Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg

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Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Vielfalt leben
Das Magazin von SZENE HAMBURG und Inklusionsbüro 07 / 2020

Der Alltag von Menschen
mit Beeinträchtigungen
ist oft herausfordernd

                                     DARUM INKLUSION
                                     Wie inklusiv sind wir schon
                                     und wo brauchen wir noch
                                     Nachhilfe und Aufklärung?
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Ursula Wermke                                Hedda Bültmann                          Erik Brandt-Höge                     Ulrich Thiele
Leitung Fachbereich Inklusion                        Chefredakteurin                            Redakteur                          Redakteur
     und Zivilgesellschaft                          SZENE HAMBURG                           SZENE HAMBURG                      SZENE HAMBURG

                                                                                                                    Das
                                                                                                                    Team

Kreativ!
D
                                                                                     ?
         ie Zeit der Corona-Pandemie ist heraus-
         fordernd – für Menschen mit Behinderung
         noch mal auf eine ganz andere Weise. Denn
 für viele ist eine feste Struktur und Regelmäßigkeit
 im Alltag enorm wichtig, was durch den Lockdown
                                                                                                 Ihre Meinung
 nicht mehr machbar war. Betroffene mussten krea-
 tiv werden und neue Wege gehen, wie die Mitarbei-
                                                                                                  ist uns wichtig!
 ter des Autismus Instituts, um die Therapien, auch
 ohne persönlichen Kontakt fortzusetzen. Oder die                                        Wir möchten, dass unser Magazin für Sie,
 Eltern, deren Tochter nicht mehr in ihr Wohnheim                                         liebe Leserinnen und Leser, spannend bleibt.
 zurück konnte. Kreativität ist das, was die Geschich-                                    Sagen Sie uns Ihre Meinung! Einfach per Mail
 ten in unserem Heft eint. Sie alle erzählen von Ideen                                    an hedda.bueltmann@szene-hamburg.com

                                                                                         1
 oder Aktionen, die das Miteinander von Menschen
 mit Behinderung und ohne einfach besser machen.                                              Wie wichtig ist Ihnen das Thema
 Wie man sich mit Spaß dafür einsetzen und etwas                                              Inklusion und haben Sie bereits
 erreichen kann. Allen voran Ingrid Körner. Die                                               Berührungspunkte?
 Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behin-

                                                                                         2
 derter Menschen scheidet nach neun Jahren aus
 ihrem Amt. In dieser langen Zeit hat sie viel für                                             Welche Themen finden Sie
 die Inklusion getan und Hamburg ein Stück weit                                                interessant? Was hat Sie beim
 geprägt. Wir werden sie vermissen und wünschen                                                Lesen überrascht?
 ihr alles Gute!

                                                                                         3
                                                                                               Was fehlt Ihnen und würden
 Und Ihnen wünschen wir jetzt viel Spaß beim Lesen!
                                                                                               es aber von einem Heft über
                                                                                               Inklusion erwarten?
 Ursula Wermke,                            Hedda Bültmann,
 Inklusionsbüro                            SZENE HAMBURG
                                                                                                                                                         TITELBILD: PHILIPP SCHMIDT

  Impressum
  ISSN 1614-3892
  Herausgeber: SZENE HAMBURG
  und Inklusionsbüro Hamburg                        Schlussredaktion: Claudia Hoffmann         Erscheinungsweise:       Geschäftsführung:
  Chefredaktion: Hedda Bültmann                     Grafik: Constanze Henk                     Zweimal jährlich         Mathias Forkel, Tanya Kumst
  Autoren: Erik Brandt-Höge,                        Redaktionsanschrift:                       Gesamtherstellung:       Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg
  Marco Arellano Gomes, David Hock,                 Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg             VKM Verlagskontor        Telefon: 040 524 72 26 80
  Laura Lück, Ilona Lütje, Basti Müller,            redaktion@szene-hamburg.com,               für Medien­-             Druck: Dierichs Druck+Media
  Ulrich Thiele                                     szene-hamburg.com                          inhalte GmbH             GmbH & Co. KG

  2 | EDITORIAL IMPRESSUM
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Marco Arellano Gomes                                                                                Basti Müller             Laura Lück            David Hock             Ilona Lütje
     Redakteur                                                                                        Volontär              freie Autorin     freier Autor für u. a.     freie Autorin
  SZENE HAMBURG                                                                                   SZENE HAMBURG           SZENE HAMBURG        SZENE HAMBURG,          SZENE HAMBURG
                                                                                                                                             Rollt. und Hamburger
                                                                                                                                                   Abendblatt

                                                                                                                               Inhalt
                                                                                                                14
                                                                          Zeit für Inklusion
                                                                          Wie eine Grundschulklasse mit einem
                                                                          Song den Schülerwettbewerb gewinnt

                                                                                                                                                                                 12
FOTOS: MARCO ARELLANO GOMES (L.U.), HARTMUT VOGT (L.O.), STATTTOUR (R.)

                                                                                                                                StattTour
                                                                                                                                Hamburg aus Sicht eines
                                                                                                                                Rollstuhlfahrers entdecken

                                                                                                                               Ingrid Körner: Neun Jahre Amtszeit                  04
                                                                                                                               Mehr Akzeptanz für Assistenzhunde                   06
                                                                                                                               Corona verändert das Familienleben                  10

                                                                                                                08             Kreative Wege für Autismus-Therapie
                                                                                                                               Barrierefreies Senden beim NDR
                                                                                                                                                                                   11
                                                                                                                                                                                   16
                                                                          Kompetenzzentrum
                                                                          Ein Experte erzählt, warum Stadt-Innovationen
                                                                          oft nicht barrierefrei sind

                                                                                                                                                                          INHALT | 3
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Der Weg zur Inklusion
hört nie auf
Rückblick Die ehemalige Studienrätin Ingrid Körner wurde 2011 als Senats­
koordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen berufen – ehren-
amtlich. Jetzt verlässt die 74-Jährige den Posten. Ihr Engagement für ein
besseres Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist damit aber
noch längst nicht beendet

◗ Interview: Ilona Lütje

?
      Frau Körner, Sie haben in den ver-       offenbar nicht mitgedacht wurde. Ich habe     Beispiel auch gehörlose, eingeschränkt
      gangenen neun Jahren viel bewegt.        mir alle Pläne noch mal angeschaut und        ­sehende oder lernbehinderte Menschen,
      Gehen Sie jetzt leichten Herzens?        tatsächlich: Es wurde etliches nicht beach-    das vergessen viele gern. Umso erfreu-
Ich gehe voller Zuversicht. Wir sind ein       tet – und das, obwohl auch das Gesund-         licher ist gerade dieses aktuelle Projekt:
ganzes Stück weiter. Vieles, das früher hin-   heitsamt dort zu Hause sein sollte. Es war     hamburg.de soll zu einer barrierefreien
ten runtergefallen ist, ist heute selbstver-   zum Glück alles noch in der Planungspha-       Informationsquelle werden und so wirk-
ständlich geworden. Inklusion wird stärker     se. Es musste Geld beschafft werden und        lich jeden erreichen. Der Bedarf wurde
mitgedacht bei allen. Das macht Hoffnung       der Bauherr hat dann noch mal nachge-          zuvor genau ermittelt und ist riesig.
und mir den Abschied leichter.                 bessert. Ein Gegenbeispiel ist das neue           Ihr größter Erfolg? Ihre größte Nie-
   Was waren Ihre Themen?                      Kongresszentrum – hier wurde das Thema         derlage?
Die Aufgaben sind ungeheuer vielfältig.        Inklusion vorbildlich mitgedacht.              Es gibt nicht wirklich das eine Highlight
Auf Basis der UN-Behindertenrechtskon-             Welche Themen lagen Ihnen beson-           oder die eine Niederlage bei diesem Job.
vention ging es immer darum, die Rechte        ders am Herzen?                                Es geht um die tägliche Arbeit und darum,
der Menschen mit Behinderungen auch            Auf jeden Fall alle, die mir ganz persön-      nichts zu übersehen. Aber natürlich: Die
in Hamburg umzusetzen. Vieles war sehr         lich entgegengebracht wurden, die mir          Elbphilharmonie, bei deren Bau – zum
theoretisch, aber ungeheuer wichtig. Ich       ganz nah auch noch einmal zeigen, wie es       Beispiel bei der großen repräsentativen
habe zum Beispiel immer automatisch Ein-       den betroffenen Menschen geht und mit          Treppe – das Thema Barrierefreiheit so
sicht in sämtliche Schriftstücke – Druck-      welchen Problemen sie konfrontiert sind.       ziemlich vergessen wurde, war schon eine
sachen, Gesetzesentwürfe, Bauplanungen.        Ich habe von vielen Schicksalen erfahren,      besondere Herausforderung – allein, weil
Wo immer etwas geplant wurde, habe ich         die wichtige Denkanstöße geliefert haben.      das Gebäude schon so herausragend ist.
darauf geachtet, ob das Thema Inklusion        Probleme, an die so niemand gedacht            Ein ganz besonderes Highlight fällt mir
mitgedacht wurde. Meine Rückmeldung            hätte. Leider kann ich hier keine Beispiele    dann aber auch doch ein: Anfang 2019
wurde dann noch mal geprüft und jede           nennen, denn jeder Einzelne würde sich         konnte das Kompetenzzentrum für ein
Behörde hat dann für sich entschieden. Seit    sofort darin erkennen. Aber ich kann           barrierefreies Hamburg an den Start
der Wahl 2020 bekommt die ganze Bürger­        versichern, dass auf dem Weg zu einem          gehen. Darin arbeiten die Kollegen fach-
schaft Kenntnis von den Kommentaren            barrierefreien Hamburg – und dabei geht        übergreifend zusammen, um zum Beispiel
und Einsprüchen und muss dann entschei-        es nicht nur um gehbehinderte Menschen         bei jedem Bauvorhaben die gesetzlich vor-
den, ob es sinnvoll ist oder nicht. Das ist    – noch viel mehr Steine im Weg liegen.         geschriebene Barrierefreiheit überall im
ein großer Schritt in Sachen Transparenz.      Diese persönlichen Schicksale – gerade         Blick zu behalten und so das Leben von
   Ein Beispiel?                               wenn sie sich sehr ähneln – machen mich        Menschen mit Behinderungen in unserer
Der Umzug des Bezirksamts Mitte 2018           oft sehr betroffen, zeigen aber auch, dass     Stadt zu verbessern.
in die Caffamacherreihe. Damals muss-          es wichtig ist, sich zu Wort zu melden.           Sie haben die ganzen Jahre „nur“
ten mich Mitarbeiter darauf aufmerksam         Denn da hapert es dann doch noch. Bar-         ehrenamtlich gearbeitet, haben Sie damit
machen, dass das Thema Barrierefreiheit        rierefreiheit und Inklusion betreffen zum      gehadert?

 4 | INTERVIEW
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Man muss
                                aufeinander
                                zugehen und
                                voneinander
                                   lernen

                     Viele Menschen halten die ehrenamtliche
                     Arbeit schon als sehr misslich, denn das
                     würde den Aufgaben eigentlich nicht
                     ­gerecht. Ich fand dabei jedoch viele Vor-
                      teile für diese Arbeit heraus und konnte
                      es mir nach meinem Schuldienst zum
                      Glück auch leisten, ehrenamtlich zu arbei-
                      ten. Doch junge Leute ließen sich über
                      ein Ehrenamt schwer zu diesen Aufga-
                      ben motivieren. Wer kann sich das heute
                      schon leisten? Ich habe mich darum schon
                      früh dafür eingesetzt, dass es mit der Neu-
                      besetzung jetzt eine bezahlte Stelle wird.
                          Bekommt das Thema durch die
                      hauptamtliche Stelle jetzt noch mehr
                      Nachdruck?
                      Das hängt vor allem von der Person ab,
                      die jetzt kommen wird. Die Vorstellungs-
                      gespräche laufen, noch gibt es keine Ent-
                      scheidung. Ich hatte in den Jahren immer
                      Mittel und Wege gefunden, meinem An-                       Ingrid Körner hat die Inklusion in Hamburg weit vorangebracht und geprägt
                      liegen Nachdruck zu verleihen. Hamburg
                      ist meine Heimatstadt und ich habe durch
                      die Erfahrungen mit meiner eigenen
                      Tochter – sie ist mit dem Downsyndrom         denen das Thema noch mehr Nachdruck                        Derzeit laufen die Bewerbungsge-
                      geboren – schon aus eigener Betroffenheit     erfordert – sei es im Kulturbereich oder                spräche. Welchen Rat haben Sie für Ihre
                      einen sehr intensiven Blick auf das Thema     auch im Transport. Der Dienst Moia zum                  Nachfolge?
                      Inklusion. Weil ich mich seit den 80ern       Beispiel ist für mobilitätseingeschränkte               Nicht aufgeben und immer sehr hartnä-
                      in der Behindertenhilfe engagiere, konnte     Menschen nicht barrierefrei. Dies wird                  ckig bleiben.
                      ich ein gutes Netzwerk aufbauen. Das ist      erst bei der nächsten Generation der Fahr-              Sie sprechen sehr leidenschaftlich. Wer-
                      ungeheuer wichtig. Ohne dieses Netzwerk       zeuge berücksichtigt werden. Allerdings                 den Sie loslassen können?
                      ist der Job ungleich schwerer. Ich war im-    ist die App mit einer Voiceover-Funktion                Ich stecke einfach zu tief drin, mir ist
                      mer ein Teil davon. Um ein sinnvolles Ziel    auf die Bedürfnisse von sehbehinderten                  der Job sehr, sehr ans Herz gewachsen.
                      zu erreichen, brauche ich Mitstreiter.        Menschen angepasst worden, da gibt es                   Doch ich bin jetzt 74 und habe eine große
                          Wie inklusiv ist Hamburg denn über-       also viel zu tun. Auf dem Weg zu einer in-              Familie und drei Enkel, mit denen ich
                      haupt?                                        klusiven Gesellschaft ODER auf dem Weg                  sehr gern Zeit verbringe. Ich werde mich
                      Hamburg ist auf einem guten Weg. Wir          zur Inklusion, sind schon kleine Schritte               aber weiterhin in kleineren Projekten en-
FOTO: JAKOB BÖRNER

                      haben große Fortschritte gemacht, das         immens wichtig. Der Weg hört nie auf.                   gagieren, denn ganz verabschieden kann
                      zeigen zum Beispiel auch unsere Aus-          Darum sollte man nie glauben, man hätte                 ich mich nicht.
                      zeichnung „Wegbereiter der Inklusion!“        das Ziel irgendwann erreicht. Wichtig
                      sowie der Inklusionspreis, für den sich       aber ist auch: Inklusion ist keine Einbahn-             ▶ I nklusionsbüro Hamburg, Osterbek­-­
                      jedes Jahr immer mehr Unternehmen be-         straße. Man muss aufeinander zugehen                       straße 96 (Barmbek), Telefon 428 63 50 66;
                                                                                                                               www.hamburg.de/skbm/
                      werben. Es gibt immer genug Bereiche, in      und voneinander lernen.

                                                                                                                                                      INTERVIEW | 5
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
S
                                                                            imba geht voran, Andreas Schmelt
                                                                            geht mit. Der 60-Jährige hat den
                                                                            vierjährigen Hund an der ­Leine. Die
                                                                    Kontrolle aber, den Überblick, hat der ­
                                                                    Labrador. Schmelt sagt „Obst“, Simba
                                                                    nimmt Kurs auf die Schlange des Obst-
                                                                    stands. Es ist Freitagvormittag, Wochen-
                                                                    markt in Harburg „Am Sand“. Für Herr-
                                                                    chen und Hund wöchentliche Routine.
                                                                    Als sie an der Reihe sind, macht Schmelt
                                                                    einen Fingerzeig, Simba setzt sich, wartet
                                                                    – ohne ein Lebensmittel zu berühren,
                                                                    ohne zu schnüffeln. Seine Augen aber
                                                                    verfolgen jede Bewegung. „Hat er gut
                                                                    gearbeitet, Andreas? Darf er eine Birne?“,
                                                                    fragt die Verkäuferin grinsend. Er darf.
                                                                    Nach einem kurzem Schnack geht es wei-
                                                                    ter: „Räucherfisch“ lautet das Kommando.
                                                                        Seit drei Jahren steht Simba dem erblin-
                                                                    deten Andreas Schmelt im Alltag zur
                                                                    Seite. Wenn der Hund die weiße Kenn­
                                                                    decke und das weiße Führgeschirr trägt,
                                                                    ist er im Dienst – und für Schmelt derje-
                                                                    nige, „der mit mir den Weg dahin geht,
                                                                    wohin ich will“. Ein Blindenführhund
                                                                    ermögliche ihm ein ganz anderes Leben.
                                                                    Schmelt erfährt dies seit mittlerweile elf
                                                                    Jahren. Im Verein Deutsche Blindenführ-
                                                                    hunde, eine Gruppe mit „unterer dreistel-
                                                Bei Gefahr stellt   liger Mitgliederzahl“, ist er seit 2011 Erster
                                                sich Simba          Vorsitzender. Hier setzt er sich ehrenamt-
                                                auch mal quer
                                                                    lich dafür ein, dass auch andere Menschen
                                                                    professionell ausgebildete Führhunde an
                                                                    ihre Seite gestellt bekommen. Und dass
                                                                    diese in der Gesellschaft als Hilfsmittel an
                                                                    jedweden Alltagsorten akzeptiert werden.
                                                                    Dafür reisen Schmelt und Simba zu Vor-

„Ein ganz
                                                                    trägen, Messen oder Schulbesuchen in
                                                                    ganz Deutschland.
                                                                        1986 hatte Schmelt eine Sehnerventzün-
                                                                    dung, erblindete, kann heute nur noch

anderes Leben“
                                                                    Hell und Dunkel unterscheiden. Der ver-
                                                                    heiratete Kaufmann durchlebte den „gro-
                                                                    ßen Kontrollverlust“. Mit seinem ersten
                                                                    Blindenführhund Hektor erhielt er ein
                                                                    gutes Stück selbstbestimmten Lebens
Assistenzhunde Die Freiheit der Selbstbestimmung, die               zurück. Aber die Herausforderungen
                                                                    bleiben: „Es ist nicht sofort möglich, die
ausge­bildete Hunde blinden Menschen schenken,                      Abstandsregeln einzuhalten“, nennt
erfährt Andreas Schmelt jeden Tag. Im Verein Deutsche               Schmelt ein aktuelles Problem während
Blindenführhunde engagiert er sich für eine europaweit              der Corona-Pandemie. Nicht immer er-
                                                                    kennt Simba die langgezogenen Schlan-
standardisierte Ausbildung – und für Supermarkteinkäufe             gen. Das Zweiergespann erlebt dann
ohne Zutrittsdiskussionen                                           ­Menschen, die hilfsbereit sagen, wo sie
                                                                     sich hinstellen sollen. Aber mitunter auch
◗ Text: David Hock                                                   solche, die ihnen Drängelei vorwerfen:
                                                                     „Haben Sie nicht gesehen, dass hier nicht
◗ Fotos: Philipp Schmidt
                                                                     frei ist?“

 6 | ALLTAG
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
80 Prozent der
                                                                        Erstanträge für einen
    Simba ist Schmelts dritter Assistenzhund                              Blindenführhund
 und hat, wie seine Vorgänger, eine zertifi-
 zierte Ausbildung absolviert. „Das erste                                werden abgelehnt
 Lebensjahr verbringen angehende Blinden-
 führhunde in Patenfamilien“, erklärt
 Schmelt. Dort sind die Hunde erst mal
 Familienhunde, werden gewaltfrei erzogen
 und an unterschiedliche Alltagsorte ge-
 führt. „Man merkt später, wie gut die Pa-
 tenfamilie gearbeitet hat“, sagt Schmelt.     Monate intensiv zusammenarbeiten, er-           Verein unterstützt seine Mitglieder; re-
 Mit Simba ist er zufrieden, auch wenn er      folgt eine umfassende, 1.500 Euro schwere       cherchiert vergangene Urteile zu ver-
 am Anfang eine überraschende Entde-           Gesundheitsuntersuchung: Ist der Hund           gleichbaren Fällen, schreibt Gutachten,
 ckung machte: „Zunächst ist er zwischen       hinreichend fit, intelligent, schreckfest       und vertritt die Antragstellenden gegebe-
 meinen Beinen Achten gelaufen. Da haben       und hat Spaß an der Arbeit? Fragen, die         nenfalls vor Gericht. “
 sie in der Patenfamilie wohl ‚Dogdancing‘     mit „Ja“ beantwortet sein müssen, damit
 gemacht.“                                     der Hund 40 Hörzeichen für die verschie-        Was passiert mit den Hunden im
                                               denen Alltagssituationen erlernen darf,         Ruhestand?
 Zertifizierte Schulen lehren                  darunter „Such Treppe!“, „Ampel“ oder
 Hunde 40 Hörzeichen und räum-                 „Such Zebra!“.                                        Die Tätigkeiten des Vereins reichen vom
 liches Sehen                                       Zuvor haben die Schulen mit den an-         Antragsverfahren bis zur Pensionierung
                                               tragstellenden Menschen Gespräche                der Blindenführhunde: Momentan ist
   Von der Patenfamilie kam Simba              ­geführt. Bei ihnen werden Faktoren wie          der Verein mit einem Patenprogramm
 schließlich in die Blindenführhundschule       Persönlichkeitsstruktur, Schrittlänge oder      dabei, eine eigene Junghundezucht auszu-
 im brandenburgischen Müncheberg, eine          Wohngegend abgeklopft und entscheiden           heben. Im DIN-Normenausschuss wirkt
 von sechs in Deutschland von der Inter­        schließlich über die passende Hunderasse.       er an einer internationalen Standardisie-
 national Guide Dog Federation (IGDF)           Das erste Beschnuppern zwischen Hund            rung der Ausbildung mit. Darüber hinaus
 zertifizierten Ausbildungsstätten. Bevor       und Mensch findet in der Ausbildung             ­vermittelt er auch Patenfamilien für
 Trainer und Hunde hier sechs bis neun          statt. Anschließend kommt es zum ein­            ­Hunde, die nach mehrjähriger Tätigkeit in
                                                monatigen Einarbeitungslehrgang. Neben            Ruhestand gehen. Nicht zuletzt sind Ver-
                                                dem Auswendiglernen der Hörzeichen,               einsmitglieder auf zivilen Veranstaltungen
                                                stellt sich auch die Vertrauensfrage,             vertreten, bieten unter anderem Blind­-
                                                denn „es ist nicht einfach, dem Hund die          läufe an, bei denen sich sehende Men-
                                                ­Führung zu übergeben“. Auch für den              schen eine Dunkelbrille aufsetzen und von
                                                 Hund ist das gemeinsame Laufen nicht             einem Führhund durch einen Parcours
                                                 einfach. Er muss erst lernen, nicht nur mit      leiten lassen können. Der Verein möchte
                                                 Nase und Mund, sondern vor allem mit             aufklären – darüber, dass Blindenführ-
                                                 den Augen, räumlich abschätzend, zu              hunde ein rechtlich-anerkanntes Hilfs­
                                                 arbei­ten. Und sich bei Gefahrensituatio-        mittel sind, dessen Mitnahme in Restau-
                                                 nen wie einer Baugrube buchstäblich              rants, Arztpraxen oder Supermärkte nach
                                                 querzustellen.                                   einem Gutachten des Ministeriums für
                                                    Aber das kostet: In der Gespannsprü-          Ernährung und Landwirtschaft nicht nur
                                                 fung führt das Duo einen Katalog von             „medizinisch-­hygienisch unbedenklich“,
                                                 Kommandos vor. Danach erst entscheidet           sondern nach dem Allgemeinen Gleich-
                                                 der Kostenträger, in der Regel die gesetz­       stellungsgesetz explizit gestattet ist. Im-
                                                 liche Krankenversicherung, ob er die             mer noch verwehren Geschäftsinhaber
                                                 Kosten von etwa 30.000 Euro übernimmt.           Blindenführhunden den Zutritt, wollen
                                                 Bis dahin trägt die Ausbildungsstätte das        Ausnahmeregelungen vereinbaren, wo
                                                 wirtschaftliche Risiko.                          Rechtssicherheit besteht. Solche Erfah­
                                                    Der Verein Deutsche Blindenführhunde          rungen würden mürbe machen, sagt
                                                 setzt mit seiner Unterstützung erblindeter       Schmelt. Wenn Simba nach Hause kommt,
                                                 Menschen bereits zu Beginn des lang­          ist er kein Hilfsmittel mehr. Hier hat der
                                                 wierigen Verfahrens an: „80 Prozent der       Labra­dor Feierabend, tobt durch den
                                                 Erstanträge auf einen Blindenführhund         ­Garten, lässt sich streicheln. „Wenn das
Simba wartet                                     werden erst mal abgelehnt“, weiß Schmelt.      Geschirr abgelegt ist“, so Schmelt, „ist er
geduldig auf                                     Für Menschen, die erblindet sind, mit sich     ein Familienhund.“
sein Herrchen
                                                 selbst hadern, ein weiterer Rückschlag.
                                                 „Viele haben nicht die Kraft für ein Wider-   ▶M
                                                                                                 ehr Informationen unter
                                                 spruchsverfahren und knicken ein.“ Der         www.deutsche-blindenfuehrhunde.de

                                                                                                                          ALLTAG | 7
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Oft im Weg: E-Scooter stellen
                                                                                 für Blinde eine Gefahr dar

Barrierefreie Kompetenz
Expertenteam Das Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg will
die Situation der Menschen mit Behinderungen in der Hansestadt nach-
haltig verbessern. Im Gespräch verrät Joachim Becker, Experte für Verkehrs-
und Freiraumplanung, wie es das umsetzt und was noch besser geht

◗ Interview: Marco Arellano Gomes

 8 | STADTLEBEN
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Für das Abstellen
                                                                                                                                                                                 der E-Scooter wurden

                                                                                          ?
                                                                                                Herr Becker, warum wurde das Kom-                                             keine Regelungen getroffen.
                                                                                                petenzzentrum für ein barrierefreies
                                                                                                Hamburg gegründet?
                                                                                                                                                                                  Die Folgen sehen wir
                                                                                          Die Idee war, dem großen Beratungs-                                                        auf Straßen und
                                                                                          bedarf der Behörden, Verkehrsbetriebe,
                                                                                          Bauherren, Architekten etc. durch kompe-                                                     Fußwegen
                                                                                          tente, hauptamtliche Ansprechpartner zu
                                                                                          begegnen. Als Experten und Expertinnen
                                                                                          für Barrierefreiheit tragen wir dazu bei,
                                                                                          die Lebensbedingungen für Menschen mit       Diplom-Ingenieur Joachim Becker
                                                                                                                                       ist einer der Fachleute in dem neuen
                                                                                          Behinderungen zu verbessern.
                                                                                                                                       Kompetenzzentrum
                                                                                              Wann kam die Idee für ein Kompetenz-
                                                                                          zentrum auf?
                                                                                          Unsere drei Träger – die „Hamburger             Beim öffentlichen Nahverkehr hat sich         Was hätten Politik und Anbieter bes-
                                                                                          Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte     in Sachen Barrierefreiheit in den letzten    ser machen können?
                                                                                          Menschen e. V.“ (LAG), der „Blinden- und     Jahren ja viel getan.                        Es wäre schön gewesen, wenn es ausge-
                                                                                          Sehbehindertenverein Hamburg e. V.“          Die Zusammenarbeit mit dem HVV läuft         wiesene Flächen zum Abstellen der Roller
                                                                                          (BSVH) und der Verein „Barrierefrei Leben    sehr gut. Viele Stationen wurden bereits     gäbe. Bremen hat zum Beispiel mit den
                                                                                          e. V.“ – forderten seit Jahren ein eigen­    barrierefrei nachgerüstet. Wichtig ist       Roller-Vermietern verbindliche Verein-
                                                                                          ständiges, von der Stadt finanziertes Be-    aber auch die barrierefreie Information.     barungen getroffen. Das hätten wir uns
                                                                                          ratungsangebot. Seit 2019 gibt es nun das    Zum Beispiel, dass Durchsagen auch von       auch für Hamburg gewünscht. Für Blinde
                                                                                          Kompetenzzentrum mit Fachleuten, die zu      Menschen registriert werden, die nicht       und Sehbehinderte, Ältere und Mobili-
                                                                                          allen Themen rund um die Barrierefreiheit    hören können, also auch als optische         tätseingeschränkte besteht erhöhte Gefahr
                                                                                          beraten können. Das ist in Deutschland       Informa­tion dargebracht werden – und        – zum einen durch das Abstellen, zum
                                                                                          einzigartig.                                 umgekehrt, sodass diese auch Menschen        anderen durch die Nutzung der Gehwege
                                                                                              In welchen Bereichen beraten Sie?        zugänglich gemacht werden, die nicht         als Fahrspur – obwohl das nun gerade
                                                                                          Die Beratung erfolgt in vier Bereichen:      oder nicht gut sehen können.                 nicht erlaubt ist.
FOTOS: MARCO ARELLANO GOMES (L.), KOMPETENZZENTRUM FUER EIN BARRIEREFREIES HAMBURG (R.)

                                                                                          Hochbau, Quartierentwicklung, Verkehrs-         Alternative Verkehrsmittel sind ja            Der Senat hat gerade erst neue Fahr-
                                                                                          und Freiraumplanung sowie Information        meist nicht barrierefrei wie die E-Roller.   rad-Pläne vorgestellt. Was halten Sie
                                                                                          und Kommunikation. Perspektivisch ist        Wie stehen Sie zu deren Einführung?          davon?
                                                                                          der Wunsch da, das Zentrum weiter auszu-     Ich stelle oft fest, dass durch Innovatio-   Grundsätzlich verstehe ich die Euphorie
                                                                                          bauen, einfach weil die Bedarfe da sind.     nen neue Barrieren entstehen. Für das        über die neuen Velorouten, aber ich frage
                                                                                              Haben Sie den Eindruck, dass bei         Abstellen der E-Scooter wurden keinerlei     mich schon, wie man als Blinder über die-
                                                                                          neuen Projekten die Barrierefreiheit mehr    Regelungen getroffen, sondern nur frei-      se oder jene Fahrradstraße kommen soll.
                                                                                          beachtet wird als früher?                    willige Vereinbarungen. Die Folge sehen      Die Fahrräder werden immer schneller
                                                                                          Was sich seit Bestehen des Kompetenz-        wir auf den Straßen und Fußwegen: Roller     und immer leiser. Ich kann als Blinder ein
                                                                                          zentrums verändert hat, ist, dass es jetzt   werden von den Nutzern einfach so in der     Fahrrad nicht hören. Da sollte dringend
                                                                                          jemanden gibt, der konkret angesprochen      Gegend abgestellt – zum Leidwesen von        nachgebessert werden.
                                                                                          werden kann. Architektur- und Planungs-      Menschen mit Behinderungen. Für sie              Haben sie einen konkreten Vorschlag?
                                                                                          büros rufen bei uns an und fragen: Wie       besteht seither eine permanente Stolper-     Es wäre denkbar, Zebrastreifen oder
                                                                                          machen wir das denn jetzt? Was muss ich      gefahr.                                      Fußgängerübergänge einzubauen. Das
                                                                                          dabei beachten? Vorher landete das oft          Welche Regeln sollte man bei E-Tret-      ist derzeit nicht verpflichtend, da es
                                                                                          bei den drei oben genannten Trägern und      rollern beachten?                            sich bei einer Fahrradstraße um eine
                                                                                          ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern. Mit       Ich fange mal mit den Orten an, an die       Tempo-30-Zone handelt. Die Stadt ist
                                                                                          unserer Arbeit schärfen wir das Bewusst-     man sie nicht abstellen sollte: Zum einen    bei solchen Zonen mit Zebrastreifen
                                                                                          sein für die berechtigten Forderungen der    nicht dort, wo sichtbar Menschen durch       sehr sparsam. Wir haben uns als Kinder
                                                                                          Menschen mit Behinderungen. Denn es ist      müssen, also vor Straßenüberque­rungen       Bierdeckel in die Speichen gesteckt. Ich
                                                                                          ja in den meisten Fällen kein böser Wille,   und Eingängen. Und auch nicht auf Boden-­    weiß nicht, ob Sie das auch noch gemacht
                                                                                          wenn etwas nicht beachtet wird.              indikatoren wie die taktilen Leitlinien­     haben (lacht). Das war cool, das ratterte
                                                                                              Wie fördern Sie dieses Bewusstsein?      systeme, ebenso nicht an Wänden, Hecken      so schön. Es müssen ja nicht Bierdeckel
                                                                                          Für Mitarbeiter der Planungsbehörden bie-    und Mauern, da diese für Menschen mit        sein, aber es wäre keine schlechte Idee,
                                                                                          ten wir unter anderem Fortbildungen an.      Blindenstock als Orientierungsmedium         auch bei Fahrrädern über einen Min-
                                                                                          Die kennen sich zwar in den Bestimmun-       dienen. Und schon gar nicht mitten auf       dest-Geräuschpegel nachzudenken.
                                                                                          gen sehr gut aus. Aber wenn wir sie dann     dem Gehweg. Die Tretroller gehören am
                                                                                          in den Rollstuhl setzen oder ihnen einen     besten auf den sogenannten Unterstreifen     ▶K
                                                                                                                                                                                      ompetenzzentrum für ein barriere­
                                                                                          Blindenstock in die Hand drücken ohne,       – das ist der Bereich zwischen Gehweg und     freies Hamburg, Paul-Stritter-Weg 1
                                                                                                                                                                                     (Alsterdorf); kompetent-barrierefrei.de
                                                                                          dass sie etwas sehen können, sind sie um     Fahrbahn, wo die Bäume, Straßenlaternen
                                                                                          eine entscheidende Erfahrung reicher.        und Baumschutzbügel stehen.

                                                                                                                                                                                                      STADTLEBEN | 9
Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
Zurück ins Elternhaus
Corona-Auswirkungen Maria Fricke lebt seit über 25 Jahren in einer Wohnge-
meinschaft für Menschen mit Behinderung. Seit Corona ist sie wieder bei ihren
Eltern untergekommen. Schuld daran sind vor allem unglückliches Timing und eine
problematische Quarantänebestimmung für Einrichtungen der Behindertenhilfe

◗ Text: Laura Lück

A
         m Sonntag, den 22. März erreicht     burg. Maria allein in einem Raum für zwei      gehen viel spazieren und haben jeden Tag
         das Ehepaar Fricke (Name von         ganze Wochen – für die Frickes war direkt      Programm. Wir haben Hochbeete gebaut
         der Red. geändert) in Sasel eine     klar, dass das nicht geht. „Unsere Tochter     und angefangen Pflanzen wie Tomaten,
Nachricht, die ihren bisherigen Alltag        hätte es erstens nicht gewollt, man hätte es   Rucola und Kürbisse hochzuziehen.“ Eine
auf den Kopf stellt: Ihre Tochter Maria,      aber auch nicht verantworten können. Sie       Umstellung für das Ehepaar Fricke, die
die in einer Wohngruppe für Behinderte        wäre höchstwahrscheinlich wieder in eine       beide bereits im Rentenalter sind. Maria
lebt, darf aufgrund der sich ausbreitenden    Psychose gerutscht.“ Auch das Schließen        macht die Gartenarbeit Freude, die Töpfe-
Covid-19-Pandemie nach dem Wochen-            der Werkstätten hält Fricke für unüberlegt:    rei und ihr gewohnter Tagesrythmus feh-
endbesuch nicht zurück in ihr „zweites        „Ich glaube, man hat sich vorher nicht         len trotzdem sehr – seit nunmehr knapp
Zuhause“, wie die 50-Jährige die Einrich-     klar gemacht, was das für die Be­wohner        drei Monaten. Zwar seien sie gut durch die
tung des ZusammenLeben e. V. seit 1993        eigentlich heißt. Arbeit bedeutet für          Zeit gekommen, dass die Menschen mit
nennt. Seit dem 16. März hatte Maria          Menschen mit Behinderung Sinngebung.           Behinderung allerdings im Zuge der Krise
bereits nicht mehr in der Töpferei arbeiten   Sie können sich auch nicht einfach mal         exkludiert und nicht inkludiert wurden,
können, die ein Angebot tagesstruk-           eine entspannte Auszeit nehmen und nette       empfindet Fricke als problematisch. Es sei
turierender Maßnahme für Bewohner             Bücher lesen.“                                 zu bedenken, dass ihr Alltag nicht dem
darstellt. Ihr Vater Heinz Fricke fühlte        Für Marias Tagesstrukturierung sind die      von anderen Menschen gleiche und sie
sich alleingelassen: „Dass Maria nach der     Frickes seither selbst verantwortlich. „Wir    ohnehin schon in einem sehr engen Rah-
Schließung der Werkstätten nun nicht                                                         men leben. Die Selbstverständlichkeit und
einmal zurück in die Wohngruppe konn-                                                        möglicherweise auch Unbedachtheit, mit
te, mochte ich so nicht akzeptieren. Da                                                      der die Maßnahmen getroffen worden
haben wir uns an die Gleichstellungsstelle                                                   sind, ärgern Fricke. Der ZusammenLeben
gewandt.“ Daraufhin kam das Angebot                                                          e. V. nennt die Geschehnisse einen Fall mit
einer Rückkehr, allerdings nur unter der              Menschen                               sehr unglücklicher zeitlicher Abfolge. Die
Auflage einer 14-tägigen Isolation;                                                          Quarantänebestimmungen der Stadt
eine Bestimmung der Stadt Ham-
                                                         mit                                 Hamburg hielt auch die Einrichtung für
                                                     Behinderung                             keine Option. Seit dem 22. April konnte
                                                                                             sie Angehörigen und rechtlichen Be­
                                                       wurden                                treuern gegenüber allerdings eine Locke-
                                                      exkludiert                             rung kommunizieren: die sofortige Rück-
                                                                                             kehrmöglichkeit nach einem aktuellen
                                                                                             nega­tiven Testergebnis. Das sei auch bei
                                                                                             ­Redaktionsschluss der Stand. Man sei im
                                                                                              ständigen Austausch mit Familie Fricke,
                                                                                              sodass einer zeitnahen Rückkehr Marias
                                                                                              bald nichts mehr im Wege stehe. Zu einem
                                                                                              gemeinsamen kleinen Sommerurlaub mit
                                                                                              ihren Mitbewohnern sei sie bereits ange-
                                                                                                                                           FOTO: DIRK PUDWELL

                                                                                              meldet – eine gute Chance für die Wieder-
                                                                                              eingliederung.

  In diesem Haus ist die WG                                                                  ▶Z
                                                                                               usammenLeben e. V., Wohldorfer
  von Maria beheimatet                                                                        Damm 20 (Bergstedt), Telefon 604 00 36;
                                                                                              www.zl-hamburg.de

 10 | AKTUELL
Soziale Situationen über
                           Rollenspiele erkennen

Kochen und
spielen per Video
Corona macht auch den Therapeuten am Hamburger Autismus Institut zu schaffen.
Schließlich fällt die Mehrzahl der persönlichen Treffen mit ihren Klienten weg – und
damit auch Regelmäßigkeiten, die für Autisten so wichtig sind. Die Institutsleiterin
Barbara Rittmann über neue, kreative Wege, um die Therapien fortzuführen
◗ Interview: Erik Brandt-Höge

                          ?
                                 Barbara Rittmann, vor welche          kommunikation mit einem Klienten parallel gekocht hat, und die
                                 Heraus­forderungen hat die            beiden dabei immer verglichen haben, was sie gerade machen, das
                                 Corona-Krise Sie am Hamburger         hat auch super geklappt. Einen weiteren Vorteil hat diese Form
                           Autismus Institut gestellt?                 der Kommunikation: Wir lernen die Klienten noch etwas besser
                           Wir sind ja eine Einrichtung, die eigent­   kennen, unter anderem, wie sie wohnen.
                           lich nur im Präsenzmodus Au­tismus-            Viele Strukturen, die Ihren Klienten besonders wichtig
                           Therapie und -Beratung anbietet. Wir        sind, fielen aufgrund der Pandemie ja weg: Schulen, Kitas und
                           haben Klienten mit einer Kontakt­           Spielplätze waren lange geschlossen. Sie haben im Namen des
                           behinderung, die teils nicht sprechen       Instituts versucht, Ausnahmen zu erwirken …
                           oder eine kognitive Einschränkung           … und wir waren dafür auch im Kontakt mit Ingrid Körner, Se-
                           haben. Von daher war es erst mal schwer,    natskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen.
sich vorzustellen, ohne direkten Kontakt einen positiven Einfluss      Sie war auch sehr bemüht, Ausnahmeregelungen für Spielplätze
zu nehmen. Viele Klienten wollten auch gar nicht mehr kommen.          zu ermöglichen, es gab aber rechtliche Schwierigkeiten. Irgend-
Es hieß schließlich überall: „Bleibt zu Hause!“                        wann gab es dann ja aber die Wiedereröffnungen. Das war enorm
    Wir haben Sie reagiert?                                            wichtig, denn für Autisten ist das Fehlen von Regelmäßigkeiten
Wir haben auf Fernmedien umgestellt. Zuerst haben wir übers            wie Schule, Kindergarten und Tagesförderstätte tatsächlich eine
Telefon, später auch über diverse Onlinekanäle versucht, den Kon-      große Einschränkung gewesen.
takt aufrechtzuerhalten. So haben wir es geschafft, circa 90 Prozent      Fühlen Sie sich denn generell von der Hamburger Politik
unserer Klienten zu erreichen. Man muss aber schon sehr kreativ        ausreichend unterstützt?
sein, damit jemand in einer Therapie ohne persönlichen Kontakt         Ich weiß gar nicht, ob es unsere Erwartung ist, von der Politik un-
auch dabeibleibt.                                                      terstützt zu werden. Wir sind ja ein freier Träger und als solcher
    Haben Sie ein Beispiel?                                            für uns selbst verantwortlich. Was die Politiker aber in einigen
Wenn man sich gut abspricht und die Koordinaten genau benennt,         Äußerungen deutlich gemacht haben, ist dass sie unsere Ein-
kann man am Telefon zum Beispiel so etwas wie Schiffeversen-           richtung auf alle Fälle erhalten wollen. Das allein hat uns schon
ken spielen. Regelspiele sind sowieso immer gut, weil man dabei        gutgetan. Auch werden von der Stadt im Verhältnis zu anderen
viele soziale Kompetenzen erwerben kann. Auf Videoplattformen          Regionen überdurchschnittlich viele Hilfen angeboten. Hamburg
­können wir auch kleine Rollenspiele spielen, etwa mit Playmobil-­     hat sich durchaus als unterstützend erwiesen.
 Figuren, um bestimmte soziale Situationen kennenzulernen. Und
 eine Therapeutin erzählte mir kürzlich, dass sie über die Video-      ▶M
                                                                         ehr Informationen unter autismus-institut.de

                                                                                                                  AUTISMUS | 11
Neue Sichtweise: Im Rollstuhl
                                                                                              die Stadt erkunden

„Das geht ganz
schön auf die Arme“
Unterwegs Wie sieht Hamburg aus Rollstuhlfahrer-Perspektive aus?
Florian Knittel ist Projektleiter von StattTour, einem Stadtführungs­angebot,
das den Perspektivwechsel möglich macht und Arbeitsplätze
für rollstuhlfahrende Tourguides schafft

◗ Text: Laura Lück

                                ?
                                     Florian, was steckt hinter dem Pro-    er von seinen Erfahrungen mit dem
                                     jekt StattTour?                        Thema Barrierefreiheit in der Stadt und
                                     Wir bieten Stadttouren an, bei denen   wie er Inklusion wahrnimmt. Es geht
                                Personen, die normalerweise nicht im        nicht vordergründig um die Sehenswür-
                                Rollstuhl sitzen, die Perspektive eines     digkeiten, sondern um den Perspektiv-
                                Rollstuhlfahrers einnehmen und selbst       wechsel und darum zu sehen, welche
                                für 90 Minuten Hamburg erkunden             Herausforderungen einem Rollstuhlfahrer
                                können. Wir stellen die Rollstühle und      im Alltag so begegnen.
                                einen Tourguide zur Verfügung, der selbst   Euer Team besteht aus Studenten?
                                Rollstuhlfahrer ist, eine Einweisung zur    Genau, StattTour ist ein Projekt von
                                Benutzung der Rollstühle gibt und dann      Enactus Hamburg, der größten studenti-
                                durch die HafenCity führt. Dabei erzählt    schen Initiative der Welt, deren Ziel es ist,

 12 | SICHTWECHSEL
Eine
                            gewohnte
                         Umgebung wirkt
                          plötzlich ganz
                             anders

                   soziale Missstände durch wirtschaftliches
                   Handeln auf sozialer Ebene zu verbessern.
                   Wir Studenten arbeiten ehrenamtlich.
                   Einnahmen fließen in die Gehälter der
                   Tourguides. Jobs für Rollstuhlfahrer zu
                   schaffen ist eine der Grundideen des
                   ­Projekts. Der Arbeitsmarkt ist für sie
                    ­kleiner und eingeschränkter. Oftmals
                     sind es außerdem Berufe, die in einem
                     Büro stattfinden. Da wollten wir eine         Der Student Florian Knittel
                     Alternative schaffen.                         (M.) arbeitet ehrenamtlich
                     Wie kann man an den Touren                    bei StattTour und sitzt nur
                     teilnehmen?                                   dann im Rollstuhl
                     Wir sind gerade in der Anlaufphase und
                     haben in der Vergangenheit schon Probe-
                     touren angeboten. Ursprünglich wollten
                     wir Anfang Mai richtig loslegen. Durch
                     Covid-19 hat sich dieser Termin natürlich
                     weiter nach hinten verschoben. So­zialer
                     Kontakt steht im Zentrum der Idee,
                     deshalb gab es trotz vieler Interessenten
                                                                                   Wie barrierefrei
                     auch keine Alternativlösung. Wir hatten                          Hamburg ist,
                     Kontakt zu internationalen Studenten,                         erlebt man erst
                     die an der Verbindung zwischen Sehens­                            im Rollstuhl
                     würdigkeiten und Perspektivwechsel
                     interessiert waren, Menschen, die Roll-
                     stuhlfahrer im eigenen Umfeld haben und
                     ihre Sichtweise besser verstehen wollen       wie anstrengend das ist. Vor allem war        Rollstuhl sitzt. Wenn er in den Fahrstuhl
                     oder zu Schulklassen, die im Rahmen von       es aber spannend zu erleben, wie eine         möchte und die Tür sich schon schließt,
                     Inklusionswochen oder Projekten Touren        gewohnte Umgebung plötzlich ganz anders       ruft schon mal jemand: „Der Rollstuhl
                     buchen wollten. Das geht ganz einfach         wirkt – auch weil die Fortbewegung eben       muss noch mit!“
                     über unsere Website oder per Mail.            eine ganz andere ist. Dinge, die für Fuß-     Wie barrierefrei ist denn Hamburg?
                     Touren mit Distanz sind vorerst nicht         gänger einen einzigen Schritt bedeuten,       An den Bahnstationen bemüht man
                     vorstellbar?                                  werden für Rollstuhlfahrer schnell zur        sich sehr. Mittlerweile sind 80 Prozent
                     Theoretisch wäre das möglich, aber wir        Hürde.                                        der U-Bahnhöfe barrierefrei. Auch die
                     wollen nicht zu früh agieren und wo-          Wie war die Wahrnehmung von außen?            Brücken von der HafenCity rüber in die
                     möglich gegen Regularien verstoßen. Wir       Ist man anders mit dir umgegangen, weil       Speicherstadt sind mit Rampen versehen,
                     müssen ein Hygienekonzept entwickeln          man dich für einen Rollstuhlfahrer hielt?     die einen Übergang ermöglichen. Es gibt
                     und sind dabei zu überlegen, wie man          Als wir im Team zum ersten Mal eine           allerdings auch immer noch Bereiche,
                     Touren kontaktarm gestalten könnte. Wir       Probe­tour gemacht haben, sprach uns eine     die gar nicht barrierefrei zugänglich sind.
                     haben noch keine konkreten Termine,           Frau an und fragte, ob wir denn noch üben     Eine Flaniermeile ist beispielsweise nur
                     hoffen aber, dass es ab August losgehen       würden. Wir haben das bejaht und erklärt,     über Treppen erreichbar. Das Angebot
                     kann.                                         dass wir gerade unsere erste Erfahrung mit    für Toi­letten für Rollstuhlfahrer ist in der
                     Was hast du durch die Erfahrungen mit         Rollstühlen sei. Ihre Antwort war: „Ihr       Stadt auch noch sehr begrenzt. Die Hafen-
                     dem Rollstuhl persönlich Neues gelernt?       seid ja auch viel zu schön für den Roll-      City etwa bietet eine einzige barrierefreie
                     Erst mal war ich überrascht, wie viel Tech-   stuhl.“ Wir waren alle total geschockt, wie   Toilette. In älteren Stadtteilen sieht es oft
FOTOS: STATTTOUR

                     nik und Raffinesse in so einem Rollstuhl      beiläufig und unüberlegt dieser Kommen-       noch schlechter aus. Unser Tourguide
                     steckt und wie individuell anpassbar seine    tar von ihr kann. Wir haben mit unserem       muss seine privaten Wege dementspre-
                     verschiedenen Funktionen sind. Außer-         Tourguide Björn auch viel über dieses         chend anpassen und immer gut planen.
                     dem geht das Fahren ganz schön auf die        Thema gesprochen. Er wird sehr oft von
                     Arme. Man kann sich richtig reinfühlen,       Menschen darauf reduziert, dass er im         ▶ Mehr Informationen unter statt-tour.de

                                                                                                                              SICHTWECHSEL | 13
Vielfalt im
Viervierteltakt
Zeit für Inklusion „Ich bin ich und du bist du. Jeder hier
gehört dazu“, so lautet die erste Zeile des Refrains aus
dem Lied „Vielfalt ist das Leben“ – eine Komposition der
Klasse 3e der Grundschule Rahlstedter Höhe, die dafür
ausgezeichnet wurde

◗ Text: Basti Müller

V
        orausgegangen war die an viele      in den Menschen mit und ohne Behinde-         sich an alle Hamburger Schülerinnen
        Hamburgerinnen und Hamburger        rung gemeinsam aktiv sind, Sport treiben,     und Schüler der Grundschulen und der
        gerichtete Einladung Ingrid Kör-    Kultur genießen, Bildungsangebote wahr-       Sekundarstufe I und bat sie, kreative Pro-
ners, Senatskoordinatorin für die Gleich-   nehmen etc. Dr. Michael Klein-Landeck,        jekte wie Collagen, Geschichten, Videos
stellung behinderter Menschen, sich im      Leiter der Stabsstelle für Inklusion und      und vieles mehr bei der BSB einzureichen.
Herbst 2019 an der Zeit für Inklusion zu    Sonderpädagogik der Behörde für Schule        „Zahlreiche schöne und durchaus nach-
beteiligen. Frau Körner hat diese Zeit      und Berufsbildung (BSB) nahm diese            denkliche Beiträge von Hamburger Schul-
zum fünften Mal aufgerufen, um auf die      Einladung an. Unter dem Motto „Klasse         klassen gingen ein“, sagte Dr. Klein-Lan-
vielen Angebote in der Stadt hinzuweisen,   inklusiv – gemeinsam stark“ richtete er       deck, was die Wahl der Gewinnerinnen
                                                                                          beziehungsweise Gewinner nicht gerade
                                                                                          leicht gestaltet habe.
                                                                                              Auch die eh schon musikbegeisterte
                                                                                Bei der
                                                                       Preisverleihung
                                                                                          Klasse 3e aus Rahlstedt reagierte auf den
                                                                    gab’s strahlenende    Aufruf eifrig und sammelte mithilfe
                                                                              Gesichter   ­kooperativer Lernformen Textideen für
                                                                                           einen schuleigenen Song. In mehreren
                                                                                           Unterrichtsstunden stellten die Schüler
                                                                                           ihre eigenen Sichtweisen vor, diskutierten
                                                                                           sie in der Klasse und trugen sie in Mind-
                                                                                           maps zusammen. Schlaglichter der Ideen-
                                                                                           findung waren: „Alle Kinder sind bei uns
                                                                                           willkommen“, „Unterschiedlich sein ist
                                                                                           ganz normal“ und „sich gegenseitig hel-
                                                                                           fen“ – Werte, mit denen sich nicht nur die
                                                                                           Klassengemeinschaft, sondern auch die
                                                                                           gesamte Schule identifiziert. Innerhalb
                                                                                           von drei Monaten erarbeiteten die Schüler
                                                                                           der 3e so eine Vielfalt-Hymne, die vom
                                                                                           Musiklehrer Oliver Ehmsen und von Julia
                                                                                           Ehmsen-Nottelmann in eine singbare
                                                                                           Form gebracht wurde. Weil sich die Kin-

 14 | WETTBEWERB
Biscia quam, omnis ipsunti omnis
                                                                                                                         ea que pro consequae

                              Musik                                                                                         Kreativ und engagiert: die Klasse 3e
                                                                   von Ehmsen in der Aula der Schule. Dr.
                            verbindet,                             Klein-Landeck ehrte die Sieger anschlie-
                                                                   ßend mit einer Urkunde und dem ersten
                            stärkt und                             Preis, ein gemeinsamer Besuch im Ham-
                           überwindet                              burger Miniatur Wunderland. „Die Klasse
                                                                   3e hat gezeigt, wie Musik verbindet, stärkt
                             Grenzen                               und Grenzen überwindet“, sagt der Leiter
                                                                   der Stabsstelle für Inklusion und Sonder-
                                                                   pädagogik, „vor allem hat ihr Beitrag eine
                                                                   klare Botschaft: Jeder und jede ist will-
                                                                   kommen hier. Alle gehören dazu und
                                                                   gemeinsam sind wir stark!“
                                                                      Auch Oliver Ehmsen ist über die Eh-

                      der im Jahrgang auch klassenübergreifend
                                                                   rung seiner kleinen Musiker hoch erfreut.
                                                                   „Wir wünschen uns, dass der Song auch in
                                                                                                                 Inklusive Schule
                      gut verstehen, wählte Ehmsen zwei Kinder     anderen Schulen erklingt und so vielleicht
                      aus den Parallelklassen aus, Davinia und     zum respektvollen Miteinander beitragen       Seit der Verankerung der UN-Konven-
                      Deniz, für die Solo-Teile des Songs. In      kann.“ Zu hören ist der Song auf Ehmsens      tion über die Rechte der Menschen mit
                      anderthalb Wochen war der Song dann          neuem Kinderlieder-Album „Fliegen“, dass      einer Behinderung im Hamburgischen
                      endlich im Kasten. Dafür wurde der           als CD auf der Internetseite singen-ist-      Schulgesetz, ist die Grundschule Rahl-
                                                                                                                 stedter Höhe eine inklusive Schule.
                      Musik­raum der Schule kurzerhand zum         stark.de erworben werden kann.
                                                                                                                 Das Miteinander aller in der Klasse –
                      Projektstudio. Auch der Kindermusiker           Die BSB ruft auch in diesem Jahr wieder    mit unterschiedlichen Sprachständen,
                      Rolf Zuckowski hörte den Song und            im Rahmen der Zeit für Inklusion zu           Stärken und Schwächen jedes Einzelnen
                      spricht von einer „starken Botschaft“ und,   einem Schülerwettbewerb auf. Diesmal          – ist so fester Bestandteil der Schul-
                      dass wir „Lieder wie dieses, die Kindern     unter dem Motto „Spaß an gemeinsamer          politik. Es gibt sonderpädagogischen
FOTOS: HARTMUT VOGT

                      eine Perspektive geben, brauchen“.           Bewegung“. Der Einsendeschluss für            Förderbedarf in Bereichen Lernen,
                         Dem konnte sich die Jury nur anschlie-    Ideen war der 22. Juni, jedoch werden         Sprache sowie emotionale und soziale
                                                                                                                 Entwicklung. Ziel ist es, buntgemischte
                      ßen und kürte „Vielfalt ist das Leben“ zum   weitere Meldungen auch danach entge-
                                                                                                                 Klassengemeinschaften gleichermaßen
                      Siegerprojekt des Wettbewerbs. Bei der       gengenommen.                                  zu fördern und fordern. Durch das stark
                      feierlichen Preisverleihung dann der große                                                 gelebte Miteinander lernen die Schü-
                      Moment: Die Schüler der 3e präsentieren      ▶ Weitere Informationen unter                lerinnen und Schüler die gegenseitige
                      ihren Gewinnersong unter der Leitung            inklusionsbuero@basfi.hamburg.de           Rücksichtnahme im Alltag.

                                                                                                                            WETTBEWERB | 15
20 und 23 Uhr als Hörfilmfassung. Und auch, dass wir die Unter-­
                                                                    titelung stärker ausbauen als die Gebärdensprachenangebote. Denn
                                                                    so werden die Inhalte von mehr Leuten verstanden – etwa von
                                                                    Altersschwerhörigen, die keine Gebärdensprache verstehen. Diese
                                                                    Schwerpunkte wurden von den Verbänden unterstützt.
                                                                        Untertitel und Gebärdensprache – das sind zwei Ihrer Säu-
                                                                    len. Hinzukommen Angebote in leichter Sprache und Hörfilm-
                                                                    fassungen. Fangen wir mit der leichten Sprache an. Für wen gilt
                                                                    das Angebot?
                                                                    Für alle Menschen, die Schwierigkeiten haben, komplexe Texte zu
                                                                    erfassen. Das Angebot haben wir Ende 2015 eingeführt. Es gibt
                                                                    zum Beispiel jeden Tag die wichtigsten Meldungen aus dem Nor-
                                                                    den in Leichter Sprache. Das Angebot aufzubauen, war für uns

Es wird nicht
                                                                    ein Prozess, denn es ist nicht leicht, Leichte Sprache zu formulie-
                                                                    ren. Inzwischen sind wir aber in der Lage, auch aktuell in Leichter
                                                                    Sprache zu berichten. Unser Autor Mark Harenberg etwa hat 2018
                                                                    den Leichte-Sprache-Preis der Universität Hildesheim und der

gespart                                                             Dudenredaktion erhalten.
                                                                        Gab es in den letzten zehn Jahren besondere Inklusions-Mei-
                                                                    lensteine?
                                                                    Der erste große Meilenstein war, dass wir den Maßnahmen­
                                                                    katalog in der ARD verabschiedet haben. Wichtige Meilenstei-
Vorreiter Informationen und Unterhaltung                            ne waren auch immer, wenn wir beim NDR etwas ganz Neues
sind auch für Menschen wichtig, die die                             gemacht haben. Zum Beispiel, als wir in die Gebärdensprachüber-
üblichen Medien nicht konsumieren können.                           setzung von Musikstücken eingestiegen sind. Oder als wir zu-
                                                                    sammen mit den Kindern der Hamburger Elbschule die Kinder-
Wie barrierefreies Senden geht, erzählt                             nachrichten von NDR Info in Gebärdensprache übersetzt haben.
Niels Rasmussen, Leiter Programm Online                             Die Live-Audiodeskription im Sport war auch ein Meilenstein.
und Multimedia beim NDR und Leiter                                  Und Auszeichnungen waren natürlich auch immer eine schöne
                                                                    Anerkennung. Die Audiodeskription der „Sesamstraße“ hat 2019
der ARD-Projektgruppe „Barrierefreier                               zwei Deutsche Hörfilmpreise erhalten. Das war ein besonderes
Rundfunk“                                                           Highlight. Ernie und Bert waren dabei – die absoluten Superstars
                                                                    der Veranstaltung.
◗ Interview: Ulrich Thiele                                              Welche planen Sie für die Zukunft?
                                                                    Wir haben im NDR dieses Jahr eine besondere Situation, weil
                                                                    wir ein Sparpaket von mindestens 300 Millionen Euro für die

?
      Herr Rasmussen, der NDR erhält viel Lob für seine Vorrei-     nächsten vier Jahre zu bewältigen haben. Der wichtigste Meilen-
      terrolle in puncto Barrierefreiheit in den Medien. Erinnern   stein, der uns diesbezüglich gelungen ist: bei den barrierefreien
      Sie sich an die ersten Schritte?                              Angeboten bislang nicht zu sparen.
Einzelne untertitelte oder audiodeskribierte Sendungen gab es           Allgemein gefragt: Wie hat sich in Ihrer Wahrnehmung die
schon früher, aber so richtig Fahrt aufgenommen hat die Barriere­   gesellschaftliche Akzeptanz von Inklusion verändert und welche
freiheit in den Medien 2010. Es gab damals die Umstellung von       Rolle haben die Medien dabei gespielt?
der Rundfunkgebühr auf den Rundfunkbeitrag. Und für Men-            Unsere Gesellschaft hat sich verändert, man denke nur an die
schen mit Behinderungen wurde – sofern sie wirtschaftlich dazu      Inklusion in Schulen. Die Medien sind mit ihren barrierefreien
in der Lage sind – ein Drittel des Beitrags festgelegt. Damit war   Angeboten ein Teil dieser Veränderung. Neben dem Zugang zu
aber auch die Forderung verbunden, mehr barrierefreie Angebote      unseren Inhalten geht es aber auch darum, wie wir Menschen mit
zu machen. Die ARD hat dazu eine Arbeitsgruppe gegründet,           Behinderungen in den Medien darstellen. Deswegen haben wir
deren Vorsitz der NDR übernommen hat und die ich inzwischen         schon interne Veranstaltungen dazu gemacht, wie man Stereo-
seit vielen Jahren leiten darf. Im engen Austausch mit den Ver-     typen vermeidet. Das ist uns in der Vergangenheit nicht immer
bänden der Menschen mit Sehbehinderung, der Gehörlosen und          gelungen, ganz selbstkritisch gesagt. Medien sind gefordert,
Schwerhörigen haben wir dann 2010 und 2011 einen Maßnah-            Formen der Darstellung einzusetzen, die nicht primär auf die
menkatalog zum Ausbau der Barrierefreiheit erstellt.                Beeinträchtigung fokussiert sind, sondern auch positive Beispiele
   Was haben Sie damals beschlossen?                                und Perspektiven aufzeigen.
Uns war wichtig, dort am meisten zu machen, wo wir die meisten
Menschen erreichen. Also keine pauschale Quote für alle Sender      ▶w
                                                                      ww.ndr.de
                                                                                                                                          FOTO: NDR

festzulegen, sondern Schwerpunkte zu setzen: Dass wir alle
Erstsendungen im Ersten mit Untertiteln anbieten, dazu alles Fik-                  Dieses Magazin gibt es als PDF unter:
tionale und alle Dokumentationen in der Primetime zwischen                         WWW.SZENE-HAMBURG.COM

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