglich!« (Therapieeinrichtung, Sachsen)
                                                                                  verträgen vor, Hamburg plant Ähnliches. Die restlichen
   »Diverse Vorfälle aus den letzten Jahren in zahlreichen                        Bundesländer verzichten auf eine rechtliche Regulierung,
   GUs bekannt (…) teils verbale Gewalt durch Einrichtungs­                       unterstützen aber häufig zumindest die Kommunen gezielt
   leitungen, oft wurden männliche Bewohner handgreiflich                         bei der Erarbeitung von Gewaltschutzkonzepten. 29
   (Schläge, Androhung von Schlägen, Entblößung der Ge­
   schlechtsteile, Übergriffe in Sanitäranlagen, Einstieg durch                       Beispiel Bayern: Das »Bayerische Schutzkonzept der
   geöffnete Fenster, u.v.m.)« (Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt)                       Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt«
                                                                                     gilt für alle bayerischen Asylunterkünfte. Es handelt sich
   »Uns ist ein Fall bekannt, in dem [eine] Frau Gewalt durch                        jedoch lediglich um ein administratives Rahmenkonzept,
   Ehemann und andere Bewohnerin in Unterkunft erlitten                              die dortigen Vorgaben und Maßnahmen seien einrich­
   hat – sie gab an, dass Security nicht einschritt, auch nicht                      tungsspezifisch umzusetzen. Durch eingesetztes Gewalt­
   als sie diese um Hilfe bat; weiterhin berichten Klientinnen                       schutzpersonal wurde bereits in einigen Anker-Einrich­
   von verbaler Gewalt aufgrund von Religionszugehörigkeit                           tungen und neun Gemeinschaftsunterkünften ein solches
   und sexueller Gewalt durch andere Heimbewohner*innen,                             einrichtungsinternes Gewaltschutzkonzept erstellt. Dies
   Anzahl statistisch nicht erhoben.« (Therapieeinrichtung,                          wurde in einer schriftlichen Anfrage an den Bayerischen
   Sachsen)                                                                          Landtag auf­gelistet, öffentlich zugänglich sind sie nicht.

28 Zahlreiche Vorfälle wurden auch in der Umfrage zu diesem Bericht genannt.      29 Vgl. Unicef und DIMR. 2020. Zusammenfassung: Gewaltschutz in Unterkünf-
   Ein weiteres Beispiel: http://www.truth24.net/frauen-in-fluechtlingsunterku-      ten für geflüchtete Menschen – Eine kinderrechtliche Analyse von UNICEF
   enften-klagen-ueber-gewalt-und-willkuer/                                          Deutschland und dem Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) basie-
                                                                                     rend auf einer Befragung der 16 Bundesländern. S.3. https://www.gewalt-
                                                                                     schutz-gu.de/fileadmin/user_upload/PDFs/i0051-studie-text-data.pdf
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