Jürgen Habermas im Gespäch mit Joseph Ratzinger über "Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitli

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Prof. Dr. Theodor Ebert (Erlangen)
     Jürgen Habermas im Gespäch mit Joseph Ratzinger
  über „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitli-
                        chen Staates“
                                               Deine Sprache verrät dich ja. (Matth. 26, 74)

Am Montag, den 19. Januar 2004, kam es       Ich werde mich im folgenden auf eine Kri-
auf Einladung der Katholischen Akademie      tik des Beitrages von Habermas beschrän-
in München zu einem Gespräch zwischen        ken.2 Bei der Bedeutung, die Jürgen Ha-
Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger,        bermas in Kreisen der deutschen Öffent-
damals Kardinal und Präfekt der römi-        lichkeit zugesprochen wird, die sich für
schen Glaubenskongregation. Als Thema        fortschrittlich und aufgeklärt halten, scheint
war vorgegeben: „Vorpolitische morali-       mir eine Kritik an seinen Aussagen und
sche Grundlagen eines freiheitlichen Staa-   Argumentionsweisen vordringlich. Von
tes“.1 Die Beiträge der beiden beteiligten   den beiden katholischen Theologen Rat-
Personen sind unter dem Titel Dialektik      zinger und Schuller ist ohnehin wenig an-
der Säkularisierung. Über Vernunft und       deres zu erwarten als eine Verteidigung
Religion 2005 im katholischen Herder         bekannter katholischer Positionen.3
Verlag mit einem Vorwort von Florian
Schuller, dem Direktor der Katholischen                           I.
Akademie in München, publiziert worden.      Mit dem vorgegebenen Thema dieser Dis-
Beide Kontrahenten haben an dem vorge-       kussion ist bereits eine Vorentscheidung
gebenen Thema im Titel ihres jeweiligen      getroffen: Dass es nämlich so etwas wie
Beitrages Änderungen vorgenommen. Ha-        moralische Grundlagen eines freiheitlichen
bermas wandelt es in der Überschrift sei-    Staates gebe. Auch wenn Habermas (im
nes Beitrages ab zu „Vorpolitische Grund-    folgenden H.) das Wort ‚moralische‘ in
lagen des demokratischen Rechtsstaa-         der Überschrift seines Beitrages stillschwei-
tes?“ (S. 14), macht aus dem Thema also      gend weglässt, explizit in Frage gestellt
eine Frage, tilgt das „moralische“ und       wird diese Vorentscheidung von ihm nicht.
macht aus „eines freiheitlichen Staates“     Die Grundlagen des freiheitlichen Staates
nun mit dem bestimmten Artikel „des de-      sind rechtlicher Natur, und gerade der mo-
mokratischen Rechtsstaates“. Ratzinger       derne Rechtsstaat hat gut daran getan,
lässt es bei dem, wohl auch mit ihm abge-    sich auf Grundlagen zu stellen, die von
sprochenen, Thema als Titel, setzt ihm       dem, was Moral charakterisiert, bewusst
aber als Überschrift voran „Was die Welt     absieht. Fragen der Moral, der moralischen
zusammenhält“, eine mit der Anspielung       Beurteilung von Handlungen oder Zustän-
auf ein bekanntes Wort in Goethes Faust      den, rekurrieren stets auch auf die Gesin-
etwas großspurige Erweiterung des The-       nung handelnder Personen. Der säkulari-
mas, in dem ja nur vom Staat, nicht schon    sierte Rechtsstaat sieht aber gerade da-
von der Welt die Rede ist.                   von ab, seinen Bürgern eine bestimmte
                                             Gesinnung zuzumuten. Die Rede von den

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moralischen Grundlagen eines freiheitli-        haben. Zu einer gewissen Prominenz auf
chen Staates ist daher bestenfalls unge-        diesem Gebiet hat es Ernst-Wolfgang
nau, im schlimmeren Fall irreführend. H.        Böckenförde (im folgenden B.) gebracht
hat, wie gesagt, das Wort „moralische“          mit seinem Diktum „Der freiheitliche, sä-
im Titel seines Beitrages getilgt, allerdings   kularisierte Staat lebt von Voraussetzun-
ohne dafür eine Erklärung zu liefern.           gen, die er selbst nicht garantieren kann“4
Dass diese Grundlagen mit dem Begriff           und dem an diesen Satz anschließenden
„vorpolitisch“ charakterisiert werden, macht    Versuch, als Fundament des freiheitlichen
die Sache nicht besser, im Gegenteil. Es        Staates jene Bindungskräfte in Vorschlag
gibt ‚politisch‘ sowie ‚unpolitisch‘, was       zu bringen, „die der religiöse Glaube sei-
‚vorpolitisch‘ sein soll, ist gerade in dem     ner Bürger vermittelt“.5 Es ist unschwer
Zusammenhang, in dem das Wort hier ge-          zu sehen, dass das Thema dieser Diskus-
braucht wird, alles andere als klar. In den     sion an dieses Diktum B.s anknüpfen will.
einschlägigen Wörterbüchern ist diese Vo-       Aus den ‚Voraussetzungen‘ sind ‚Grund-
kabel nicht verzeichnet, zu einem Wiki-         lagen‘ geworden, und für den Staat reicht
pedia-Artikel hat sie es noch nicht ge-         nun das Beiwort ‚freiheitlich‘ unter Weg-
bracht. Die meisten Fundstellen, die auf        fall von ‚säkularisiert‘. 6
Wikipedia angezeigt werden, benutzen die-       H. geht daher auch ohne weiteres auf die-
sen Begriff in der Verbindung ‚vorpoliti-       ses Diktum B.s ein. Interessant und für
scher Raum‘ (oder auch ‚Bereich‘). Be-          seine Vorgehensweise aufschlussreich ist
zeichnet wird damit dann der Raum eines         nun sein Umgang mit diesem Diktum und
über den Bereich des bloßen Einzelinteres-      dessen kommentierende Deutung: Die The-
ses hinausgehenden Engagements bei-             menstellung, so H., erinnere an eine Fra-
spielsweise von Bürgerinitiativen, also das     ge, die B. auf die prägnante Formel ge-
durchaus ‚politische‘ Engagement außer-         bracht habe, „ob der freiheitliche, säkula-
halb von oder vor dem formalisierten Po-        risierte Staat von normativen Vorausset-
litikbetrieb etwa der Parteiendemokratie.       zungen zehrt, die er selbst nicht garantie-
Das ist ein ganz sinnvoller und unanstößi-      ren kann“ (16). Auffallend sind die Ände-
ger Wortgebrauch. Wer allerdings von            rungen, die H. an dem zitierten Diktum
vorpolitischen Grundlagen des Staates           B.s vornimmt. Was bei B. eine These ist,
redet, will damit natürlich nicht auf diesen    wird bei H. als Frage vorgestellt, explizit
Bereich eines bürgerschaftlichen Engage-        auch etwa S. 20 („Böckenfördes Frage“).
ments verweisen, sondern reklamiert da-         Und obwohl der Leser glauben muss, dass
mit eine Sphäre, die außerhalb des nor-         hier wörtlich referiert wird, weicht H. an
malen politischen Diskurses liegt und die-      zwei Stellen von B. ab: Wo dieser gesagt
sem wohl vorgeordnet sein soll. Es liegt        hatte, dass der freiheitliche, säkularisierte
nahe, darin dann einen Rekurs auf natur-        Staat von Voraussetzungen „lebt“, redet
rechtliche Überlegungen zu vermuten.            H. von „zehrt“. Und aus den „Vorausset-
Nun hat es in der staats- und verfassungs-      zungen“ bei B. werden bei H. „normative
politischen Diskussion der Bundesrepu-          Voraussetzungen“. Man mag diese zwei-
blik durchaus Positionen gegeben, die für       te Änderung als eine Explikation verste-
eine hier implizit angedeutete Fundierung       hen und sie dem Autor H. durchgehen las-
staatlichen Rechtes in einer Moral plädiert     sen; die erste Änderung ist aber von et-

Aufklärung und Kritik 1/2015                                                             101
was anderer Art. Zwar ist auch die Rede       neuern‘. Aber diese semantische Verschie-
B.s davon, dass der Staat von Vorausset-      bung ist keineswegs die einzige, die H.
zungen lebt, eine metaphorische Sprech-       hier vornimmt. Nur weil er das, was bei
weise. Im ursprünglichen Sinn gebrauchen      B. als These formuliert wurde, in eine Fra-
wir diese Redeweise etwa von Personen,        ge umdeutet, entsprechend der im Titel
die von einem Vermögen leben; gemeint         seines Beitrags vorgenommenen Umände-
ist damit, dass dieses Vermögen ihnen ihre    rung des Diskussionsthemas in eine Fra-
wirtschaftliche Existenz ermöglicht. Mehr     ge, kann er nun davon reden, dass sich in
kann damit auch in der von B. benutzten       dieser Bemerkung B.s ein Zweifel aus-
Metapher nicht gemeint sein: Es gibt Vor-     drückt, der Zweifel, „ob der demokrati-
aussetzungen, die dem Staat seine (recht-     sche Verfassungsstaat seine normativen
liche) Existenz ermöglichen. Die Wendung,     Bestandsvoraussetzungen aus eigenen
die H. dafür einsetzt, bringt aber ein be-    Ressourcen erneuern kann“. Damit wird
griffliches Moment herein, das in der Re-     als Gegenstand des Zweifels nun nicht
deweise B.s keineswegs schon angenom-         etwa die Möglichkeit der Erneuerung von
men werden muss: wer von etwas zehrt,         „normativen Bestandsvoraussetzungen“
der verbraucht es. An diese Vorstellung       als solche vorgestellt, sondern durch die
eines verzehrenden Verbrauchens lässt         Verknüpfung mit „aus eigenen Ressour-
sich dann der Gedanke, dass das Ver-          cen erneuern“ wird der Akzent auf die Fra-
brauchte erneuert werden muss, anschlie-      ge nach den eigenen Ressourcen gelegt:
ßen, wie es H. in seiner unmittelbar fol-     Dass die Voraussetzungen erneuert wer-
genden Kommentierung zum Ausdruck             den können, wird damit außer Frage ge-
bringt:                                       stellt, problematisch erscheint nur die Mög-
                                              lichkeit, das aus eigenen Ressourcen zu
  T1 „Darin drückt sich der Zweifel aus,      bewerkstelligen. Dass derartige Manöver
  ob der demokratische Verfassungsstaat       durch die Änderungen, die H. in diesem
  seine normativen Bestandsvorausset-         Satz an bereits benutzten Begriffen vor-
  zungen aus eigenen Ressourcen erneu-        nimmt, eher verdeckt als ins Licht gestellt
  ern kann, sowie die Vermutung, dass         werden, versteht sich am Rande: so wird
  er auf autochthone weltanschauliche         aus dem „demokratischen Staat“ der „de-
  oder religiöse, jedenfalls kollektiv ver-   mokratische Verfassungsstaat“, und die
  bindliche ethische Überlieferungen an-      „normativen Voraussetzungen“ werden zu
  gewiesen ist.“ (16)                         „normativen Bestandsvoraussetzungen“
                                              aufgehübscht, ohne dass damit irgendein
Dass der demokratische Staat seine Vor-       Erkenntnisgewinn verbunden wäre.
aussetzungen ‚erneuern‘ kann oder gar         Sowenig wie die These B.s einen Zweifel
muss, ist nun keineswegs ein naheliegen-      ausdrücken sollte, sowenig lässt sich aus
der Gedanke, nicht einmal, wenn man sich      dieser These jene „Vermutung“ herausle-
den Standpunkt B.s zu eigen macht. Denn       sen, die H. hier unterstellt. Dass B. tat-
B. hatte nur von ‚garantieren‘ gesprochen,    sächlich, wenn auch auf wenig überzeu-
ein Begriff, mit dem sich jedenfalls eine     genden Wegen, in der Folge seiner Darle-
etwas stabilere Beziehung darstellen lässt    gungen dazu kommt, dem modernen
als mit der Rede von ‚verzehren‘ und ‚er-     Rechtsstaat ein christliches Fundament

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anzusinnen, berechtigt nicht dazu, diese          T2 „Das würde den zu weltanschauli-
Weiterungen hier schon als in dem Dik-            cher Neutralität verpflichteten Staat
tum B.s ausgedrückt vorzustellen. Wenn            zwar angesichts ‚der Tatsache des Plu-
H. es als Inhalt dieser Vermutung darstellt,      ralismus‘ (Rawls) in Bedrängnis brin-
dass der (moderne, freiheitliche etc.) Staat      gen, aber diese Folgerung spricht nicht
„auf autochthone weltanschauliche oder            schon gegen die Vermutung selbst.“ (16)
religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche
ethische Überlieferungen angewiesen ist“,       Was der erste Hauptsatz, der zwar-Teil
so lässt sich auch hier wieder die Technik      dieser Aussage, (eigentlich) sagen will, ist
der semantischen Verschiebung von Be-           nichts anderes als dass die Berufung auf
griffen beobachten: Dass weltanschauli-         religiöse und weltanschauliche Überliefe-
che oder gar religiöse Überlieferungen kol-     rungen als normative Basis staatlichen
lektiv verbindlich sind, ist jedenfalls alles   Rechts dem Charakter eines weltanschau-
andere als selbstverständlich. Gerade Über-     lich neutralen Staates widerspricht, schon
zeugungen, die sich auf religiöse Überlie-      deshalb, weil es immer mehrere solche
ferungen gründen, sind jedenfalls heutzu-       Überlieferungen gibt. Aber statt diesen
tage in den seltensten Fällen kollektiv ver-    Gedanken direkt und klar zum Ausdruck
bindlich, jedenfalls dann nicht, wenn da-       zu bringen, wählt H. höchst umständliche
mit das Kollektiv des Staatsvolkes in den       und unklare Wendungen: mit der psycholo-
Blick genommen werden soll. Die kollek-         gisierenden Rede vom ‚in Bedrängnis brin-
tive Verbindlichkeit religiöser Überzeugun-     gen‘ wird eine klare Auskunft zur (Un-)
gen ist im allgemeinen auf das Kollektiv der    Verträglichkeit religiöser und weltanschau-
jeweiligen religiösen Gruppe beschränkt.        licher Überzeugungen als Grundlage des
Aber insinuiert werden soll mit dieser          säkularen Rechtsstaates mit dessen Selbst-
Wendung natürlich eine kollektive Verbind-      verständnis vermieden. Statt auf die Tat-
lichkeit für den Staat. Dazu tragen dann        sache der Vielzahl konkurrierender religi-
auch noch zwei Formulierungen bei, de-          ös/weltanschaulicher Überzeugungen hin-
ren Funktion sonst nicht wirklich klar ist,     zuweisen, wird ein Zitat aus einer Autori-
einmal die Rede von „autochthonen“ Über-        tät angeführt, wobei die Rede von der
lieferungen, womit wohl die schon für eine      ‚Tatsache des Pluralismus‘ unbestimmt
gewisse Periode vorhandenen Überliefe-          lässt, von welchem Pluralismus denn hier
rungen eines Landes gemeint sind, unter         die Rede ist. Unklar bleibt auch, warum
Ausschluss der nicht-autochthonen. Zum          für die doch vergleichsweise triviale Fest-
anderen die Wendung „weltanschauliche           stellung, dass es eine Vielzahl konkurrie-
oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbind-   render religiös/weltanschaulicher Überliefe-
liche“ etc.                                     rungen gibt, der us-amerikanische Rechts-
Aber dann scheint dem Autor H. doch             philosoph John Rawls als Autorität ange-
einzufallen, dass religiöse und weltan-         führt wird, ohne dass im übrigen mitge-
schauliche Überlieferungen als normative        teilt wird, aus welchem Werk denn hier
Voraussetzungen in einem Staat, der zur         zitiert wird. Das Ganze ist wohl nicht mehr
weltanschaulicher Neutralität verpflichtet      als akademischer Renommiersucht ge-
ist, problematisch sind. Das wird im fol-       schuldetes name-dropping.7
genden Satz dann so ausgedrückt:

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Der zweite Hauptsatz („aber diese Folge-       offenbar unterschiedslos von „Problem“
rung [...]“) trägt ebenfalls nicht zur Klar-   wie von „Zweifel“ redet: Er möchte „das
heit bei: Hätte H. die Aussage des ersten      Problem“ in zweifacher Hinsicht spezifi-
Satzes eindeutig formuliert und dabei auf      zieren, spricht dann aber – in (1) – sofort
den Widerspruch hingewiesen, der zwi-          davon, dass sich „der Zweifel“ in kogni-
schen dem Selbstverständnis des säkula-        tiver Hinsicht auf die Frage bezieht, „ob
ren Staates und der Vorstellung besteht,       politische Herrschaft [...] einer nichtreli-
dieser Staat ließe sich auch auf (weltan-      giösen [...] Rechtfertigung überhaupt noch
schauliche oder) religiöse Überlieferungen     zugänglich ist“, um dann im folgenden –
gründen, dann würde ziemlich schnell klar      unter (2) – festzustellen, dass in motivatio-
werden, dass damit die „Vermutung“ im          naler Hinsicht „der Zweifel“ bestehen
Text T1 nicht mehr haltbar ist. Daher ist      bleibt, „ob sich ein [...] Gemeinwesen“
die Behauptung, die Folgerung („das wür-       durch eine bestimmte Unterstellung „sta-
de den [...] Staat zwar [...] in Bedrängnis    bilisieren lässt“. Offenbar ist das doch je-
bringen“), die aus dieser Vermutung fol-       weils ein Zweifel unterschiedlichen Inhalts,
gen soll, spreche dennoch nicht gegen die      also hat der Leser es mit zwei Sorten von
Vermutung selbst, einfach falsch. Wenn         Zweifel zu tun. Gleichwohl geht es unter
nämlich aus einer Annahme eine Folge-          (3) im Singular weiter: „Auch wenn sich
rung gezogen werden kann, die aus wel-         dieser Zweifel ausräumen lässt [...]“. Wel-
chen Gründen auch immer nicht annehm-          cher der beiden vorher erwähnten und in
bar erscheint, dann spricht das stets gegen    Zweifel gesetzten Inhalte hier gemeint ist,
die Ausgangsannahme. Das ist schließlich       wird zumindest nicht ausdrücklich klar-
der logische Grundgedanke jedes reduc-         gestellt. Rein grammatisch kann sich die
tio-Beweises. Dessen Richtigkeit wird          Wendung „dieser Zweifel“ nur auf den
nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass        unter (2) vorgebrachten Zweifel beziehen.
H. sich hier einer psychologisierenden         Lassen wir vorerst die Frage auf sich be-
Redeweise bedient, wenn er den Wider-          ruhen, welche Rolle dann dem unter (1)
spruch zwischen einer Zulassung diver-         vorgebrachten Zweifel in der H.schen
gierender weltanschaulich-religiöser Posi-     Argumentationsstrategie zukommt. Hier
tionen als normative Grundlage des Rechts-     möchte ich zunächst nur die einfache Be-
staates einerseits und der Verpflichtung       obachtung machen, dass ein Problem und
dieses Staates zu weltanschaulicher Neu-       ein Zweifel zwei verschiedene Dinge sind,
tralität andererseits als ein „in Bedrängnis   auch wenn für beide die Form der Frage
bringen“ des Staates darstellt.                eine Möglichkeit der Darstellung bietet.
Der anschließende längere Absatz (16f.)        Wir können davon reden, dass etwas
soll eine Art Vorschau auf die folgenden       ‚ohne Zweifel der Fall ist‘, kaum aber da-
Ausführungen geben; er ist in fünf, jeweils    von, dass es ‚ohne Problem der Fall ist‘.
mit einer nachgestellten Nummer versehe-       Wir können sagen, dass uns Zweifel ge-
ne Schritte gegliedert. Da hier für die fol-   kommen sind, oder dass unsere Zweifel
genden Darlegungen programmatische             verflogen sind, aber das Wort ‚Problem‘
Festlegungen getroffen werden, verdient        lässt sich hier nicht einsetzen. Wir kön-
dieser Abschnitt eine etwas eingehendere       nen davon sprechen, dass mit einer be-
Analyse. Zunächst fällt auf, dass H. hier      stimmten These drei Probleme verbunden

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sind, aber kaum, dass damit drei Zweifel       zum anderen Ausdruck verbunden ist? Der
verbunden sind. Dass eine Angelegenheit        Übergang von Problem zu Zweifel, den
sich ohne Problem erledigen ließ, heißt        H. in diesem Text vornimmt, rückt damit
nicht, dass sie sich ohne Zweifel erledi-      eine Frage, die sich als Problem formulie-
gen ließ.                                      ren lässt und ja auch so formuliert wird,
Was lässt sich aus diesen Beobachtungen        in der Bereich des Subjektiven und Unbe-
zum Sprachgebrauch entnehmen? Wie mir          stimmten. Auch hier lässt sich wieder ein
scheint, in erster Linie dies, dass Zweifel    Hang zu psychologisierender Redeweise
persongebunden ist. Dass etwas ohne            feststellen, den wir ja auch oben schon
Zweifel der Fall ist, heißt nichts anderes,    notieren konnten.
als dass der jeweilige Sprecher keinen         Aber wie buchstabiert H. nun seine pro-
Grund hat, daran zu zweifeln. Zweifel          grammatischen Schritte in dieser Ankün-
scheint es nur zu geben, wo es auch einen      digung im einzelnen aus? Von der ersten
Zweifelnden gibt. Dass unsere Zweifel          Hinsicht, in der H. das Problem spezifi-
verflogen sind, heißt eben, dass wir nicht     zieren möchte, heißt es:
länger zweifeln. Umgekehrt ist ein Problem
etwas, das ganz unabhängig von der Be-           T3 „In kognitiver Hinsicht bezieht sich
findlichkeit einer Person gegeben sein kann.     der Zweifel auf die Frage, ob politische
Daher können sich unterschiedliche Per-          Herrschaft nach der vollständigen Po-
sonen demselben Problem widmen, kann             sitivierung des Rechts einer säkularen, das
ein und dasselbe Problem nach langer Zeit        soll heißen einer nichtreligiösen oder nach-
wieder in Angriff genommen werden. Ein           metaphysischen Rechtfertigung über-
Problem kann die Jahrhunderte überdau-           haupt noch zugänglich ist. (1)“ (16)
ern, ein Zweifel wohl kaum. Dies deshalb,
weil er zu einer bestimmten Person gehört.     Da hier eine Fragestellung, ein „Problem“,
Probleme scheinen dem Bereich des Nicht-       spezifiziert werden soll, kann es sich nur
Wissens zuzugehören, der Zweifel eher          um die weiterführende Erläuterung von
dem des Nicht-Glaubens. Wir zweifeln an        bereits vorher Erwähntem handeln. Und
der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung,       die Rede vom „Zweifel“ (mit bestimm-
wenn wir etwa unseren Augen nicht trau-        tem Artikel) verweist auf den in T1 er-
en wollen, wenn wir nicht glauben wollen,      wähnten Zweifel zurück. Aber während es
was uns die Sinne zu melden scheinen. In       dort zweifelhaft war, „ob der demokratische
derartigen Situationen würden wir kaum         Verfassungsstaat seine normativen Be-
sagen, dass wir wissen, dass unsere Sin-       standsvoraussetzungen aus eigenen Res-
ne uns jetzt täuschen, sondern eher, dass      sourcen erneuern kann“, – dass er sie er-
wir glauben, dass etc. Ein Problem ist of-     neuern kann, war offenbar keineswegs
fenbar objektiver als ein Zweifel. Zweifel     zweifelhaft –, ist hier plötzlich von einem
können vage und unbestimmt sein, sich          weitaus grundsätzlicheren Zweifel die Re-
nicht klar artikulieren lassen, von Proble-    de, ob nämlich „politische Herrschaft ...
men würden wir nicht als vage und unbe-        einer säkularen, das soll heißen einer nicht-
stimmt reden.                                  religiösen oder nachmetaphysischen Recht-
Was heißt das nun wiederum für die Fra-        fertigung überhaupt noch zugänglich ist“.
ge, was mit dem Wechsel von dem einen          Während es in T1 um den „demokrati-

Aufklärung und Kritik 1/2015                                                             105
schen Verfassungsstaat“ ging, ist hier ganz     Unter (2) wird nun die zweite der beiden
allgemein von „politischer Herrschaft“ die      Hinsichten, von denen zu Beginn dieses
Rede. Aber selbst wenn wir dem Autor            Absatzes die Rede war, behandelt, es soll
H. konzedieren, dass er die im demokra-         sich um eine „motivationale Hinsicht“ han-
tischen Verfassungsstaat errichtete politi-     deln. Was eine motivationale von einer
sche Herrschaft gemeint hat, so bleibt doch     kognitiven Hinsicht unterscheiden soll und
festzuhalten, dass der demokratische Ver-       warum dieser Unterschied hier von Be-
fassungsstaat in T1 über normative Be-          lang ist, wird dem Leser nicht erklärt.
standsvoraussetzungen verfügt. Sollen die
sich nicht zu einer Rechtfertigung dessen         T4„Auch wenn eine solche Legitimati-
heranziehen lassen, was sie hier normativ         on zugestanden wird, bleibt in motiva-
garantieren? Mit dem Text T3 wird jeden-          tionaler Hinsicht der Zweifel bestehen,
falls etwas in Zweifel gezogen, was in T1         ob sich ein weltanschaulich pluralisti-
noch keineswegs zweifelhaft war.                  sches Gemeinwesen durch die Unter-
Nun ist es H. natürlich unbenommen, in            stellung eines bestenfalls formalen, auf
seinen Text weitergehende Thesen aufzu-           Verfahren und Prinzipien beschränkten
nehmen, nur ist es nicht ehrlich, diese als       Hintergrundeinverständnisses normativ,
Spezifizierungen von bereits Behandeltem,         also über einen bloßen modus vivendi
ja von der These eines anderen Autors,            hinaus stabilisieren lässt. (2)“(16)
nämlich B.s, darzustellen. Unerfindlich
scheint auch, warum die „vollständige           Auch wenn also die säkulare Rechtferti-
Positivierung des Rechts“ einer säkularen       gung politischer Herrschaft, von der im
Rechtfertigung des demokratischen Ver-          Satz vorher die Rede war, als – zu ergän-
fassungsstaates entgegenstehen soll, schließ-   zen wohl: für den modernen Rechtsstaat
lich gibt es auch im deutschen Recht, vom       – möglich angenommen wird, bleibe noch
angelsächsischen ganz abgesehen, Rechts-        der Zweifel, ob usw. Hier stellt sich für
grundsätze, man denke etwa an die Rad-          den Leser zunächst die Frage, wieso die
bruchsche Formel8, die gegen diese an-          gerade zugestandene säkulare Rechtferti-
geblich „vollständige“ Positivierung des        gung des Rechts lediglich dazu gut sein
Rechtes sprechen. Und die – im übrigen          soll, ein bestenfalls formales, auf Verfah-
durchaus fragwürdige – Vorstellung einer        ren und Prinzipien beschränktes Hinter-
„vollständige[n] Positivierung des Rechts“      grundeinverständnis zu begründen. Einmal
ist nicht zu verwechseln mit einer allge-       davon abgesehen, dass ein Wort wie Hin-
meinen Anerkennung des Rechtspositi-            tergrundeinverständnis alles andere als ein
vismus.                                         klar bestimmter Begriff der Rechtstheorie
Eine säkulare Rechtfertigung politischer        ist, wieso werden diesem Wort noch wei-
Herrschaft lässt sich ohne weiteres als         tere einschränkende Bestimmungen beige-
nichtreligiös verstehen, aber warum nicht-      stellt, wieso soll dieses Hintergrundein-
religiös hier mit nachmetaphysisch gleich-      verständnis „bestenfalls formal“ sein und
gesetzt wird, ist keineswegs klar. (Das         wieso wird sein formaler Charakter als auf
‚oder‘ hat hier offensichtlich den Sinn von     „Verfahren und Prinzipien beschränkt“
‚beziehungsweise‘.)                             expliziert? Das eigentlich Ärgerliche bei
                                                dieser Art von Redeweise ist das Verfah-

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ren, eine mit einer Häufung von Begriffen      Staates anerkannt wird, so bleibe es da-
aufgebauschte Frage dazu zu nutzen, dem        bei, dass ein solcher liberaler Staat auf die
Leser unbewiesene und unbegründete             Solidarität seiner Staatsbürger angewiesen
Thesen unterzujubeln. Dadurch dass der         sei. Während H. in den Texten T3 und
Fokus der Aufmerksamkeit auf die Frage         T4 zwei Probleme eher skizzenhaft vor-
nach der Möglichkeit einer normativen Sta-     gestellt hat, ohne dass sie wirklich aus-
bilisierung gelenkt wird, laufen die impli-    buchstabiert wurden, sich aber einer Dis-
zit gemachten Behauptungen gleichsam           kussion dieser Probleme dadurch entzo-
unbemerkt mit, so insbesondere die The-        gen hat, dass er die Fragen, die mit dem
se, dass ein weltanschaulich pluralistisches   jeweiligen Problem aufgeworfen waren, als
Gemeinwesen nur über ein als bestenfalls       im Prinzip beantwortbar dargestellt hat,
formal charakterisiertes Hintergrundein-       wird dem Leser nun autoritativ mitgeteilt,
verständnis als Basis seines Rechtes ver-      es bleibe dabei, dass liberale politische Ord-
fügen soll. Oder die implizite These, dass     nungen auf die Solidarität ihrer Staatsbür-
eine solche auf Prinzipien beschränkte         ger angewiesen sind. In jedem Fall wäre
Grundlage bestenfalls formal sein, also        für diese Behauptung doch eine Begründung
offenbar keine materialen Rechtsgrundsät-      erforderlich. Wie immer auch die Rede
ze enthalten soll. Könnten doch zu den         von ‚Solidarität‘ hier zu verstehen ist, es
Prinzipien auch etwa die Menschenrechte        ist doch keineswegs klar, dass diese Soli-
gehören, also durchaus materiale Rechts-       darität von allen Staatsbürgern in gleicher
grundsätze.                                    Weise geleistet werden muss. Auch der
Erst mit dem dritten Punkt lässt der Autor     liberale Staat geht an einer Reihe von
H. nun seine eigene Position erkennen.         Rechtsbrechern nicht gleich zugrunde.
Auch sie wird eingeführt mit dem Gedan-        Noch problematischer ist aber die an-
ken, dass das vorher Zweifelhafte einmal       schließende These, die Quellen dieser
als geklärt zugestanden wird:                  staatsbürgerlichen Solidarität „könnten in-
                                               folge einer ‚entgleisenden‘ Säkularisierung
  T5 „Auch wenn sich dieser Zweifel aus-       der Gesellschaft im ganzen versiegen“. Auch
  räumen lässt, bleibt es dabei, dass li-      hier möchte sich H. die Arbeit einer argu-
  berale Ordnungen auf die Solidarität         mentierenden Begründung schenken, denn
  ihrer Staatsbürger angewiesen sind –         dem Leser wird gleich versichert: „Diese
  und deren Quellen könnten infolge ei-        Diagnose ist nicht von der Hand zu wei-
  ner ‚entgleisenden‘ Säkularisierung der      sen.“ Obendrein ist gar nicht klar, was mit
  Gesellschaft im ganzen versiegen. Die-       der Rede von einer ‚entgleisenden‘ Säku-
  se Diagnose ist nicht von der Hand zu        larisierung überhaupt gemeint ist; dieses
  weisen, aber sie muss nicht so verstan-      Bild bringt ja zunächst lediglich zum Aus-
  den werden, dass die Gebildeteren un-        druck, dass die Säkularisierung, die auf
  ter den Verteidigern der Religion dar-       einem Gleis, also bisher nur in einer Rich-
  aus gewissermaßen einen ‚Mehrwert‘           tung lief, eine andere und offenbar falsche
  schöpfen. (3)“ (16f.)                        Richtung annehmen kann. Aber wieso
                                               kommt es zu einer solchen Richtungsän-
Auch wenn also die Möglichkeit einer nor-      derung und wieso ist das dann eine fal-
mativen Stabilisierung des pluralistischen     sche Richtung? Und warum soll das die

Aufklärung und Kritik 1/2015                                                             107
Quellen der Solidarität der Staatsbürger       Diagnose einer entgleisenden Säkularisie-
versiegen lassen? Naheliegende Fragen,         rung müsse nicht so verstanden werden,
die aber von H. mit der zitierten Bemer-       dass usw. (s. T5). Auf die Rede von „ver-
kung einer nicht von der Hand zu weisen-       standen werden“ nimmt H. mit der Wen-
den Diagnose vom Tisch gewischt werden.        dung von ‚verstehen‘ Bezug. Mit dieser,
Dabei wäre die Klärung dieser Fragen ge-       bescheiden als ‚Vorschlag‘ angeführten
rade auch deshalb vordringlich, weil H.        These soll also dem Versuch der Reli-
nun versichert, dass die Diagnose einer ent-   gionsverteidiger entgegengewirkt werden,
gleisenden Säkularisierung nicht so verstan-   die entgleisende Säkularisierung (von der
den werden muss, „dass die Gebildete-          wir überhaupt noch nicht wissen, was sie
ren unter den Verteidigern der Religion        genau ist, ob sie bereits vorliegt oder als
daraus gewissermaßen einen ‚Mehrwert‘          Gefahr droht) für ihre apologetischen
schöpfen.“ Offenbar kann sie aber doch         Zwecke zu nutzen. Aber warum kann die
auch so verstanden werden, dass sie Was-       Interpretation der Säkularisierung, die uns
ser auf die Mühlen der Religionsverteidiger    der Autor H. hier ankündigt, nicht ganz
ist. Umso dringlicher wäre dann doch die       unabhängig vom Vorliegen/von der Ge-
Klärung der Fragen, was denn mit der ent-      fahr eines Entgleisens der Säkularisierung
gleisenden Säkularisation genau gemeint        entwickelt werden?
ist, woran man sie erkennen kann, ob sie       Unklar ist auch, warum die Säkularisie-
schon eingetreten oder erst zu erwarten        rung hier in eine kulturelle und eine gesell-
ist. Überdies bleibt festzuhalten, dass sich   schaftliche Säkularisierung unterschieden
die These einer entgleisenden Säkularisie-     wird, was der Unterschied dieser beiden
rung keineswegs aus dem Diktum B.s ge-         Arten/Aspekte von Säkularisierung ist und
winnen lässt. Aber es ist genau dieser Ge-     warum dieser Unterschied für die Überle-
danke einer entgleisenden Säkularisierung,     gungen des Autors von Belang ist. Auch
welche den Verteidigern der Religion kei-      hier bedient sich H. wieder des Verfah-
nen Nutzen bringen soll, von dem H.s fol-      rens, Thesen, die geklärt und begründet
gende Überlegungen nun ihren Ausgang           werden müssten, innerhalb einer bloßen
nehmen. Er fährt nämlich fort:                 Ankündigung als selbstverständlich und
                                               einer Erörterung unbedürftig hinzustellen.
  T6 „Stattdessen werde ich vorschla-          Behauptet wird hier also, dass die Tradi-
  gen, die kulturelle und gesellschaftliche    tionen der Aufklärung ebenso wie die reli-
  Säkularisierung als einen doppelten Lern-    giösen Lehren (sollen es die Lehren einer
  prozess zu verstehen, der die Traditio-      Religion sein oder mehrerer unterschied-
  nen der Aufklärung ebenso wie die reli-      licher Religionen?) jeweils Grenzen haben,
  giösen Lehren zur Reflexion auf ihre         die zum Gegenstand einer Reflexion ge-
  jeweiligen Grenzen nötigt. (4)“ (17)         macht werden können.
                                               Wenn wir von ‚Grenze‘ in einem übertra-
Dieser Text knüpft unmittelbar an T5 an.       genen Sinn reden, also nicht bezogen auf
Mit dem einleitenden „stattdessen“ wird        eine räumliche Markierung, dann ist zu-
eine Alternative aufgemacht zu etwas, was      mindest klar, was dasjenige ist, das jen-
vorher gesagt wurde. Gemeint kann da-          seits dieser Grenze liegt. Reden wir etwa
bei offenbar nur die Behauptung sein, die      von der Grenze einer Fähigkeit, so ist klar,

108                                                         Aufklärung und Kritik 1/2015
dass der Bereich, der jenseits dieser Gren-     men. Es wundert dann nicht, dass der letz-
ze liegt, das betrifft, wozu derjenige, der     te Satz dieser einleitenden Vorschau eini-
sich oder dem ein anderer eine Fähigkeit        germaßen unverbunden mit dem vorher
zuspricht, nicht mehr fähig ist. Oder mit       Ausgeführten zu sein scheint:
der Grenze, die eine Rechtsnorm setzt,
beziehen wir uns auf etwas, wozu wir mit          T7 „Im Hinblick auf postsäkulare Ge-
dem Hinausgehen über diese Grenze nicht           sellschaften stellt sich schließlich die
mehr berechtigt sind. Aber was soll ge-           Frage, welche kognitiven Einstellungen
nau mit der Grenze einer Tradition gemeint        und normativen Erwartungen der libe-
sind? Oder mit der Grenze einer religiö-          rale Staat gläubigen und ungläubigen
sen Lehre? Möglicherweise meint H. hier           Bürgern im Umgang miteinander zumu-
die Grenzen des Wahrheitsanspruchs ei-            ten muss. (5)“(17)
ner religiösen Lehre und die des Wahr-
heitsanspruchs, mit dem eine bestimmte          Warum sich diese Frage hier „schließlich“
Tradition auftritt. Aber das hätte der Au-      stellt, was ihre Klärung zu einer Antwort
tor doch wohl ohne Umstände deutlicher          auf die Frage nach den vorpolitischen
sagen können.                                   Grundlagen des demokratischen Rechts-
Ausgegangen war H. von der Frage nach           staates beitragen kann, in welchem Zusam-
den „vorpolitischen Grundlagen des mo-          menhang sie mit der angekündigten Inter-
dernen Rechtsstaates“. Anknüpfend an            pretation des Prozesses der Säkularisie-
das Diktum B.s, dem H. in der Auffas-           rung steht, all das bleibt ungeklärt. Dabei
sung zuzustimmen scheint, dass liberale         ist die Rede von „postsäkularen Gesell-
Ordnungen auf die Solidarität ihrer Staats-     schaften“ selbst schon höchst unklar. Was
bürger angewiesen sind, wird dann etwas         soll denn eine postsäkulare von einer sä-
überraschend auf die Möglichkeit hinge-         kularen Gesellschaft unterscheiden? Zu-
wiesen, dass die Quellen dieser Solidari-       mal doch sehr fraglich ist, ob die gegen-
tät aufgrund eines Entgleisens der Säkula-      wärtige deutsche Gesellschaft schon wirk-
risierung versiegen könnten, was aber wie-      lich als säkular gelten kann.
derum nicht dazu führen müsse, dass sich        Was der liberale Staat von seinen gläubi-
das für die Religionsverteidiger als vor-       gen wie nichtgläubigen Bürgern jedenfalls
teilhaft erweise. Um diese, unserem Au-         verlangen muss, ist eine wechselseitige To-
tor offenbar unwillkommene Inanspruch-          leranz. Über deren Art und Ausmaß mag
nahme der von ihm als möglich postulier-        man streiten. Aber diese einfache Forderung
ten entgleisenden Säkularisierung durch         wird nur verdunkelt, wenn statt dessen von
die Religionsverteidiger zu konterkarieren,     „kognitiven Einstellungen und normativen
möchte er die Säkularisierung als doppel-       Erwartungen“ geredet wird, die der Staat
ten Lernprozess interpretieren. Dem Le-         seinen Bürgern „zumuten“ müsse. Soll eine
ser wird hier also als Ergebnis einer ver-      normative Erwartung eine sein, bei denen
winkelten Gedankenführung eine bestimm-         der Staat etwas von den Bürgern erwartet
te Deutung eines historischen Prozesses         oder diese etwas vom Staat? Oder die
in Aussicht gestellt, ohne dass wirklich klar   Bürger etwas voneinander? Jedenfalls
ist, auf welche Weise wir damit einer Ant-      wirkt der Gebrauch von psychologisieren-
wort auf die Ausgangsfrage näher kom-           den Begriffen wie ‚Erwartung‘ oder ‚zu-

Aufklärung und Kritik 1/2015                                                           109
muten‘ hier nur verunklärend. Wenn mit         lässt schon erkennen, dass von dem
kognitiven Einstellungen über den Bereich      grundsätzlichen Zweifel in T3 offenbar
der Kenntnisse (etwa von Rechtsvor-            wenig übriggeblieben ist. In der Tat stellt
schriften) hinaus auch etwa Meinungen          sich unser Autor gleich im ersten Satz als
bezeichnet werden sollen, dann lässt sich      Anhänger des politischen Liberalismus
schwerlich sehen, wie der Staat hier et-       vor, den er in der speziellen Form eines
was soll zumuten können.                       Kantischen Republikanismus verteidigen
Um ein Fazit aus diesen Beobachtungen          möchte, und von diesem Liberalismus
am Text zu ziehen: Er ist bemerkenswert        heißt es, dass er „sich als eine nichtreli-
unklar, sowohl was den Gebrauch von            giöse und nachmetaphysische Rechtferti-
Begriffen wie auch die Entwicklung einer       gung der normativen Grundlagen des de-
Argumentationslinie angeht. Die Spezifi-       mokratischen Verfassungsstaates“ (18)
kation des Problems, das H. im Diktum          versteht. Was in T3 also noch als hoch
B.s entdeckt haben will, bleibt in zweier-     problematisch dargestellt wurde, erscheint
lei Hinsicht skizzenhaft und steht in kei-     hier, Kant sei Dank, als bemerkenswert
nem erkennbaren Zusammenhang zu dem,           unproblematisch.
was als These des Autors über die Säku-        H. hat die wenigen Seiten, die er diesem
larisierung als doppelten Lernprozess vor-     Thema widmet, nun allerdings mit rechts-
gestellt wird. Das eigene Vorhaben des         historischen Bemerkungen befrachtet, de-
Autors wird in Anknüpfung an einen ver-        ren Bedeutung für die eigentliche, durch
muteten Fehllauf der Säkularisierung zur       die Kapitelüberschrift aufgeworfene syste-
Diskussion gestellt. Aber vielleicht brin-     matische Frage nicht zu entdecken ist. So
gen die weiteren Darlegungen des Autors        wird dem Leser mitgeteilt, dass die Theo-
über diese Punkte etwas mehr Klarheit.         rie des Liberalismus in der Tradition ei-
                                               nes Vernunftsrechts stehe, das auf die star-
                     II.                       ken Annahmen der klassischen und reli-
H. hat seine nachfolgenden Ausführungen        giösen Naturrechtslehren verzichtet, aber
in der Weise aufgebaut, dass sie auf die       betont wird dann auch, dass die „Ge-
fünf Schritte in dem oben durchgegange-        schichte der christlichen Theologie im
nen Text bezogen sind, oder doch diesen        Mittelalter, insbesondere die spanische
Eindruck vermitteln. Schließlich zerfällt      Spätscholastik (...) natürlich zur Genea-
der Rest des H.schen Textes ebenfalls in       logie der Menschenrechte“ gehöre (18).
fünf kurze Kapitel. Der erste Schritt (T3)     Diese Behauptung, für die auch keinerlei
im oben untersuchten Abschnitt hatte die       Belege angeführt werden, ist nun allerdings
Frage aufgeworfen, ob „ob politische Herr-     sehr zweifelhaft. Die spanische Spätscho-
schaft nach der vollständigen Positivierung    lastik, also Francisco Suarez oder andere
des Rechts einer säkularen, das soll hei-      ihrer Vertreter, etwa Francisco de Vitoria,
ßen einer nichtreligiösen oder nachmeta-       nehmen zwar eine Rolle in der Entwick-
physischen Rechtfertigung überhaupt noch       lung des Völkerrechts ein, aber eine Er-
zugänglich ist.“ Das erste Kapitel ist über-   wähnung der Menschenrechte findet sich
schrieben „Zur Begründung des säkula-          selbst in den einschlägigen Artikeln der
ren Verfassungsstaates aus den Quellen         KathPedia nirgends. Dass Vertreter einer
praktischer Vernunft“. Diese Überschrift       Kirche, die ein Menschenrecht wie die

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Gewissens- oder Religionsfreiheit noch bis      Gesprächspartner schon einmal gut Wet-
zum Vaticanum II für einen verderblichen        ter zu machen.
Irrtum hielt,9 in die Genealogie der Men-       Anschließend wird der Leser darüber ins
schenrechte gehören, ist auch von daher         Bild gesetzt, dass sich die nachkantische
schon ganz unwahrscheinlich. Zwar will          (gemeint ist wohl die an Kant anschlie-
auch H. nicht behaupten, dass die spani-        ßende) Begründung liberaler Verfassungs-
sche Spätscholastik sich Gedanken über          prinzipien im 20. Jahrhundert nicht so sehr
die „Legitimationsgrundlagen der weltan-        mit dem Naturrecht oder der materialen
schaulich neutralen Staatsgewalt“ gemacht       Wertethik als vielmehr mit „historistischen
habe, diese würden vielmehr, wie dem            und empiristischen Formen der Kritik“
Leser erklärt wird, aus der Philosophie des     habe auseinandersetzen müssen. Warum
17. und 18. Jahrhunderts stammen, Theo-         das so ist, wird nicht erläutert, und wel-
logie und Kirche hätten erst sehr viel spä-     che Bedeutung diese Bemerkung für die
ter „die geistigen Herausforderungen des        Argumentation des Verfassers hat, wird
revolutionären Verfassungsstaates“ bewäl-       nicht erklärt. Dem Leser, der nun vielleicht
tigt. (Immerhin, so wird damit en passant       endlich etwas über die Begründung libe-
versichert, haben Theologie und Kirche          raler Verfassungsprinzipen selbst und im
diese Herausforderungen offenbar bewäl-         Sinne Kants erfahren möchte, wird nun
tigt. Angesichts des guten Verhältnisses        folgendes mitgeteilt:
der katholischen Kirche zu den Faschis-
men des letzten Jahrhunderts würde man            T8 „Nach meiner Auffassung genügen
über die Art dieser Bewältigung in der Auf-       schwache Annahmen über den norma-
fassung von H. gerne mehr erfahren.) Von          tiven Gehalt der kommunikativen Ver-
„katholischer Seite“, wie H. weiter erklärt       fassung soziokultureller Lebensformen,
(„wenn ich es recht verstehe“), stehe „ei-        um gegen den Kontextualismus einen
ner von Offenbarungswahrheiten unabhän-           nicht-defätistischen Vernunftbegriff und
gigen Begründung von Moral und Recht              gegen den Rechtspositivismus einen
grundsätzlich nichts im Wege“, da die ka-         nicht-dezisionistischen Begriff der
tholische Seite „ja ein gelassenes Verhält-       Rechtsgeltung zu verteidigen.“ (18f.)
nis zum lumen naturale unterhält“ (18).
Das Verhältnis zum lumen naturale war           Haben wir es bei dem „normativen Gehalt
katholischerseits wohl weniger entspannt,       der kommunikativen Verfassung soziokul-
wenn dieses lumen naturale etwa genutzt         tureller Lebensformen“ denn auch noch
wurde, um nachzuweisen, dass sich die           mit den normativen Voraussetzungen des
Sonne nicht um die Erde dreht, sondern          freiheitlichen säkularisierten Staates zu tun,
diese um ihre eigene Achse. Aber mit sol-       von dem oben (16) die Rede war? Was
chen Kleinigkeiten möchte sich H. hier          man sich unter einem nicht-defätistischen
wohl nicht aufhalten. Auf welche Weise          Vernunftbegriff vorzustellen hat und war-
dieser ganze erste Absatz etwas zur Be-         um der nun gerade gegen den Kontextua-
gründung des säkularen Verfassungsstaa-         lismus verteidigt werden muss, und was
tes aus den Quellen praktischer Vernunft        dieses Unterfangen für die im Titel dieses
beiträgt, ist nicht zu sehen; er scheint eher   Kapitels gestellte Aufgabe leisten kann,
den Zweck zu haben, beim katholischen           bleibt unbestimmt. Obendrein steht diese

Aufklärung und Kritik 1/2015                                                              111
Mitteilung nicht nur in keinem erkennba-       um, dass etwas der Fall ist. Warum nicht
ren Zusammenhang mit den unmittelbar           auch im ersten Satz davon die Rede sein
vorhergehenden Ausführungen, sie scheint       kann, dass der demokratische Prozess ein
mit ihrem Begriffsgeklingel auch eher auf      Verfahren legitimer Rechtssetzung ist,
die Verblüffung des Lesers als auf dessen      bleibt ein Geheimnis des Autors.
sinnvolle Unterrichtung über das Vorha-        Unklar ist im übrigen, was genau damit
ben des Autors gerichtet zu sein. Welche       gemeint ist, dass sich Demokratie und
„schwachen Annahmen“ H. im Sinne hat,          Menschenrechte, eine bestimmte Staats-
bleibt dem Leser jedenfalls verborgen.         form und eine Reihe von Anspruchsrech-
                                               ten, „miteinander verschränken“. Und was
  T9 „Die zentrale Aufgabe“, so erfah-         soll es heißen, dass sie das „gleichur-
  ren wir als nächstes, bestehe „darin zu      sprünglich“ tun?
  erklären                                     Da hier zweimal ein ‚warum‘ als Gegen-
  – warum der demokratische Prozess            stand eines Erklärens angeführt wird, ha-
  als ein Verfahren legitimer Rechts-          ben wir es also wohl auch mit zwei Erklä-
  setzung gilt, und                            rungen zu tun. Gleichwohl geht es nun im
  – warum sich Demokratie und Men-             Singular weiter: Diese Erklärung, so er-
  schenrechte im Prozess der Verfas-           fahren wir weiter, bestehe
  sungsgebung gleichursprünglich mitein-
  ander verschränken.“ (19)                      T10 „in dem Nachweis,
                                                 – dass der demokratische Prozess in
Zu erklären, warum ein bestimmtes Ver-           dem Maße, wie er Bedingungen einer
fahren als legitim gilt, ist nicht dasselbe      inklusiven und diskursiven Meinungs-
wie seine Legitimität nachzuweisen. Die          und Willensbildung erfüllt, eine Vermu-
Annahme seiner Geltung kann auf einem            tung auf die rationale Akzeptabilität der
Irrtum beruhen, und auch das würde eine          Ergebnisse begründet,
Erklärung darstellen können. Mit einer Er-       – dass die rechtliche Institutionalisie-
klärung, warum etwas gilt, legt man sich         rung eines solchen Verfahrens demo-
nicht auf die Wahrheit dessen fest, was          kratischer Rechtsetzung die gleichzei-
da als geltend erklärt werden soll. Es wird      tige Gewährleistung sowohl der libera-
damit also nicht erklärt, warum der de-          len wie der politischen Grundrechte er-
mokratische Prozess ein legitimes Verfah-        fordert.“ (19)
ren ist. Interessanterweise unterliegt der
Nebensatz hinter dem zweiten Spiegel-          Wenn die Erklärung in dem Nachweis be-
strich nicht demselben Bedenken. Mit die-      steht, dass der demokratische Prozess un-
sem Warum-Satz wird nämlich auch be-           ter bestimmten Bedingungen „eine Vermu-
hauptet, dass sich Demokratie und Men-         tung auf die rationale Akzeptabilität der
schenrechte miteinander verschränken           Ergebnisse begründet“, dann sollte doch
(und nicht lediglich als verschränkt gel-      etwas mehr zu diesem Nachweis zu erfah-
ten). Im ersten Warum-Satz geht es dar-        ren sein. Mit diesem Satz wird ja nur über
um, dass etwas als legitimes Verfahren gilt,   den Nachweis geredet, er wird angekün-
also als legitimes Verfahren angesehen         digt, aber keineswegs wird ein solcher
wird, im zweiten Warum-Satz geht es dar-       Nachweis auch geliefert. Es wird verlangt,

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dass der demokratische Prozess, den H.       kann, ja, dass er verpflichtet ist, die Rolle
wahlweise auch ein „Verfahren demokra-       einer Berufung auf den demokratischen
tischer Rechtsetzung“ nennt, „Bedingun-      Prozess in seiner Begründung auszubuch-
gen einer inklusiven und diskursiven Mei-    stabieren. Diese Verpflichtung wird durch
nungs- und Willensbildung“ erfüllen muss.    die von H. gewählte Formulierung ausge-
Aber warum das so ist und was denn die-      blendet: indem der Autor den demokrati-
se Bedingungen sind, was auch etwa eine      schen Prozess zum Subjekt des Begrün-
inklusive Willensbildung ist, wird dem Le-   dens macht, bringt er seine eigene Rolle
ser nicht mitgeteilt.                        zum Verschwinden und vermeidet die ar-
Da wir es hier mit einem Textstück zu tun    gumentative Arbeit, die er eigentlich zu
haben, das der „Begründung des säkularen     leisten hätte.
Verfassungsstaates“ gewidmet ist, sollte     Auch ein Nachweis, „dass die rechtliche
der Umgang mit Worten, die dem seman-        Institutionalisierung eines solchen Verfah-
tischen Umkreis von Begründung ange-         rens demokratischer Rechtsetzung die
hören, etwas genauer beachtet werden.        gleichzeitige Gewährleistung sowohl der
Bisher wurde in diesem Kapitel von dem       liberalen wie der politischen Grundrechte
Wort ‚Begründung‘ lediglich in den doxo-     erfordert“, wird nicht geliefert. Es bleibt
graphischen Abschnitten Gebrauch ge-         bei einer bloßen Ankündigung, obwohl es
macht, so war von der „autonomen (von        hier doch, wie gerade vorher versichert
Offenbarungswahrheiten unabhängigen)         worden ist, um eine „zentrale Aufgabe“
Begründung“, der von katholischer Seite      geht. H. hat statt dessen in einer Fußnote,
nichts im Wege stehe, die Rede, oder von     die am Ende seines Textes steht, einen
der „nachkantischen Begründung libera-       Hinweis auf das Kapitel III seines Buches
ler Verfassungsprinzipien“ (18). Bei der     „Faktizität und Geltung“ von 1982 mit
Rede über den Nachweis, in dem die an-       dem Titel „Zur Rekonstruktion des Rechts
gekündigte Erklärung bestehen soll, heißt    (i): Das System der Rechte“ gestellt. Die-
es nun aber vom demokratischen Prozess,      ses Kapitel umfasst die Seiten 109 bis 165,
dass er eine Vermutung begründet. Das        hat also einen Umfang, der über den der
Subjekt der Tätigkeit eines Begründens ist   hier diskutierten Abhandlung (SS. 16-36)
im allgemeinen und logischerweise eine       weit hinausgeht. In welcher Beziehung die-
Person, die eine Behauptung, einen Vor-      ser Text den fehlenden Nachweis liefern
schlag, vielleicht auch einmal eine Vermu-   kann, wird nicht einmal angedeutet.
tung begründet. Dass ein Prozess eine Ver-   Dass der Begriff der Begründung für den
mutung begründet, ist daher wohl nur eine    Rest des Kapitels eine zentrale Rolle spielt,
verschleiernde Ausdruckweise dafür, dass     zeigt sich im ersten sowie im letzten Satz
jemand, hier also der Autor H., unter Hin-   des anschließenden Textes:
weis oder unter Berufung auf den demo-
kratischen Prozess eine Vermutung auf die      T11 „Der Bezugspunkt dieser Begrün-
rationale Annehmbarkeit der Ergebnisse         dungsstrategie ist die Verfassung, die
(dieses Prozesses) begründet oder begrün-      sich die assoziierten Bürger selber ge-
den möchte. Würde das so formuliert,           ben, (...). Diese soll auf dem Wege der
dann wäre sofort auch deutlich, dass der-      demokratischen Verfassungsgebung
jenige, der so redet, aufgefordert werden      erst erzeugt werden.“ (19f.)10

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Der letzte Satz des Textes, der zugleich         gezähmten“ Staatsgewalt befassen, mün-
der letzte Satz des Kapitel ist, lautet:         den ebenfalls wieder in ein bloßes Refe-
                                                 rat, geschmückt mit rechtshistorischen
  T12 „Gegenüber einem rechtshegelia-            Anmerkungen, wobei der Bogen von Paul
  nischen Verständnis des Verfassungs-           Laband und Georg Jellinek zu Carl
  staates besteht die prozeduralistische,        Schmitt (!) geschlagen wird. Man kann
  durch Kant inspirierte Auffassung auf          wohl bezweifeln, dass sich ein liberaler
  einer autonomen, ihrem Anspruch nach           Rechtstheoretiker wie Jellinek mit einem
  für alle Bürger rational akzeptablen Be-       opportunistischen und faschismus-affinen
  gründung der Verfassungsgrundsätze.“           Theoretiker wie Schmitt unter dem Ober-
  (21)                                           begriff eines „im Kaiserreich wurzelnden
                                                 Staatswillenspositivismus“ angemessen
Bisher war von einer „Begründungs-               zusammenstellen lässt, aber es geht auch
strategie“ (T11) gar nicht die Rede, durch       hier wohl eher um name-dropping als um
den Gebrauch des Demonstrativprono-              wirkliche historische Analyse. Obwohl die
mens „dieser“ in T11 wird aber genau das         Erwähnung des Staatswillenspositivismus
behauptet. Dem Leser wird also zugemu-           und der „vorkonstitutionellen Fürstensou-
tet, etwas vorher Gesagtes als Begrün-           veränität“ nur die Folie für das Loblied
dungstrategie zu verstehen. Faktisch hat-        auf den Verfassungsstaat bilden soll, bei
te sich H. jedoch mit der Formulierung,          dem „das Recht die politische Gewalt
dass der demokratische Prozess eine Ver-         ohne Rest durchdringt“ (20), ist gleich
mutung begründet, wie wir gesehen ha-            anschließend vom „problematischen
ben, um die Arbeit einer argumentativen          Erbe“ die Rede, womit wohl nur die deut-
Explikation gedrückt. Es spricht auch            sche Staatsrechtslehre gemeint sein kann,
nichts dafür, dass hier eine strategisch aus-    die doch durch den Verfassungsstaat über-
gerichtete Begründung des Autors H. ge-          wunden wurde. Im Lichte dieses proble-
meint ist. Der Gebrauch von „Begrün-             matischen Erbes sei „Böckenfördes Fra-
dung“ im letzten Satz dieses Kapitelab-          ge so verstanden worden, als habe eine
schnittes zeigt vielmehr klar, dass hier nicht   vollständig positivierte Verfassungsord-
argumentiert, sondern über eine anderwei-        nung (...) die Religion oder irgendeine an-
tig vorliegende Argumentation nur referie-       dere ‚haltende‘ Macht nötig.“ (20) Was
rend berichtet wird. Auch andere Formu-          H. uns hier als eine in seinen Augen un-
lierungen, die sich unschwer als Umschrei-       angemessene, von anderen Interpreten
bungen für Begründung verstehen lassen,          vertretene „Lesart“ des B.schen Diktums
so die „kognitive Absicherung“ der „Gel-         verkaufen will, ist nun aber genau die Mei-
tungsgrundlagen“ oder die „Fundierung“,          nung B.s. Am Ende seiner Ausführungen
auf die der „Geltungsanspruch des posi-          heißt es nämlich bei B.:
tiven Rechts“ (20) angewiesen sein könn-
te, stehen im Kontext von Referaten an-            „So wäre denn noch einmal – mit He-
derer Positionen.                                  gel – zu fragen, ob nicht auch der sä-
Die an T11 anschließenden Darlegungen,             kularisierte weltliche Staat letztlich aus
die sich mit dem Unterschied einer „kon-           jenen inneren Antrieben und Bindungs-
stituierten“ von einer „nur konstitutionell        kräften leben muß, die der religiöse

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Glaube seiner Bürger vermittelt.“ (B.       fassungsstaates vorstellt, werden einerseits
  a.a.O. 113f.)                               rechtshistorische Darlegungen zur frühen
                                              Neuzeit und zum 19. Jahrhundert geliefert,
Dass das, was hier „mit Hegel“ gefragt        und andererseits wird zu der systemati-
wird, tatsächlich die Meinung B.s ist, er-    schen Seite der Frage nur programmatisch
gibt sich aus dem ganzen Duktus seiner        davon geredet, dass für die Erklärung,
Darlegungen, für die Hegel mehrfach als       warum der demokratische Prozess als ein
unangreifbare Autorität in Anspruch ge-       Verfahren legitimer Rechtssetzung gilt, ein
nommen wird. Überdies beeilt sich B.          Nachweis erforderlich sei, der aber nur
sofort zu versichern, damit sei nicht ge-     sehr global beschrieben, aber keineswegs
meint, dass der weltliche Staat „zum          geleistet wird.
‚christlichen‘ Staat rückgebildet wird“
(a.a.O.), und gibt damit zu erkennen, dass                         III.
die referierte Position Hegels auch seine     Die Überschrift des zweiten Kapitels ist
eigene ist. H. hat also entweder den Au-      eine Frage: „Wie reproduziert sich die
tor, dessen Diktum der Ausgangspunkt          staatsbürgerliche Solidarität?“ Hier ist der
seiner Überlegungen ist, gründlich miss-      Gedankengang etwas besser organisiert
verstanden, was angesichts der in diesem      als im vorhergehenden Kapitel, was aber
Punkte klaren Worte B.s eher unwahr-          nicht heißt, dass die eigenen Aussagen des
scheinlich ist, oder er täuscht seine Leser   Autors besser begründet sind. H. sieht
über die Intention des von ihm hier er-       einen Unterschied in der Rolle der Staats-
wähnten Autors.                               bürger als Adressaten des Rechts einer-
H. schließt dieses Kapitel mit dem Text       seits und als Autoren des Rechts ande-
T12. Dass die „prozeduralistische, durch      rerseits. Für die Adressaten des Rechts
Kant inspirierte Auffassung“, zu ergänzen:    seien die kognitiven Bestände „eines von
des Verfassungsstaates, auf einer „ihrem      religiösen und metaphysischen Überliefe-
Anspruch nach für alle Bürger rational        rungen unabhängigen Argumentations-
akzeptablen Begründung der Verfassungs-       haushaltes“ ausreichend, wohingegen bei
grundsätze“ besteht, mag sie von „einem       „Staatsbürgern in der Rolle demokrati-
rechtshegelianischen Verständnis“ unter-      scher Mitgesetzgeber“ die „normativen
scheiden. Aber dieses Bestehen-auf drückt     Bestandsvoraussetzungen des demokra-
ja nur ein Festhalten-an aus, ohne dass       tischen Verfassungsstaates [...] anspruchs-
damit klar gemacht wird, warum diese          voller“ seien. Staatsbürger in dieser Rolle
Position die besser begründete sein soll.     „sollen ihre Kommunikations- und Teil-
Fassen wir zusammen: Der Titel dieses         nahmerechte [...] auch gemeinwohlorien-
Kapitels hatte Ausführungen „zur Begrün-      tiert wahrnehmen.“ Das verlange „einen
dung des säkularen Verfassungsstaates         kostspieligeren Motivationsaufwand“.
aus den Quellen praktischer Vernunft“ in
Aussicht gestellt. An welche Quellen prak-    Von den Motiven, welche die Staatsbür-
tischer Vernunft dabei gedacht ist, wird      ger hier dazu bringen, dass sie ihre Rech-
an keiner Stelle des Textes deutlich. Statt   te „auch gemeinwohlorientiert wahrneh-
Ausführungen zu der Frage, wie sich der       men“ (22), heißt es dann zum einen, dass
Autor eine Begründung des säkularen Ver-      sie „legal nicht erzwungen“ werden kön-

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