Jürgen Habermas im Gespäch mit Joseph Ratzinger über "Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitli
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Prof. Dr. Theodor Ebert (Erlangen) Jürgen Habermas im Gespäch mit Joseph Ratzinger über „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitli- chen Staates“ Deine Sprache verrät dich ja. (Matth. 26, 74) Am Montag, den 19. Januar 2004, kam es Ich werde mich im folgenden auf eine Kri- auf Einladung der Katholischen Akademie tik des Beitrages von Habermas beschrän- in München zu einem Gespräch zwischen ken.2 Bei der Bedeutung, die Jürgen Ha- Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, bermas in Kreisen der deutschen Öffent- damals Kardinal und Präfekt der römi- lichkeit zugesprochen wird, die sich für schen Glaubenskongregation. Als Thema fortschrittlich und aufgeklärt halten, scheint war vorgegeben: „Vorpolitische morali- mir eine Kritik an seinen Aussagen und sche Grundlagen eines freiheitlichen Staa- Argumentionsweisen vordringlich. Von tes“.1 Die Beiträge der beiden beteiligten den beiden katholischen Theologen Rat- Personen sind unter dem Titel Dialektik zinger und Schuller ist ohnehin wenig an- der Säkularisierung. Über Vernunft und deres zu erwarten als eine Verteidigung Religion 2005 im katholischen Herder bekannter katholischer Positionen.3 Verlag mit einem Vorwort von Florian Schuller, dem Direktor der Katholischen I. Akademie in München, publiziert worden. Mit dem vorgegebenen Thema dieser Dis- Beide Kontrahenten haben an dem vorge- kussion ist bereits eine Vorentscheidung gebenen Thema im Titel ihres jeweiligen getroffen: Dass es nämlich so etwas wie Beitrages Änderungen vorgenommen. Ha- moralische Grundlagen eines freiheitlichen bermas wandelt es in der Überschrift sei- Staates gebe. Auch wenn Habermas (im nes Beitrages ab zu „Vorpolitische Grund- folgenden H.) das Wort ‚moralische‘ in lagen des demokratischen Rechtsstaa- der Überschrift seines Beitrages stillschwei- tes?“ (S. 14), macht aus dem Thema also gend weglässt, explizit in Frage gestellt eine Frage, tilgt das „moralische“ und wird diese Vorentscheidung von ihm nicht. macht aus „eines freiheitlichen Staates“ Die Grundlagen des freiheitlichen Staates nun mit dem bestimmten Artikel „des de- sind rechtlicher Natur, und gerade der mo- mokratischen Rechtsstaates“. Ratzinger derne Rechtsstaat hat gut daran getan, lässt es bei dem, wohl auch mit ihm abge- sich auf Grundlagen zu stellen, die von sprochenen, Thema als Titel, setzt ihm dem, was Moral charakterisiert, bewusst aber als Überschrift voran „Was die Welt absieht. Fragen der Moral, der moralischen zusammenhält“, eine mit der Anspielung Beurteilung von Handlungen oder Zustän- auf ein bekanntes Wort in Goethes Faust den, rekurrieren stets auch auf die Gesin- etwas großspurige Erweiterung des The- nung handelnder Personen. Der säkulari- mas, in dem ja nur vom Staat, nicht schon sierte Rechtsstaat sieht aber gerade da- von der Welt die Rede ist. von ab, seinen Bürgern eine bestimmte Gesinnung zuzumuten. Die Rede von den 100 Aufklärung und Kritik 1/2015
moralischen Grundlagen eines freiheitli- haben. Zu einer gewissen Prominenz auf chen Staates ist daher bestenfalls unge- diesem Gebiet hat es Ernst-Wolfgang nau, im schlimmeren Fall irreführend. H. Böckenförde (im folgenden B.) gebracht hat, wie gesagt, das Wort „moralische“ mit seinem Diktum „Der freiheitliche, sä- im Titel seines Beitrages getilgt, allerdings kularisierte Staat lebt von Voraussetzun- ohne dafür eine Erklärung zu liefern. gen, die er selbst nicht garantieren kann“4 Dass diese Grundlagen mit dem Begriff und dem an diesen Satz anschließenden „vorpolitisch“ charakterisiert werden, macht Versuch, als Fundament des freiheitlichen die Sache nicht besser, im Gegenteil. Es Staates jene Bindungskräfte in Vorschlag gibt ‚politisch‘ sowie ‚unpolitisch‘, was zu bringen, „die der religiöse Glaube sei- ‚vorpolitisch‘ sein soll, ist gerade in dem ner Bürger vermittelt“.5 Es ist unschwer Zusammenhang, in dem das Wort hier ge- zu sehen, dass das Thema dieser Diskus- braucht wird, alles andere als klar. In den sion an dieses Diktum B.s anknüpfen will. einschlägigen Wörterbüchern ist diese Vo- Aus den ‚Voraussetzungen‘ sind ‚Grund- kabel nicht verzeichnet, zu einem Wiki- lagen‘ geworden, und für den Staat reicht pedia-Artikel hat sie es noch nicht ge- nun das Beiwort ‚freiheitlich‘ unter Weg- bracht. Die meisten Fundstellen, die auf fall von ‚säkularisiert‘. 6 Wikipedia angezeigt werden, benutzen die- H. geht daher auch ohne weiteres auf die- sen Begriff in der Verbindung ‚vorpoliti- ses Diktum B.s ein. Interessant und für scher Raum‘ (oder auch ‚Bereich‘). Be- seine Vorgehensweise aufschlussreich ist zeichnet wird damit dann der Raum eines nun sein Umgang mit diesem Diktum und über den Bereich des bloßen Einzelinteres- dessen kommentierende Deutung: Die The- ses hinausgehenden Engagements bei- menstellung, so H., erinnere an eine Fra- spielsweise von Bürgerinitiativen, also das ge, die B. auf die prägnante Formel ge- durchaus ‚politische‘ Engagement außer- bracht habe, „ob der freiheitliche, säkula- halb von oder vor dem formalisierten Po- risierte Staat von normativen Vorausset- litikbetrieb etwa der Parteiendemokratie. zungen zehrt, die er selbst nicht garantie- Das ist ein ganz sinnvoller und unanstößi- ren kann“ (16). Auffallend sind die Ände- ger Wortgebrauch. Wer allerdings von rungen, die H. an dem zitierten Diktum vorpolitischen Grundlagen des Staates B.s vornimmt. Was bei B. eine These ist, redet, will damit natürlich nicht auf diesen wird bei H. als Frage vorgestellt, explizit Bereich eines bürgerschaftlichen Engage- auch etwa S. 20 („Böckenfördes Frage“). ments verweisen, sondern reklamiert da- Und obwohl der Leser glauben muss, dass mit eine Sphäre, die außerhalb des nor- hier wörtlich referiert wird, weicht H. an malen politischen Diskurses liegt und die- zwei Stellen von B. ab: Wo dieser gesagt sem wohl vorgeordnet sein soll. Es liegt hatte, dass der freiheitliche, säkularisierte nahe, darin dann einen Rekurs auf natur- Staat von Voraussetzungen „lebt“, redet rechtliche Überlegungen zu vermuten. H. von „zehrt“. Und aus den „Vorausset- Nun hat es in der staats- und verfassungs- zungen“ bei B. werden bei H. „normative politischen Diskussion der Bundesrepu- Voraussetzungen“. Man mag diese zwei- blik durchaus Positionen gegeben, die für te Änderung als eine Explikation verste- eine hier implizit angedeutete Fundierung hen und sie dem Autor H. durchgehen las- staatlichen Rechtes in einer Moral plädiert sen; die erste Änderung ist aber von et- Aufklärung und Kritik 1/2015 101
was anderer Art. Zwar ist auch die Rede neuern‘. Aber diese semantische Verschie- B.s davon, dass der Staat von Vorausset- bung ist keineswegs die einzige, die H. zungen lebt, eine metaphorische Sprech- hier vornimmt. Nur weil er das, was bei weise. Im ursprünglichen Sinn gebrauchen B. als These formuliert wurde, in eine Fra- wir diese Redeweise etwa von Personen, ge umdeutet, entsprechend der im Titel die von einem Vermögen leben; gemeint seines Beitrags vorgenommenen Umände- ist damit, dass dieses Vermögen ihnen ihre rung des Diskussionsthemas in eine Fra- wirtschaftliche Existenz ermöglicht. Mehr ge, kann er nun davon reden, dass sich in kann damit auch in der von B. benutzten dieser Bemerkung B.s ein Zweifel aus- Metapher nicht gemeint sein: Es gibt Vor- drückt, der Zweifel, „ob der demokrati- aussetzungen, die dem Staat seine (recht- sche Verfassungsstaat seine normativen liche) Existenz ermöglichen. Die Wendung, Bestandsvoraussetzungen aus eigenen die H. dafür einsetzt, bringt aber ein be- Ressourcen erneuern kann“. Damit wird griffliches Moment herein, das in der Re- als Gegenstand des Zweifels nun nicht deweise B.s keineswegs schon angenom- etwa die Möglichkeit der Erneuerung von men werden muss: wer von etwas zehrt, „normativen Bestandsvoraussetzungen“ der verbraucht es. An diese Vorstellung als solche vorgestellt, sondern durch die eines verzehrenden Verbrauchens lässt Verknüpfung mit „aus eigenen Ressour- sich dann der Gedanke, dass das Ver- cen erneuern“ wird der Akzent auf die Fra- brauchte erneuert werden muss, anschlie- ge nach den eigenen Ressourcen gelegt: ßen, wie es H. in seiner unmittelbar fol- Dass die Voraussetzungen erneuert wer- genden Kommentierung zum Ausdruck den können, wird damit außer Frage ge- bringt: stellt, problematisch erscheint nur die Mög- lichkeit, das aus eigenen Ressourcen zu T1 „Darin drückt sich der Zweifel aus, bewerkstelligen. Dass derartige Manöver ob der demokratische Verfassungsstaat durch die Änderungen, die H. in diesem seine normativen Bestandsvorausset- Satz an bereits benutzten Begriffen vor- zungen aus eigenen Ressourcen erneu- nimmt, eher verdeckt als ins Licht gestellt ern kann, sowie die Vermutung, dass werden, versteht sich am Rande: so wird er auf autochthone weltanschauliche aus dem „demokratischen Staat“ der „de- oder religiöse, jedenfalls kollektiv ver- mokratische Verfassungsstaat“, und die bindliche ethische Überlieferungen an- „normativen Voraussetzungen“ werden zu gewiesen ist.“ (16) „normativen Bestandsvoraussetzungen“ aufgehübscht, ohne dass damit irgendein Dass der demokratische Staat seine Vor- Erkenntnisgewinn verbunden wäre. aussetzungen ‚erneuern‘ kann oder gar Sowenig wie die These B.s einen Zweifel muss, ist nun keineswegs ein naheliegen- ausdrücken sollte, sowenig lässt sich aus der Gedanke, nicht einmal, wenn man sich dieser These jene „Vermutung“ herausle- den Standpunkt B.s zu eigen macht. Denn sen, die H. hier unterstellt. Dass B. tat- B. hatte nur von ‚garantieren‘ gesprochen, sächlich, wenn auch auf wenig überzeu- ein Begriff, mit dem sich jedenfalls eine genden Wegen, in der Folge seiner Darle- etwas stabilere Beziehung darstellen lässt gungen dazu kommt, dem modernen als mit der Rede von ‚verzehren‘ und ‚er- Rechtsstaat ein christliches Fundament 102 Aufklärung und Kritik 1/2015
anzusinnen, berechtigt nicht dazu, diese T2 „Das würde den zu weltanschauli- Weiterungen hier schon als in dem Dik- cher Neutralität verpflichteten Staat tum B.s ausgedrückt vorzustellen. Wenn zwar angesichts ‚der Tatsache des Plu- H. es als Inhalt dieser Vermutung darstellt, ralismus‘ (Rawls) in Bedrängnis brin- dass der (moderne, freiheitliche etc.) Staat gen, aber diese Folgerung spricht nicht „auf autochthone weltanschauliche oder schon gegen die Vermutung selbst.“ (16) religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen ist“, Was der erste Hauptsatz, der zwar-Teil so lässt sich auch hier wieder die Technik dieser Aussage, (eigentlich) sagen will, ist der semantischen Verschiebung von Be- nichts anderes als dass die Berufung auf griffen beobachten: Dass weltanschauli- religiöse und weltanschauliche Überliefe- che oder gar religiöse Überlieferungen kol- rungen als normative Basis staatlichen lektiv verbindlich sind, ist jedenfalls alles Rechts dem Charakter eines weltanschau- andere als selbstverständlich. Gerade Über- lich neutralen Staates widerspricht, schon zeugungen, die sich auf religiöse Überlie- deshalb, weil es immer mehrere solche ferungen gründen, sind jedenfalls heutzu- Überlieferungen gibt. Aber statt diesen tage in den seltensten Fällen kollektiv ver- Gedanken direkt und klar zum Ausdruck bindlich, jedenfalls dann nicht, wenn da- zu bringen, wählt H. höchst umständliche mit das Kollektiv des Staatsvolkes in den und unklare Wendungen: mit der psycholo- Blick genommen werden soll. Die kollek- gisierenden Rede vom ‚in Bedrängnis brin- tive Verbindlichkeit religiöser Überzeugun- gen‘ wird eine klare Auskunft zur (Un-) gen ist im allgemeinen auf das Kollektiv der Verträglichkeit religiöser und weltanschau- jeweiligen religiösen Gruppe beschränkt. licher Überzeugungen als Grundlage des Aber insinuiert werden soll mit dieser säkularen Rechtsstaates mit dessen Selbst- Wendung natürlich eine kollektive Verbind- verständnis vermieden. Statt auf die Tat- lichkeit für den Staat. Dazu tragen dann sache der Vielzahl konkurrierender religi- auch noch zwei Formulierungen bei, de- ös/weltanschaulicher Überzeugungen hin- ren Funktion sonst nicht wirklich klar ist, zuweisen, wird ein Zitat aus einer Autori- einmal die Rede von „autochthonen“ Über- tät angeführt, wobei die Rede von der lieferungen, womit wohl die schon für eine ‚Tatsache des Pluralismus‘ unbestimmt gewisse Periode vorhandenen Überliefe- lässt, von welchem Pluralismus denn hier rungen eines Landes gemeint sind, unter die Rede ist. Unklar bleibt auch, warum Ausschluss der nicht-autochthonen. Zum für die doch vergleichsweise triviale Fest- anderen die Wendung „weltanschauliche stellung, dass es eine Vielzahl konkurrie- oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbind- render religiös/weltanschaulicher Überliefe- liche“ etc. rungen gibt, der us-amerikanische Rechts- Aber dann scheint dem Autor H. doch philosoph John Rawls als Autorität ange- einzufallen, dass religiöse und weltan- führt wird, ohne dass im übrigen mitge- schauliche Überlieferungen als normative teilt wird, aus welchem Werk denn hier Voraussetzungen in einem Staat, der zur zitiert wird. Das Ganze ist wohl nicht mehr weltanschaulicher Neutralität verpflichtet als akademischer Renommiersucht ge- ist, problematisch sind. Das wird im fol- schuldetes name-dropping.7 genden Satz dann so ausgedrückt: Aufklärung und Kritik 1/2015 103
Der zweite Hauptsatz („aber diese Folge- offenbar unterschiedslos von „Problem“ rung [...]“) trägt ebenfalls nicht zur Klar- wie von „Zweifel“ redet: Er möchte „das heit bei: Hätte H. die Aussage des ersten Problem“ in zweifacher Hinsicht spezifi- Satzes eindeutig formuliert und dabei auf zieren, spricht dann aber – in (1) – sofort den Widerspruch hingewiesen, der zwi- davon, dass sich „der Zweifel“ in kogni- schen dem Selbstverständnis des säkula- tiver Hinsicht auf die Frage bezieht, „ob ren Staates und der Vorstellung besteht, politische Herrschaft [...] einer nichtreli- dieser Staat ließe sich auch auf (weltan- giösen [...] Rechtfertigung überhaupt noch schauliche oder) religiöse Überlieferungen zugänglich ist“, um dann im folgenden – gründen, dann würde ziemlich schnell klar unter (2) – festzustellen, dass in motivatio- werden, dass damit die „Vermutung“ im naler Hinsicht „der Zweifel“ bestehen Text T1 nicht mehr haltbar ist. Daher ist bleibt, „ob sich ein [...] Gemeinwesen“ die Behauptung, die Folgerung („das wür- durch eine bestimmte Unterstellung „sta- de den [...] Staat zwar [...] in Bedrängnis bilisieren lässt“. Offenbar ist das doch je- bringen“), die aus dieser Vermutung fol- weils ein Zweifel unterschiedlichen Inhalts, gen soll, spreche dennoch nicht gegen die also hat der Leser es mit zwei Sorten von Vermutung selbst, einfach falsch. Wenn Zweifel zu tun. Gleichwohl geht es unter nämlich aus einer Annahme eine Folge- (3) im Singular weiter: „Auch wenn sich rung gezogen werden kann, die aus wel- dieser Zweifel ausräumen lässt [...]“. Wel- chen Gründen auch immer nicht annehm- cher der beiden vorher erwähnten und in bar erscheint, dann spricht das stets gegen Zweifel gesetzten Inhalte hier gemeint ist, die Ausgangsannahme. Das ist schließlich wird zumindest nicht ausdrücklich klar- der logische Grundgedanke jedes reduc- gestellt. Rein grammatisch kann sich die tio-Beweises. Dessen Richtigkeit wird Wendung „dieser Zweifel“ nur auf den nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass unter (2) vorgebrachten Zweifel beziehen. H. sich hier einer psychologisierenden Lassen wir vorerst die Frage auf sich be- Redeweise bedient, wenn er den Wider- ruhen, welche Rolle dann dem unter (1) spruch zwischen einer Zulassung diver- vorgebrachten Zweifel in der H.schen gierender weltanschaulich-religiöser Posi- Argumentationsstrategie zukommt. Hier tionen als normative Grundlage des Rechts- möchte ich zunächst nur die einfache Be- staates einerseits und der Verpflichtung obachtung machen, dass ein Problem und dieses Staates zu weltanschaulicher Neu- ein Zweifel zwei verschiedene Dinge sind, tralität andererseits als ein „in Bedrängnis auch wenn für beide die Form der Frage bringen“ des Staates darstellt. eine Möglichkeit der Darstellung bietet. Der anschließende längere Absatz (16f.) Wir können davon reden, dass etwas soll eine Art Vorschau auf die folgenden ‚ohne Zweifel der Fall ist‘, kaum aber da- Ausführungen geben; er ist in fünf, jeweils von, dass es ‚ohne Problem der Fall ist‘. mit einer nachgestellten Nummer versehe- Wir können sagen, dass uns Zweifel ge- ne Schritte gegliedert. Da hier für die fol- kommen sind, oder dass unsere Zweifel genden Darlegungen programmatische verflogen sind, aber das Wort ‚Problem‘ Festlegungen getroffen werden, verdient lässt sich hier nicht einsetzen. Wir kön- dieser Abschnitt eine etwas eingehendere nen davon sprechen, dass mit einer be- Analyse. Zunächst fällt auf, dass H. hier stimmten These drei Probleme verbunden 104 Aufklärung und Kritik 1/2015
sind, aber kaum, dass damit drei Zweifel zum anderen Ausdruck verbunden ist? Der verbunden sind. Dass eine Angelegenheit Übergang von Problem zu Zweifel, den sich ohne Problem erledigen ließ, heißt H. in diesem Text vornimmt, rückt damit nicht, dass sie sich ohne Zweifel erledi- eine Frage, die sich als Problem formulie- gen ließ. ren lässt und ja auch so formuliert wird, Was lässt sich aus diesen Beobachtungen in der Bereich des Subjektiven und Unbe- zum Sprachgebrauch entnehmen? Wie mir stimmten. Auch hier lässt sich wieder ein scheint, in erster Linie dies, dass Zweifel Hang zu psychologisierender Redeweise persongebunden ist. Dass etwas ohne feststellen, den wir ja auch oben schon Zweifel der Fall ist, heißt nichts anderes, notieren konnten. als dass der jeweilige Sprecher keinen Aber wie buchstabiert H. nun seine pro- Grund hat, daran zu zweifeln. Zweifel grammatischen Schritte in dieser Ankün- scheint es nur zu geben, wo es auch einen digung im einzelnen aus? Von der ersten Zweifelnden gibt. Dass unsere Zweifel Hinsicht, in der H. das Problem spezifi- verflogen sind, heißt eben, dass wir nicht zieren möchte, heißt es: länger zweifeln. Umgekehrt ist ein Problem etwas, das ganz unabhängig von der Be- T3 „In kognitiver Hinsicht bezieht sich findlichkeit einer Person gegeben sein kann. der Zweifel auf die Frage, ob politische Daher können sich unterschiedliche Per- Herrschaft nach der vollständigen Po- sonen demselben Problem widmen, kann sitivierung des Rechts einer säkularen, das ein und dasselbe Problem nach langer Zeit soll heißen einer nichtreligiösen oder nach- wieder in Angriff genommen werden. Ein metaphysischen Rechtfertigung über- Problem kann die Jahrhunderte überdau- haupt noch zugänglich ist. (1)“ (16) ern, ein Zweifel wohl kaum. Dies deshalb, weil er zu einer bestimmten Person gehört. Da hier eine Fragestellung, ein „Problem“, Probleme scheinen dem Bereich des Nicht- spezifiziert werden soll, kann es sich nur Wissens zuzugehören, der Zweifel eher um die weiterführende Erläuterung von dem des Nicht-Glaubens. Wir zweifeln an bereits vorher Erwähntem handeln. Und der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung, die Rede vom „Zweifel“ (mit bestimm- wenn wir etwa unseren Augen nicht trau- tem Artikel) verweist auf den in T1 er- en wollen, wenn wir nicht glauben wollen, wähnten Zweifel zurück. Aber während es was uns die Sinne zu melden scheinen. In dort zweifelhaft war, „ob der demokratische derartigen Situationen würden wir kaum Verfassungsstaat seine normativen Be- sagen, dass wir wissen, dass unsere Sin- standsvoraussetzungen aus eigenen Res- ne uns jetzt täuschen, sondern eher, dass sourcen erneuern kann“, – dass er sie er- wir glauben, dass etc. Ein Problem ist of- neuern kann, war offenbar keineswegs fenbar objektiver als ein Zweifel. Zweifel zweifelhaft –, ist hier plötzlich von einem können vage und unbestimmt sein, sich weitaus grundsätzlicheren Zweifel die Re- nicht klar artikulieren lassen, von Proble- de, ob nämlich „politische Herrschaft ... men würden wir nicht als vage und unbe- einer säkularen, das soll heißen einer nicht- stimmt reden. religiösen oder nachmetaphysischen Recht- Was heißt das nun wiederum für die Fra- fertigung überhaupt noch zugänglich ist“. ge, was mit dem Wechsel von dem einen Während es in T1 um den „demokrati- Aufklärung und Kritik 1/2015 105
schen Verfassungsstaat“ ging, ist hier ganz Unter (2) wird nun die zweite der beiden allgemein von „politischer Herrschaft“ die Hinsichten, von denen zu Beginn dieses Rede. Aber selbst wenn wir dem Autor Absatzes die Rede war, behandelt, es soll H. konzedieren, dass er die im demokra- sich um eine „motivationale Hinsicht“ han- tischen Verfassungsstaat errichtete politi- deln. Was eine motivationale von einer sche Herrschaft gemeint hat, so bleibt doch kognitiven Hinsicht unterscheiden soll und festzuhalten, dass der demokratische Ver- warum dieser Unterschied hier von Be- fassungsstaat in T1 über normative Be- lang ist, wird dem Leser nicht erklärt. standsvoraussetzungen verfügt. Sollen die sich nicht zu einer Rechtfertigung dessen T4„Auch wenn eine solche Legitimati- heranziehen lassen, was sie hier normativ on zugestanden wird, bleibt in motiva- garantieren? Mit dem Text T3 wird jeden- tionaler Hinsicht der Zweifel bestehen, falls etwas in Zweifel gezogen, was in T1 ob sich ein weltanschaulich pluralisti- noch keineswegs zweifelhaft war. sches Gemeinwesen durch die Unter- Nun ist es H. natürlich unbenommen, in stellung eines bestenfalls formalen, auf seinen Text weitergehende Thesen aufzu- Verfahren und Prinzipien beschränkten nehmen, nur ist es nicht ehrlich, diese als Hintergrundeinverständnisses normativ, Spezifizierungen von bereits Behandeltem, also über einen bloßen modus vivendi ja von der These eines anderen Autors, hinaus stabilisieren lässt. (2)“(16) nämlich B.s, darzustellen. Unerfindlich scheint auch, warum die „vollständige Auch wenn also die säkulare Rechtferti- Positivierung des Rechts“ einer säkularen gung politischer Herrschaft, von der im Rechtfertigung des demokratischen Ver- Satz vorher die Rede war, als – zu ergän- fassungsstaates entgegenstehen soll, schließ- zen wohl: für den modernen Rechtsstaat lich gibt es auch im deutschen Recht, vom – möglich angenommen wird, bleibe noch angelsächsischen ganz abgesehen, Rechts- der Zweifel, ob usw. Hier stellt sich für grundsätze, man denke etwa an die Rad- den Leser zunächst die Frage, wieso die bruchsche Formel8, die gegen diese an- gerade zugestandene säkulare Rechtferti- geblich „vollständige“ Positivierung des gung des Rechts lediglich dazu gut sein Rechtes sprechen. Und die – im übrigen soll, ein bestenfalls formales, auf Verfah- durchaus fragwürdige – Vorstellung einer ren und Prinzipien beschränktes Hinter- „vollständige[n] Positivierung des Rechts“ grundeinverständnis zu begründen. Einmal ist nicht zu verwechseln mit einer allge- davon abgesehen, dass ein Wort wie Hin- meinen Anerkennung des Rechtspositi- tergrundeinverständnis alles andere als ein vismus. klar bestimmter Begriff der Rechtstheorie Eine säkulare Rechtfertigung politischer ist, wieso werden diesem Wort noch wei- Herrschaft lässt sich ohne weiteres als tere einschränkende Bestimmungen beige- nichtreligiös verstehen, aber warum nicht- stellt, wieso soll dieses Hintergrundein- religiös hier mit nachmetaphysisch gleich- verständnis „bestenfalls formal“ sein und gesetzt wird, ist keineswegs klar. (Das wieso wird sein formaler Charakter als auf ‚oder‘ hat hier offensichtlich den Sinn von „Verfahren und Prinzipien beschränkt“ ‚beziehungsweise‘.) expliziert? Das eigentlich Ärgerliche bei dieser Art von Redeweise ist das Verfah- 106 Aufklärung und Kritik 1/2015
ren, eine mit einer Häufung von Begriffen Staates anerkannt wird, so bleibe es da- aufgebauschte Frage dazu zu nutzen, dem bei, dass ein solcher liberaler Staat auf die Leser unbewiesene und unbegründete Solidarität seiner Staatsbürger angewiesen Thesen unterzujubeln. Dadurch dass der sei. Während H. in den Texten T3 und Fokus der Aufmerksamkeit auf die Frage T4 zwei Probleme eher skizzenhaft vor- nach der Möglichkeit einer normativen Sta- gestellt hat, ohne dass sie wirklich aus- bilisierung gelenkt wird, laufen die impli- buchstabiert wurden, sich aber einer Dis- zit gemachten Behauptungen gleichsam kussion dieser Probleme dadurch entzo- unbemerkt mit, so insbesondere die The- gen hat, dass er die Fragen, die mit dem se, dass ein weltanschaulich pluralistisches jeweiligen Problem aufgeworfen waren, als Gemeinwesen nur über ein als bestenfalls im Prinzip beantwortbar dargestellt hat, formal charakterisiertes Hintergrundein- wird dem Leser nun autoritativ mitgeteilt, verständnis als Basis seines Rechtes ver- es bleibe dabei, dass liberale politische Ord- fügen soll. Oder die implizite These, dass nungen auf die Solidarität ihrer Staatsbür- eine solche auf Prinzipien beschränkte ger angewiesen sind. In jedem Fall wäre Grundlage bestenfalls formal sein, also für diese Behauptung doch eine Begründung offenbar keine materialen Rechtsgrundsät- erforderlich. Wie immer auch die Rede ze enthalten soll. Könnten doch zu den von ‚Solidarität‘ hier zu verstehen ist, es Prinzipien auch etwa die Menschenrechte ist doch keineswegs klar, dass diese Soli- gehören, also durchaus materiale Rechts- darität von allen Staatsbürgern in gleicher grundsätze. Weise geleistet werden muss. Auch der Erst mit dem dritten Punkt lässt der Autor liberale Staat geht an einer Reihe von H. nun seine eigene Position erkennen. Rechtsbrechern nicht gleich zugrunde. Auch sie wird eingeführt mit dem Gedan- Noch problematischer ist aber die an- ken, dass das vorher Zweifelhafte einmal schließende These, die Quellen dieser als geklärt zugestanden wird: staatsbürgerlichen Solidarität „könnten in- folge einer ‚entgleisenden‘ Säkularisierung T5 „Auch wenn sich dieser Zweifel aus- der Gesellschaft im ganzen versiegen“. Auch räumen lässt, bleibt es dabei, dass li- hier möchte sich H. die Arbeit einer argu- berale Ordnungen auf die Solidarität mentierenden Begründung schenken, denn ihrer Staatsbürger angewiesen sind – dem Leser wird gleich versichert: „Diese und deren Quellen könnten infolge ei- Diagnose ist nicht von der Hand zu wei- ner ‚entgleisenden‘ Säkularisierung der sen.“ Obendrein ist gar nicht klar, was mit Gesellschaft im ganzen versiegen. Die- der Rede von einer ‚entgleisenden‘ Säku- se Diagnose ist nicht von der Hand zu larisierung überhaupt gemeint ist; dieses weisen, aber sie muss nicht so verstan- Bild bringt ja zunächst lediglich zum Aus- den werden, dass die Gebildeteren un- druck, dass die Säkularisierung, die auf ter den Verteidigern der Religion dar- einem Gleis, also bisher nur in einer Rich- aus gewissermaßen einen ‚Mehrwert‘ tung lief, eine andere und offenbar falsche schöpfen. (3)“ (16f.) Richtung annehmen kann. Aber wieso kommt es zu einer solchen Richtungsän- Auch wenn also die Möglichkeit einer nor- derung und wieso ist das dann eine fal- mativen Stabilisierung des pluralistischen sche Richtung? Und warum soll das die Aufklärung und Kritik 1/2015 107
Quellen der Solidarität der Staatsbürger Diagnose einer entgleisenden Säkularisie- versiegen lassen? Naheliegende Fragen, rung müsse nicht so verstanden werden, die aber von H. mit der zitierten Bemer- dass usw. (s. T5). Auf die Rede von „ver- kung einer nicht von der Hand zu weisen- standen werden“ nimmt H. mit der Wen- den Diagnose vom Tisch gewischt werden. dung von ‚verstehen‘ Bezug. Mit dieser, Dabei wäre die Klärung dieser Fragen ge- bescheiden als ‚Vorschlag‘ angeführten rade auch deshalb vordringlich, weil H. These soll also dem Versuch der Reli- nun versichert, dass die Diagnose einer ent- gionsverteidiger entgegengewirkt werden, gleisenden Säkularisierung nicht so verstan- die entgleisende Säkularisierung (von der den werden muss, „dass die Gebildete- wir überhaupt noch nicht wissen, was sie ren unter den Verteidigern der Religion genau ist, ob sie bereits vorliegt oder als daraus gewissermaßen einen ‚Mehrwert‘ Gefahr droht) für ihre apologetischen schöpfen.“ Offenbar kann sie aber doch Zwecke zu nutzen. Aber warum kann die auch so verstanden werden, dass sie Was- Interpretation der Säkularisierung, die uns ser auf die Mühlen der Religionsverteidiger der Autor H. hier ankündigt, nicht ganz ist. Umso dringlicher wäre dann doch die unabhängig vom Vorliegen/von der Ge- Klärung der Fragen, was denn mit der ent- fahr eines Entgleisens der Säkularisierung gleisenden Säkularisation genau gemeint entwickelt werden? ist, woran man sie erkennen kann, ob sie Unklar ist auch, warum die Säkularisie- schon eingetreten oder erst zu erwarten rung hier in eine kulturelle und eine gesell- ist. Überdies bleibt festzuhalten, dass sich schaftliche Säkularisierung unterschieden die These einer entgleisenden Säkularisie- wird, was der Unterschied dieser beiden rung keineswegs aus dem Diktum B.s ge- Arten/Aspekte von Säkularisierung ist und winnen lässt. Aber es ist genau dieser Ge- warum dieser Unterschied für die Überle- danke einer entgleisenden Säkularisierung, gungen des Autors von Belang ist. Auch welche den Verteidigern der Religion kei- hier bedient sich H. wieder des Verfah- nen Nutzen bringen soll, von dem H.s fol- rens, Thesen, die geklärt und begründet gende Überlegungen nun ihren Ausgang werden müssten, innerhalb einer bloßen nehmen. Er fährt nämlich fort: Ankündigung als selbstverständlich und einer Erörterung unbedürftig hinzustellen. T6 „Stattdessen werde ich vorschla- Behauptet wird hier also, dass die Tradi- gen, die kulturelle und gesellschaftliche tionen der Aufklärung ebenso wie die reli- Säkularisierung als einen doppelten Lern- giösen Lehren (sollen es die Lehren einer prozess zu verstehen, der die Traditio- Religion sein oder mehrerer unterschied- nen der Aufklärung ebenso wie die reli- licher Religionen?) jeweils Grenzen haben, giösen Lehren zur Reflexion auf ihre die zum Gegenstand einer Reflexion ge- jeweiligen Grenzen nötigt. (4)“ (17) macht werden können. Wenn wir von ‚Grenze‘ in einem übertra- Dieser Text knüpft unmittelbar an T5 an. genen Sinn reden, also nicht bezogen auf Mit dem einleitenden „stattdessen“ wird eine räumliche Markierung, dann ist zu- eine Alternative aufgemacht zu etwas, was mindest klar, was dasjenige ist, das jen- vorher gesagt wurde. Gemeint kann da- seits dieser Grenze liegt. Reden wir etwa bei offenbar nur die Behauptung sein, die von der Grenze einer Fähigkeit, so ist klar, 108 Aufklärung und Kritik 1/2015
dass der Bereich, der jenseits dieser Gren- men. Es wundert dann nicht, dass der letz- ze liegt, das betrifft, wozu derjenige, der te Satz dieser einleitenden Vorschau eini- sich oder dem ein anderer eine Fähigkeit germaßen unverbunden mit dem vorher zuspricht, nicht mehr fähig ist. Oder mit Ausgeführten zu sein scheint: der Grenze, die eine Rechtsnorm setzt, beziehen wir uns auf etwas, wozu wir mit T7 „Im Hinblick auf postsäkulare Ge- dem Hinausgehen über diese Grenze nicht sellschaften stellt sich schließlich die mehr berechtigt sind. Aber was soll ge- Frage, welche kognitiven Einstellungen nau mit der Grenze einer Tradition gemeint und normativen Erwartungen der libe- sind? Oder mit der Grenze einer religiö- rale Staat gläubigen und ungläubigen sen Lehre? Möglicherweise meint H. hier Bürgern im Umgang miteinander zumu- die Grenzen des Wahrheitsanspruchs ei- ten muss. (5)“(17) ner religiösen Lehre und die des Wahr- heitsanspruchs, mit dem eine bestimmte Warum sich diese Frage hier „schließlich“ Tradition auftritt. Aber das hätte der Au- stellt, was ihre Klärung zu einer Antwort tor doch wohl ohne Umstände deutlicher auf die Frage nach den vorpolitischen sagen können. Grundlagen des demokratischen Rechts- Ausgegangen war H. von der Frage nach staates beitragen kann, in welchem Zusam- den „vorpolitischen Grundlagen des mo- menhang sie mit der angekündigten Inter- dernen Rechtsstaates“. Anknüpfend an pretation des Prozesses der Säkularisie- das Diktum B.s, dem H. in der Auffas- rung steht, all das bleibt ungeklärt. Dabei sung zuzustimmen scheint, dass liberale ist die Rede von „postsäkularen Gesell- Ordnungen auf die Solidarität ihrer Staats- schaften“ selbst schon höchst unklar. Was bürger angewiesen sind, wird dann etwas soll denn eine postsäkulare von einer sä- überraschend auf die Möglichkeit hinge- kularen Gesellschaft unterscheiden? Zu- wiesen, dass die Quellen dieser Solidari- mal doch sehr fraglich ist, ob die gegen- tät aufgrund eines Entgleisens der Säkula- wärtige deutsche Gesellschaft schon wirk- risierung versiegen könnten, was aber wie- lich als säkular gelten kann. derum nicht dazu führen müsse, dass sich Was der liberale Staat von seinen gläubi- das für die Religionsverteidiger als vor- gen wie nichtgläubigen Bürgern jedenfalls teilhaft erweise. Um diese, unserem Au- verlangen muss, ist eine wechselseitige To- tor offenbar unwillkommene Inanspruch- leranz. Über deren Art und Ausmaß mag nahme der von ihm als möglich postulier- man streiten. Aber diese einfache Forderung ten entgleisenden Säkularisierung durch wird nur verdunkelt, wenn statt dessen von die Religionsverteidiger zu konterkarieren, „kognitiven Einstellungen und normativen möchte er die Säkularisierung als doppel- Erwartungen“ geredet wird, die der Staat ten Lernprozess interpretieren. Dem Le- seinen Bürgern „zumuten“ müsse. Soll eine ser wird hier also als Ergebnis einer ver- normative Erwartung eine sein, bei denen winkelten Gedankenführung eine bestimm- der Staat etwas von den Bürgern erwartet te Deutung eines historischen Prozesses oder diese etwas vom Staat? Oder die in Aussicht gestellt, ohne dass wirklich klar Bürger etwas voneinander? Jedenfalls ist, auf welche Weise wir damit einer Ant- wirkt der Gebrauch von psychologisieren- wort auf die Ausgangsfrage näher kom- den Begriffen wie ‚Erwartung‘ oder ‚zu- Aufklärung und Kritik 1/2015 109
muten‘ hier nur verunklärend. Wenn mit lässt schon erkennen, dass von dem kognitiven Einstellungen über den Bereich grundsätzlichen Zweifel in T3 offenbar der Kenntnisse (etwa von Rechtsvor- wenig übriggeblieben ist. In der Tat stellt schriften) hinaus auch etwa Meinungen sich unser Autor gleich im ersten Satz als bezeichnet werden sollen, dann lässt sich Anhänger des politischen Liberalismus schwerlich sehen, wie der Staat hier et- vor, den er in der speziellen Form eines was soll zumuten können. Kantischen Republikanismus verteidigen Um ein Fazit aus diesen Beobachtungen möchte, und von diesem Liberalismus am Text zu ziehen: Er ist bemerkenswert heißt es, dass er „sich als eine nichtreli- unklar, sowohl was den Gebrauch von giöse und nachmetaphysische Rechtferti- Begriffen wie auch die Entwicklung einer gung der normativen Grundlagen des de- Argumentationslinie angeht. Die Spezifi- mokratischen Verfassungsstaates“ (18) kation des Problems, das H. im Diktum versteht. Was in T3 also noch als hoch B.s entdeckt haben will, bleibt in zweier- problematisch dargestellt wurde, erscheint lei Hinsicht skizzenhaft und steht in kei- hier, Kant sei Dank, als bemerkenswert nem erkennbaren Zusammenhang zu dem, unproblematisch. was als These des Autors über die Säku- H. hat die wenigen Seiten, die er diesem larisierung als doppelten Lernprozess vor- Thema widmet, nun allerdings mit rechts- gestellt wird. Das eigene Vorhaben des historischen Bemerkungen befrachtet, de- Autors wird in Anknüpfung an einen ver- ren Bedeutung für die eigentliche, durch muteten Fehllauf der Säkularisierung zur die Kapitelüberschrift aufgeworfene syste- Diskussion gestellt. Aber vielleicht brin- matische Frage nicht zu entdecken ist. So gen die weiteren Darlegungen des Autors wird dem Leser mitgeteilt, dass die Theo- über diese Punkte etwas mehr Klarheit. rie des Liberalismus in der Tradition ei- nes Vernunftsrechts stehe, das auf die star- II. ken Annahmen der klassischen und reli- H. hat seine nachfolgenden Ausführungen giösen Naturrechtslehren verzichtet, aber in der Weise aufgebaut, dass sie auf die betont wird dann auch, dass die „Ge- fünf Schritte in dem oben durchgegange- schichte der christlichen Theologie im nen Text bezogen sind, oder doch diesen Mittelalter, insbesondere die spanische Eindruck vermitteln. Schließlich zerfällt Spätscholastik (...) natürlich zur Genea- der Rest des H.schen Textes ebenfalls in logie der Menschenrechte“ gehöre (18). fünf kurze Kapitel. Der erste Schritt (T3) Diese Behauptung, für die auch keinerlei im oben untersuchten Abschnitt hatte die Belege angeführt werden, ist nun allerdings Frage aufgeworfen, ob „ob politische Herr- sehr zweifelhaft. Die spanische Spätscho- schaft nach der vollständigen Positivierung lastik, also Francisco Suarez oder andere des Rechts einer säkularen, das soll hei- ihrer Vertreter, etwa Francisco de Vitoria, ßen einer nichtreligiösen oder nachmeta- nehmen zwar eine Rolle in der Entwick- physischen Rechtfertigung überhaupt noch lung des Völkerrechts ein, aber eine Er- zugänglich ist.“ Das erste Kapitel ist über- wähnung der Menschenrechte findet sich schrieben „Zur Begründung des säkula- selbst in den einschlägigen Artikeln der ren Verfassungsstaates aus den Quellen KathPedia nirgends. Dass Vertreter einer praktischer Vernunft“. Diese Überschrift Kirche, die ein Menschenrecht wie die 110 Aufklärung und Kritik 1/2015
Gewissens- oder Religionsfreiheit noch bis Gesprächspartner schon einmal gut Wet- zum Vaticanum II für einen verderblichen ter zu machen. Irrtum hielt,9 in die Genealogie der Men- Anschließend wird der Leser darüber ins schenrechte gehören, ist auch von daher Bild gesetzt, dass sich die nachkantische schon ganz unwahrscheinlich. Zwar will (gemeint ist wohl die an Kant anschlie- auch H. nicht behaupten, dass die spani- ßende) Begründung liberaler Verfassungs- sche Spätscholastik sich Gedanken über prinzipien im 20. Jahrhundert nicht so sehr die „Legitimationsgrundlagen der weltan- mit dem Naturrecht oder der materialen schaulich neutralen Staatsgewalt“ gemacht Wertethik als vielmehr mit „historistischen habe, diese würden vielmehr, wie dem und empiristischen Formen der Kritik“ Leser erklärt wird, aus der Philosophie des habe auseinandersetzen müssen. Warum 17. und 18. Jahrhunderts stammen, Theo- das so ist, wird nicht erläutert, und wel- logie und Kirche hätten erst sehr viel spä- che Bedeutung diese Bemerkung für die ter „die geistigen Herausforderungen des Argumentation des Verfassers hat, wird revolutionären Verfassungsstaates“ bewäl- nicht erklärt. Dem Leser, der nun vielleicht tigt. (Immerhin, so wird damit en passant endlich etwas über die Begründung libe- versichert, haben Theologie und Kirche raler Verfassungsprinzipen selbst und im diese Herausforderungen offenbar bewäl- Sinne Kants erfahren möchte, wird nun tigt. Angesichts des guten Verhältnisses folgendes mitgeteilt: der katholischen Kirche zu den Faschis- men des letzten Jahrhunderts würde man T8 „Nach meiner Auffassung genügen über die Art dieser Bewältigung in der Auf- schwache Annahmen über den norma- fassung von H. gerne mehr erfahren.) Von tiven Gehalt der kommunikativen Ver- „katholischer Seite“, wie H. weiter erklärt fassung soziokultureller Lebensformen, („wenn ich es recht verstehe“), stehe „ei- um gegen den Kontextualismus einen ner von Offenbarungswahrheiten unabhän- nicht-defätistischen Vernunftbegriff und gigen Begründung von Moral und Recht gegen den Rechtspositivismus einen grundsätzlich nichts im Wege“, da die ka- nicht-dezisionistischen Begriff der tholische Seite „ja ein gelassenes Verhält- Rechtsgeltung zu verteidigen.“ (18f.) nis zum lumen naturale unterhält“ (18). Das Verhältnis zum lumen naturale war Haben wir es bei dem „normativen Gehalt katholischerseits wohl weniger entspannt, der kommunikativen Verfassung soziokul- wenn dieses lumen naturale etwa genutzt tureller Lebensformen“ denn auch noch wurde, um nachzuweisen, dass sich die mit den normativen Voraussetzungen des Sonne nicht um die Erde dreht, sondern freiheitlichen säkularisierten Staates zu tun, diese um ihre eigene Achse. Aber mit sol- von dem oben (16) die Rede war? Was chen Kleinigkeiten möchte sich H. hier man sich unter einem nicht-defätistischen wohl nicht aufhalten. Auf welche Weise Vernunftbegriff vorzustellen hat und war- dieser ganze erste Absatz etwas zur Be- um der nun gerade gegen den Kontextua- gründung des säkularen Verfassungsstaa- lismus verteidigt werden muss, und was tes aus den Quellen praktischer Vernunft dieses Unterfangen für die im Titel dieses beiträgt, ist nicht zu sehen; er scheint eher Kapitels gestellte Aufgabe leisten kann, den Zweck zu haben, beim katholischen bleibt unbestimmt. Obendrein steht diese Aufklärung und Kritik 1/2015 111
Mitteilung nicht nur in keinem erkennba- um, dass etwas der Fall ist. Warum nicht ren Zusammenhang mit den unmittelbar auch im ersten Satz davon die Rede sein vorhergehenden Ausführungen, sie scheint kann, dass der demokratische Prozess ein mit ihrem Begriffsgeklingel auch eher auf Verfahren legitimer Rechtssetzung ist, die Verblüffung des Lesers als auf dessen bleibt ein Geheimnis des Autors. sinnvolle Unterrichtung über das Vorha- Unklar ist im übrigen, was genau damit ben des Autors gerichtet zu sein. Welche gemeint ist, dass sich Demokratie und „schwachen Annahmen“ H. im Sinne hat, Menschenrechte, eine bestimmte Staats- bleibt dem Leser jedenfalls verborgen. form und eine Reihe von Anspruchsrech- ten, „miteinander verschränken“. Und was T9 „Die zentrale Aufgabe“, so erfah- soll es heißen, dass sie das „gleichur- ren wir als nächstes, bestehe „darin zu sprünglich“ tun? erklären Da hier zweimal ein ‚warum‘ als Gegen- – warum der demokratische Prozess stand eines Erklärens angeführt wird, ha- als ein Verfahren legitimer Rechts- ben wir es also wohl auch mit zwei Erklä- setzung gilt, und rungen zu tun. Gleichwohl geht es nun im – warum sich Demokratie und Men- Singular weiter: Diese Erklärung, so er- schenrechte im Prozess der Verfas- fahren wir weiter, bestehe sungsgebung gleichursprünglich mitein- ander verschränken.“ (19) T10 „in dem Nachweis, – dass der demokratische Prozess in Zu erklären, warum ein bestimmtes Ver- dem Maße, wie er Bedingungen einer fahren als legitim gilt, ist nicht dasselbe inklusiven und diskursiven Meinungs- wie seine Legitimität nachzuweisen. Die und Willensbildung erfüllt, eine Vermu- Annahme seiner Geltung kann auf einem tung auf die rationale Akzeptabilität der Irrtum beruhen, und auch das würde eine Ergebnisse begründet, Erklärung darstellen können. Mit einer Er- – dass die rechtliche Institutionalisie- klärung, warum etwas gilt, legt man sich rung eines solchen Verfahrens demo- nicht auf die Wahrheit dessen fest, was kratischer Rechtsetzung die gleichzei- da als geltend erklärt werden soll. Es wird tige Gewährleistung sowohl der libera- damit also nicht erklärt, warum der de- len wie der politischen Grundrechte er- mokratische Prozess ein legitimes Verfah- fordert.“ (19) ren ist. Interessanterweise unterliegt der Nebensatz hinter dem zweiten Spiegel- Wenn die Erklärung in dem Nachweis be- strich nicht demselben Bedenken. Mit die- steht, dass der demokratische Prozess un- sem Warum-Satz wird nämlich auch be- ter bestimmten Bedingungen „eine Vermu- hauptet, dass sich Demokratie und Men- tung auf die rationale Akzeptabilität der schenrechte miteinander verschränken Ergebnisse begründet“, dann sollte doch (und nicht lediglich als verschränkt gel- etwas mehr zu diesem Nachweis zu erfah- ten). Im ersten Warum-Satz geht es dar- ren sein. Mit diesem Satz wird ja nur über um, dass etwas als legitimes Verfahren gilt, den Nachweis geredet, er wird angekün- also als legitimes Verfahren angesehen digt, aber keineswegs wird ein solcher wird, im zweiten Warum-Satz geht es dar- Nachweis auch geliefert. Es wird verlangt, 112 Aufklärung und Kritik 1/2015
dass der demokratische Prozess, den H. kann, ja, dass er verpflichtet ist, die Rolle wahlweise auch ein „Verfahren demokra- einer Berufung auf den demokratischen tischer Rechtsetzung“ nennt, „Bedingun- Prozess in seiner Begründung auszubuch- gen einer inklusiven und diskursiven Mei- stabieren. Diese Verpflichtung wird durch nungs- und Willensbildung“ erfüllen muss. die von H. gewählte Formulierung ausge- Aber warum das so ist und was denn die- blendet: indem der Autor den demokrati- se Bedingungen sind, was auch etwa eine schen Prozess zum Subjekt des Begrün- inklusive Willensbildung ist, wird dem Le- dens macht, bringt er seine eigene Rolle ser nicht mitgeteilt. zum Verschwinden und vermeidet die ar- Da wir es hier mit einem Textstück zu tun gumentative Arbeit, die er eigentlich zu haben, das der „Begründung des säkularen leisten hätte. Verfassungsstaates“ gewidmet ist, sollte Auch ein Nachweis, „dass die rechtliche der Umgang mit Worten, die dem seman- Institutionalisierung eines solchen Verfah- tischen Umkreis von Begründung ange- rens demokratischer Rechtsetzung die hören, etwas genauer beachtet werden. gleichzeitige Gewährleistung sowohl der Bisher wurde in diesem Kapitel von dem liberalen wie der politischen Grundrechte Wort ‚Begründung‘ lediglich in den doxo- erfordert“, wird nicht geliefert. Es bleibt graphischen Abschnitten Gebrauch ge- bei einer bloßen Ankündigung, obwohl es macht, so war von der „autonomen (von hier doch, wie gerade vorher versichert Offenbarungswahrheiten unabhängigen) worden ist, um eine „zentrale Aufgabe“ Begründung“, der von katholischer Seite geht. H. hat statt dessen in einer Fußnote, nichts im Wege stehe, die Rede, oder von die am Ende seines Textes steht, einen der „nachkantischen Begründung libera- Hinweis auf das Kapitel III seines Buches ler Verfassungsprinzipien“ (18). Bei der „Faktizität und Geltung“ von 1982 mit Rede über den Nachweis, in dem die an- dem Titel „Zur Rekonstruktion des Rechts gekündigte Erklärung bestehen soll, heißt (i): Das System der Rechte“ gestellt. Die- es nun aber vom demokratischen Prozess, ses Kapitel umfasst die Seiten 109 bis 165, dass er eine Vermutung begründet. Das hat also einen Umfang, der über den der Subjekt der Tätigkeit eines Begründens ist hier diskutierten Abhandlung (SS. 16-36) im allgemeinen und logischerweise eine weit hinausgeht. In welcher Beziehung die- Person, die eine Behauptung, einen Vor- ser Text den fehlenden Nachweis liefern schlag, vielleicht auch einmal eine Vermu- kann, wird nicht einmal angedeutet. tung begründet. Dass ein Prozess eine Ver- Dass der Begriff der Begründung für den mutung begründet, ist daher wohl nur eine Rest des Kapitels eine zentrale Rolle spielt, verschleiernde Ausdruckweise dafür, dass zeigt sich im ersten sowie im letzten Satz jemand, hier also der Autor H., unter Hin- des anschließenden Textes: weis oder unter Berufung auf den demo- kratischen Prozess eine Vermutung auf die T11 „Der Bezugspunkt dieser Begrün- rationale Annehmbarkeit der Ergebnisse dungsstrategie ist die Verfassung, die (dieses Prozesses) begründet oder begrün- sich die assoziierten Bürger selber ge- den möchte. Würde das so formuliert, ben, (...). Diese soll auf dem Wege der dann wäre sofort auch deutlich, dass der- demokratischen Verfassungsgebung jenige, der so redet, aufgefordert werden erst erzeugt werden.“ (19f.)10 Aufklärung und Kritik 1/2015 113
Der letzte Satz des Textes, der zugleich gezähmten“ Staatsgewalt befassen, mün- der letzte Satz des Kapitel ist, lautet: den ebenfalls wieder in ein bloßes Refe- rat, geschmückt mit rechtshistorischen T12 „Gegenüber einem rechtshegelia- Anmerkungen, wobei der Bogen von Paul nischen Verständnis des Verfassungs- Laband und Georg Jellinek zu Carl staates besteht die prozeduralistische, Schmitt (!) geschlagen wird. Man kann durch Kant inspirierte Auffassung auf wohl bezweifeln, dass sich ein liberaler einer autonomen, ihrem Anspruch nach Rechtstheoretiker wie Jellinek mit einem für alle Bürger rational akzeptablen Be- opportunistischen und faschismus-affinen gründung der Verfassungsgrundsätze.“ Theoretiker wie Schmitt unter dem Ober- (21) begriff eines „im Kaiserreich wurzelnden Staatswillenspositivismus“ angemessen Bisher war von einer „Begründungs- zusammenstellen lässt, aber es geht auch strategie“ (T11) gar nicht die Rede, durch hier wohl eher um name-dropping als um den Gebrauch des Demonstrativprono- wirkliche historische Analyse. Obwohl die mens „dieser“ in T11 wird aber genau das Erwähnung des Staatswillenspositivismus behauptet. Dem Leser wird also zugemu- und der „vorkonstitutionellen Fürstensou- tet, etwas vorher Gesagtes als Begrün- veränität“ nur die Folie für das Loblied dungstrategie zu verstehen. Faktisch hat- auf den Verfassungsstaat bilden soll, bei te sich H. jedoch mit der Formulierung, dem „das Recht die politische Gewalt dass der demokratische Prozess eine Ver- ohne Rest durchdringt“ (20), ist gleich mutung begründet, wie wir gesehen ha- anschließend vom „problematischen ben, um die Arbeit einer argumentativen Erbe“ die Rede, womit wohl nur die deut- Explikation gedrückt. Es spricht auch sche Staatsrechtslehre gemeint sein kann, nichts dafür, dass hier eine strategisch aus- die doch durch den Verfassungsstaat über- gerichtete Begründung des Autors H. ge- wunden wurde. Im Lichte dieses proble- meint ist. Der Gebrauch von „Begrün- matischen Erbes sei „Böckenfördes Fra- dung“ im letzten Satz dieses Kapitelab- ge so verstanden worden, als habe eine schnittes zeigt vielmehr klar, dass hier nicht vollständig positivierte Verfassungsord- argumentiert, sondern über eine anderwei- nung (...) die Religion oder irgendeine an- tig vorliegende Argumentation nur referie- dere ‚haltende‘ Macht nötig.“ (20) Was rend berichtet wird. Auch andere Formu- H. uns hier als eine in seinen Augen un- lierungen, die sich unschwer als Umschrei- angemessene, von anderen Interpreten bungen für Begründung verstehen lassen, vertretene „Lesart“ des B.schen Diktums so die „kognitive Absicherung“ der „Gel- verkaufen will, ist nun aber genau die Mei- tungsgrundlagen“ oder die „Fundierung“, nung B.s. Am Ende seiner Ausführungen auf die der „Geltungsanspruch des posi- heißt es nämlich bei B.: tiven Rechts“ (20) angewiesen sein könn- te, stehen im Kontext von Referaten an- „So wäre denn noch einmal – mit He- derer Positionen. gel – zu fragen, ob nicht auch der sä- Die an T11 anschließenden Darlegungen, kularisierte weltliche Staat letztlich aus die sich mit dem Unterschied einer „kon- jenen inneren Antrieben und Bindungs- stituierten“ von einer „nur konstitutionell kräften leben muß, die der religiöse 114 Aufklärung und Kritik 1/2015
Glaube seiner Bürger vermittelt.“ (B. fassungsstaates vorstellt, werden einerseits a.a.O. 113f.) rechtshistorische Darlegungen zur frühen Neuzeit und zum 19. Jahrhundert geliefert, Dass das, was hier „mit Hegel“ gefragt und andererseits wird zu der systemati- wird, tatsächlich die Meinung B.s ist, er- schen Seite der Frage nur programmatisch gibt sich aus dem ganzen Duktus seiner davon geredet, dass für die Erklärung, Darlegungen, für die Hegel mehrfach als warum der demokratische Prozess als ein unangreifbare Autorität in Anspruch ge- Verfahren legitimer Rechtssetzung gilt, ein nommen wird. Überdies beeilt sich B. Nachweis erforderlich sei, der aber nur sofort zu versichern, damit sei nicht ge- sehr global beschrieben, aber keineswegs meint, dass der weltliche Staat „zum geleistet wird. ‚christlichen‘ Staat rückgebildet wird“ (a.a.O.), und gibt damit zu erkennen, dass III. die referierte Position Hegels auch seine Die Überschrift des zweiten Kapitels ist eigene ist. H. hat also entweder den Au- eine Frage: „Wie reproduziert sich die tor, dessen Diktum der Ausgangspunkt staatsbürgerliche Solidarität?“ Hier ist der seiner Überlegungen ist, gründlich miss- Gedankengang etwas besser organisiert verstanden, was angesichts der in diesem als im vorhergehenden Kapitel, was aber Punkte klaren Worte B.s eher unwahr- nicht heißt, dass die eigenen Aussagen des scheinlich ist, oder er täuscht seine Leser Autors besser begründet sind. H. sieht über die Intention des von ihm hier er- einen Unterschied in der Rolle der Staats- wähnten Autors. bürger als Adressaten des Rechts einer- H. schließt dieses Kapitel mit dem Text seits und als Autoren des Rechts ande- T12. Dass die „prozeduralistische, durch rerseits. Für die Adressaten des Rechts Kant inspirierte Auffassung“, zu ergänzen: seien die kognitiven Bestände „eines von des Verfassungsstaates, auf einer „ihrem religiösen und metaphysischen Überliefe- Anspruch nach für alle Bürger rational rungen unabhängigen Argumentations- akzeptablen Begründung der Verfassungs- haushaltes“ ausreichend, wohingegen bei grundsätze“ besteht, mag sie von „einem „Staatsbürgern in der Rolle demokrati- rechtshegelianischen Verständnis“ unter- scher Mitgesetzgeber“ die „normativen scheiden. Aber dieses Bestehen-auf drückt Bestandsvoraussetzungen des demokra- ja nur ein Festhalten-an aus, ohne dass tischen Verfassungsstaates [...] anspruchs- damit klar gemacht wird, warum diese voller“ seien. Staatsbürger in dieser Rolle Position die besser begründete sein soll. „sollen ihre Kommunikations- und Teil- Fassen wir zusammen: Der Titel dieses nahmerechte [...] auch gemeinwohlorien- Kapitels hatte Ausführungen „zur Begrün- tiert wahrnehmen.“ Das verlange „einen dung des säkularen Verfassungsstaates kostspieligeren Motivationsaufwand“. aus den Quellen praktischer Vernunft“ in Aussicht gestellt. An welche Quellen prak- Von den Motiven, welche die Staatsbür- tischer Vernunft dabei gedacht ist, wird ger hier dazu bringen, dass sie ihre Rech- an keiner Stelle des Textes deutlich. Statt te „auch gemeinwohlorientiert wahrneh- Ausführungen zu der Frage, wie sich der men“ (22), heißt es dann zum einen, dass Autor eine Begründung des säkularen Ver- sie „legal nicht erzwungen“ werden kön- Aufklärung und Kritik 1/2015 115
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