Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen
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Media Perspektiven 447 7-8/2020 Ergebnisse einer Studie aus Nordrhein-Westfalen Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Von Erk Simon*, Iva Krtalic** und Gerhard Kloppenburg* Der gesellschaftliche und mediale Wandel in Deutsch- lichen Sendern ARD und ZDF, unter Federführung land wird insbesondere von einer jungen Generation des WDR, durchgeführt. (7) Sie untersuchte die getragen, in der Migration, Zuwanderung und viel- Mediennutzungsgewohnheiten von fünf Communitys: fältige kulturelle Einflüsse Alltag sind. Jeder vierte Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjet Einwohner in Deutschland hat eine Zuwanderungs- union und des ehemaligen Jugoslawiens, der Türkei, biografie, in der Altersgruppe 20 und 45 Jahre trifft Polen, Italien und Griechenland. Die Studie stellte die dies auf jeden Dritten zu. (1) Unterschiedliche kultu- Frage nach dem Zusammenhang zwischen Medien- relle Prägungen, eine eigene oder im familiären Kon- nutzung und Integration, also die Frage welchen text erlebte Migrationserfahrung gehören in vielen Beitrag die „Medien zur gesellschaftlichen Integra- Arbeits- und Freizeitzusammenhängen zur Norma- tion der Zuwanderer leisten“ können. Die Studie lität und sind neben den Veränderungen in der Ar- ging der – in der Diskussion der Zeit erwartbaren – beitswelt und dem digitalen Wandel ein zentraler Frage nach, wie der Integrationsstatus mit den Me- Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung. diennutzungsgewohnheiten in Zusammenhang ge- bracht werden könne. Mediennutzung Auch in der Forschung und der wissenschaftlichen in der post Diskussion verändern sich mit dem gesellschaftlichen Kurz und knapp migrantischen Wandel die Anforderungen und die Fragestellungen. Gesellschaft Während in früheren Forschungsarbeiten zum Thema • In einer WDR-Studie wurden die Erwartungen und Bedürfnisse untersucht Medien und Migration vor allem die Spezifika einzel- in Bezug auf Medienangebote von jungen Migranten in NRW ner ethnischer Gruppen in Bezug auf die Fragen der untersucht. (medialen) Integration untersucht wurden (2), stehen • Die Mediennutzung weist zahlreiche Parallelen zu der ihrer die Themen und Fragestellungen einer postmigran- Altersgenossen ohne Zuwanderungsgeschichte auf. tischen Gesellschaft (3) heute verstärkt im Fokus. • Medienangebote aus den Herkunftsländern werden parallel genutzt. Empirische Studien zeigen, dass die Mehrheit der • Von den Medien wünschen sich junge Migranten, die Diversität der Menschen mit einer Zuwanderungsbiografie eine Gesellschaft inhaltlich und personell adäquat abzubilden. hohe emotionale Bindung und Identifikation mit Deutschland hat und in vielen Bereichen ähnliche Interessen und Einstellungen aufweist wie Menschen Die Studie zeigte, dass die Befragten mit „Migrations- Überwiegend ohne den sogenannten Migrationshintergrund. (4) Die hintergrund“ nicht in einem medialen Paralleluniver- deutschsprachige kulturelle Prägung ist dabei nur ein Merkmal neben sum lebten, sondern hauptsächlich Medienangebote Medienangebote weiteren, wie zum Beispiel Alter bzw. Generations- in deutscher Sprache nutzten, kombiniert mit den genutzt zugehörigkeit, Geschlecht und soziale Lage. Bei den Angeboten in der jeweiligen Herkunftssprache, so zentralen Problemen geht es hier weniger um die dass die „Integration von Elementen der Herkunfts- Integration oder Assimilation an eine wie auch immer kultur (heimatsprachige Medien) mit denen deutscher definierte Mehrheitsgesellschaft, sondern um die Kultur (Medien) (…) der Lebenswirklichkeit der meis- Fragen einer gleichberechtigten Partizipation, Wert- ten Zuwanderer in Deutschland“ (8) entsprach. Eben- schätzung und Berücksichtigung der kulturellen Er- falls bestätigte die Studie, dass sich zwischen Integ- fahrungen und Spezifika. Für das Gebiet der Medi- rationsstatus und Nutzung deutschsprachiger Me- enforschung gibt es aus der Perspektive des Modells dien „meist nur sehr schwache Zusammenhänge einer postmigrantischen Gesellschaft,) (5) etwa bei finden“ (9), so dass eine einfache Gleichung der Publikumsanalysen oder Wirkungsstudien, bisher Ursache und Wirkung zwischen dem Konsum noch kaum theoretische Ableitungen und empiri- deutschsprachiger Medien und gelungener Integra- sche Anwendungen. (6) tion zumindest „in Frage zu stellen ist“. (10) Erste bundesweite Die erste bundesweite Studie, die sich mit dem Ziel- Die Folgestudie „Migranten und Medien” bestätigte Folgestudie im Studie im Jahr 2007 publikum “Menschen mit Migrationshintergrund” 2011, dass im Fernsehen, als reichweitenstärkstem Jahr 2011 befasst hat, wurde 2007 von den öffentlich-recht Medium, von den Befragten hauptsächlich deutsche Programme konsumiert wurden, obwohl sie täglich * WDR Strategie und Medienforschung. auch Fernsehprogramme aus den Herkunftsländern ** Beauftragte für Integration und interkulturelle Vielfalt nutzten. Die Studien kamen zum Ergebnis, dass die im WDR. Faktoren Alter, Bildungsgrad und sozialer Kontext min-
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 448 Perspektiven 7-8/2020 destens genauso wichtig wie die ethnische Herkunft gramm und Medienforschung, wobei zusätzlich eine seien, wenn es um die Mediennutzung geht. (11) inhaltsanalytische Auswertung der Audioaufnahmen aus den Gruppengesprächen stattfand. Große Bedeutung Ein Fokus der Forschung zum Thema Medien und der Repräsentanz Einwanderungsgesellschaft bildet sich um die Fra- Im zweiten Teilprojekt, einer Onlineumfrage mit 475 Onlinebefragung von Zuwanderungs- gen nach der Repräsentanz von Migrantinnen und Teilnehmern aus Nordrhein-Westfalen, wurden quan- mit 475 Teilnehmern biografien Migranten (12) in den Medientexten und die Auswir- tifizierbare Ergebnisse zu den Fragestellungen erho- aus NRW kungen auf die Nutzer, besonders bei Problematisie- ben, die sich im Publikumsgespräch als besonders rungen von Migranten, beispielsweise durch ihre relevant erwiesen hatten. Auch für die Onlineumfrage Repräsentation als Kriminelle, als Konkurrenz auf wurden deutschsprachige junge Menschen mit Zu- dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder die Positio- wanderungshintergrund in der Altersgruppe 20 bis nierung in die passiven Rollen in der Berichterstat- 40 Jahre eingeladen. Etwas mehr als die Hälfte (56 tung. (13) Auch eine WDR-Studie aus dem Jahr 2006 Prozent) sind in Deutschland geboren, 50 Prozent über die Rezeption der Fernsehprogramme unter sind voll berufstätig und 82 Prozent sprechen noch jungen türkischstämmigen Befragten zeigte, dass in eine andere Sprache als Deutsch im Alltag. Die häu- den Umständen eines veränderten sozialen Klimas, figsten Herkunftsländer der Eltern bzw. die eigenen die Befragten eine stärkere Beziehung zur türkischen Herkunftsländer sind Russland bzw. Länder der ehe- Kultur entwickelten, auch wenn fast alle in Deutsch- maligen UdSSR, Polen und die Türkei. Daneben war land geboren waren. eine Vielzahl von Ländern von Italien, Griechenland bis zu den afrikanischen Ländern und den USA als Stereotype und Sie beanstandeten bestimmte fiktionale und Infor- Herkunftsland der Befragten vertreten. (16) Da es sich Klischees in mationsformate im Fernsehen, die Stereotypen und um eine Stichprobe aus einem Online-Access-Panel Mediendarstellung Klischees über Türkinnen und Türken produzierten, handelte, können die Ergebnisse allerdings nicht als kritisiert was wiederum „zu einer trotzig-stolzen Haltung in repräsentative Stichprobe für die Bevölkerung ins- Bezug auf die eigene Identität, die eher eine Abgren- gesamt angesehen werden. zung von der deutschen Gesellschaft signalisiert: „Ich bin Türke‘“ führte. (14) Allerdings hat eine WDR- Ergebnisse zur Mediennutzung Studie aus 2004 auch gezeigt, dass Migrations Attraktive digitale Angebote sind unverzichtbar, um Mediennutzung themen keinesfalls auf Problembereiche in den Fern- junge Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte junger Migranten sehprogrammen begrenzt waren. Das Thema „Integ- mit Informationen und Unterhaltung zu erreichen. In entspricht dem ihrer ration“ war am häufigsten in der Lokalberichterstat- Analogie zu den Ergebnissen, die für die junge Alters- Generation tung zu finden, was die Autoren auch deshalb be- gruppe aus bevölkerungsrepräsentativen Studien sonders hervorheben, da es sich um die Formate mit bekannt sind (17), dominieren soziale Medien wie den höchsten Reichweiten handelte. (15) WhatsApp, Youtube, Instagram sowie die Streaming- dienste Netflix & Co. die Mediennutzung. 92 Prozent WDR- Welche Erwartungen und Bedürfnisse in Bezug auf sind Stammnutzer von WhatsApp und 78 Prozent Forschungsprojekt: die Medien hat die junge Generation der Menschen von YouTube, also nutzen es an 4 bis 7 Tagen pro Diskussion mit mit Migrationshintergrund? Um diese Frage zu be- Woche, Video-Streamingdienste liegen mit 67 Pro- Programmmachern antworten, hat der WDR 2019 ein zweistufiges For- zent an dritter Stelle, gefolgt vom Fernsehen, Insta schungsprojekt durchgeführt. Im ersten Teil, beim gram, Nachrichten-Apps und Facebook (vgl. Tabelle 1) Publikumsgespräch am 16. April, kamen rund 30 Zu den Stammnutzern der Audio-Streamingdienste junge Menschen aus NRW im Alter zwischen 20 und gehört gut jeder zweite Befragte dieser Altersgruppe 40 Jahren mit ausländischen Wurzeln vom Kongo (53 %), für das Radio sind es mit 46 Prozent eben- über Polen bis Brasilien zum WDR, um mit Programm- falls knapp die Hälfte. Stark verbreitet ist auch die machern verschiedener Bereiche über ihre Medien- Nutzung von Nachrichten-Apps, 56 Prozent nutzen nutzung und Wünsche an die Medien insgesamt und sie an 4 bis 7 Tagen in der Woche, knapp jeder Zweite speziell die Angebote von WDR und ARD zu diskutie- bezieht aktuelle Informationen auch von Nachrich- ren. In diesem auch als „Meet the Audience“ bezeich- tenportalen. In der Analyse nach Teilgruppen, zeigen neten Format ging es um den direkten Austausch sich vor allem in den Altersgruppen signifikante Dif- zwischen Publikum und Programmverantwortlichen. ferenzen: Die Altersgruppe 20 bis 29 Jahre orientiert Nach einer Einführung im Plenum mit allen Teilneh- sich noch stärker als die 30- bis 40-Jährigen an mern wurden in rund zweistündigen moderierten Dis- Web- und Social-Media-Diensten und weniger an kussionsrunden in Kleingruppen die konkreten The- den klassischen Medien Fernsehen und Radio. Der men intensiv besprochen und die Ergebnisse festge- Anteil kompletter Nichtnutzer linearer Programme halten. In einem abschließenden Plenum stellten je- liegt in einem Bereich zwischen 20 und 25 Prozent. weils zwei Sprecher die Ergebnisse ihrer Gruppe vor. Vergleichbare Ergebnisse finden sich in dieser Alters- Die Zusammenführung und Auswertung dieser quali- gruppe bei Menschen ohne Zuwanderungsbiografie. tativen Ergebnisse erfolgte damit ebenfalls in einer Auch für die meistgenutzten Angebote ergeben sich partizipativen Methodik zwischen Publikum, Pro- in der Tendenz für die Altersgruppe typische Befunde:
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Media Perspektiven 449 7-8/2020 Tabelle 1 Stammnutzer ausgewählter Medienangebote an 4-7 Tagen pro Woche, absteigend sortiert nach Gesamt, in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 WhatsApp 92 92 93 94 90 87 94 91 94 YouTube 78 84 73 83 72 78 79 80 76 Video-Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime Video 67 66 68 75 56 63 68 75 57 Fernsehen 62 56 68 56 71 68 60 62 62 Instagram 62 56 67 69 51 54 64 65 57 Nachrichten-Apps 56 61 52 57 54 53 57 60 52 Facebook 54 50 58 54 54 53 54 54 54 Audio-Streamingdienste wie Spotify, Amazon Music 53 52 54 60 43 42 57 59 46 Webportale/Nachrichtenseiten wie web.de, gmx.de 48 47 49 44 53 47 49 51 45 Radio 46 44 48 37 59 44 46 46 46 Mediatheken/Onlineangebote der Fernseh-/ Radiosender 31 30 31 30 32 32 30 31 30 Snapchat 26 31 22 32 17 22 27 32 19 Audiotheken/Onlineangebote der Radiosender 23 28 19 23 25 26 23 27 19 Twitter 21 28 14 25 16 10 25 26 15 Tageszeitung 21 25 16 17 26 19 21 20 21 Zeitschriften/Wochenzeitungen 20 24 16 15 26 15 22 18 22 Podcasts 19 21 17 19 20 16 21 20 17 Frage: Wie häufig nutzen Sie im Allgemeinen in einer Woche – also an den 7 Tagen von Montag bis Sonntag – die folgenden Medien und Plattformen? Bitte denken Sie auch an Angebote, die nicht aus Deutschland kommen. Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. Im Radio ist 1Live in Nordrhein-Westfalen mit Ab- durch die Ergebnisse zur Mediennutzung und zu den stand das meistgehörte Programm, gefolgt von Radio Themeninteressen. In Bezug auf die Onlinemedien NRW und WDR2. Bei der Bewegtbildnutzung liegen (Webseiten, Apps und soziale Netzwerke) werden die privaten TV-Sender RTL und Pro Sieben sowie am stärksten Nachrichten aus Deutschland genutzt die Streamingdienste vorne. (79 Prozent), dieser Befund gilt unabhängig von den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bildung (vgl. Tabelle Medienangebote Bei der Abfrage der Mediennutzung wurden die Be- 2). Eine hohe Relevanz haben auch Nachrichten aus aus den Herkunfts- fragten explizit darauf hingewiesen, auch Angebote dem Bundesland Nordrhein-Westfalen und der Regi- ländern werden zu berücksichtigen, die nicht aus Deutschland kom- on: Jeweils 71 Prozent der jungen Menschen mit Zu- ergänzend genutzt men. Bereits in den Publikumsgesprächen wurde wanderungsbiografie nutzen diese Nachrichten regel- deutlich, dass von den jungen Menschen zwar vor- mäßig. Dieser Befund bestätigt die Aussagen aus den rangig deutschsprachige Medien bzw. Plattformen Publikumsgesprächen, in denen die reichweitenstar- genutzt werden, die Onlinemedien bzw. Plattformen ken WDR-Sendungen „Aktuelle Stunde“ und „Lokal- der Herkunftsländer aber häufig parallel oder ergän- zeit“ zu den bekanntesten und auch im Onlinebereich zend genutzt werden. Sie haben insbesondere bei oft nachgefragten Informationsangeboten gehören. kontroversen Themen und besonderen Ereignislagen Nachrichten aus dem europäischen und nichteuropä- die Funktion, das Informationsspektrum zu erweitern, ischen Ausland sind für die meisten ebenfalls wichtig: Informationen zu validieren und andere Perspektiven Die Nutzungshäufigkeit liegt mit 63 bzw. 58 Prozent der Einordnung und Bewertung zu erhalten. aber unter den Werten für Informationen aus Deutsch- land bzw. dem Bundesland. Auch in Bezug auf das Hohe Relevanz Die in den Studien zum Konzept der postmigranti- Merkmal Geburtsland ergeben sich hier keine signifi- der Nachrichten schen Gesellschaft ermittelte Identifikation mit den kanten Unterschiede: Auch für Befragte, die nicht in aus Deutschland Themen und Orientierungen der deutschen Gesell- Deutschland geboren sind, haben die Nachrichten aus und NRW schaft und deren Relevanz im Alltag bestätigt sich Deutschland mit 78 Prozent die höchste Relevanz, ge-
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 450 Perspektiven 7-8/2020 Tabelle 2 Nutzung von Nachrichten auf Webseiten, in Apps oder in den sozialen Netzwerken nutze ich häufig/gelegentlich, absteigend sortiert nach Gesamt, in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 Nachrichten aus Deutschland 79 80 79 78 82 77 80 80 78 Nachrichten aus Nordrhein-Westfalen 71 73 70 69 75 72 72 71 71 Nachrichten aus Ihrer Region 71 67 74 68 75 73 70 70 72 Nachrichten aus dem europäischen Ausland 63 65 62 60 69 57 67 62 66 Nachrichten aus dem nichteuropäischen Ausland 58 61 54 56 60 53 60 58 57 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. Tabelle 3 Genutzte Inhalte auf Webseiten, in Apps oder in den sozialen Netzwerken nutze ich häufig/gelegentlich, absteigend sortiert nach Gesamt, in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 Wetter und Verkehr 76 68 83 71 83 81 74 74 78 Musik 72 72 72 72 72 74 71 72 72 Unterhaltung, Comedy 68 68 68 71 63 69 67 71 65 Wissen, Wissenschaft 64 68 60 62 67 56 68 63 65 Kochen/Rezepte 63 53 72 58 69 59 64 61 65 Freizeit/Veranstaltungstipps 60 59 61 57 65 54 62 59 62 Internet, Gaming, digitale Themen 59 72 46 62 54 60 58 62 56 Reise und Urlaub 59 56 61 55 65 54 61 56 62 Mode, Styling, Beauty 57 46 68 55 60 54 58 57 56 Kultur (Musik, Film, Theater, Literatur) 57 57 56 54 60 55 57 56 57 Politik 54 61 47 52 57 46 58 55 53 Beruf und Ausbildung 54 56 51 54 53 50 55 51 58 Sport 52 69 34 56 45 48 53 55 47 Heimwerken/Basteln/Selbermachen 46 42 49 42 51 48 45 44 48 Prominente, Stars und Lifestyle 44 39 48 46 41 45 43 46 41 Wirtschaft und Börse 34 44 25 31 39 28 37 33 37 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. folgt von Nachrichten aus Nordrhein-Westfalen bzw. tungsangeboten deutlich: Zahlreiche Comedyformate der Region mit 71 bzw. 72 Prozent. sind ein wichtiger Bestandteil des Medienmenüs: Be- kannt und vor allem im Netz beliebt sind zum Beispiel Themeninteressen Neben den aktuellen Informationen und Nachrichten die „heute-show“ vom ZDF sowie die WDR-Produktio sind für junge Menschen mit Migrationsgeschichte in nen „Rebell Comedy“ und „Carolin Kebekus“. Bezug auf die Mediennutzung vor allem die Themen Unterhaltung/Comedy, Musik sowie Wissen und Ser- Bewertung der Medien vicethemen relevant. Wichtige Servicethemen sind Wenn es um Nachrichten und aktuelle Informationen Ö.-r. Sender Wetter, Verkehr, Freizeit, Kochen, Internet/digitale The- geht, sind die öffentlich-rechtlichen Sender die Medi- genießen das men, Reise/Urlaub sowie Mode und Styling (vgl. Ta- en, denen junge Menschen mit Migrationshintergrund größte Vertrauen belle 3). Im Publikumsgespräch wurde dabei neben am stärksten vertrauen. 66 Prozent vertrauen den In- Fiction auch die besondere Relevanz von Unterhal- formationen beim WDR voll und ganz bzw. weitge-
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Media Perspektiven 451 7-8/2020 Tabelle 4 Vertrauen in Informationsangebote Zustimmung voll und ganz/weitgehend, absteigend sortiert nach Gesamt, in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 WDR 66 58 74 62 71 58 69 67 64 ZDF 66 59 72 63 70 58 68 68 63 ARD/Das Erste 63 54 72 60 68 55 66 64 62 Spiegel 61 56 65 59 63 57 63 56 67 YouTube 48 57 39 51 44 52 47 48 49 RTL 38 34 41 34 43 48 34 33 43 Instagram 33 36 30 37 28 39 30 34 32 Bild 30 33 27 26 35 39 26 27 34 Facebook 30 34 27 30 31 36 28 29 33 Twitter 22 27 16 23 20 19 22 25 18 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. hend, es folgen das ZDF, die ARD und der Spiegel. Die ausfallen als bei Antwortvorgaben, da es hier vor Vertrauenswerte für die Social-Media-Plattformen allem darum geht, ein differenziertes und breites liegen dagegen deutlich unter 50 Prozent. Den Infor- Spektrum von Antwortkategorien abzubilden. mationen auf Instagram vertrauen nur 33 Prozent, bei Facebook sind es nur 30 Prozent (vgl. Tabelle 4). Die- Die Informationsqualität der deutschen Medien, die ser Befund zeigt sich durchgängig, also unabhängig Vielfalt, Qualität und Transparenz der Informationen, von Alter, Bildung, Geschlecht und Geburtsland. Ob- ist mit 16 Prozent die häufigste positive Rückmel- gleich die Social-Media-Plattformen die Mediennut- dung. Wichtige Punkte sind außerdem sachliche, neu- zung junger Menschen dominieren, ist auch in dieser trale und unparteiische Informationen, persönliche Altersgruppe offenbar die Einschätzung vorhanden, Geschichten/Hintergründe der Migration sowie die dass dort eher keine vertrauenswürdigen Informatio- konstruktive Berichterstattung zum Thema Migration nen zu finden sind und erhebliche Unterschiede zur (Fortschritte, positive Beispiele, Diversität der Gesell- Informationsqualität bei den journalistischen Angebo- schaft zeigen). ten der öffentlich-rechtlichen Sender bestehen. In Bezug auf die kritischen Punkte der Berichterstat- Fokus auf Negativ- Social Media bieten Social Media erfüllt auch vorrangig andere Bedürf- tung über Einwanderung und Menschen mit Migra- berichterstattung Identifikations nisse und Motive: Entscheidend für die Nutzung der tionshintergrund in den deutschen Medien sind die wird kritisiert möglichkeiten Social-Media-Plattformen sind die Identifikations- Ergebnisse ebenfalls differenziert. Auf der einen möglichkeiten mit Themen und Protagonisten. Insta Seite wird für einige Medien eine zu starke Emotio- gram und YouTube bilden die Lebenswelt junger nalisierung und ein Fokus auf Negativberichterstat- Migranten am besten ab und bieten Identifikations- tung (Kriminalität) kritisiert. Auf der anderen Seite figuren. Aufgrund der Medienspezifik, die Social finden sich Stimmen, die sagen, alles wird von den Media bieten – Nähe, Interaktion, direkte Kommu- Medien schöngeredet und Informationen werden zu- nikation und Erlebniswelt, können die klassischen rückgehalten, um den Fremdenhass nicht zu schüren. Medien in diesen Bereichen offenbar nicht mehr In Bezug auf positive als auch negative Berichte zu mithalten (vgl. Tabelle 5). den Themen Einwanderung und Migration stehen daher die Punkte Ehrlichkeit, Neutralität, Fakten, un- Differenzierte Wie bewerten die Befragten die Berichterstattung parteiische Informationen und keine Meinungsmache Bewertung der über Einwanderung und Menschen mit Migrationshin- ganz oben auf der Wunschliste der Befragten. Mehr Berichterstattung tergrund in den deutschen Medien? Diese Punkte persönliche Hintergründe über die Ursachen von über Einwanderung wurden in einem offenen Feedback abgefragt und Migration sowie die stärkere Einbeziehung von Men- anschließend inhaltsanalytisch kategorisiert (vgl. Ta- schen mit Migrationserfahrung in die Diskussion sind bellen 6 und 7). Bei der Interpretation der Daten ist zu ebenfalls wichtige Erwartungen an die Medien. Die berücksichtigen, dass die Häufigkeiten der einzelnen folgenden exemplarischen Zitate aus der Befragung Kategorien bei offenen Fragen in der Regel niedriger verdeutlichen diese Befunde:
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 452 Perspektiven 7-8/2020 Tabelle 5 Identifikationspotenziale der Medienangebote offene Frage, Häufigkeit Top-5, in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 Welcher Sender (TV, Radio) oder welches Online-/Social-Media-Angebot bildet Ihren persönlichen Lebensstil am besten ab, also das, was Sie in Alltag und Freizeit interessiert und bewegt? Instagram 17 11 22 19 13 17 16 17 16 YouTube 10 13 7 10 10 11 10 10 10 ProSieben 6 7 5 7 5 9 5 6 6 1Live 6 7 4 5 6 5 6 5 6 RTL 5 3 8 6 5 8 4 4 6 Bei welchem Sender (TV, Radio) oder welchem Online-/Social-Media-Angebot sehen bzw. hören Sie am ehesten Menschen, die Sie interessant finden? YouTube 17 19 14 18 15 16 17 18 15 Instagram 14 10 18 18 9 14 13 15 12 RTL 7 5 8 5 9 10 6 6 8 1Live 6 8 4 8 4 6 6 7 5 ProSieben 5 4 6 5 4 5 5 5 5 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. Tabelle 6 Positive Aspekte der Berichterstattung über die Einwanderung und Menschen mit Migrationshintergrund Was ist positiv, was bewerten sie als gut? offene Frage, kategorisierte Angaben in %, Häufigkeit ab 3 % (Gesamt) Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 informativ/gute/viele Informationen/ man wird informiert/Transparenz/Aufklärung 16 16 15 14 19 11 17 15 17 sachlich/neutral/unparteiisch 5 6 4 5 5 3 6 5 5 persönliche Geschichten/Hintergründe von Migranten (z. B. warum sind sie eingewandert, wie leben sie, mit welchen Problemen habe sie zu kämpfen) 5 5 4 5 4 6 4 6 3 gute/bessere Integration/Integrationshilfe/ Informationen über Erfolge der Eingliederung 4 5 4 5 4 3 5 5 4 multikulturell/ Widerspiegelung der Vielfalt der Gesellschaft/Einblick in die verschiedenen Kulturen 4 5 3 3 6 5 4 3 6 Ehrlichkeit/ Wahrheit/korrekte Informationen/Fakten 4 4 4 3 5 1 4 5 1 positive Berichterstattung/positive Informationen/ Beispiele 3 2 4 2 5 4 3 2 5 Aktualität/man ist auf dem neuesten Stand/wird über Aktuelles informiert 3 3 3 3 3 6 2 2 4 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. Frage: Was ist positiv an der Berichterstattung über – „Dass gezeigt wird, wie es diesen Menschen geht. Einwanderung und Menschen mit Migrationshinter- Was für Probleme sie täglich lösen müssen, um den grund in den deutschen Medien? kulturellen Unterschied durchwachsen zu müssen.“ (28 Jahre, männlich)
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Media Perspektiven 453 7-8/2020 Tabelle 7 Verbesserung bei der Berichterstattung über die Einwanderung und Menschen mit Migrationshintergrund Was könnte man verbessern, anders machen? offene Frage, kategorisierte Angaben in %, Häufigkeit ab 3 % (Gesamt) Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 mehr Wahrheit/Ehrlichkeit/korrekte Informationen/ Fakten/keine Lügen 11 13 10 10 13 13 11 9 15 mehr Neutralität/unparteiische Informationen/ weniger/keine Meinungsmache 10 11 9 10 10 2 13 10 10 mehr positive Beispiele/Informationen/ weniger Negativberichte (z. B. nicht nur über Straftaten berichten) allg. 9 6 12 11 6 2 12 12 6 mehr (persönliche) Hintergründe/ warum flüchten Menschen/wandern in andere Länder aus/direkt mit Betroffenen sprechen 7 5 9 7 6 5 7 6 7 keine Hetze/keine Angst verbreiten/ keine Fremdenfeindlichkeit/weniger Rassismus 5 5 6 6 5 4 6 5 6 mehr gute Informationen/mehr Transparenz 5 5 5 5 4 3 5 5 5 mehr/häufiger über diese Themen berichten/ mehr Berichte/Reportagen 4 2 5 3 5 1 5 5 3 mehr über negative Beispiele berichten (z. B. Kriminalität, Männerüberschuss, Zusammenbruch des Sozialsystems) 3 4 3 4 3 2 4 4 2 weniger Informationen/weniger über Migration/ Einwanderung berichten 3 3 4 2 6 6 2 3 4 mehr über positive/erfolgreiche Integration berichten 3 2 4 2 4 2 3 4 3 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. – „Das gezeigt wird, wie die Gesellschaft toleranter Menschen mit Migrationshintergründen statt.“ (33 geworden ist, und es ist wichtig, über die Einwande- J., weiblich) rung zu reden, weil die Migranten Teil der Gesell- – „Mehr Sendungen mit normal erfolgreichen Leu- schaft sind.“ (24 J., männlich) ten mit ausländischen Hintergründen zeigen, als Er- – „Es ist sowohl informativ, als auch kritisch. Ich bin mutigung und Motivation für alle.“ (36 J., weiblich) damit zufrieden (33 J., männlich).“ – „Über Erfolge von den Menschen mit Migrations- – „Wird insbesondere in Sendungen der öffentlich- hintergrund mehr erzählen.“ (35 J., weiblich) rechtlichen gut und differenziert behandelt.“ (38 J., männlich) Ein zentraler Wunsch der jungen Menschen: Starke Starke Vorbilder Vorbilder mit Zuwanderungsgeschichte in den Medi- erwünscht Frage: Was könnte man bei der Berichterstattung en. „Wenn ich im Fernsehen eine Migrantin als Mode- über Einwanderung und Menschen mit Migrations- ratorin sehe, denke ich: Cool, die hat das geschafft!“ hintergrund in den deutschen Medien verbessern ist eine Aussage aus den Publikumsgesprächen. Auch bzw. anders machen? in der Onlineumfrage sagen 62 Prozent der Befragten, – „Ehrlichkeit und Transparenz, vor allem aber soll- dass es für sie sehr wichtig bzw. wichtig ist, dass ten die Medien unparteiisch sein.“ (25 J., männlich) Menschen mit einem Migrationshintergrund in den – „Die Wahrheit sagen, Dinge zeigen, die der Wahr- deutschen Medien zu sehen und zu hören sind (vgl. heit entsprechen. Nichts mehr schönreden“ (33 J., Tabelle 8). Mit 68 Prozent ist dieser Wert bei den in männlich) Deutschland geborenen am höchsten: Für sie ist es – „Vorurteile bekämpfen anstatt aufrechtzuerhalten, also besonders wichtig, dass sich die Vielfalt der Ge- Vielfalt zeigen, Toleranz fördern.“ (23 J., weiblich) sellschaft auch in den Medien wiederfindet. – „Nicht einseitig sein, outside the box denken, und mehrere Meinungen anhören. Klischees sind lang- Differenzierter Blick auf Einwanderung weilig.“ (26 J., männlich) notwendig – „Meistens wird über- oder untertrieben. Leider fin- Insgesamt bewegt sich die vorliegende Studie in ei- det die Berichterstattung kaum aus der Sicht von nem neuen Rahmen im Vergleich zu ihren Vorgängern.
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 454 Perspektiven 7-8/2020 Tabelle 8 Wie wichtig ist es Ihnen, dass Menschen mit Migrationshintergrund in den deutschen Medien zu sehen und zu hören sind? Zustimmung in % Geschlecht Alter Bildung Geburtsland gering/ Deutsch- anderes Gesamt männlich weiblich 20-29 J. 30-40 J. mittel hoch land Land n=475 n=170 n=305 n=274 n=201 n=125 n=339 n=264 n=211 sehr wichtig 28 32 25 29 28 22 30 31 24 wichtig 34 31 37 35 32 29 35 36 30 weniger wichtig 18 16 20 17 21 20 18 15 22 gar nicht wichtig 12 12 11 13 11 17 10 10 14 weiß nicht 8 9 8 8 9 11 7 7 9 sehr wichtig/wichtig 62 62 61 63 60 52 65 68 54 weniger/gar nicht wichtig 30 29 31 29 31 37 28 25 36 Quelle: mindline media, Onlinebefragung in NRW, 475 Befragte mit Zuwanderungsbiografie, 20 bis 40 Jahre. Untersuchungszeitraum 23.9.-21.10.2019. Große Diversität an Einerseits ist das dem stark veränderten Mediennut- „anderen“ (Ausländern, Migranten, andere Kulturen) Erfahrungen und zungsverhalten geschuldet, andererseits wird hier beschrieben werden, vor allem nicht, wenn diese als Meinungen bewusst ein anderer Blick auf das Zielpublikum ge- homogene Gruppe(n) verstanden werden. Steven richtet. Von den zwischen 20 und 40 Jahre alten Be- Vertovec nutzt den Begriff „super-diversity“, um die fragten sind etwas mehr als die Hälfte in Deutschland Transformation der Migrationsmuster zu beschrei- geboren. Statt auf eine von der deutschen Mehrheit in ben, deren Schlüsselmerkmal in den letzten Jahr- ihrer Mediennutzung und anderen Kulturmerkmalen zehnten die Diversifizierung ist, „nicht nur indem sie klar abgegrenzte Bevölkerungsgruppe, zeigen die Be- neue Ethnien und Herkunftsländer mitbringt, son- fragten mehr Gemeinsamkeiten mit der gleichen Al- dern auch eine Multiplizierung der signifikanten Va- ters- als mit der gleichen Herkunftsgruppe in anderen riablen bedeutet, die Einfluss darauf haben, wo, wie Alterskategorien. Trotzdem zeigt die Studie auch und mit wem die Menschen leben“. (18) Die existie- Merkmale, die die Forschungsfrage rechtfertigen und rende „umfassende Heterogenität“ (comprehensive Handlungsoptionen für die Medienhäuser aufzeigen, heterogeneity) (19) beziehe sich auf die Ethnie, wenn es um Diversity-Strategien mit dem Ziel der kul- Sprache, Religion, regionale Identitäten, sexuelle turellen Öffnung geht. Eine zentrale Schlussfolgerung Identitäten, kulturelle Werte und Praktiken oder den ist die Notwendigkeit eines differenzierten Blicks auf sozialen Status. Dabei machen Herkunftsländer, mit die Einwanderung. Die Gruppe der jungen Menschen denen in den 1960er Jahren Anwerbeabkommen mit sogenanntem Migrationshintergrund zeigt näm- geschlossen wurden, nicht länger den Großteil der lich eine große Diversität an Erfahrungen und Meinun- Migranten in den deutschen Städten aus. Statt we- gen, auch in Bezug auf die Medien. Aber sie äußerte nigen großen Communitys biete eine segmentierte auch den Wunsch nach mehr Sichtbarkeit als Teil des Vielzahl von kleinen Communities aus zahlreichen „normalen“ Bildes der Gesellschaft in den Medien. Herkunftsländern das akkuratere Bild der heutigen Diversität in den urbanen Zentren Westeuropas. (20) Am stärksten sichtbar wird die Vielstimmigkeit unter den Befragten in ihrer Einschätzung der Berichter- Mehr als ein halbes Jahrhundert der Arbeitseinwan- Mediennutzung stattung über Einwanderung: Die Spanne reicht von derung nach Deutschland hat darüber hinaus zu ei- entspricht dem Wunsch nach positiverer Berichterstattung über ner starken Diversifizierung innerhalb der Gruppen transnationalen den nach Neutralität bis hin zur Kritik einer „Ver- geführt, bezüglich der Herkunftsregion auf der sub- Identitäten schönerung“ des Themas. Der differenzierte Blick staatlichen Ebene, Religion, Minderheitsstatus im auf dieses für die Befragten wichtige Thema zeigt: Herkunftsland und anderen. Dazu kommen Faktoren Der sogenannte Migrationshintergrund ist nicht der im Aufnahmeland wie sozialer Status, Bildungsgrad, Hauptfaktor der Identitätsbildung, auch nicht die Folie, Ankunftsdatum und Staatsangehörigkeit sowie neue die jede politische Meinung in einer erwartbaren inter-ethnische Beziehungen. (21) Kurzum, das Leben Richtung beeinflusst. in spätmodernen Gesellschaften ist begleitet von „multiplen Orientierungen und Identitäten mit zu- Größere Insbesondere in urbanen Zentren, wie in den Städ- nehmend transnationalen Dimensionen“. (22) Heterogenität ten in NRW, kann die aktuelle soziale Mischung nicht der Herkunftsländer mehr akkurat durch die Trennung zwischen „uns“ Insbesondere dank der technologischen Fortschritte gegenüber früher (Aufnahmegesellschaft, Kultur und Sprache) und den und der sinkenden Telekommunikationskosten, ha-
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Media Perspektiven 455 7-8/2020 ben sich die Beziehungen zu den Herkunftsländern in trotzdem nicht ganz offen sind. Stattdessen sind in den letzten Jahren nicht reduziert, sondern sind ge- den Medientexten zahlreiche Repräsentationsstrate- wachsen. Der Zugang zu Satellitenfernsehen, der gien am Werk, die bestimmte Interpretationen privile- Wegfall der Roaming-Kosten, die Billigflüge, das In- gieren und sie so zu „bevorzugten Lesarten“ (prefer- ternet, die niedrigen Kosten für Geldtransfer: All diese red readings) machen. Die bevorzugten Lesarten sind haben nicht nur zu häufigeren transnationalen Prak- insbesondere in den Medieninhalten relevant, die sich tiken in den Leben der Migranten geführt, sondern mit der multikulturellen Gesellschaft befassen. Diese „sie haben es den Migranten erlaubt, wie nie zuvor, sind insbesondere in den Inhalten relevant, in denen extensive soziale, wirtschaftliche und politische Be- Ideen der kollektiven Identität verhandelt werden und ziehungen zu den Orten der Herkunft oder anderen wo bestimmt wird, inwieweit spezifische Subjekte ins Mitgliedern der globalen Diasporas aufrecht zu er- Gemeinwesen eingeschlossen oder eben daraus dis- halten“. (23) kursiv ausgeschlossen werden. Letzteres kann durch eine Vielzahl an Strategien in den Medieninhalten um- Auch die Befragten dieser Studie beschrieben trans- gesetzt werden, unter ihnen Stereotypisierung, Es- kulturelle Praktiken aus dem eigenen Leben, darunter senzialisierung, binäre Oppositionen oder Weglassen. Mehrsprachigkeit und die Nutzung von Medien in der (27) Beispiele für solche Strategien wären die Überre- Herkunftssprache. Als Hauptmotiv gaben sie an, be- präsentation von Migranten in Berichten über soziale stimmte Themen in den deutschen Medien zu vermis- Probleme oder Kriminalität, Marginalisierung von sen oder zu beanstanden. Beispiele aus dem Publi- Migranten, in dem sie das Wort in Berichten nicht er- kumsgespräch reichten von der Kritik an der Bericht- halten, Stereotypisierung (Italiener als Mafia, Türken erstattung über afrikanische Länder bis hin zum Hin- als Imbissbesitzer, Beziehungen zwischen den Ge- weis, dass kein deutsches Medium über die Vorliebe schlechtern in der muslimischen Familie) oder Fra- von jungen Polen für veganes Essen berichtet habe. ming (Islam als Bedrohung). Trebbe hat diese bei- spielsweise als Prozesse identifiziert, die zu einem Mehrfachzugehörig- Vor allem die Diskussion im Publikumsgespräch negativen Bild der Migranten in den deutschen Medi- keiten prägen zeigte Lebenswelten, die sich keinesfalls in Dualis- en führen. (28) Aber Medien sind auch der Raum, in Selbstverständnis men zwischen Mehrheit und Minderheiten aufteilen dem Gegenstrategien artikuliert und alternative Bilder lassen. Für die Befragten war ihr „Migrationshinter- zirkuliert werden können. Dies ist von Bedeutung grund“ einer, keinesfalls aber der stärkste Faktor bei für die Frage, welches Idealbild der Gesellschaft, der Erklärung ihrer kulturellen Praktiken. Stattdessen welche Bilder der gesellschaftlichen Pluraliät die lässt sich ihre Lage eher durch Mehrfachzugehörig- Medien konstruieren, allen voran die öffentlich-recht- keiten beschreiben, wobei die „Zugehörigkeit, Loya- lichen Medien. lität und ein Gefühl der Verbundenheit (…) nicht Teile eines Null-Summen-Spiels sind, das auf einem ein- Wie bewerten hier die jungen Menschen mit dem zelnen Nationalstaat oder Gesellschaft basiert“. (24) „Migrationshintergrund“ die Lage? Wie also partizi- pieren Medientexte heute aus ihrer Sicht in der Kon- Auch die Theoretiker der postmigrantischen Gesell- struktion von kulturellen Identitäten? Welche For- schaft zeigen ein Bild auf, in dem „mit eindeutigen men von Subjektivierung werden hier diskursiv pro- Verortungen gebrochen (wird) und Diskontinuitäten duziert? Stellen die Medien ein Gefühl der Zugehö- ins Blickfeld gerückt werden“. (25) Wie Yildiz betont, rigkeit zur (pluralen) Gemeinschaft her oder lotsen stellt dieser Bruch „kategoriale Dualismen von ‚uns sie zu „bevorzugten Lesarten“, die das Bild eines und den Anderen‘ radikal in Frage und rückt statt- nationalen und kulturellen „Anderen“ aufrecht er- dessen produktive und kreative Spaltungen, mehr- halten? heimische Zugehörigkeiten und bewegte Biografien ins Blickfeld“. (26) In anderen Worten, es entstehen Auch wenn die Befragten in dieser Studie sich selbst Identifikation in dieser Pluralität Räume für neue Wissensproduk- nicht als „kulturell Andere“ betrachten, stellt sich der mit Medien- tion – ein analytischer Ansatz, der für die Medien Eindruck einer Ambivalenz in ihrer Selbstpositionie- Protagonisten mit von großer Bedeutung sein könnte. rung dar: Einerseits lassen die Antworten keine Ein- Zuwanderungs teilung in einfache Binaritäten zwischen „Migranten“ geschichte Wunsch Daran kann die zweite Erkenntnis der Studie anknüp- und der „Mehrheitsgesellschaft“ zu. Andererseits nach medialer fen, nämlich der Wunsch nach Repräsentanz als Teil weisen sie auf eine Identifikation mit Medien-Prota- Repräsentanz als der Normalität. Besonders in den Aushandlungen einer gonisten hin, die als Menschen mit Migrationsge- Teil der Normalität multikulturellen Situation werden Medien zu einem schichte identifiziert werden. Es wird die Erwartung der zentralen Räume, in denen Ideen zur Gemein- ausgesprochen, mehr solche Menschen in den Me- schaft und somit auch zur Zugehörigkeit konstituiert dien zu sehen und somit auch mehr „Normalität“ zu werden. In seiner Analyse der komplexen Interaktion erreichen. Diese ist auch emotional untermalt: „Einer zwischen dem Senden und dem Empfangen von Me- mit Migrationshintergrund, der eine eigene Sendung dienbotschaften zeigt Stuart Hall, wie multiple Inter- moderiert, das macht mich richtig stolz!“, lautete eine pretationen zwar möglich sind, die Ergebnisse aber der Aussagen im Publikumsgespräch.
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 456 Perspektiven 7-8/2020 Vielfalt als Normalität Mit dieser Forderung legen die Befragten den Finger Dazu gehört beispielsweise WDRforyou, ein mehr- in den Medien an ein Defizit im Medienbild der Einwanderungsge- sprachiges digitales Angebot, das seit Januar 2016 nicht ausreichend sellschaft, nämlich an die oft beschworene, aber Geflüchteten und Neuzugewanderten Orientierung abgebildet ebenso oft fehlende „Normalität“. Yildiz erinnert da- im neuen Leben in Deutschland bietet. Die Hörfunk- ran, dass der konventionelle Migrationsdiskurs die welle Cosmo bündelt seit 1999 (damals als Funk- Migrationsgeschichten immer noch „als spezifische haus Europa) die Sendungen in den Sprachen der historische Ausnahmeerscheinung erzählt, zwischen großen Einwanderer-Communitys mit einem ganz- Entwicklungen in Herkunfts- und Ankunftsländern, tägigen deutschsprachigen Programm. Das Selbst- zwischen ‚einheimischer Normalität‘ und ‚einge- verständnis des Angebots hat sich dabei seit der wanderten Problemen‘“. (29) Dadurch haben sich Gründung von einem Integrationsradio bis hin zu ei- „bestimmte Konstruktionen wie ‚Leitkultur‘, ‚Integ- nem Programm, das das kosmopolitische Lebens- ration‘, ‚Parallelgesellschaft‘ oder ‚ausländische Men- gefühl der urbanen jungen Generation aufgreift, ge- talität‘ etabliert“ (30), die nach wie vor Schlüssel- wandelt. Dies wird durch die Musikauswahl und die konstruktionen des Diskurses sind – auch wenn sie Wortinhalte deutlich, entwickelt von einem interna- in der Breite der Realität nicht entsprechen. tionalen Redaktionsteam. In anderen Worten: Während die Migranten in zwei- Das Thema soll aber auch als bereichsübergreifen- Identifikations ter oder dritter Generation ein „Mainstreaming“, eine der Teil des Normalbetriebs im Sender verstanden potenziale durch Normalisierung der sozialen Zugehörigkeit verlan- werden. Zu dieser Gesamtstrategie gehört auch die Abbildung der gen, hat die Pluralisierung der Gesellschaft keines- Entwicklung des journalistischen Nachwuchses: Seit gesellschaftlichen falls die (diskursiven) Kategorien obsolet gemacht, 2005 werden junge Medienschaffende mit interna- Vielfalt entlang welcher sie als nicht zugehörig definiert tionalen Biografien im Rahmen der journalistischen werden. Die Befragten in dieser Studie weisen in Talentwerkstatt WDR grenzenlos für die Arbeit in den ihrer Forderung auf die Diskrepanz in den Medien- Medien gewonnen und professionalisiert. Zahlreiche bildern hin: Trotz der Normalisierung der Vielfalt, Absolventen der Talentschmiede, die mittlerweile findet sich die Normalisierung in den Medien nicht zum festen Bestandteil der Personalentwicklung ge- ausreichend wieder. hört, sind als Moderatoren, Autoren oder Redakteure in den WDR-Programmen beschäftigt. Module zum Schlussfolgerungen für die Medienanbieter Thema interkulturelle Berichterstattung gehören zur Diversität als Teil des Wenn die öffentlich-rechtlichen Sender der super- Ausbildung der Volontäre, das Thema ist auch Be- öffentlich-rechtlichen diversifizierten Gesellschaft und der damit einherge- standteil von Führungskräfteschulungen. Leitbilds henden Diversifizierung des Publikums Rechnung tragen wollen, gilt es, an dieser Diskrepanz zu arbei- Die Vielfalt und Diversität der Gesellschaft in allen ten. Dazu zählen Moderatoren mit internationalen Programmfarben, Genres und auf allen Kanälen ab- Biografien, Experten, die sich zu Themen vom allge- zubilden und dabei auf starke Protagonisten zu set- meinen Interesse und nicht nur zum „Migration-Inte- zen, die auch für junge Menschen Identifikationspo- gration-Komplex“ äußern, Protagonisten „aus dem tenziale bieten, sind auch nach den Ergebnissen Leben“, die vor den selben Alltagsfragen stehen wie dieser Studie die zentralen Erwartungen des Publi- alle, und vieles mehr. Es gilt also, die Lebenswelten kums. Zahlreiche Beispiele für starke Protagonisten und Perspektiven, die aus der gesellschaftlichen mit einer Zuwanderungsbiografie zeigen, dass diese Pluralität erwachsen, selbstverständlich und ohne Entwicklung in den deutschen Medien bereits statt- Erklärungszwang in die Programme zu holen. findet. Zwei Beispiele aus den WDR-Programmen: Dilek Üs˛ ük moderiert in der Nachfolge von Aslı WDR seit Jahren Repräsentation der Vielfalt als Normalität bildet die Sevindim seit April 2020 die „Aktuelle Stunde“. Die mit Integration Grundlage der WDR-Gesamtstrategie in diesem Kon- Sendung ist das Nachrichtenformat für Nordrhein- und Interkulturalität text. Der Sender befasst sich schon seit Jahren um- Westfalen und erreicht täglich 1,25 Millionen Men- befasst fassend mit dem Thema Integration und Interkultu- schen. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen- ralität, das angesichts der demografischen Daten im Kim ist Moderatorin beim Wissensmagazin „Quarks“ Sendegebiet NRW von immenser Relevanz ist. Das und erreicht mit ihrem YouTube-Kanal maiLab auf Ziel, die Pluralität des Sendegebiets als Alltagsnor- der ARD/ZDF-Plattform „funk“ über 900 000 Abon- malität in den Programmen und in der Belegschaft nenten, das erfolgreichste Video „Corona geht gera- zu spiegeln, wird im WDR als Teil des Auftrags als de erst los“ wurden bisher 6,2 Millionen mal abge- öffentlich-rechtliche Rundfunk verstanden (wie in den rufen. (32) WDR-Programmleitlinien 2006 festgeschrieben). (31) Die Ergebnisse der aktuellen Studie verdeutlichen in Erwartung an Diese Strategie muss selbstverständlich kontinuier- Bezug auf die Mediennutzung, dass von jungen ARD und ZDF: lich mit Inhalten gefüllt und aktiv weiterentwickelt Menschen mit einer Zuwanderungsbiografie an ers- Zur Normalisierung werden. Einerseits reagiert der Sender auf den ge- ter Stelle attraktive Angebote im Netz erwartet wer- von Diversität sellschaftlichen Wandel mit gezielten Angeboten. den. Gefragt sind authentische Geschichten, welche beitragen
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte: Mediennutzung und Programmerwartungen Media Perspektiven 457 7-8/2020 die Lebenswirklichkeit abbilden sowie die multiper- von Verbundenheit zu mehreren Orten oder in den spektivische Darstellung der Themen Einwanderung individuellen Definitionen von Identität. Und auch und Migration. Die Erfahrung einseitiger Berichter- wenn die Befragten in dieser Studie in ihren Nut- stattung und die Angst vor Meinungsmache ist für zungsgewohnheiten von den anderen jungen Men- die Befragten ein prägendes Element ihrer Medien- schen kaum abweichen, wollen auch sie schlicht und nutzung. Dabei wird eine konstruktive Bearbeitung einfach die Lebenswelten und die Menschen in den der Themen erwartet, die aber auch nicht die prob- Medien sehen, die ihnen ähnlich sind. lematischen Seiten der Migration und Einwanderung vernachlässigt. Den öffentlich-rechtlichen Angebo- Für die Medienforschung bedeutet dies zum einen, Konsequenzen für ten kommt dabei eine besondere Rolle zu: Ihnen die Konzepte und theoretischen Zugänge in Bezug die Medienforschung wird in Bezug auf die Nachrichten und Informationen auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen am stärksten vertraut, was insbesondere im Span- der Mediennutzung und die neue Nutzungsformen zu nungsfeld mit den viel genutzten Social-Media-Platt- präzisieren. Wie kann das Konzept der postmigran- formen ein wichtiger Befund ist. Dabei besteht die – tischen Gesellschaft, welches zunächst nur einen vor allem im Publikumsgespräch geäußerte – Erwar- deskriptiven Charakter hat, operationalisiert und in tung an ARD und ZDF, dass sie einen starken Beitrag Messinstrumente und Methoden der Medienfor- zur Diskussion und Integration kontroverser Mei- schung übersetzt werden? Nach unserer Erfahrung nungen leisten und zu einem in Abgrenzung zu den sind dafür insbesondere Forschungsdesigns geeig- Diskursen auf den Social-Media-Plattformen kulti- net, die verschiedene Methoden kombinieren und vierten Meinungsaustauch über die Themen Migra- auch verstärkt partizipative Elemente enthalten. Dies tion und Integration beitragen. betrifft natürlich die Einbeziehung der Programm- verantwortlichen in die Entwicklung der Fragestel- Gesamtheit der Die in dieser Studie ausgedrückten Erwartungen er- lungen und ihre Beteiligung bei den Befragungen postmigrantischen innern an eine einfache Kalkulation: Die Medien, die und den Ableitungen aus der Auswertung. Auf der Gesellschaft soll ein großes Publikumssegment nicht wahrnehmen anderen Seite ist das Feedback der Zielgruppe und publizistisch und nicht realistisch darstellen, werden für dieses die Entwicklung von Fragestellungen und Themen abgedeckt werden Publikum immer weniger relevant. Dies ist jedoch im direkten Austausch entscheidend, wie es sich nicht der einzige Grund, um sich diesen Erwartun- zum Beispiel in Publikumsgesprächen oder anderen gen zu stellen. Vielleicht noch wichtiger ist es, mehr qualitativen Ansätzen realisieren lässt. und unterschiedliche Perspektiven in den Program- men zum Tragen kommen zu lassen, um damit die plurale Gesellschaft nicht nur in ihren Einzelteilen Anmerkungen: wahrzunehmen und zu „bedienen“, sondern vielmehr 1) V gl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung mit Migrations- die Gesamtheit einer postmigrantischen, neuen Ein- hintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018 – Fach- serie 1, Reihe 2.2. https://www.destatis.de/DE/Themen/ heit publizistisch zu deuten. Denn, postmigrantisch Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration (abgerufen steht „nicht für einen Prozess der beendeten Migra- am 24.5.2020). tion, sondern für eine Analyseperspektive, die sich 2) Vgl. Simon, Erk/Ulrich Neuwöhner: Medien und Migranten 2011 – Zielsetzung, Konzeption und Basisdaten einer mit den Konflikten, Identitätsbildungsprozessen, so- repräsentativen Untersuchung der ARD/ZDF-Medienkom- zialen und politischen Transformationen auseinan- mission. In: Media Perspektiven 10/2011, S. 458-470. 3) Die „postmigrantische Gesellschaft“ bezeichnet eine dersetzt, die nach erfolgter Migration und nach der Gesellschaft, die durch die Erfahrung der Migration im Anerkennung, ein Migrationsland geworden zu sein, politischen, kulturellen, sozialen und demografischen einsetzen“. (33) Sinne wesentlich geprägt ist. Das Präfix „post“ steht dabei nicht für das Ende der Migration, sondern beschreibt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die in der Phase Geschichte der Die Geschichten der Migration und der heutigen plu- nach der Migration erfolgen. Laut Naika Foroutan sind postmigrantische Gesellschaften welche, in denen a) die Migration produktiv ralen Gesellschaft können als Quelle der Wissens Grundstruktur politisch anerkannt worden ist, ungeachtet aufnehmen produktion verstanden und in den Medien produktiv der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ aufgenommen werden. In diesem Sinne sind etwa bewertet wird, b) Einwanderung als Phänomen erkannt wird, das das Land prägt und das diskutiert, reguliert die Maßnahmen zur Gewinnung von journalistischem und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden Nachwuchs mit vielfältigen Biografien für die Medien kann, und c) in denen Strukturen, Institutionen und poli- tische Kulturen nachholend an die erkannte Migrations- zu verstehen. Vielmehr als eine bestimmte, unterre- realität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit präsentierte Gruppe an die Medienhäuser unterstüt- und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und zend heranzuführen ist Sinn solcher Maßnahmen, Verteilungskämpfe zur Folge hat. Vgl. Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft. „neue Geschichten“ aus verschiedenen Lebenswel- Quelle: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/ ten journalistisch erzählen zu lassen. Denn, hinter kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft# footnode1-1 (abgerufen am 11.08.2020). dem statistischen Etikett „Migrationshintergrund“ 4) Vgl. Cos˛ kun, Canan/Naika Foroutan: Deutschland post- verbergen sich Menschen, die im Alltag die ganze migrantisch III. Migrantische Perspektiven auf deutsche Dynamik der Ausdrucksformen einer sich wandeln- Identitäten – Einstellungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund zu nationaler Identität in Deutsch- den Gesellschaft leben: in Familien, in denen mehrere land. BIM-Berliner Institut für empirische Integrations- Sprachen gesprochen werden, durch die Gefühle und Migrationsforschung. Berlin 2016.
Erk Simon/Iva Krtalic/Gerhard Kloppenburg Media 458 Perspektiven 7-8/2020 5) Vgl. Foroutan, Naika: Postmigrantische Gesellschaften. 15) V gl. Krüger, Udo Michael/Erk Simon: Das Bild der Migran- In; Brinkmann, Heinz U./Martina Sauer (Hrsg.): Einwan- ten im WDR-Fernsehen. Ergebnisse einer empirischen derungsgesellschaft Deutschland. Wiesbaden 2016, Programmanalyse. In: Media Perspektiven 3/2005, S. 227-254; Foroutan, Naika: Die postmigrantische S. 105-114. Gesellschaft: ein Versprechen der pluralen Demokratie. 16) Für die Stichprobenziehung aus einem Online-Access- Bielefeld 2019; Hill, Marc/Erol Yildiz (Hrsg.): Postmigran- Panel wurde eine Random-Quota-Auswahl mit den Merk- tische Visionen: Erfahrungen–Ideen–Reflexionen. Biele- malen Alter und Geschlecht eingesetzt. Mit der Durch- feld 2018; Foroutan, Naika/Juliane Karakayali/Riem führung der Befragung im Zeitraum 23. September bis Spielhaus (Hrsg.): Postmigrantische Perspektiven. 21. Oktober war das Institut mindline Berlin beauftragt. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt/ 17) Vgl. Frees, Beate/Kupferschmitt, Thomas/Müller, Thorsten: New York 2018. ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends 2019 – Non 6) In der angewandten Medienforschung ist die Erhebung lineare Mediennutzung nimmt zu. Media Perspektiven 7/8 des Merkmals Zuwanderungsbiografie in vielen Studien 2019, S.314-333. mittlerweile zumindest Standard, so zum Beispiel mit 18) Vertovec, Steven: New complexities of cohesion in Britain: der Basis deutschsprachige Bevölkerung in der Media Super-diversity, transnationalism and civil-integration. Analyse für Radio/Audio und in der AGF-Videoforschung London 2007, S. 7 (Übersetzung der Autoren aus dem für TV und Video. Integrierte Analysen der Mediennutzung Englischen). für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unter 19) Fenzel, Birgit: Networking diversity. In: Max Planck Berücksichtigung soziodemografischer Merkmale sind Research 3/2010, S. 85; https://www.mpg.de/790198/ auf diesem Weg möglich. W006_Culture-Society_082-089.pdf (abgerufen am 7) Vgl. Zambonini, Gualtiero/Erk Simon: Kulturelle Vielfalt 23.5.2020) (Übersetzung der Autoren aus dem Englischen). und Integration: Die Rolle der Medien. In: Media Perspek- 20) Vgl. Vertovec, Steven/Susanne Wessendorf: Migration tiven 3/2008, S. 120-124. and cultural, religious and linguistic diversity in Europe: 8) Ebd., S. 121. An overview of issues and trends. In: ESRC Centre on Migraiton, Politcy and Society Working Paper 18/2005 9) Ebd. sowie Vertovec, Steven: Towards “post-multiculturalism”? 10) Vgl. ebd. Changing communities, conditions and contexts of 11) Vgl. Cos˛ kun/Foroutan (Anm. 4). diversity. In: International Social Science Journal 199/2010, 12) Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit S. 83-95. in der Regel die männliche Form verwendet; sie bezieht 21) Vgl. Vertovec (Anm. 18). sich auf Personen jeglichen Geschlechts. 22) Fenzel (Anm. 19), S. 87. 13) Vgl. dazu Trebbe, Joachim: Ethnische Minderheiten, 23) Vertovec (Anm. 18), S. 7. Massenmedien und Integration. Eine Untersuchung zu 24) Ebd., S. 20. massenmedialer Repräsentation und Medienwirkungen. 25) Yildiz, Erol: Ideen zum Postmigrantischen. In: Foroutan, Wiesbaden 2009; Namin, Parisa Javadian: Die Darstel- Naika/Juliane Karakayali/Riem Spielhaus (Hrsg.): lung des Islam in den deutschen Printmedien. In: Geissler, Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Rainer/ Horst Pöttker (Hrsg.): Massenmedien und die Repräsentationen, Kritik. Frankfurt/New York 2018, S. 21. Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland – 26) Ebd. Band 2. Forschungsbefunde. Bielefeld 2009, S. 271-296; 27) Vgl. Askew, Kelly: Introduction. In: Askew, Kelly/Richard Fick, Patrick: Der Wandel der Darstellung von Migranten R. Malden (Hrsg.): The anthropology of media: A reader. am Beispiel Siegener Lokalmedien in den Jahren 1996 Oxford/Carlton 2002, S. 1-13. und 2006. In: Geissler/Pöttker (2009), S 235-269; 28) Vgl. dazu Trebbe (Anm. 13). Ruhrmann, Georg: Migranten und Medien: Dokumentation 29) Yildiz (Anm. 25), S. 22. zum Forschungsstand der wichtigsten Studien über die 30) Ebd. Mediendarstellung, Nutzung und Rezeption von Migranten 31) Vgl. WDR-Programmrichtlinien. Quelle: https://www1. und ethnischen Minderheiten von 2003 bis 2009. wdr.de/unternehmen/der-wdr/profil/programmauftrag/ Jena 2009 sowie Geissler, Rainer/Sonja Weber-Menges: aufgabe_programmrichtlinien100.pdf (abgerufen am Media reception and ideas on media integration among 23.5.2020). Turkish, Italian and Russo-German migrants in Germany. 32) Quelle TV-Daten: AGF in Zusammenarbeit mit GfK, In: Geissler, Rainer/Horst Pöttker (Hrsg.): Media – migra- Sehbeteiligung in NRW: 1.1. bis 22. Mai 2020. YouTube- tion – integration. European and North American perspec- Daten: https://www.youtube.com/channel/ tives. Bielefeld 2009, S. 27-44. UCyHDQ5C6z1NDmJ4g6SerW8g (abgerufen am 14) Vgl. Hammeran, Regine/Deniz Baspinar/Erk Simon: 24.5.2020). Selbstbild und Mediennutzung junger Erwachsener mit 33) Foroutan, Naika: Postmigrantische Gesellschaften. türkischer Herkunft. Ergebnisse einer qualitativen Studie. In: Brinkmann, Heinz U./Martina Sauer (Hrsg.): Einwande- In: Media Perspektiven 3/2007, S. 126-135, hier S. 135. rungsgesellschaft Deutschland. Wiesbaden 2016, S. 232.
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