Vielfalt leben - DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung? - Szene Hamburg
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Vielfalt leben Das Magazin von SZENE HAMBURG und Inklusionsbüro 07 / 2020 Der Alltag von Menschen mit Beeinträchtigungen ist oft herausfordernd DARUM INKLUSION Wie inklusiv sind wir schon und wo brauchen wir noch Nachhilfe und Aufklärung?
Ursula Wermke Hedda Bültmann Erik Brandt-Höge Ulrich Thiele Leitung Fachbereich Inklusion Chefredakteurin Redakteur Redakteur und Zivilgesellschaft SZENE HAMBURG SZENE HAMBURG SZENE HAMBURG Das Team Kreativ! D ? ie Zeit der Corona-Pandemie ist heraus- fordernd – für Menschen mit Behinderung noch mal auf eine ganz andere Weise. Denn für viele ist eine feste Struktur und Regelmäßigkeit im Alltag enorm wichtig, was durch den Lockdown Ihre Meinung nicht mehr machbar war. Betroffene mussten krea- tiv werden und neue Wege gehen, wie die Mitarbei- ist uns wichtig! ter des Autismus Instituts, um die Therapien, auch ohne persönlichen Kontakt fortzusetzen. Oder die Wir möchten, dass unser Magazin für Sie, Eltern, deren Tochter nicht mehr in ihr Wohnheim liebe Leserinnen und Leser, spannend bleibt. zurück konnte. Kreativität ist das, was die Geschich- Sagen Sie uns Ihre Meinung! Einfach per Mail ten in unserem Heft eint. Sie alle erzählen von Ideen an hedda.bueltmann@szene-hamburg.com 1 oder Aktionen, die das Miteinander von Menschen mit Behinderung und ohne einfach besser machen. Wie wichtig ist Ihnen das Thema Wie man sich mit Spaß dafür einsetzen und etwas Inklusion und haben Sie bereits erreichen kann. Allen voran Ingrid Körner. Die Berührungspunkte? Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behin- 2 derter Menschen scheidet nach neun Jahren aus ihrem Amt. In dieser langen Zeit hat sie viel für Welche Themen finden Sie die Inklusion getan und Hamburg ein Stück weit interessant? Was hat Sie beim geprägt. Wir werden sie vermissen und wünschen Lesen überrascht? ihr alles Gute! 3 Was fehlt Ihnen und würden Und Ihnen wünschen wir jetzt viel Spaß beim Lesen! es aber von einem Heft über Inklusion erwarten? Ursula Wermke, Hedda Bültmann, Inklusionsbüro SZENE HAMBURG TITELBILD: PHILIPP SCHMIDT Impressum ISSN 1614-3892 Herausgeber: SZENE HAMBURG und Inklusionsbüro Hamburg Schlussredaktion: Claudia Hoffmann Erscheinungsweise: Geschäftsführung: Chefredaktion: Hedda Bültmann Grafik: Constanze Henk Zweimal jährlich Mathias Forkel, Tanya Kumst Autoren: Erik Brandt-Höge, Redaktionsanschrift: Gesamtherstellung: Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg Marco Arellano Gomes, David Hock, Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg VKM Verlagskontor Telefon: 040 524 72 26 80 Laura Lück, Ilona Lütje, Basti Müller, redaktion@szene-hamburg.com, für Medien- Druck: Dierichs Druck+Media Ulrich Thiele szene-hamburg.com inhalte GmbH GmbH & Co. KG 2 | EDITORIAL IMPRESSUM
Marco Arellano Gomes Basti Müller Laura Lück David Hock Ilona Lütje Redakteur Volontär freie Autorin freier Autor für u. a. freie Autorin SZENE HAMBURG SZENE HAMBURG SZENE HAMBURG SZENE HAMBURG, SZENE HAMBURG Rollt. und Hamburger Abendblatt Inhalt 14 Zeit für Inklusion Wie eine Grundschulklasse mit einem Song den Schülerwettbewerb gewinnt 12 FOTOS: MARCO ARELLANO GOMES (L.U.), HARTMUT VOGT (L.O.), STATTTOUR (R.) StattTour Hamburg aus Sicht eines Rollstuhlfahrers entdecken Ingrid Körner: Neun Jahre Amtszeit 04 Mehr Akzeptanz für Assistenzhunde 06 Corona verändert das Familienleben 10 08 Kreative Wege für Autismus-Therapie Barrierefreies Senden beim NDR 11 16 Kompetenzzentrum Ein Experte erzählt, warum Stadt-Innovationen oft nicht barrierefrei sind INHALT | 3
Der Weg zur Inklusion hört nie auf Rückblick Die ehemalige Studienrätin Ingrid Körner wurde 2011 als Senats koordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen berufen – ehren- amtlich. Jetzt verlässt die 74-Jährige den Posten. Ihr Engagement für ein besseres Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist damit aber noch längst nicht beendet ◗ Interview: Ilona Lütje ? Frau Körner, Sie haben in den ver- offenbar nicht mitgedacht wurde. Ich habe Beispiel auch gehörlose, eingeschränkt gangenen neun Jahren viel bewegt. mir alle Pläne noch mal angeschaut und sehende oder lernbehinderte Menschen, Gehen Sie jetzt leichten Herzens? tatsächlich: Es wurde etliches nicht beach- das vergessen viele gern. Umso erfreu- Ich gehe voller Zuversicht. Wir sind ein tet – und das, obwohl auch das Gesund- licher ist gerade dieses aktuelle Projekt: ganzes Stück weiter. Vieles, das früher hin- heitsamt dort zu Hause sein sollte. Es war hamburg.de soll zu einer barrierefreien ten runtergefallen ist, ist heute selbstver- zum Glück alles noch in der Planungspha- Informationsquelle werden und so wirk- ständlich geworden. Inklusion wird stärker se. Es musste Geld beschafft werden und lich jeden erreichen. Der Bedarf wurde mitgedacht bei allen. Das macht Hoffnung der Bauherr hat dann noch mal nachge- zuvor genau ermittelt und ist riesig. und mir den Abschied leichter. bessert. Ein Gegenbeispiel ist das neue Ihr größter Erfolg? Ihre größte Nie- Was waren Ihre Themen? Kongresszentrum – hier wurde das Thema derlage? Die Aufgaben sind ungeheuer vielfältig. Inklusion vorbildlich mitgedacht. Es gibt nicht wirklich das eine Highlight Auf Basis der UN-Behindertenrechtskon- Welche Themen lagen Ihnen beson- oder die eine Niederlage bei diesem Job. vention ging es immer darum, die Rechte ders am Herzen? Es geht um die tägliche Arbeit und darum, der Menschen mit Behinderungen auch Auf jeden Fall alle, die mir ganz persön- nichts zu übersehen. Aber natürlich: Die in Hamburg umzusetzen. Vieles war sehr lich entgegengebracht wurden, die mir Elbphilharmonie, bei deren Bau – zum theoretisch, aber ungeheuer wichtig. Ich ganz nah auch noch einmal zeigen, wie es Beispiel bei der großen repräsentativen habe zum Beispiel immer automatisch Ein- den betroffenen Menschen geht und mit Treppe – das Thema Barrierefreiheit so sicht in sämtliche Schriftstücke – Druck- welchen Problemen sie konfrontiert sind. ziemlich vergessen wurde, war schon eine sachen, Gesetzesentwürfe, Bauplanungen. Ich habe von vielen Schicksalen erfahren, besondere Herausforderung – allein, weil Wo immer etwas geplant wurde, habe ich die wichtige Denkanstöße geliefert haben. das Gebäude schon so herausragend ist. darauf geachtet, ob das Thema Inklusion Probleme, an die so niemand gedacht Ein ganz besonderes Highlight fällt mir mitgedacht wurde. Meine Rückmeldung hätte. Leider kann ich hier keine Beispiele dann aber auch doch ein: Anfang 2019 wurde dann noch mal geprüft und jede nennen, denn jeder Einzelne würde sich konnte das Kompetenzzentrum für ein Behörde hat dann für sich entschieden. Seit sofort darin erkennen. Aber ich kann barrierefreies Hamburg an den Start der Wahl 2020 bekommt die ganze Bürger versichern, dass auf dem Weg zu einem gehen. Darin arbeiten die Kollegen fach- schaft Kenntnis von den Kommentaren barrierefreien Hamburg – und dabei geht übergreifend zusammen, um zum Beispiel und Einsprüchen und muss dann entschei- es nicht nur um gehbehinderte Menschen bei jedem Bauvorhaben die gesetzlich vor- den, ob es sinnvoll ist oder nicht. Das ist – noch viel mehr Steine im Weg liegen. geschriebene Barrierefreiheit überall im ein großer Schritt in Sachen Transparenz. Diese persönlichen Schicksale – gerade Blick zu behalten und so das Leben von Ein Beispiel? wenn sie sich sehr ähneln – machen mich Menschen mit Behinderungen in unserer Der Umzug des Bezirksamts Mitte 2018 oft sehr betroffen, zeigen aber auch, dass Stadt zu verbessern. in die Caffamacherreihe. Damals muss- es wichtig ist, sich zu Wort zu melden. Sie haben die ganzen Jahre „nur“ ten mich Mitarbeiter darauf aufmerksam Denn da hapert es dann doch noch. Bar- ehrenamtlich gearbeitet, haben Sie damit machen, dass das Thema Barrierefreiheit rierefreiheit und Inklusion betreffen zum gehadert? 4 | INTERVIEW
Man muss aufeinander zugehen und voneinander lernen Viele Menschen halten die ehrenamtliche Arbeit schon als sehr misslich, denn das würde den Aufgaben eigentlich nicht gerecht. Ich fand dabei jedoch viele Vor- teile für diese Arbeit heraus und konnte es mir nach meinem Schuldienst zum Glück auch leisten, ehrenamtlich zu arbei- ten. Doch junge Leute ließen sich über ein Ehrenamt schwer zu diesen Aufga- ben motivieren. Wer kann sich das heute schon leisten? Ich habe mich darum schon früh dafür eingesetzt, dass es mit der Neu- besetzung jetzt eine bezahlte Stelle wird. Bekommt das Thema durch die hauptamtliche Stelle jetzt noch mehr Nachdruck? Das hängt vor allem von der Person ab, die jetzt kommen wird. Die Vorstellungs- gespräche laufen, noch gibt es keine Ent- scheidung. Ich hatte in den Jahren immer Mittel und Wege gefunden, meinem An- Ingrid Körner hat die Inklusion in Hamburg weit vorangebracht und geprägt liegen Nachdruck zu verleihen. Hamburg ist meine Heimatstadt und ich habe durch die Erfahrungen mit meiner eigenen Tochter – sie ist mit dem Downsyndrom denen das Thema noch mehr Nachdruck Derzeit laufen die Bewerbungsge- geboren – schon aus eigener Betroffenheit erfordert – sei es im Kulturbereich oder spräche. Welchen Rat haben Sie für Ihre einen sehr intensiven Blick auf das Thema auch im Transport. Der Dienst Moia zum Nachfolge? Inklusion. Weil ich mich seit den 80ern Beispiel ist für mobilitätseingeschränkte Nicht aufgeben und immer sehr hartnä- in der Behindertenhilfe engagiere, konnte Menschen nicht barrierefrei. Dies wird ckig bleiben. ich ein gutes Netzwerk aufbauen. Das ist erst bei der nächsten Generation der Fahr- Sie sprechen sehr leidenschaftlich. Wer- ungeheuer wichtig. Ohne dieses Netzwerk zeuge berücksichtigt werden. Allerdings den Sie loslassen können? ist der Job ungleich schwerer. Ich war im- ist die App mit einer Voiceover-Funktion Ich stecke einfach zu tief drin, mir ist mer ein Teil davon. Um ein sinnvolles Ziel auf die Bedürfnisse von sehbehinderten der Job sehr, sehr ans Herz gewachsen. zu erreichen, brauche ich Mitstreiter. Menschen angepasst worden, da gibt es Doch ich bin jetzt 74 und habe eine große Wie inklusiv ist Hamburg denn über- also viel zu tun. Auf dem Weg zu einer in- Familie und drei Enkel, mit denen ich haupt? klusiven Gesellschaft ODER auf dem Weg sehr gern Zeit verbringe. Ich werde mich Hamburg ist auf einem guten Weg. Wir zur Inklusion, sind schon kleine Schritte aber weiterhin in kleineren Projekten en- FOTO: JAKOB BÖRNER haben große Fortschritte gemacht, das immens wichtig. Der Weg hört nie auf. gagieren, denn ganz verabschieden kann zeigen zum Beispiel auch unsere Aus- Darum sollte man nie glauben, man hätte ich mich nicht. zeichnung „Wegbereiter der Inklusion!“ das Ziel irgendwann erreicht. Wichtig sowie der Inklusionspreis, für den sich aber ist auch: Inklusion ist keine Einbahn- ▶ I nklusionsbüro Hamburg, Osterbek- jedes Jahr immer mehr Unternehmen be- straße. Man muss aufeinander zugehen straße 96 (Barmbek), Telefon 428 63 50 66; www.hamburg.de/skbm/ werben. Es gibt immer genug Bereiche, in und voneinander lernen. INTERVIEW | 5
S imba geht voran, Andreas Schmelt geht mit. Der 60-Jährige hat den vierjährigen Hund an der Leine. Die Kontrolle aber, den Überblick, hat der Labrador. Schmelt sagt „Obst“, Simba nimmt Kurs auf die Schlange des Obst- stands. Es ist Freitagvormittag, Wochen- markt in Harburg „Am Sand“. Für Herr- chen und Hund wöchentliche Routine. Als sie an der Reihe sind, macht Schmelt einen Fingerzeig, Simba setzt sich, wartet – ohne ein Lebensmittel zu berühren, ohne zu schnüffeln. Seine Augen aber verfolgen jede Bewegung. „Hat er gut gearbeitet, Andreas? Darf er eine Birne?“, fragt die Verkäuferin grinsend. Er darf. Nach einem kurzem Schnack geht es wei- ter: „Räucherfisch“ lautet das Kommando. Seit drei Jahren steht Simba dem erblin- deten Andreas Schmelt im Alltag zur Seite. Wenn der Hund die weiße Kenn decke und das weiße Führgeschirr trägt, ist er im Dienst – und für Schmelt derje- nige, „der mit mir den Weg dahin geht, wohin ich will“. Ein Blindenführhund ermögliche ihm ein ganz anderes Leben. Schmelt erfährt dies seit mittlerweile elf Jahren. Im Verein Deutsche Blindenführ- hunde, eine Gruppe mit „unterer dreistel- Bei Gefahr stellt liger Mitgliederzahl“, ist er seit 2011 Erster sich Simba Vorsitzender. Hier setzt er sich ehrenamt- auch mal quer lich dafür ein, dass auch andere Menschen professionell ausgebildete Führhunde an ihre Seite gestellt bekommen. Und dass diese in der Gesellschaft als Hilfsmittel an jedweden Alltagsorten akzeptiert werden. Dafür reisen Schmelt und Simba zu Vor- „Ein ganz trägen, Messen oder Schulbesuchen in ganz Deutschland. 1986 hatte Schmelt eine Sehnerventzün- dung, erblindete, kann heute nur noch anderes Leben“ Hell und Dunkel unterscheiden. Der ver- heiratete Kaufmann durchlebte den „gro- ßen Kontrollverlust“. Mit seinem ersten Blindenführhund Hektor erhielt er ein gutes Stück selbstbestimmten Lebens Assistenzhunde Die Freiheit der Selbstbestimmung, die zurück. Aber die Herausforderungen bleiben: „Es ist nicht sofort möglich, die ausgebildete Hunde blinden Menschen schenken, Abstandsregeln einzuhalten“, nennt erfährt Andreas Schmelt jeden Tag. Im Verein Deutsche Schmelt ein aktuelles Problem während Blindenführhunde engagiert er sich für eine europaweit der Corona-Pandemie. Nicht immer er- kennt Simba die langgezogenen Schlan- standardisierte Ausbildung – und für Supermarkteinkäufe gen. Das Zweiergespann erlebt dann ohne Zutrittsdiskussionen Menschen, die hilfsbereit sagen, wo sie sich hinstellen sollen. Aber mitunter auch ◗ Text: David Hock solche, die ihnen Drängelei vorwerfen: „Haben Sie nicht gesehen, dass hier nicht ◗ Fotos: Philipp Schmidt frei ist?“ 6 | ALLTAG
80 Prozent der Erstanträge für einen Simba ist Schmelts dritter Assistenzhund Blindenführhund und hat, wie seine Vorgänger, eine zertifi- zierte Ausbildung absolviert. „Das erste werden abgelehnt Lebensjahr verbringen angehende Blinden- führhunde in Patenfamilien“, erklärt Schmelt. Dort sind die Hunde erst mal Familienhunde, werden gewaltfrei erzogen und an unterschiedliche Alltagsorte ge- führt. „Man merkt später, wie gut die Pa- tenfamilie gearbeitet hat“, sagt Schmelt. Monate intensiv zusammenarbeiten, er- Verein unterstützt seine Mitglieder; re- Mit Simba ist er zufrieden, auch wenn er folgt eine umfassende, 1.500 Euro schwere cherchiert vergangene Urteile zu ver- am Anfang eine überraschende Entde- Gesundheitsuntersuchung: Ist der Hund gleichbaren Fällen, schreibt Gutachten, ckung machte: „Zunächst ist er zwischen hinreichend fit, intelligent, schreckfest und vertritt die Antragstellenden gegebe- meinen Beinen Achten gelaufen. Da haben und hat Spaß an der Arbeit? Fragen, die nenfalls vor Gericht. “ sie in der Patenfamilie wohl ‚Dogdancing‘ mit „Ja“ beantwortet sein müssen, damit gemacht.“ der Hund 40 Hörzeichen für die verschie- Was passiert mit den Hunden im denen Alltagssituationen erlernen darf, Ruhestand? Zertifizierte Schulen lehren darunter „Such Treppe!“, „Ampel“ oder Hunde 40 Hörzeichen und räum- „Such Zebra!“. Die Tätigkeiten des Vereins reichen vom liches Sehen Zuvor haben die Schulen mit den an- Antragsverfahren bis zur Pensionierung tragstellenden Menschen Gespräche der Blindenführhunde: Momentan ist Von der Patenfamilie kam Simba geführt. Bei ihnen werden Faktoren wie der Verein mit einem Patenprogramm schließlich in die Blindenführhundschule Persönlichkeitsstruktur, Schrittlänge oder dabei, eine eigene Junghundezucht auszu- im brandenburgischen Müncheberg, eine Wohngegend abgeklopft und entscheiden heben. Im DIN-Normenausschuss wirkt von sechs in Deutschland von der Inter schließlich über die passende Hunderasse. er an einer internationalen Standardisie- national Guide Dog Federation (IGDF) Das erste Beschnuppern zwischen Hund rung der Ausbildung mit. Darüber hinaus zertifizierten Ausbildungsstätten. Bevor und Mensch findet in der Ausbildung vermittelt er auch Patenfamilien für Trainer und Hunde hier sechs bis neun statt. Anschließend kommt es zum ein Hunde, die nach mehrjähriger Tätigkeit in monatigen Einarbeitungslehrgang. Neben Ruhestand gehen. Nicht zuletzt sind Ver- dem Auswendiglernen der Hörzeichen, einsmitglieder auf zivilen Veranstaltungen stellt sich auch die Vertrauensfrage, vertreten, bieten unter anderem Blind- denn „es ist nicht einfach, dem Hund die läufe an, bei denen sich sehende Men- Führung zu übergeben“. Auch für den schen eine Dunkelbrille aufsetzen und von Hund ist das gemeinsame Laufen nicht einem Führhund durch einen Parcours einfach. Er muss erst lernen, nicht nur mit leiten lassen können. Der Verein möchte Nase und Mund, sondern vor allem mit aufklären – darüber, dass Blindenführ- den Augen, räumlich abschätzend, zu hunde ein rechtlich-anerkanntes Hilfs arbeiten. Und sich bei Gefahrensituatio- mittel sind, dessen Mitnahme in Restau- nen wie einer Baugrube buchstäblich rants, Arztpraxen oder Supermärkte nach querzustellen. einem Gutachten des Ministeriums für Aber das kostet: In der Gespannsprü- Ernährung und Landwirtschaft nicht nur fung führt das Duo einen Katalog von „medizinisch-hygienisch unbedenklich“, Kommandos vor. Danach erst entscheidet sondern nach dem Allgemeinen Gleich- der Kostenträger, in der Regel die gesetz stellungsgesetz explizit gestattet ist. Im- liche Krankenversicherung, ob er die mer noch verwehren Geschäftsinhaber Kosten von etwa 30.000 Euro übernimmt. Blindenführhunden den Zutritt, wollen Bis dahin trägt die Ausbildungsstätte das Ausnahmeregelungen vereinbaren, wo wirtschaftliche Risiko. Rechtssicherheit besteht. Solche Erfah Der Verein Deutsche Blindenführhunde rungen würden mürbe machen, sagt setzt mit seiner Unterstützung erblindeter Schmelt. Wenn Simba nach Hause kommt, Menschen bereits zu Beginn des lang ist er kein Hilfsmittel mehr. Hier hat der wierigen Verfahrens an: „80 Prozent der Labrador Feierabend, tobt durch den Erstanträge auf einen Blindenführhund Garten, lässt sich streicheln. „Wenn das Simba wartet werden erst mal abgelehnt“, weiß Schmelt. Geschirr abgelegt ist“, so Schmelt, „ist er geduldig auf Für Menschen, die erblindet sind, mit sich ein Familienhund.“ sein Herrchen selbst hadern, ein weiterer Rückschlag. „Viele haben nicht die Kraft für ein Wider- ▶M ehr Informationen unter spruchsverfahren und knicken ein.“ Der www.deutsche-blindenfuehrhunde.de ALLTAG | 7
Oft im Weg: E-Scooter stellen für Blinde eine Gefahr dar Barrierefreie Kompetenz Expertenteam Das Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg will die Situation der Menschen mit Behinderungen in der Hansestadt nach- haltig verbessern. Im Gespräch verrät Joachim Becker, Experte für Verkehrs- und Freiraumplanung, wie es das umsetzt und was noch besser geht ◗ Interview: Marco Arellano Gomes 8 | STADTLEBEN
Für das Abstellen der E-Scooter wurden ? Herr Becker, warum wurde das Kom- keine Regelungen getroffen. petenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg gegründet? Die Folgen sehen wir Die Idee war, dem großen Beratungs- auf Straßen und bedarf der Behörden, Verkehrsbetriebe, Bauherren, Architekten etc. durch kompe- Fußwegen tente, hauptamtliche Ansprechpartner zu begegnen. Als Experten und Expertinnen für Barrierefreiheit tragen wir dazu bei, die Lebensbedingungen für Menschen mit Diplom-Ingenieur Joachim Becker ist einer der Fachleute in dem neuen Behinderungen zu verbessern. Kompetenzzentrum Wann kam die Idee für ein Kompetenz- zentrum auf? Unsere drei Träger – die „Hamburger Beim öffentlichen Nahverkehr hat sich Was hätten Politik und Anbieter bes- Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte in Sachen Barrierefreiheit in den letzten ser machen können? Menschen e. V.“ (LAG), der „Blinden- und Jahren ja viel getan. Es wäre schön gewesen, wenn es ausge- Sehbehindertenverein Hamburg e. V.“ Die Zusammenarbeit mit dem HVV läuft wiesene Flächen zum Abstellen der Roller (BSVH) und der Verein „Barrierefrei Leben sehr gut. Viele Stationen wurden bereits gäbe. Bremen hat zum Beispiel mit den e. V.“ – forderten seit Jahren ein eigen barrierefrei nachgerüstet. Wichtig ist Roller-Vermietern verbindliche Verein- ständiges, von der Stadt finanziertes Be- aber auch die barrierefreie Information. barungen getroffen. Das hätten wir uns ratungsangebot. Seit 2019 gibt es nun das Zum Beispiel, dass Durchsagen auch von auch für Hamburg gewünscht. Für Blinde Kompetenzzentrum mit Fachleuten, die zu Menschen registriert werden, die nicht und Sehbehinderte, Ältere und Mobili- allen Themen rund um die Barrierefreiheit hören können, also auch als optische tätseingeschränkte besteht erhöhte Gefahr beraten können. Das ist in Deutschland Information dargebracht werden – und – zum einen durch das Abstellen, zum einzigartig. umgekehrt, sodass diese auch Menschen anderen durch die Nutzung der Gehwege In welchen Bereichen beraten Sie? zugänglich gemacht werden, die nicht als Fahrspur – obwohl das nun gerade Die Beratung erfolgt in vier Bereichen: oder nicht gut sehen können. nicht erlaubt ist. FOTOS: MARCO ARELLANO GOMES (L.), KOMPETENZZENTRUM FUER EIN BARRIEREFREIES HAMBURG (R.) Hochbau, Quartierentwicklung, Verkehrs- Alternative Verkehrsmittel sind ja Der Senat hat gerade erst neue Fahr- und Freiraumplanung sowie Information meist nicht barrierefrei wie die E-Roller. rad-Pläne vorgestellt. Was halten Sie und Kommunikation. Perspektivisch ist Wie stehen Sie zu deren Einführung? davon? der Wunsch da, das Zentrum weiter auszu- Ich stelle oft fest, dass durch Innovatio- Grundsätzlich verstehe ich die Euphorie bauen, einfach weil die Bedarfe da sind. nen neue Barrieren entstehen. Für das über die neuen Velorouten, aber ich frage Haben Sie den Eindruck, dass bei Abstellen der E-Scooter wurden keinerlei mich schon, wie man als Blinder über die- neuen Projekten die Barrierefreiheit mehr Regelungen getroffen, sondern nur frei- se oder jene Fahrradstraße kommen soll. beachtet wird als früher? willige Vereinbarungen. Die Folge sehen Die Fahrräder werden immer schneller Was sich seit Bestehen des Kompetenz- wir auf den Straßen und Fußwegen: Roller und immer leiser. Ich kann als Blinder ein zentrums verändert hat, ist, dass es jetzt werden von den Nutzern einfach so in der Fahrrad nicht hören. Da sollte dringend jemanden gibt, der konkret angesprochen Gegend abgestellt – zum Leidwesen von nachgebessert werden. werden kann. Architektur- und Planungs- Menschen mit Behinderungen. Für sie Haben sie einen konkreten Vorschlag? büros rufen bei uns an und fragen: Wie besteht seither eine permanente Stolper- Es wäre denkbar, Zebrastreifen oder machen wir das denn jetzt? Was muss ich gefahr. Fußgängerübergänge einzubauen. Das dabei beachten? Vorher landete das oft Welche Regeln sollte man bei E-Tret- ist derzeit nicht verpflichtend, da es bei den drei oben genannten Trägern und rollern beachten? sich bei einer Fahrradstraße um eine ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern. Mit Ich fange mal mit den Orten an, an die Tempo-30-Zone handelt. Die Stadt ist unserer Arbeit schärfen wir das Bewusst- man sie nicht abstellen sollte: Zum einen bei solchen Zonen mit Zebrastreifen sein für die berechtigten Forderungen der nicht dort, wo sichtbar Menschen durch sehr sparsam. Wir haben uns als Kinder Menschen mit Behinderungen. Denn es ist müssen, also vor Straßenüberquerungen Bierdeckel in die Speichen gesteckt. Ich ja in den meisten Fällen kein böser Wille, und Eingängen. Und auch nicht auf Boden- weiß nicht, ob Sie das auch noch gemacht wenn etwas nicht beachtet wird. indikatoren wie die taktilen Leitlinien haben (lacht). Das war cool, das ratterte Wie fördern Sie dieses Bewusstsein? systeme, ebenso nicht an Wänden, Hecken so schön. Es müssen ja nicht Bierdeckel Für Mitarbeiter der Planungsbehörden bie- und Mauern, da diese für Menschen mit sein, aber es wäre keine schlechte Idee, ten wir unter anderem Fortbildungen an. Blindenstock als Orientierungsmedium auch bei Fahrrädern über einen Min- Die kennen sich zwar in den Bestimmun- dienen. Und schon gar nicht mitten auf dest-Geräuschpegel nachzudenken. gen sehr gut aus. Aber wenn wir sie dann dem Gehweg. Die Tretroller gehören am in den Rollstuhl setzen oder ihnen einen besten auf den sogenannten Unterstreifen ▶K ompetenzzentrum für ein barriere Blindenstock in die Hand drücken ohne, – das ist der Bereich zwischen Gehweg und freies Hamburg, Paul-Stritter-Weg 1 (Alsterdorf); kompetent-barrierefrei.de dass sie etwas sehen können, sind sie um Fahrbahn, wo die Bäume, Straßenlaternen eine entscheidende Erfahrung reicher. und Baumschutzbügel stehen. STADTLEBEN | 9
Zurück ins Elternhaus Corona-Auswirkungen Maria Fricke lebt seit über 25 Jahren in einer Wohnge- meinschaft für Menschen mit Behinderung. Seit Corona ist sie wieder bei ihren Eltern untergekommen. Schuld daran sind vor allem unglückliches Timing und eine problematische Quarantänebestimmung für Einrichtungen der Behindertenhilfe ◗ Text: Laura Lück A m Sonntag, den 22. März erreicht burg. Maria allein in einem Raum für zwei gehen viel spazieren und haben jeden Tag das Ehepaar Fricke (Name von ganze Wochen – für die Frickes war direkt Programm. Wir haben Hochbeete gebaut der Red. geändert) in Sasel eine klar, dass das nicht geht. „Unsere Tochter und angefangen Pflanzen wie Tomaten, Nachricht, die ihren bisherigen Alltag hätte es erstens nicht gewollt, man hätte es Rucola und Kürbisse hochzuziehen.“ Eine auf den Kopf stellt: Ihre Tochter Maria, aber auch nicht verantworten können. Sie Umstellung für das Ehepaar Fricke, die die in einer Wohngruppe für Behinderte wäre höchstwahrscheinlich wieder in eine beide bereits im Rentenalter sind. Maria lebt, darf aufgrund der sich ausbreitenden Psychose gerutscht.“ Auch das Schließen macht die Gartenarbeit Freude, die Töpfe- Covid-19-Pandemie nach dem Wochen- der Werkstätten hält Fricke für unüberlegt: rei und ihr gewohnter Tagesrythmus feh- endbesuch nicht zurück in ihr „zweites „Ich glaube, man hat sich vorher nicht len trotzdem sehr – seit nunmehr knapp Zuhause“, wie die 50-Jährige die Einrich- klar gemacht, was das für die Bewohner drei Monaten. Zwar seien sie gut durch die tung des ZusammenLeben e. V. seit 1993 eigentlich heißt. Arbeit bedeutet für Zeit gekommen, dass die Menschen mit nennt. Seit dem 16. März hatte Maria Menschen mit Behinderung Sinngebung. Behinderung allerdings im Zuge der Krise bereits nicht mehr in der Töpferei arbeiten Sie können sich auch nicht einfach mal exkludiert und nicht inkludiert wurden, können, die ein Angebot tagesstruk- eine entspannte Auszeit nehmen und nette empfindet Fricke als problematisch. Es sei turierender Maßnahme für Bewohner Bücher lesen.“ zu bedenken, dass ihr Alltag nicht dem darstellt. Ihr Vater Heinz Fricke fühlte Für Marias Tagesstrukturierung sind die von anderen Menschen gleiche und sie sich alleingelassen: „Dass Maria nach der Frickes seither selbst verantwortlich. „Wir ohnehin schon in einem sehr engen Rah- Schließung der Werkstätten nun nicht men leben. Die Selbstverständlichkeit und einmal zurück in die Wohngruppe konn- möglicherweise auch Unbedachtheit, mit te, mochte ich so nicht akzeptieren. Da der die Maßnahmen getroffen worden haben wir uns an die Gleichstellungsstelle sind, ärgern Fricke. Der ZusammenLeben gewandt.“ Daraufhin kam das Angebot e. V. nennt die Geschehnisse einen Fall mit einer Rückkehr, allerdings nur unter der Menschen sehr unglücklicher zeitlicher Abfolge. Die Auflage einer 14-tägigen Isolation; Quarantänebestimmungen der Stadt eine Bestimmung der Stadt Ham- mit Hamburg hielt auch die Einrichtung für Behinderung keine Option. Seit dem 22. April konnte sie Angehörigen und rechtlichen Be wurden treuern gegenüber allerdings eine Locke- exkludiert rung kommunizieren: die sofortige Rück- kehrmöglichkeit nach einem aktuellen negativen Testergebnis. Das sei auch bei Redaktionsschluss der Stand. Man sei im ständigen Austausch mit Familie Fricke, sodass einer zeitnahen Rückkehr Marias bald nichts mehr im Wege stehe. Zu einem gemeinsamen kleinen Sommerurlaub mit ihren Mitbewohnern sei sie bereits ange- FOTO: DIRK PUDWELL meldet – eine gute Chance für die Wieder- eingliederung. In diesem Haus ist die WG ▶Z usammenLeben e. V., Wohldorfer von Maria beheimatet Damm 20 (Bergstedt), Telefon 604 00 36; www.zl-hamburg.de 10 | AKTUELL
Soziale Situationen über Rollenspiele erkennen Kochen und spielen per Video Corona macht auch den Therapeuten am Hamburger Autismus Institut zu schaffen. Schließlich fällt die Mehrzahl der persönlichen Treffen mit ihren Klienten weg – und damit auch Regelmäßigkeiten, die für Autisten so wichtig sind. Die Institutsleiterin Barbara Rittmann über neue, kreative Wege, um die Therapien fortzuführen ◗ Interview: Erik Brandt-Höge ? Barbara Rittmann, vor welche kommunikation mit einem Klienten parallel gekocht hat, und die Herausforderungen hat die beiden dabei immer verglichen haben, was sie gerade machen, das Corona-Krise Sie am Hamburger hat auch super geklappt. Einen weiteren Vorteil hat diese Form Autismus Institut gestellt? der Kommunikation: Wir lernen die Klienten noch etwas besser Wir sind ja eine Einrichtung, die eigent kennen, unter anderem, wie sie wohnen. lich nur im Präsenzmodus Autismus- Viele Strukturen, die Ihren Klienten besonders wichtig Therapie und -Beratung anbietet. Wir sind, fielen aufgrund der Pandemie ja weg: Schulen, Kitas und haben Klienten mit einer Kontakt Spielplätze waren lange geschlossen. Sie haben im Namen des behinderung, die teils nicht sprechen Instituts versucht, Ausnahmen zu erwirken … oder eine kognitive Einschränkung … und wir waren dafür auch im Kontakt mit Ingrid Körner, Se- haben. Von daher war es erst mal schwer, natskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen. sich vorzustellen, ohne direkten Kontakt einen positiven Einfluss Sie war auch sehr bemüht, Ausnahmeregelungen für Spielplätze zu nehmen. Viele Klienten wollten auch gar nicht mehr kommen. zu ermöglichen, es gab aber rechtliche Schwierigkeiten. Irgend- Es hieß schließlich überall: „Bleibt zu Hause!“ wann gab es dann ja aber die Wiedereröffnungen. Das war enorm Wir haben Sie reagiert? wichtig, denn für Autisten ist das Fehlen von Regelmäßigkeiten Wir haben auf Fernmedien umgestellt. Zuerst haben wir übers wie Schule, Kindergarten und Tagesförderstätte tatsächlich eine Telefon, später auch über diverse Onlinekanäle versucht, den Kon- große Einschränkung gewesen. takt aufrechtzuerhalten. So haben wir es geschafft, circa 90 Prozent Fühlen Sie sich denn generell von der Hamburger Politik unserer Klienten zu erreichen. Man muss aber schon sehr kreativ ausreichend unterstützt? sein, damit jemand in einer Therapie ohne persönlichen Kontakt Ich weiß gar nicht, ob es unsere Erwartung ist, von der Politik un- auch dabeibleibt. terstützt zu werden. Wir sind ja ein freier Träger und als solcher Haben Sie ein Beispiel? für uns selbst verantwortlich. Was die Politiker aber in einigen Wenn man sich gut abspricht und die Koordinaten genau benennt, Äußerungen deutlich gemacht haben, ist dass sie unsere Ein- kann man am Telefon zum Beispiel so etwas wie Schiffeversen- richtung auf alle Fälle erhalten wollen. Das allein hat uns schon ken spielen. Regelspiele sind sowieso immer gut, weil man dabei gutgetan. Auch werden von der Stadt im Verhältnis zu anderen viele soziale Kompetenzen erwerben kann. Auf Videoplattformen Regionen überdurchschnittlich viele Hilfen angeboten. Hamburg können wir auch kleine Rollenspiele spielen, etwa mit Playmobil- hat sich durchaus als unterstützend erwiesen. Figuren, um bestimmte soziale Situationen kennenzulernen. Und eine Therapeutin erzählte mir kürzlich, dass sie über die Video- ▶M ehr Informationen unter autismus-institut.de AUTISMUS | 11
Neue Sichtweise: Im Rollstuhl die Stadt erkunden „Das geht ganz schön auf die Arme“ Unterwegs Wie sieht Hamburg aus Rollstuhlfahrer-Perspektive aus? Florian Knittel ist Projektleiter von StattTour, einem Stadtführungsangebot, das den Perspektivwechsel möglich macht und Arbeitsplätze für rollstuhlfahrende Tourguides schafft ◗ Text: Laura Lück ? Florian, was steckt hinter dem Pro- er von seinen Erfahrungen mit dem jekt StattTour? Thema Barrierefreiheit in der Stadt und Wir bieten Stadttouren an, bei denen wie er Inklusion wahrnimmt. Es geht Personen, die normalerweise nicht im nicht vordergründig um die Sehenswür- Rollstuhl sitzen, die Perspektive eines digkeiten, sondern um den Perspektiv- Rollstuhlfahrers einnehmen und selbst wechsel und darum zu sehen, welche für 90 Minuten Hamburg erkunden Herausforderungen einem Rollstuhlfahrer können. Wir stellen die Rollstühle und im Alltag so begegnen. einen Tourguide zur Verfügung, der selbst Euer Team besteht aus Studenten? Rollstuhlfahrer ist, eine Einweisung zur Genau, StattTour ist ein Projekt von Benutzung der Rollstühle gibt und dann Enactus Hamburg, der größten studenti- durch die HafenCity führt. Dabei erzählt schen Initiative der Welt, deren Ziel es ist, 12 | SICHTWECHSEL
Eine gewohnte Umgebung wirkt plötzlich ganz anders soziale Missstände durch wirtschaftliches Handeln auf sozialer Ebene zu verbessern. Wir Studenten arbeiten ehrenamtlich. Einnahmen fließen in die Gehälter der Tourguides. Jobs für Rollstuhlfahrer zu schaffen ist eine der Grundideen des Projekts. Der Arbeitsmarkt ist für sie kleiner und eingeschränkter. Oftmals sind es außerdem Berufe, die in einem Büro stattfinden. Da wollten wir eine Der Student Florian Knittel Alternative schaffen. (M.) arbeitet ehrenamtlich Wie kann man an den Touren bei StattTour und sitzt nur teilnehmen? dann im Rollstuhl Wir sind gerade in der Anlaufphase und haben in der Vergangenheit schon Probe- touren angeboten. Ursprünglich wollten wir Anfang Mai richtig loslegen. Durch Covid-19 hat sich dieser Termin natürlich weiter nach hinten verschoben. Sozialer Kontakt steht im Zentrum der Idee, deshalb gab es trotz vieler Interessenten Wie barrierefrei auch keine Alternativlösung. Wir hatten Hamburg ist, Kontakt zu internationalen Studenten, erlebt man erst die an der Verbindung zwischen Sehens im Rollstuhl würdigkeiten und Perspektivwechsel interessiert waren, Menschen, die Roll- stuhlfahrer im eigenen Umfeld haben und ihre Sichtweise besser verstehen wollen wie anstrengend das ist. Vor allem war Rollstuhl sitzt. Wenn er in den Fahrstuhl oder zu Schulklassen, die im Rahmen von es aber spannend zu erleben, wie eine möchte und die Tür sich schon schließt, Inklusionswochen oder Projekten Touren gewohnte Umgebung plötzlich ganz anders ruft schon mal jemand: „Der Rollstuhl buchen wollten. Das geht ganz einfach wirkt – auch weil die Fortbewegung eben muss noch mit!“ über unsere Website oder per Mail. eine ganz andere ist. Dinge, die für Fuß- Wie barrierefrei ist denn Hamburg? Touren mit Distanz sind vorerst nicht gänger einen einzigen Schritt bedeuten, An den Bahnstationen bemüht man vorstellbar? werden für Rollstuhlfahrer schnell zur sich sehr. Mittlerweile sind 80 Prozent Theoretisch wäre das möglich, aber wir Hürde. der U-Bahnhöfe barrierefrei. Auch die wollen nicht zu früh agieren und wo- Wie war die Wahrnehmung von außen? Brücken von der HafenCity rüber in die möglich gegen Regularien verstoßen. Wir Ist man anders mit dir umgegangen, weil Speicherstadt sind mit Rampen versehen, müssen ein Hygienekonzept entwickeln man dich für einen Rollstuhlfahrer hielt? die einen Übergang ermöglichen. Es gibt und sind dabei zu überlegen, wie man Als wir im Team zum ersten Mal eine allerdings auch immer noch Bereiche, Touren kontaktarm gestalten könnte. Wir Probetour gemacht haben, sprach uns eine die gar nicht barrierefrei zugänglich sind. haben noch keine konkreten Termine, Frau an und fragte, ob wir denn noch üben Eine Flaniermeile ist beispielsweise nur hoffen aber, dass es ab August losgehen würden. Wir haben das bejaht und erklärt, über Treppen erreichbar. Das Angebot kann. dass wir gerade unsere erste Erfahrung mit für Toiletten für Rollstuhlfahrer ist in der Was hast du durch die Erfahrungen mit Rollstühlen sei. Ihre Antwort war: „Ihr Stadt auch noch sehr begrenzt. Die Hafen- dem Rollstuhl persönlich Neues gelernt? seid ja auch viel zu schön für den Roll- City etwa bietet eine einzige barrierefreie Erst mal war ich überrascht, wie viel Tech- stuhl.“ Wir waren alle total geschockt, wie Toilette. In älteren Stadtteilen sieht es oft FOTOS: STATTTOUR nik und Raffinesse in so einem Rollstuhl beiläufig und unüberlegt dieser Kommen- noch schlechter aus. Unser Tourguide steckt und wie individuell anpassbar seine tar von ihr kann. Wir haben mit unserem muss seine privaten Wege dementspre- verschiedenen Funktionen sind. Außer- Tourguide Björn auch viel über dieses chend anpassen und immer gut planen. dem geht das Fahren ganz schön auf die Thema gesprochen. Er wird sehr oft von Arme. Man kann sich richtig reinfühlen, Menschen darauf reduziert, dass er im ▶ Mehr Informationen unter statt-tour.de SICHTWECHSEL | 13
Vielfalt im Viervierteltakt Zeit für Inklusion „Ich bin ich und du bist du. Jeder hier gehört dazu“, so lautet die erste Zeile des Refrains aus dem Lied „Vielfalt ist das Leben“ – eine Komposition der Klasse 3e der Grundschule Rahlstedter Höhe, die dafür ausgezeichnet wurde ◗ Text: Basti Müller V orausgegangen war die an viele in den Menschen mit und ohne Behinde- sich an alle Hamburger Schülerinnen Hamburgerinnen und Hamburger rung gemeinsam aktiv sind, Sport treiben, und Schüler der Grundschulen und der gerichtete Einladung Ingrid Kör- Kultur genießen, Bildungsangebote wahr- Sekundarstufe I und bat sie, kreative Pro- ners, Senatskoordinatorin für die Gleich- nehmen etc. Dr. Michael Klein-Landeck, jekte wie Collagen, Geschichten, Videos stellung behinderter Menschen, sich im Leiter der Stabsstelle für Inklusion und und vieles mehr bei der BSB einzureichen. Herbst 2019 an der Zeit für Inklusion zu Sonderpädagogik der Behörde für Schule „Zahlreiche schöne und durchaus nach- beteiligen. Frau Körner hat diese Zeit und Berufsbildung (BSB) nahm diese denkliche Beiträge von Hamburger Schul- zum fünften Mal aufgerufen, um auf die Einladung an. Unter dem Motto „Klasse klassen gingen ein“, sagte Dr. Klein-Lan- vielen Angebote in der Stadt hinzuweisen, inklusiv – gemeinsam stark“ richtete er deck, was die Wahl der Gewinnerinnen beziehungsweise Gewinner nicht gerade leicht gestaltet habe. Auch die eh schon musikbegeisterte Bei der Preisverleihung Klasse 3e aus Rahlstedt reagierte auf den gab’s strahlenende Aufruf eifrig und sammelte mithilfe Gesichter kooperativer Lernformen Textideen für einen schuleigenen Song. In mehreren Unterrichtsstunden stellten die Schüler ihre eigenen Sichtweisen vor, diskutierten sie in der Klasse und trugen sie in Mind- maps zusammen. Schlaglichter der Ideen- findung waren: „Alle Kinder sind bei uns willkommen“, „Unterschiedlich sein ist ganz normal“ und „sich gegenseitig hel- fen“ – Werte, mit denen sich nicht nur die Klassengemeinschaft, sondern auch die gesamte Schule identifiziert. Innerhalb von drei Monaten erarbeiteten die Schüler der 3e so eine Vielfalt-Hymne, die vom Musiklehrer Oliver Ehmsen und von Julia Ehmsen-Nottelmann in eine singbare Form gebracht wurde. Weil sich die Kin- 14 | WETTBEWERB
Biscia quam, omnis ipsunti omnis ea que pro consequae Musik Kreativ und engagiert: die Klasse 3e von Ehmsen in der Aula der Schule. Dr. verbindet, Klein-Landeck ehrte die Sieger anschlie- ßend mit einer Urkunde und dem ersten stärkt und Preis, ein gemeinsamer Besuch im Ham- überwindet burger Miniatur Wunderland. „Die Klasse 3e hat gezeigt, wie Musik verbindet, stärkt Grenzen und Grenzen überwindet“, sagt der Leiter der Stabsstelle für Inklusion und Sonder- pädagogik, „vor allem hat ihr Beitrag eine klare Botschaft: Jeder und jede ist will- kommen hier. Alle gehören dazu und gemeinsam sind wir stark!“ Auch Oliver Ehmsen ist über die Eh- der im Jahrgang auch klassenübergreifend rung seiner kleinen Musiker hoch erfreut. „Wir wünschen uns, dass der Song auch in Inklusive Schule gut verstehen, wählte Ehmsen zwei Kinder anderen Schulen erklingt und so vielleicht aus den Parallelklassen aus, Davinia und zum respektvollen Miteinander beitragen Seit der Verankerung der UN-Konven- Deniz, für die Solo-Teile des Songs. In kann.“ Zu hören ist der Song auf Ehmsens tion über die Rechte der Menschen mit anderthalb Wochen war der Song dann neuem Kinderlieder-Album „Fliegen“, dass einer Behinderung im Hamburgischen endlich im Kasten. Dafür wurde der als CD auf der Internetseite singen-ist- Schulgesetz, ist die Grundschule Rahl- stedter Höhe eine inklusive Schule. Musikraum der Schule kurzerhand zum stark.de erworben werden kann. Das Miteinander aller in der Klasse – Projektstudio. Auch der Kindermusiker Die BSB ruft auch in diesem Jahr wieder mit unterschiedlichen Sprachständen, Rolf Zuckowski hörte den Song und im Rahmen der Zeit für Inklusion zu Stärken und Schwächen jedes Einzelnen spricht von einer „starken Botschaft“ und, einem Schülerwettbewerb auf. Diesmal – ist so fester Bestandteil der Schul- dass wir „Lieder wie dieses, die Kindern unter dem Motto „Spaß an gemeinsamer politik. Es gibt sonderpädagogischen FOTOS: HARTMUT VOGT eine Perspektive geben, brauchen“. Bewegung“. Der Einsendeschluss für Förderbedarf in Bereichen Lernen, Dem konnte sich die Jury nur anschlie- Ideen war der 22. Juni, jedoch werden Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung. Ziel ist es, buntgemischte ßen und kürte „Vielfalt ist das Leben“ zum weitere Meldungen auch danach entge- Klassengemeinschaften gleichermaßen Siegerprojekt des Wettbewerbs. Bei der gengenommen. zu fördern und fordern. Durch das stark feierlichen Preisverleihung dann der große gelebte Miteinander lernen die Schü- Moment: Die Schüler der 3e präsentieren ▶ Weitere Informationen unter lerinnen und Schüler die gegenseitige ihren Gewinnersong unter der Leitung inklusionsbuero@basfi.hamburg.de Rücksichtnahme im Alltag. WETTBEWERB | 15
20 und 23 Uhr als Hörfilmfassung. Und auch, dass wir die Unter- titelung stärker ausbauen als die Gebärdensprachenangebote. Denn so werden die Inhalte von mehr Leuten verstanden – etwa von Altersschwerhörigen, die keine Gebärdensprache verstehen. Diese Schwerpunkte wurden von den Verbänden unterstützt. Untertitel und Gebärdensprache – das sind zwei Ihrer Säu- len. Hinzukommen Angebote in leichter Sprache und Hörfilm- fassungen. Fangen wir mit der leichten Sprache an. Für wen gilt das Angebot? Für alle Menschen, die Schwierigkeiten haben, komplexe Texte zu erfassen. Das Angebot haben wir Ende 2015 eingeführt. Es gibt zum Beispiel jeden Tag die wichtigsten Meldungen aus dem Nor- den in Leichter Sprache. Das Angebot aufzubauen, war für uns Es wird nicht ein Prozess, denn es ist nicht leicht, Leichte Sprache zu formulie- ren. Inzwischen sind wir aber in der Lage, auch aktuell in Leichter Sprache zu berichten. Unser Autor Mark Harenberg etwa hat 2018 den Leichte-Sprache-Preis der Universität Hildesheim und der gespart Dudenredaktion erhalten. Gab es in den letzten zehn Jahren besondere Inklusions-Mei- lensteine? Der erste große Meilenstein war, dass wir den Maßnahmen katalog in der ARD verabschiedet haben. Wichtige Meilenstei- Vorreiter Informationen und Unterhaltung ne waren auch immer, wenn wir beim NDR etwas ganz Neues sind auch für Menschen wichtig, die die gemacht haben. Zum Beispiel, als wir in die Gebärdensprachüber- üblichen Medien nicht konsumieren können. setzung von Musikstücken eingestiegen sind. Oder als wir zu- sammen mit den Kindern der Hamburger Elbschule die Kinder- Wie barrierefreies Senden geht, erzählt nachrichten von NDR Info in Gebärdensprache übersetzt haben. Niels Rasmussen, Leiter Programm Online Die Live-Audiodeskription im Sport war auch ein Meilenstein. und Multimedia beim NDR und Leiter Und Auszeichnungen waren natürlich auch immer eine schöne Anerkennung. Die Audiodeskription der „Sesamstraße“ hat 2019 der ARD-Projektgruppe „Barrierefreier zwei Deutsche Hörfilmpreise erhalten. Das war ein besonderes Rundfunk“ Highlight. Ernie und Bert waren dabei – die absoluten Superstars der Veranstaltung. ◗ Interview: Ulrich Thiele Welche planen Sie für die Zukunft? Wir haben im NDR dieses Jahr eine besondere Situation, weil wir ein Sparpaket von mindestens 300 Millionen Euro für die ? Herr Rasmussen, der NDR erhält viel Lob für seine Vorrei- nächsten vier Jahre zu bewältigen haben. Der wichtigste Meilen- terrolle in puncto Barrierefreiheit in den Medien. Erinnern stein, der uns diesbezüglich gelungen ist: bei den barrierefreien Sie sich an die ersten Schritte? Angeboten bislang nicht zu sparen. Einzelne untertitelte oder audiodeskribierte Sendungen gab es Allgemein gefragt: Wie hat sich in Ihrer Wahrnehmung die schon früher, aber so richtig Fahrt aufgenommen hat die Barriere gesellschaftliche Akzeptanz von Inklusion verändert und welche freiheit in den Medien 2010. Es gab damals die Umstellung von Rolle haben die Medien dabei gespielt? der Rundfunkgebühr auf den Rundfunkbeitrag. Und für Men- Unsere Gesellschaft hat sich verändert, man denke nur an die schen mit Behinderungen wurde – sofern sie wirtschaftlich dazu Inklusion in Schulen. Die Medien sind mit ihren barrierefreien in der Lage sind – ein Drittel des Beitrags festgelegt. Damit war Angeboten ein Teil dieser Veränderung. Neben dem Zugang zu aber auch die Forderung verbunden, mehr barrierefreie Angebote unseren Inhalten geht es aber auch darum, wie wir Menschen mit zu machen. Die ARD hat dazu eine Arbeitsgruppe gegründet, Behinderungen in den Medien darstellen. Deswegen haben wir deren Vorsitz der NDR übernommen hat und die ich inzwischen schon interne Veranstaltungen dazu gemacht, wie man Stereo- seit vielen Jahren leiten darf. Im engen Austausch mit den Ver- typen vermeidet. Das ist uns in der Vergangenheit nicht immer bänden der Menschen mit Sehbehinderung, der Gehörlosen und gelungen, ganz selbstkritisch gesagt. Medien sind gefordert, Schwerhörigen haben wir dann 2010 und 2011 einen Maßnah- Formen der Darstellung einzusetzen, die nicht primär auf die menkatalog zum Ausbau der Barrierefreiheit erstellt. Beeinträchtigung fokussiert sind, sondern auch positive Beispiele Was haben Sie damals beschlossen? und Perspektiven aufzeigen. Uns war wichtig, dort am meisten zu machen, wo wir die meisten Menschen erreichen. Also keine pauschale Quote für alle Sender ▶w ww.ndr.de FOTO: NDR festzulegen, sondern Schwerpunkte zu setzen: Dass wir alle Erstsendungen im Ersten mit Untertiteln anbieten, dazu alles Fik- Dieses Magazin gibt es als PDF unter: tionale und alle Dokumentationen in der Primetime zwischen WWW.SZENE-HAMBURG.COM 16 | MEDIEN
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