KÜNSTLICHE INTELLIGENZ - "SMARTE" ARBEIT UND - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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PHOEBE V. MOORE

KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ UND
«SMARTE» ARBEIT
Phoebe V. Moore

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
UND «SMARTE» ARBEIT
ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE
DER MENSCH-MASCHINE-INTEGRATION
2
INHALT

 Einleitung                                                     5

 TEIL I: 
 Die gute alte Künstliche Intelligenz                           11
 Die autonome Maschine?                                         19

 TEIL II: 
 KI-erweiterte Tools und Anwendungen am Arbeitsplatz            25
 People Analytics                                               27
 Cobots                                                         32
 Chatbots                                                       35
 Wearables                                                      36
 Plattformen und Gig-Work                                       38

 TEIL III: 
 Wer sind die «smarten» Arbeiter*innen? Wer sollten sie sein?   47
 Datenschutz                                                    48
 Selbstoptimierung                                              51
 Autonomie                                                      54

 LITERATUR                                                      59
EINLEITUNG

 Wirtschaftlich fortgeschrittene Staa­­   –	europaweite Stärkung und Ver-
 ten befinden sich derzeit in einem          netzung von KI-Forschungszent-
 Wettlauf miteinander, um Künstli-           ren;
 che Intelligenz (KI) schnellstmög-       –	Einrichtung einer Plattform für «KI
 lich in möglichst viele Industrien          auf Abruf», die allen Nutzer*innen
 und Gesellschaftssphären zu integ-          in der EU Zugang zu einschlägi-
 rieren. Der Forschung und Entwick-          gen KI-Ressourcen bietet;
 lung in diesem Bereich werden rie-       –	Förderung der Entwicklung von
 sige Fördergelder in Milliardenhöhe         KI-Anwendungen in Schlüsselbe-
 zur Verfügung gestellt.                     reichen.
 Bisher führten die USA das Rennen        Kürzlich, im Februar 2020, ver-
 an, dicht gefolgt von China und Isra-    öffentlichte die Kommission das
 el (Delponte 2018). In China erhofft     «Weißbuch zur Künstlichen Intelli-
 man sich durch den Einsatz von KI        genz – ein europäisches Konzept für
 bis 2030 einen Anstieg des Brutto-       Exzellenz und Vertrauen». KI wird
 inlandprodukts um 26 Prozent. Die        dort wie folgt definiert:
 USA zielen auf eine Steigerung um        «KI [ist] ein Bestand an Technolo-
 14,5 Prozent ab (PwC 2018). 2018         gien, die Daten, Algorithmen und
 kündigte die Europäische Kommis-         Rechenleistung kombinieren. Fort-
 sion an, dass die Investitionen im       schritte in der Informatik und die zu-
 KI-Bereich im Zuge des Forschungs-       nehmende Verfügbarkeit von Daten
 und Innovationsprogramms «Ho-            sind daher der Schlüsselfaktor für
 rizont 2020» bis Ende 2020 um            den derzeitigen Aufstieg der KI.»
 70 Prozent erhöht werden und sie         (Europäische Kommission 2020: 2)
 somit in diesem Jahr 1,5 Milliarden      Die Einleitung des EU-Papiers be-
 Euro betragen sollen (Europäische        tont die mit KI verbundenen Vorteile,
 Kommission 2018). Dadurch sol-           wie etwa Fortschritte in der Gesund-
 len folgende Maßnahmen gefördert         heitsfürsorge und Krankheitsprä-
 werden:                                  vention sowie Effizienzsteigerungen

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der Landwirtschaft, Anpassungs-          len oder globale Ranglisten letzten
    fähigkeit an den Klimawandel und         Endes beruhen. Trotzdem werden
    Sicherheitsvorteile für Europäer*in-     an vielen Arbeitsplätzen Projekte
    nen. Die Definition enthält außer-       gestartet, bei denen unterschied-
    dem einen für die vorliegende Ana-       liche KI-erweiterte Anwendungen
    lyse zentralen Aspekt: KI steigert       eingesetzt werden, um die Produk-
    «die Effizienz von Produktionsanla-      tivität zu steigern, so zum Beispiel
    gen durch vorausschauende War-           in der industriellen Produktion, der
    tung» (ebd.: 1). Gemeint sind Fälle,     Gig-Economy und der Büroarbeit.
    in denen KI eingesetzt werden kann,      Aus diesem Grund scheint es immer
    um festzustellen, wann Änderungen        wichtiger, die aktuellen und zukünf-
    an einer Maschine vorgenommen            tigen Auswirkungen der KI auf die
    werden müssen, um zu verhindern,         Arbeit, Arbeitnehmer*innen und Ar-
    dass sie Schaden nimmt oder aus-         beitsplätze zu untersuchen.
    fällt. Relevant ist dies insbesondere    KI ist alles andere als ein neues Kon-
    in Zusammenhang mit Sicherheit           zept, wie man das angesichts der
    und Gesundheitsschutz am Arbeits-        jüngsten Flut staatlicher Investitio-
    platz (Moore 2019a).                     nen und Interventionen annehmen
    Im Weißbuch werden als weitere           könnte – sie stößt bloß in den letz-
    Vorteile von KI positive Geschäfts-      ten zehn Jahren auf erneuertes In-
    entwicklung sowie Produktivitäts-        teresse. Der Begriff «Artificial In-
    und Effizienzsteigerung genannt,         telligence» (Künstliche Intelligenz)
    wobei KI als Schlüsselfaktor für die     wurde 1955 geprägt, als eine Grup-
    Stärkung der Wettbewerbsfähig-           pe von Wissenschaftlern und Fach-
    keit der EU-Staaten gilt. Tatsäch-       leuten einen Förderantrag bei der
    lich vertritt ein Großteil der auf hö-   Rockefeller Foundation einreich-
    herer staatlicher und institutioneller   te, um im Sommer 1956 eine zwei-
    Ebene verfassten Berichte die An-        monatige Konferenz am Dartmouth
    sicht, dass KI zu mehr Produktivi-       College in New Hampshire, USA,
    tät, Wirtschaftswachstum und all-        durchzuführen. Im Antrag schrie-
    gemeinem Wohlstand führen wird,          ben Dr. John McCarthy und seine
    ähnlich wie der Taylorismus früher       Kollegen:
    als Versprechen für «Wohlstand für       «Die Studie soll von der Annahme
    alle» galt.                              ausgehen, dass jeder Aspekt des
    Wie es auch schon beim Tayloris-         Lernens oder jedes weitere Merk-
    mus der Fall war, versäumen aktuel-      mal menschlicher Intelligenz sich im
    le Diskussionen auf Führungsebene        Prinzip so genau beschreiben lässt,
    jedoch oft, den direkten Zusammen-       dass eine Maschine hergestellt
    hang zwischen Produktivität und          werden kann, die diese simuliert.»
    Wohlstand im abstrakten Sinne und        (­McCarthy u. a. 1955)
    der alltäglichen (und allnächtlichen)    Die bahnbrechende Konferenz soll-
    menschlichen Arbeit zu sehen, auf        te auf Grundlage der im Förderan-
    der nationale Wachstumskennzah-          trag beschriebenen Aufgaben (siehe

6
S. 16 f.) in verschiedene Workshops     Um sich dieser Frage anzunä-
eingeteilt werden, die sich mit einer   hern, befasst sich die Analyse mit
Reihe von Forschungsfragen und          jenen Bereichen, in denen sich KI
Problemen beschäftigen: 1. die Ent-     immer mehr in menschliche Erfah-
wicklung von Computerprogram-           rungswelten einnistet und in denen
men, die dem menschlichen Gehirn        menschliche Arbeit fortwährend
ähneln und über vergleichbare Spei-     von neuen und immer invasiveren
cherkapazitäten und Geschwindig-        Technologien durchleuchtet wird,
keit verfügen; 2. Sprachgebrauch;       die nicht einmal tatsächlich von KI
3. die Entwicklung neuronaler           gesteuert werden, jedoch als sol-
Netze, die Konzepte formen können;      che gelten. Quantifizierung und die
4. theoretische Überlegungen zum        Erhebung von Kennzahlen und Ana-
Umfang einer Rechenoperation;           lysen am Arbeitsplatz waren schon
5. die Entwicklung von Maschinen,       immer Teil der Unternehmensfüh-
die sich selbst verbessern können;      rung. Allerdings ermöglicht eine nie
6. die technologische Fähigkeit zur     dagewesene Bandbreite maschinel-
Abstraktion und 7. der Einsatz von      ler Verfahren nun, dass diese Prak-
Zufälligkeit und Kreativität. Die Ro-   tiken noch viel intensiver genutzt
ckefeller Foundation würdigte die       werden können. Die neuen Tech-
Relevanz des Forschungsvorhabens        nologien, die derzeit in Tätigkeiten
durch die Finanzierung der Work-        am Arbeitsplatz integriert werden,
shops.                                  kann man streng genommen nicht
Die Anfänge der KI-Forschung kon-       als KI bezeichnen (siehe Interview
zentrierten sich auf die Entwicklung    mit Maike Pricelius S. 52 f.); den-
von Maschinen, die sich genau wie       noch sind die Fähigkeiten der Ma-
Menschen verhalten sollten. Diese       schine zur Datenerfassung und -ver-
Analyse soll das Augenmerk jedoch       arbeitung sowie zur datenbasierten
wieder auf die Menschen richten –       und vermeintlich autonomen Ent-
nicht nur auf die Menschen als all-     scheidungsfindung fortgeschritte-
gemeine, biologische Kategorie,         ner als je zuvor. Trends in der Daten-
sondern auf die Menschen als Ar-        sammlung und -verarbeitung sind
beiter*innen. Dabei geht es um die      Teil einer wachsenden «Überwa-
Frage, was in Anbetracht der zuneh-     chungsgesellschaft» (Lupton 2012)
menden Verbreitung von smarten          und eines sich verbreitenden «Über-
Maschinen heutzutage «smarte»           wachungskapitalismus» (Zuboff
Arbeiter*innen ausmacht. Insbe-         2019). Diese Analyse beschäftigt
sondere gilt es, sich mit der folgen-   sich damit, was bei diesen Entwick-
den kontroversen Frage zu beschäf-      lungen konkret auf dem Spiel steht.
tigen: Welche Fähigkeiten werden        Die Analyse beleuchtet nicht alle
die «smart(est)en» Arbeiter*innen       Bedeutungen von KI in allen Ein-
an den Tag legen müssen, wenn KI        zelheiten, sondern beschäftigt sich
zunehmend am Arbeitsplatz einge-        vorrangig mit den Eigenschaften,
setzt wird?                             die die Künstliche Intelligenz von

                                                                                 7
Maschinen insbesondere in den          tisierung haben die heutigen Ar-
    Bereichen a) Datensammlung und         beitsbedingungen und Beschäf-
    -verarbeitung sowie b) Entschei-       tigungsverhältnisse unweigerlich
    dungsfindung kennzeichnen. An          verändert. Der zweite Teil der Analy-
    erster Stelle soll also die Form der   se befasst sich ausführlicher damit,
    «Intelligenz» definiert werden,        welche KI-gestützten Tätigkeiten
    die von Maschinen im Zeitalter         am Arbeitsplatz derzeit geläufig
    der Künstlichen Intelligenz erwar-     sind und welche Formen der Intel-
    tet wird. Aus diesem Grund be-         ligenz die KI-erweiterten Tools und
    fasst sich der erste Teil zunächst     Anwendungen emulieren. Dieser
    mit den Begründern des KI-Dis-         Teil weist auf die Risiken hin, die
    kurses und ihren Auffassungen          solche Verfahren für die Arbeitsver-
    von Intelligenz. Der Blick auf die     hältnisse darstellen, sowie auf ei-
    verschiedenen technologischen          nige Vorteile, die durch sie erreicht
    KI-Entwicklungsstadien und ihre        werden können. Vor diesem Hinter-
    Implikationen für verschiedene Be-     grund stellt der dritte Teil abschlie-
    reiche des menschlichen Lebens         ßend folgende Fragen: a) Wer sind
    gestattet uns aufzuzeigen, welche      die «smarten» Arbeiter*innen und
    maßgebenden Auswirkungen KI            welche Erwartungen stellt man an
    mittlerweile auf den Arbeitsplatz      sie?; und b) Wer «sollten» sie sein,
    hat. Durch KI-erweiterte Tools und     um einen kritischen Umgang mit
    Anwendungen wurde eine stren-          den aktuellen kapitalistischen Ver-
    gere Überwachung möglich und           hältnissen zu entwickeln, in denen
    Automatisierung und Halbautoma-        sie leben?

8
TEIL I:
DIE GUTE ALTE KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ

 Zunächst wird das Augenmerk auf       und philosophischen Dimensionen
 ein Thema gerichtet, das zwar von     dieser Debatte außer Acht. Grund-
 besonderer Relevanz ist, allerdings   legende Überlegungen zur Arbeits-
 im jüngsten KI-Hype unterzugehen      weise des menschlichen Gehirns
 droht. Es geht um die Frage, was      werden von der zeitgenössischen
 passiert – genauer: was auf dem       KI-Forschung weitgehend vernach-
 Spiel steht und welchen Risiken die   lässigt. Nichtsdestotrotz projizieren
 Menschen ausgesetzt sind –, wenn      sowohl Ingenieur*innen und Desi-
 die kritische Auseinandersetzung      gner*innen von Software als auch
 mit KI als vermeintlich weltweiter    deren Nutzer*innen – in den unten
 Fortschrittsmotor ausbleibt. Die      angeführten Beispielen also Perso-
 meisten von akademischen oder         nalfachleute und Führungskräfte –
 staatlichen Expert*innen geführten    unbewusst Formen von Intelligenz
 gesellschaftlichen Debatten drehen    auf Maschinen, ohne sich jedoch
 sich um Aspekte der Ethik, Transpa-   eingehend damit zu befassen, wie
 renz, Diskriminierung und Interpre-   sich diese Vorstellungen in der Pra-
 tation, allerdings lassen sie dabei   xis niederschlagen (siehe hierzu die
 die tiefergehenden ontologischen      folgende Aufzählung S. 12 f.).

                                                                               11
FORMEN DER MASCHINEN­I NTELLIGENZ
     UND KAPITALISTISCHE NORMEN

     Autonom
     Maschinen und Systeme mit autonomer Intelligenz sind in der Lage,
     ohne menschliches Eingreifen und menschliche Kontrolle zu entschei-
     den und zu handeln. Autonomie ist das oberste Ziel aller KI-Innovatio-
     nen. Datenerfassung und -verarbeitung sind wesentliche Methoden
     bei der Entwicklung maschineller Autonomie: Maschinen erlernen an-
     hand der Daten die Fähigkeiten einer «universellen» oder «starken» KI,
     das heißt, sie können sich wie Menschen verhalten.
     In der Praxis: Maschinenintelligenz gilt der Menschenintelligenz als
     überlegen und kann zur Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz und
     bei der Personalauswahl eingesetzt werden, sodass menschliche Qua-
     litätsurteile nicht mehr nötig sind.

     Kollaborativ und assistiv
     Kollaborative Roboter (Cobots) und tragbare Technologien in Waren-
     lagern und Produktionsanlagen sollen Menschen dabei unterstützen,
     sicherzustellen, dass Produkte ihren vorgesehenen Ort erreichen.
     Chatbots werden dagegen in Callcentern eingesetzt, um Menschen
     dadurch zu unterstützen, dass sie Erstanfragen online beantworten.
     Sie übernehmen eine Aufgabe, die früher von Menschen erledigt
     wurde, und verringern somit die Kosten für menschliche Arbeit.
     In der Praxis: Derartige Praktiken dienen der Senkung der Arbeitskos-
     ten und sind darauf ausgerichtet, durch die Halbautomatisierung von
     Arbeitsschritten einen Mehrwert zu generieren, der der Steigerung des
     Unternehmensgewinns dient.

     Präskriptiv und prädiktiv
     People-Analytics-Daten ermöglichen algorithmische Prozesse, die im
     Einstellungsverfahren bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Eigen-
     schaften von Bewerber*innen formulieren und datenbasierte voraus-
     schauende Aussagen über deren Verhalten machen.
     In der Praxis: People Analytics ist darauf ausgelegt, die Unterneh-
     mensführung bei Personalentscheidungen zu unterstützen, sodass
     sich die Notwendigkeit subjektiver menschlicher Einschätzungen er-
     übrigt (Cherry 2016). Damit reduziert sich die Verantwortung der Un-
     ternehmensführung und möglicherweise auch ihre Sorgfaltspflicht.
     Da die Daten anhand bereits existierender Praktiken erfasst werden,
     konnte zum Beispiel geschlechtsspezifische Diskriminierung wieder-
     holt nachgewiesen werden; der «Technochauvinismus» (Broussard

12
2018), der die Hierarchien eines männlich dominierten kapitalisti-
  schen Systems stützt, wird hier wahrscheinlich an der Tagesordnung
  bleiben.

  Deskriptiv
  In der algorithmischen Geschäftsführung können große Datensät-
  ze eingesetzt werden, um arbeits- und leistungsbezogene Deutun-
  gen und Darstellungen anzufertigen, über die die Arbeiter*innen zwar
  nicht in Kenntnis gesetzt werden, die aber dennoch für Zwecke der
  Performance Analytics genutzt werden.
  In der Praxis: Darstellungen, die anhand großer Datensätze über die
  Arbeiter*innen ermittelt werden, werden zur Einschätzung von Be-
  schäftigten, für Talentprognosen und andere Entscheidungen einge-
  setzt und führen ebenfalls dazu, dass sich die Verantwortung der Un-
  ternehmensführung verringert.

  Affektiv
  KI-erweiterte Pflegeroboter kommen bereits in der Altenpflegeindus-
  trie in Japan zum Einsatz. In Zukunft werden Chatbots wahrschein-
  lich in der Lage sein, auf Menschen einzugehen, ähnlich wie man es
  beim ersten Chatbot Eliza gesehen hat, oder sie werden beispielsweise
  dafür eingesetzt, die Emotionen von Bewerber*innen in Video-Inter-
  views zu deuten.
  In der Praxis: Dies könnte zu einem Rückgang bezahlter Pflegearbeit
  und psychologischer Betreuungsdienste führen.

Dies ist vor allem von Bedeutung,      diese Vorstellungen auf unser Men­
wenn sich die Voraussagen über         schenbild aus und welche Folgen
Verbreitung und Tragweite von KI       haben KI und unser fortlaufendes
bewahrheiten und wir uns tatsäch-      Stre­ben nach maschineller Intelli-
lich in eine Beziehung wechselsei­     genz für den ­Arbeitsalltag?
tiger Spiegelung mit Maschinen         Eine ernsthafte Auseinandersetzung
begeben (Moore 2019b). Um die Ri­si­   mit dieser Thematik bedarf eines his-
ken hervorzuheben, die mit der Ver­    torischen Rückblicks. In den 1950er
nachlässigung dieses Sachverhalts      Jahren beschäftigten sich Wissen-
langfristig einhergehen können,        schaftler im Rahmen des bereits
setzt diese Analyse an der Frage an,   erwähnten «Dartmouth Summer
was «Intelligenz» im KI-Kontext tat­   Research Project on Artificial Intelli-
sächlich bedeutet: Wie wirken sich     gence» mit der Möglichkeit, eine «in-

                                                                                 13
telligente» Maschine zu entwickeln,    Kommunikation im Förderantrag
     die ein Vorläufer dessen ist, was      als einen Prozess, bei dem «verall-
     wir heutzutage «smarte» Maschine       gemein[ert wird, wobei] ein neues
     nennen. Aus den Beschreibungen         Wort und einige Regeln [zugelas-
     der Workshops geht deutlich her-       sen werden, und] Sätze, die dieses
     vor, dass die Wissenschaftler sich     Wort enthalten, sowohl auf weite-
     darüber im Klaren waren, dass das      re Wörter schließen lassen als auch
     menschliche Denken eine durch-         aus anderen Wörtern hervorgehen»
     aus komplexe Angelegenheit ist.        (McCarthy u. a. 1955). Programmie-
     Trotzdem waren sie höchst zuver-       rer*innen sollten also in der Lage
     sichtlich, dass sich relativ einfach   sein, Computer dahingehend weiter-
     eine Maschine entwickeln ließe, die    zuentwickeln, dass sie kommunizie-
     menschliches Verhalten und Den-        ren, denken und abstrahieren sowie
     ken imitieren kann – die also dazu     in intentionaler Weise Schritte einlei-
     fähig ist, kreativ und imaginativ zu   ten können, um sich selbst zu «ver-
     denken, bedeutungsvolle Gesprä-        bessern», und sich im Großen und
     che zu führen und aus komplexen        Ganzen anhand maschineller Künst-
     Daten Abstraktionen und Konzep-        licher Intelligenz genauso wie Men-
     te herzuleiten. Sie beschrieben        schen verhalten können.

       In den 1950er Jahren beschäftigten sich Wissenschaftler mit der
       Möglichkeit, eine «intelligente» Maschine zu entwickeln, die ein Vor-
       läufer dessen ist, was wir heutzutage «smarte» Maschine nennen.

     Angesichts der Vorstellungen, die      den 1950er Jahren auf die Fähig-
     Wissenschaftler*innen von intelli-     keiten von Maschinen blickte, dau-
     genten (bzw. smarten) Maschinen        erten die damit verbundenen Expe-
     haben, sind Überlegungen dazu          rimente und Untersuchungen um
     nötig, was denn nun genau einen        einiges länger als die zunächst ge-
     Menschen zu einem intelligenten        planten zwei Monate. Tatsächlich
     Wesen macht. Intelligente Techno-      konnte die Forschung bis zum heu-
     logien, wie zum Beispiel maschinel-    tigen Tag in keinem der damals vor-
     les Lernen, Algorithmen, Robotik,      gesehenen Bereiche konklusive Er-
     Emotionserkennung und eine Reihe       gebnisse erzielen. Seither haben die
     von KI-erweiterten Techniken, die      Debatten und Experimente rund um
     kollaborative, assistive, prädiktive   KI mehrere Entwicklungsphasen
     und präskriptive Intelligenz voraus-   durchlaufen – von hochgesteckten
     setzen, kommen zunehmend am Ar-        Hoffnungen, dass sich Maschinen
     beitsplatz zum Einsatz (vgl. Moore     entwickeln lassen, die sich wie Men-
     2019a).                                schen verhalten und über gleich-
     Trotz der anfänglichen Zuversicht,     wertige Intelligenz verfügen, bis hin
     mit der man bei den ersten Work-       zu tiefster Enttäuschung. Aufgrund
     shops am Dartmouth College in          entmutigender oder fehlgeschlage-

14
ner Experimente fielen über lange        schung in dieser Phase auf rationa-
Zeiträume – von 1974 bis 1980 und        listischen Annahmen aufbaute, die
1987 bis 1993 – viele Fördergelder       auf Descartes und Leibniz zurück-
weg. Heutzutage werden diese Pha-        gehen und die besagen, dass der
sen als «KI-Winter» bezeichnet. Der-     menschliche Geist im Grunde auf
zeit befinden wir uns zweifelsohne       der Fähigkeit beruht, Repräsentatio-
in einem «KI-Frühling», in dem KI ein    nen und Symbole von Tätigkeitsbe-
neues Zeitalter technologischer In-      reichen zu formen (Dreyfus 1972).
novation einläuten soll, wenn nicht      Dreyfus war dagegen der Auffas-
gar eine neue Zivilisationsstufe.        sung, dass Repräsentationen der Re-
Die Frühphase der KI-Forschung von       alität selbst zu Theorien der Bereiche
den 1950er bis zu den 1980er Jah-        werden, in denen Wissen und Intel-
ren – die man auch die Epoche der        ligenz angesiedelt sind. GOFAI-For-
«Good old fashioned AI» (GOFAI,          scher*innen gingen davon aus, dass
dt.: gute alte künstliche Intelligenz)   menschliches Denken anhand von
nennt – war von einer Faszination        festgelegten, kontextfreien Eigen-
für die maschinelle Nachbildung          schaften eines Bereichs und be-
menschlicher Intelligenz bestimmt.       stimmten Prinzipien beschrieben
Die Wissenschaftler am Dartmouth         werden kann. Die Theorien dieser
College wollten ein maschinelles         Bereiche regeln alle Interaktion, wo-
Verhalten mit möglichst mensche-         durch wiederum die Verstehbarkeit
nähnlichen Zügen entwickeln, er-         des jeweiligen Bereichs erklärt wer-
läuterten dabei aber kaum, was           den soll. Dieser theoretische Ansatz
menschliche Intelligenz ausmacht,        wird auch als «Repräsentationalis-
womöglich in der Annahme, dass           mus» bezeichnet, der davon aus-
es, wenn auch nur intuitiv, allgemein    geht, dass allem Verstehen ein Sys-
bekannt sein müsste. Hubert Drey-        tem von Grundvorstellungen und
fus (1929–2017), Philosophiepro-         Überzeugungen zugrunde liegt, das
fessor an der Berkeley Universität,      vom Denken womöglich nicht expli-
kritisierte diese Auslassung scharf.     zit wahrgenommen wird, aber den-
Er wies darauf hin, dass die KI-For-     noch existiert.

   Die kapitalistische Produktionsweise und Klassenverhältnisse müs-
   sen bei der KI-Entwicklung mitgedacht werden.

Ein solches Verständnis des              schaftlichen Folgen und wirtschaft-
mensch­lichen Denkens mag zwar           lichen Probleme ignoriert, die zu-
eine mögliche Grundlage für eine         tage treten würden oder werden,
Theorie der Intelligenz sein, jedoch     wenn die menschliche Intelligenz
haben GOFAI-­Wis­sen­schaft­ler*in­      sich durch maschinelle Intelligenz
nen und ihre Nach­f ol­g er*in­n en      ersetzen lässt. Eine Auseinander-
ihre weiteren Implikationen außer        setzung mit der Entwicklung von
Acht gelassen und auch die gesell-       KI muss auch die kapitalistische

                                                                                  15
Produktionsweise und ihre Voraus-       Klassenverhältnissen. All diese As-
     setzungen miteinbeziehen: Pro-          pekte müssen bei der KI-Entwick-
     duktionsmittel und produktivitäts-      lung mitgedacht werden. Diese
     steigernde Mittel, menschliche          gesellschaftlichen Verhältnisse stüt-
     Arbeitskraft, Infrastruktur, die ver-   zen sich wiederum auf bestimm-
     fügbaren wissenschaftlichen und         te Weltanschauungen – darunter
     philosophischen Erkenntnisse, die       etwa die Voraussetzung kompetiti-
     Eigentumsverhältnisse und die ge-       ven Handelns; das Streben danach,
     sellschaftlichen Produktionsverhält-    ein Wachstumsmodell im Rahmen
     nisse, einschließlich Entwicklungen     globaler, maskulin geprägter Hie­
     bei der Gestaltung von beruflichen      rarchien zu errichten und auszuwei-
     Positionen und Arbeitsplätzen, von      ten; die unhinterfragte Annahme,
     Arbeitsverhältnissen (Arbeitgeber-­     Tauschverhältnisse seien naturge-
     Arbeitnehmer-Beziehung und jewei­       geben und kämen in Konzepten wie
     lige Rechte und Pflichten) und von      Geld zum Ausdruck.

       ANTRAG FÜR DAS DARTMOUTH FORSCHUNGS-
       PROJEKT ZU KÜNSTLICHER INTELLIGENZ
       IM SOMMER 1956 (MCCARTHY 1955)

       Automatische Computer
       Wenn eine Maschine eine Tätigkeit ausführen kann, dann kann ein au-
       tomatischer Rechner so programmiert werden, dass er die Maschine
       simuliert. Die Geschwindigkeit und Speicherkapazität heutiger Com-
       puter mögen noch nicht ausreichen, um viele der komplexeren Funk-
       tionen des menschlichen Gehirns zu simulieren, jedoch liegt unser
       größtes Hindernis nicht in der mangelnden Kapazität von Maschinen,
       sondern in unserer Unfähigkeit, Programme zu schreiben, die in der
       Lage sind, das vorhandene Potenzial voll auszuschöpfen.

       Wie muss ein Computer programmiert werden, um eine Sprache
       zu benutzen?
       Man kann mutmaßen, dass ein großer Teil des menschlichen Denkens
       darin besteht, Wörter anhand von Regeln der Folgerung und Annahme
       anzuwenden. Eine Verallgemeinerung besteht also darin, ein neues
       Wort und einige Regeln zuzulassen, wobei Sätze, die dieses Wort ent-
       halten, sowohl auf weitere Wörter schließen lassen als auch aus ande-
       ren Wörtern hervorgehen. Diese Idee wurde bis dato nicht weiter präzi-
       siert und auch nicht anhand von Beispielen untersucht.

16
Neuronale Netze
Wie kann eine Gruppe von (hypothetischen) Neuronen so angeordnet
werden, dass sie ein Konzept bilden? Neben anderen haben Uttley,
Rashevsky und seine Forschungsgruppe, Farley und Clark, Pitts und
McCulloch, Minsky, Rochester und Holland bereits wesentliche the-
oretische und experimentelle Vorarbeit zur Lösung dieses Problems
geleistet. Es wurden vorläufige Ergebnisse erzielt, allerdings bedarf die
Realisierung weiterer theoretischer Untersuchungen.

Theoretische Überlegungen zum Umfang einer Rechenoperation
Ist ein wohldefiniertes Problem gegeben (bei dem sich mechanisch
testen lässt, ob eine vorgeschlagene Antwort richtig oder falsch ist),
wäre ein Lösungsweg, alle möglichen Antworten nacheinander auszu-
probieren. Diese Methode ist ineffizient. Um sie auszuschließen, muss
ein Kriterium für die Effizienz einer Rechenoperation gefunden wer-
den. Aus den Überlegungen wird hervorgehen, dass die Effizienz einer
Rechenoperation sich erst ermitteln lässt, wenn eine Methode zur
Messung der Komplexität der Rechenmaschine gegeben ist. Letzteres
lässt sich anhand einer Theorie der Komplexität von Funktionen errei-
chen. Einige Zwischenergebnisse zu diesem Problem haben Shannon
und McCarthy vorgelegt.

Selbstoptimierung
Eine wahrhaft intelligente Maschine wird wahrscheinlich in der Lage
sein, Vorgänge auszuführen, die man am besten mit dem Begriff der
Selbstoptimierung beschreiben kann. Diesbezüglich wurden bereits
einige Pläne umrissen, die eine nähere Untersuchung verdienen.
Wahrscheinlich lässt sich diese Frage auch abstrakt untersuchen.

Abstraktionen
Einige «Abstraktionsweisen» lassen sich genauer definieren als ande-
re. Es bietet sich an, direkte Versuche dazu anzustellen, wie diese klas-
sifiziert und wie maschinelle Methoden formuliert werden können, um
aus sensorischen und anderen Daten Abstraktionen zu entwickeln.

Zufälligkeit und Kreativität
Eine recht attraktive und doch eindeutig unvollständig formulierte Hy-
pothese lautet, dass der Unterschied zwischen kreativem und unkre-
ativem kompetenten Denken darin liegt, dass Ersteres mit einem ge-
wissen Maß an Zufälligkeit angereichert ist. In anderen Worten: Die
wohlbegründete Vermutung oder die Ahnung sind nichts weiter als
kontrollierte Zufälligkeit in sonst geordnetem Denken.

                                                                            17
Intelligenz ist keineswegs eine ho-      «das menschliche Denken […] ist
     mogene Kategorie. Trotzdem konn-         mit Bewusstsein und Identität ver-
     te die sogenannte symbolische und        bunden, die definieren, wer wir sind
     konnektionistische KI-Forschung          [...]. Intelligenz ist die zentrale We-
     nie genau feststellen oder sich da-      senseigenschaft des menschlichen
     rauf einigen, welches die wichtigs-      Geistes […]. Sie ermöglicht uns,
     ten Merkmale von Intelligenz sind.       unsere Welt und auch uns selbst zu
     John Haugeland (1985), der auch          verstehen, zu erkunden und in be-
     den Begriff GOFAI prägte, schrieb        deutendem Maße zu formen.» (Hut-
     intelligenten Wesen folgende Eigen-      ter 2012: 67)
     schaften zu:                             Auch die KI-Forschung vertritt, so
     –	erstens die Fähigkeit, auf intelli-   Hutter, diese Auffassung, da es «ihr
        gente Art und Weise mit Dingen        ultimatives Ziel ist, Systeme zu ent-
        umzugehen, wobei sich Intelli-        wickeln, deren grundlegende In-
        genz darin ausdrückt, rational        telligenz menschliches Niveau er-
        über sie nachzudenken (auch un-       reicht oder gar darüber hinausgeht»
        terbewusst); und                      (ebd.).
     –	zweitens die Fähigkeit, intern/au-    1956 war die zentrale Prognose
        tomatisch Symbole zu verarbeiten.     und Hoffnung, die auch heute noch
     Damit sich Intelligenz als solche        weithin gehegt wird, dass Maschi-
     manifestieren kann, bedarf es also       nen nicht nur fähig sind zu lernen,
     eines Gedächtnisvermögens und            sondern dazu auch noch autonom
     der spezifisch menschlichen Fähig-       in der Lage sind. Diese Fähigkeit
     keit, Gedanken und Ideen zu verar-       macht sie zu intelligenten – smar-
     beiten und aus diesen Ideen eine         ten – Maschinen. Daraus ergibt sich
     Analyse zu formulieren; der Fähig-       die Frage, was passiert, wenn Ma-
     keit, eigene Entscheidungen zu           schinen vollständig bewusst wer-
     treffen und nicht nur zwischen ver-      den und dann angeblich alle intel-
     schiedenen Optionen zu wählen;           ligenten Tätigkeiten automatisiert
     sowie Empathiefähigkeit und Emp-         werden können? Wird das zur Folge
     findungsvermögen. Dies ist vor           haben, dass die Menschheit selbst
     allem insofern relevant, als Maschi-     aufhört, zu lernen und nach Wegen
     nen weitere Formen von Intelligenz       zu suchen, die menschliche Intelli-
     zugeschrieben werden, wie zum            genz jenseits eines maschinenorien-
     Beispiel kollaborative und prädiktive    tierten Verständnisses zu verorten?
     Fähigkeiten, die im Rahmen assis-        Oder werden smarte Maschinen
     tiver und präskriptiver Funktionen       uns mehr Zeit geben, um unsere ei-
     zum Ausdruck kommen (siehe Auf-          gene Intelligenz weiterzuentwickeln
     zählung auf S. 12 f.).                   und kreativen und erfreulichen Tä-
     Marcus Hutter, der die weithin be-       tigkeiten nachzugehen – sofern die
     kannte Theorie «universeller KI»         Maschinen natürlich mitspielen
     entworfen hat (siehe dazu weiter         und darin «einwilligen», sich von
     unten), argumentierte später:            uns versklaven zu lassen? Wenn die

18
Menschheit und unsere vermeint-        tisch auch dazu führen, dass wir den
lich einzigartigen Fähigkeiten, uns    Maschinen unterlegen werden. Die
Wissen anzueignen und einander         GOFAI-Forschung hat diese Fragen
zu vermitteln, sich gänzlich auto-     nicht in letzter Konsequenz durch-
matisieren lassen, kann das theore-    dacht.

  Werden smarte Maschinen uns mehr Zeit geben, um unsere eigene
  Intelligenz weiterzuentwickeln und kreativen und erfreulichen Tä-
  tigkeiten nachzugehen – sofern die Maschinen natürlich mitspielen
  und darin «einwilligen», sich von uns versklaven zu lassen?

Egal, ob es sich um staatliche In-     Computer und andere Maschinen
vestitionen in die KI-Entwicklung      Aufgaben erledigen, die Menschen
handelt oder den Einsatz algorith-     eigentlich tun wollen oder gar tun
musbasierter Entscheidungsfin-         müssen, um ihr Überleben zu si-
dung in der Plattformökonomie – im     chern, wie es zum Beispiel bei der
Zentrum aller KI-Debatten sollte die   kapitalistischen Lohnarbeit der Fall
Frage stehen, was passiert, wenn       ist.

DIE AUTONOME MASCHINE?

Die Debatte um die Erwartungen,        und unbeliebte Kriege weiter an der
die Menschen gegenüber Maschi-         Tagesordnung sind).
nen haben, hat sich zwar im Laufe      Von «universeller» KI spricht man,
der Zeit und mit neuen Forschungs-     wenn ein einziger universeller
erkenntnissen gewandelt, derzeit       Agent lernen kann, sich in einer
scheint es jedoch Konsens darüber      beliebigen Umgebung optimal zu
zu geben, dass Maschinen gänzlich      verhalten; wenn zum Beispiel ein
autonom sein sollten.                  Roboter universelle Fähigkeiten
Direkte Vergleiche mit mensch-         wie etwa Laufen, Sehen und Spre-
lichem Denken, Wesenszügen             chen unter Beweis stellt. Heutzu-
und Fähigkeiten sind in der KI-For-    tage wird mit zunehmender Spei-
schung fast völlig in den Hinter-      cherkapazität von Computern und
grund geraten. Problematisch ist       immer komplexer werdenden Pro-
das insofern, als dass KI ein drama-   grammen eine solche universelle
tisches Comeback im öffentlichen       KI immer wahrscheinlicher. Auch
Diskurs erlebt und für Konzerne sehr   die KI-Definition der Europäischen
interessant geworden ist, ganz ab-     Kommission betont die autono-
gesehen davon, dass riesige staat-     men Aspekte, die von intelligenten
liche Förderprogramme für sie in       und smarten Maschinen erwartet
Aussicht gestellt werden (und das,     werden. «Künstliche Intelligenz be-
obwohl vielerorts Austeritätspolitik   zeichnet Systeme mit einem ‹intel-

                                                                              19
ligenten› Verhalten, die ihre Um-        deln, um bestimmte Ziele zu errei-
     gebung analysieren und mit einem         chen» (Europäische Kommission
     gewissen Grad an Autonomie han-          2018; Hervorh. d. A.).

        Die KI-Definition der Europäischen Kommission betont die autono-
        men Aspekte, die von intelligenten und smarten Maschinen erwar-
        tet werden.

     In einem weiteren Bericht aus dem        eine Kehrtwende hinsichtlich des
     Jahr 2018 mit dem Titel «Europäi-        Bewertungsmusters, anhand des-
     sche Exzellenz in Künstlicher Intelli-   sen «intelligentes Verhalten» in der
     genz, der Weg zu einer integrierten      Ideengeschichte und auch in der
     Vision» wird KI als «Sammelbegriff       GOFAI-Forschung bisher eingeord-
     für Techniken, die mit Datenanaly-       net wurde – das heißt, die Perspek-
     se und Mustererkennung zusam-            tive auf KI dreht sich. Anstatt dass
     menhängen» bezeichnet (Delponte          Maschinen an Menschen orientiert
     2018: 11). Der Bericht wurde vom         werden, wird vielmehr von Arbei-
     Ausschuss für Industrie, Forschung       ter*innen erwartet, sich nicht nur
     und Energie des Europäischen Par-        von Maschinen überwachen und
     laments in Auftrag gegeben und un-       anleiten zu lassen, sondern darüber
     terscheidet KI insofern von anderen      hinaus auch maschinelles Verhalten
     digitalen Technologien, als «KI von      zu imitieren und davon zu lernen,
     ihren Umgebungen lernen, um au-          denn die Maschine gilt nun als uni-
     tonome Entscheidungen treffen zu         versell zuverlässiger Rechner.
     können» (ebd.).                          Dabei ist auch der Autonomie-Be-
     Diese Definition zeigt, dass KI-Sys-     griff keineswegs statisch und die
     teme und Maschinen an Arbeits-           Handlungsfähigkeit der Menschen
     plätzen integriert werden und dort       deckt sich nicht unbedingt mit jener
     viel schneller und präziser als Men-     von Maschinen. Ausgehend von
     schen Entscheidungen treffen und         dieser Überlegung blickt die vorlie-
     Prognosen aufstellen können, wenn        gende Analyse darauf, welche Fol-
     sie sich menschenähnlich verhalten       gen sich aus der Datenerfassung
     und für die Arbeiter*innen assistive     am Arbeitsplatz ergeben und wel-
     Funktionen übernehmen – und das,         cher Stellenwert dieser Praxis bei-
     so die Hoffnung, völlig autonom.         gemessen wird, die letztlich eine
     Die Intelligenzformen und Verhal-        zentrale Triebfeder für KI-Entwick-
     tensweisen, die man KI-erweiterten       lung und KI-Innovation ist. Auch
     Tools und Anwendungen am Ar-             wenn es verschiedene KI-Definiti-
     beitsplatz zuschreibt, beruhen auf       onen gibt, eint sie dennoch der As-
     der technologisch autonomen Ent-         pekt der Datenerfassung und -ver-
     scheidungsfindung. Hier zeigt sich       arbeitung.

20
Auch wenn es verschiedene KI-Definitionen gibt, eint sie dennoch
  der Aspekt der Datenerfassung und -verarbeitung.

Die vorliegende Analyse soll Wis-       lich schönen neuen und nach wie
senschaftler*innen, politische          vor kapitalistischen Arbeitswelt
Entscheidungsträger*innen, Ar-          bedeuten kann. Der folgende Teil
beitsplatzgestalter*innen und Füh-      analysiert, wie KI-erweiterte Daten-
rungskräfte dazu anregen, eine kri-     sammlung und -verarbeitung am
tische Perspektive auf den Einsatz      Arbeitsplatz neue Zuschreibungen
von KI am Arbeitsplatz zu entwi-        von Autonomie bedingen und wie
ckeln. Der Fokus soll darauf liegen,    sich diese Entwicklung auf das Ar-
was «Intelligenz» in dieser vermeint-   beitsverhältnis auswirkt.

                                                                               21
TEIL II:
KI-ERWEITERTE TOOLS
UND ANWENDUNGEN
AM ARBEITSPLATZ

 Maschinen werden gezielt einge-       die Entwicklung ausgefeilterer KI-
 setzt, um Arbeit und Produktivität    Tools ermöglichen – und die eventu-
 zu überwachen sowie Informatio-       ell den gewünschten Fortschritt für
 nen über die Arbeiter*innen preis-    die Menschheit bedeuten oder eben
 zugeben, die auf umfangreichen        auch nicht.
 Datensätzen basieren und daher        KI-erweiterte Programme am Ar-
 vertrauenswürdiger und präziser       beitsplatz sind an bestimmte For-
 sind als die herkömmlichen qualita-   men maschineller autonomer Intelli-
 tiven Evaluierungen, die früher zum   genz geknüpft, die letzten Endes alle
 Beispiel durch Leistungsbewer-        durch kapitalistische Normen im Ar-
 tungssysteme und menschliches         beitsverhältnis bestimmt sind. Die-
 Feedback erfolgten. Daten dienen      ser Teil der Analyse gibt empirische
 verstärkt dazu, Arbeiter*innen zu     Einblicke in die Bereiche, in denen
 überwachen und Personalabteilun-      KI-gestützte Anwendungen in den
 gen bei Entscheidungen in Bezug       Arbeitsplatz integriert werden, und
 auf Arbeiter*innen zu unterstützen.   ordnet diese dann wiederum be-
 Allein die Tatsache, dass Menschen    stimmten Formen von Intelligenz zu,
 zunehmend zur Ressource für das       die von Maschinen erwartet werden.
 Training von Maschinen werden,        Zudem wird beschrieben, wie sich
 lässt die vermeintliche Unabwend-     diese Entwicklungen jeweils auf das
 barkeit der Datenerfassung schon      Arbeitsverhältnis auswirken. Als Ge-
 in fragwürdigem Licht erscheinen.     genstück zu den möglichen Risiken,
 Die erfassten Daten können zu gro-    die mit der Einführung von KI am Ar-
 ßen Datensätzen gebündelt wer-        beitsplatz verbunden sind, werden
 den, die wiederum im Laufe der Zeit   auch mögliche Vorteile angeführt.

   Letzten Endes sind all diese Formen maschineller Intelligenz durch
   kapitalistische Normen im Arbeitsverhältnis bestimmt.

                                                                               25
Die Formen der Intelligenz, die Ma-             Einsatzbereiche und ihre absehba-
     schinen heutzutage zugeschrieben                ren oder bereits eingetretenen Fol-
     werden, sind keineswegs neutral                 gen in einem spezifisch kapitalis-
     und haben direkte Auswirkungen                  tischen Kontext. Wie aus Tabelle 1
     am Arbeitsplatz. Die Aufzählung auf             hervorgeht, kommt ein von der kapi-
     S. 12 f. und Tabelle 1 geben einen              talistischen Norm profitorientierter
     Überblick über die verschiedenen                Akkumulation unabhängiger KI-Ein-
     Typen maschineller Intelligenz, ihre            satz selten bis gar nicht vor.

       TABELLE 1: FORMEN KÜNSTLICHER INTELLIGENZ
       AM ARBEITSPLATZ

        Technologie         Plattformen              People Analytics,        Cobots, Wearables
                            (Algorithmen,            Chatbots (Filmen von     (RFID, Dash­boards,
                            Künstliche Intelligenz   Inter­views, Software,   Tablets, GPS, Daten­
                            [KI], maschinelles       KI, ML, Emotions­        brillen/HoloLens)
                            Lernen [ML] )            erkennung)

         Intelligenz­form   prädiktiv,               affektiv, assistiv,      assistiv,
                            präskriptiv, ­           prädiktiv, ­deskriptiv   kollaborativ
                            deskriptiv

        Wo/Was              zuhause,                 Büro, Callcenter         Produktions­anlage,
                            draußen                  (Dienstleistungs­        Warenlager
                            (Gig-Work)               sektor)                  (manuelle Arbeit)

        Entscheidungs­      Human Resource (HR), Performance Monitoring (PM),
        findung             Micromanagement (MM)

     Selbst wenn KI-erweiterte Tools po-             zierung und Entwürdigung führen.
     tenzielle Vorteile für Arbeiter*innen           Teil II der Analyse widmet sich die-
     haben, können diese neuen tech-                 sen Aspekten auch anhand empi-
     nologischen Entwicklungen auch                  rischer Fallbeispiele zur digitalen
     zu schlechteren Arbeitsbedingun-                Überwachung und ihrer Funktions-
     gen, Diskriminierung, Dequalifi-                weise.

26
PEOPLE ANALYTICS

People Analytics (PA) wird vorwie-     denen Quellen ermittelt, die nicht
gend im Personalwesen angewen-         einmal zwingend aus traditionel-
det und bezeichnet generell den Ein-   len Arbeitsstätten hervorgehen.
satz von Big Data und KI, um Muster    So werden auch zunehmend Ho-
zu identifizieren und datensiloüber-   meoffice-Daten erfasst, da Arbei-
greifend zu vergleichen: Durch ma-     ter*innen insbesondere bedingt
schinelles Lernen und Algorithmen      durch die COVID-19-Pandemie
sind Computerprogramme in der          immer häufiger von zu Hause aus
Lage, Vergleichsdaten zu generie-      arbeiten. Tastaturanschläge, So-
ren, die das Management zur Ent-       cial-Media-Nutzung, Anzahl und
scheidungshilfe heranziehen kann       Inhalt von Telefongesprächen,
und die Arbeitgeber*innen dabei        Browserverlauf, persönliche An-
helfen können, die Beschäftigten-      wesenheit, Standortdaten und Be-
performance sowie Aspekte der          wegungen am Arbeitsplatz werden
Personalplanung, des Talentma-         anhand von GPS und E-Mail und
nagements und des Betriebsma-          sogar anhand von Stimmlage und
nagements zu messen, aufzuberei-       Gestik im Rahmen soziometrischer
ten und zu verstehen (vgl. Collins/    Analysen von Führungskräften und
Fineman/Tsuchida 2017).                Personalabteilungen gesammelt
Für Dashboards 1 werden Analy-         (Moore 2018a u. 2018b).
seprogramme entwickelt, die die        Für ein «Quantified-Workplace»-­
datensiloübergreifende Visualisie-     Projekt, das von einem multinatio-
rung bestimmter Muster in den ver-     nalen Unternehmen durchgeführt
arbeiteten Daten auf eben diesen       wurde, stellten Arbeiter*innen und
Dashboards ermöglichen. Anhand         Management alle Daten ihrer Das-
grafischer oder tabellarischer Dar-    hboards zur Verfügung, die tags-
stellungen extrem abstrakter Bilder    über und abends anhand von Fit-
können Führungskräfte sogenannte       Bit-Armbändern erfasst wurden
engagement areas konkret nachver-      (Moore 2018b). Heutzutage würde
folgen, verbessern und verwalten.      ein solches Experiment wohl aus
Dazu gehören Kategorien wie Di-        Datenschutz- und Privatsphäre-
versität, Lohngerechtigkeit, Mitar-    gründen infrage gestellt, da diese
beiterbindung, Nachfolgeplanung,       Bereiche mittlerweile durch die
Recruiting-Kennzahlen, insbeson-       Datenschutz-Grundverordnung
dere bezüglich der Dauer des Ein-      (DSGVO) weit ausführlicher ab-
stellungsverfahrens, des aktuellen     gedeckt werden als durch frühere
Stands von Kandidatenpools und         Richtlinien.
der Leistung verschiedener Einstel-
lungsressourcen (Starner 2017).
                                       1 Ein Dashboard ist eine grafische Schnittstelle, die in
Die Daten über die Arbeiter*in-        der Regel einen schnellen Überblick über zentrale Kenn-
nen werden dabei aus verschie-         zahlen und Statistiken ermöglicht.

                                                                                                  27
Cherry weist darauf hin, dass trotz     Die Tatsache, dass Menschen in
     der angeblichen Objektivität bei        Mainstream-Darstellungen von
     People Analytics ein hohes Diskri-      People Analytics oft als «Problem»
     minierungsrisiko besteht. People        auftauchen, ist insofern aufschluss-
     Analytics ermöglicht es dem Ma-         reich, als sie suggeriert, dass das
     nagement, «neue quantitative Da-        Urteil der Maschine aufgrund der
     tenpools aufzubauen, die wiederum       bereits erwähnten deskriptiven,
     mit dem Erfolg des Unternehmens         präskriptiven und prädiktiven Intel-
     und den Einstellungspraktiken in        ligenzformen dem Menschen über-
     Beziehung gesetzt werden können»,       legen sei. Dahingegen bietet eine
     und Daten dafür zu nutzen, «Ent-        Studie des Chartered Institute of
     scheidungen über Arbeitsplätze          Personal and Development (CIPD)
     zu treffen und die subjektiven Ent-     eine treffendere Klassifizierung die-
     scheidungen von Manager*innen zu        ser personenbezogenen Aspekte,
     übernehmen» (Cherry 2016: 7). Bei       da hier die möglichen Risiken für
     People-Analytics-Maßnahmen wird         Arbeiter*innen hervorgehoben wer-
     erwartet, dass Maschinen dem Ma-        den. Dort werden die «personen-
     nagement bei Personalentscheidun-       bezogenen Risiken» in sieben Kate-
     gen assistieren oder die subjektiven    gorien eingeteilt (Houghton/Green
     Beurteilungen des Managements           2018):
     gänzlich ersetzen und dass sie – wie    –	Talentmanagement
     Cherry warnt – erlauben, prädikti-      –	Gesundheit und Sicherheit
     ve und deskriptive Einschätzungen       –	Mitarbeiterethik
     über die Arbeiter*innen zu erstellen.   –	Diversität und Gleichstellung
     Einer Studie von Deloitte zufolge       –	Beziehungen zwischen Mitarbei-
     bewerten 71 Prozent der internati-         ter*innen
     onalen Unternehmen People Ana-          –	Betriebskontinuität
     lytics als bevorzugtes Instrument       –	Reputation.
     im Personalwesen. Tatsächlich er-       Doch vielleicht sind Menschen
     möglicht der Einsatz von PA dem         nicht das einzige «Problem» von
     Management, «Echtzeitanalysen je        People Analytics. Angesichts der
     nach betrieblichem Bedarf unmittel-     ursprünglichen Definition von KI,
     bar zu erstellen» und «ein tieferge-    der zufolge Maschinen sich wie
     hendes Verständnis von Problemen        Menschen verhalten sollen, ist es
     und möglichen Handlungsmaßnah-          nicht überraschend, wenn Maschi-
     men» im Umgang mit sogenann-            nen es dem diskriminierenden und
     ten people issues (Collins/Fineman/     voreingenommenen Handeln von
     Tsuchida 2017) zu entwickeln. In        Menschen gleichtun. In anderen
     anderen Analysen des Personalma-        Worten: Die Grundlage maschinel-
     nagements werden diese Aspekte          len Lernens sind die in die Maschi-
     auch als «menschliche Risiken» und      ne eingespeisten Daten, und wenn
     manchmal sogar als «menschliche         diese Daten in der Vergangenheit
     Probleme» bezeichnet.                   von diskriminierenden Einstel-

28
lungs- und Kündigungspraktiken           so die krankheitsbedingten Fehlzei-
geprägt waren, dann ist auch von         ten zu verringern. Durch den investi-
den Ergebnissen eines algorithmi-        gativen Aspekt von People Analytics
schen Prozesses nichts anderes zu        könnten Arbeitgeber*innen feststel-
erwarten. Sofern die über die Arbei-     len, wenn Beschäftigte sich von der
ter*innen gesammelten Daten nicht        Arbeit distanzieren, und daraufhin
durch qualitative Informationen          nach sinnvollen Lösungen suchen,
über ihre individuellen Lebenserfah-     um die Bindung der Beschäftigten
rungen und durch Gespräche mit           zu stärken.
den Arbeiter*innen ergänzt werden,       Wenn Arbeiter*innen auf sämtliche
sind unfaire Beurteilungen stets ein     Daten zugreifen könnten, die im
mögliches Risiko. Solche Fälle wur-      Rahmen von People Analytics über
den bereits aufgedeckt, etwa bei         sie gesammelt werden – so wie es
Amazon, wo Recruiting-Daten ver-         die DSGVO vorsieht –, könnten sie
wendet wurden, die sich diskrimi-        diese für mehr Selbstbestimmung
nierend auswirkten, indem sie die        nutzen. Zudem könnten die Daten
Lebensläufe von Männern gegen-           von Arbeitnehmervertretungen
über denen von Frauen bevorzug-          und Arbeitnehmer*innen selbst ge-
ten (Dastin 2018).                       nutzt werden, um Lohnerhöhungen
Sofern sie nicht mit Vorsicht einge-     zu fordern, wenn sie zum Beispiel
setzt wird, kann People Analytics tat-   nachweisen können, dass sie per-
sächlich zu Diskriminierung führen.      manent Überstunden leisten, oder
Im Idealfall könnten allerdings auch     um anhand datenbasierter Krank-
Algorithmen entworfen werden, die        heits- oder Stresslevels mehr Frei-
Diskriminierung beseitigen. Zudem        zeitansprüche geltend zu machen.
könnten auf maschinellem Lernen          Mit Zugriff auf die Daten über ihre
basierende Tools etwa Arbeitge-          Arbeitsmuster könnten Arbeiter*in-
ber*innen dabei helfen, Krankheits-      nen und ihre Vertreter*innen also
muster innerhalb der Belegschaft         ein neues Verhandlungsfeld zur
zu erkennen und ihren Zusammen-          Gestaltung der Arbeitsverhältnisse
hang mit den Arbeitsbedingungen          erschließen – da Zahlen bekannt-
nachzuvollziehen. Arbeitgeber*in-        lich nicht lügen, könnten Überstun-
nen könnten sich dann mit örtlichen      den angemessen entlohnt werden,
Arbeitervertreter*innen, Betriebs-       Krankheitsausfälle würden ernst
räten oder Gewerkschaften austau-        genommen und könnten deutlicher
schen, um geeignete Änderungen           mit den Arbeitsbedingungen in Be-
am Arbeitsplatz herbeizuführen und       ziehung gesetzt werden.

   Da Zahlen bekanntlich nicht lügen, könnten Überstunden angemes-
   sen entlohnt werden, Krankheitsausfälle würden ernst genommen
   und könnten deutlicher mit den Arbeitsbedingungen in Beziehung
   gesetzt werden.

                                                                                 29
Oft ist es jedoch so, dass die prä-    den, die Bereiche zu identifizieren,
     diktiven Algorithmen, die bei Peo-     in denen sich ihre Leistung verbes-
     ple Analytics für Prognosen zum        sert hat, sowie ihre persönliche Ent-
     Einsatz kommen, als sogenannte         wicklung zu fördern und ihre Moti-
     «Black Boxes» (Pasquale 2015) be-      vation zu steigern.
     trachtet werden, da die meisten        Ein möglicher progressiver Nutzen
     Menschen ihre Arbeitsweise nicht       von People Analytics könnte auch in
     komplett nachvollziehen können.        der Entwicklung eines Algorithmus
     Nichtsdestotrotz werden Compu-         zur Beseitigung von Vorurteilen lie-
     terprogramme dazu autorisiert,         gen – eine alles andere als einfache
     Ausnahmen vorherzusehen bzw.           Aufgabe. Bei Strafrechtssystemen
     sogenannte «predictions by excep-      wird bereits mit Risikobewertungen
     tion» (Agarwal/Gans/Goldfarb 2018)     experimentiert, wobei KI Gerich-
     zu erstellen.2 Bei People Analytics    ten und Bewährungsausschüssen
     schreiben Betriebsleitungen der KI     dabei helfen soll, Vorurteile auszu-
     also prädiktive Fähigkeiten zu, ohne   räumen. In der Arbeitswelt wird je-
     dass die daran beteiligten Prozesse    doch kaum ausdrücklich darüber
     von Menschen gänzlich verstanden       diskutiert, wo und wie die Algo-
     werden.                                rithmen-Entwicklung dabei helfen
     Trotzdem verhelfen KI-gestützte        kann, Diskriminierung zu erkennen
     Einstellungspraktiken Führungs-        und zu beseitigen (ob nun zum Bei-
     kräften zu vermeintlich objektiven     spiel anhand von Quotensystemen,
     Einsichten über (potenzielle) Ar-      Einstellungspraktiken, transparen-
     beitnehmer*innen, sofern sie Zu-       ten Beförderungsverfahren oder
     griff auf die Daten über sie haben.    dergleichen).
     Dies kann große Auswirkungen auf       Wie deutlich wird, können sich die
     die Entwicklung individuell zuge-      Stärken der KI also auch als Schwä-
     schnittener Maßnahmen zum Ar-          chen erweisen. Der fortgeschritte-
     beitsschutz und zur Risikovermei-      ne Einsatz von Datensätzen kann
     dung haben. Die algorithmische         dahingehend operationalisiert wer-
     Entscheidungsfindung im Rah-           den, dass genau das zum Vorschein
     men von People Analytics könnte        kommt, was Programmierer*innen
     Beschäftigte jedoch auch dahin-        sichtbar machen wollen. Man sollte
     gehend unterstützen, dass Leis-        sich dessen bewusst sein, dass Pro-
     tungsfeedback und Leistungsent-        grammierer*innen eben nicht mit
     lohnung sowie Arbeitskosten an
     Unternehmensstrategie und Un-
     terstützung für bestimmte Gruppen      2 «Prediction by exception» bezeichnet Prozesse, bei
                                            denen Computer große Datensätze verarbeiten und da-
     von Arbeiter*innen angepasst wür-      durch in der Lage sind, zuverlässige und auf routine-
     den (Aral u. a. 2012, zit. in Hough-   und regelmäßigen Daten basierende Vorhersagen zu
                                            machen, die aber auch Sonderfälle identifizieren und
     ton/Green 2018: 5). Arbeiter*innen     Nutzer*innen sogar per Benachrichtigung «mitteilen»
                                            können, dass Systemüberprüfungen fällig sind oder
     sollten durch den Zugang zu neuen      dass menschliche Unterstützung oder Intervention ge-
     Datenformen darin bestärkt wer-        boten ist.

30
einer sogenannten Black Box arbei-       te Aufgabe mit einer Reihe festge-
ten, sondern dass sie eine bestimm-      legter Ziele zu erfüllen haben.

   Die Stärken der Künstlichen Intelligenz können sich auch als
   Schwächen erweisen.

Wenn also die algorithmische Ent-        die gerade erst ihre Ausbildung ab-
scheidungsfindung im Rahmen von          geschlossen haben und sich auf
People Analytics keinerlei mensch-       Stellen bei multinationalen Un-
liche Interventionen und ethische        ternehmen bewerben. Ein zentra-
Erwägungen miteinschließt, dann          les Element dabei ist, dass Bewer-
könnte dieses im Personalwesen           ber*innen dazu aufgefordert sind,
eingesetzte Tool die Arbeiter*innen      sich bei der Beantwortung der vom
erhöhten strukturellen, körperli-        Unternehmen gestellten Fragen zu
chen und psychologischen Risiken         filmen. Die Fragen werden im Vor-
und Stressfaktoren aussetzen. Wie        aus verschickt und es wird eine Frist
sollen Arbeiter*innen sichergehen,       zur Beantwortung gesetzt, wobei
dass Entscheidungen fair, genau          die dabei eingesetzte Software nur
und transparent getroffen wer-           eine einzige Aufnahme zulässt.
den, wenn sie keinen Zugriff auf die     Zahlreiche Unternehmen und Ein-
Daten haben, über die ihre Arbeitge-     richtungen setzen bereits auf die-
ber*innen verfügen? Wenn Arbei-          ses Verfahren, darunter auch Nike,
ter*innen das Gefühl haben, dass         Unilever und Atlanta Public Schools.
Entscheidungen auf Zahlen und            Zwar nicht alle, aber zumindest die
Daten basieren, die für sie nicht ein-   drei genannten Unternehmen nut-
sehbar sind und auf die sie keinen       zen dabei auch Softwareprodukte,
Zugriff haben, führt das zu erhöhten     die es Arbeitgeber*innen mithilfe
psychosozialen Belastungen wie           von KI-Technologien erlauben, die
Stress und Angst. Dies ist beson-        bei der Interviewaufzeichnung von
ders besorgniserregend, wenn die         den Bewerber*innen gesendeten
durch People Analytics gesammel-         verbalen und nonverbalen Signale
ten Daten zur Umstrukturierung von       zu bewerten.
Arbeitsplätzen, zum Wegfall von          Ein solches Produkt wurde auch von
Arbeitsstellen oder zu Änderungen        der Firma HireVue entwickelt und
von Stellenprofilen und dergleichen      von über 600 Unternehmen einge-
führen.                                  setzt. Ziel ist es, Verzerrungen zu
KI-Tools kommen im Rahmen von            reduzieren, die zum Beispiel dann
People Analytics auch in sogenann-       entstehen können, wenn Bewer-
ten Assessment-Centern zum Ein-          ber*innen beim Interview erschöpft
satz. Dabei handelt es sich um ein       sind oder wenn Personalverantwort-
zunehmend beliebteres Interview-         liche Bewerber*innen aufgrund von
verfahren, das vor allem auf junge       Alter, Hautfarbe oder sonstigen Ei-
Bewerber*innen zugeschnitten ist,        genschaften bevorzugen. Nichts-

                                                                                 31
destotrotz wurde bereits nachge-           Alter oder der Geschlechtsidentität
     wiesen, dass sich die Präferenzen          von Individuen verbunden werden,
     früherer Personalverantwortlichen          die nicht weiß und männlich sind,
     auch bei People Analytics in Einstel-      dagegen schlechter abschneiden.
     lungsverfahren niederschlagen kön-         Das Filmen von Bewerbungsge-
     nen und dass heterosexuelle weiße          sprächen ist eine Form von People
     Männer ceteris paribus bevorzugt           Analytics, die auf deskriptiver und
     werden, wie aus einem Bericht des          prädiktiver Maschinenintelligenz
     Business Insider hervorgeht (Felo-         beruht. Diese Tatsache ist für Job-
     ni 2017). Wenn die in einen Algo-          kandidat*innen und Arbeiter*innen
     rithmus eingespeisten Daten über           natürlich mit erheblichen Risiken
     längere Zeit von einem dominan-            verbunden und hat eine Objektivie-
     ten Vorurteil geprägt sind, kann das       rung des Arbeitsverhältnisses zur
     dazu führen, dass die Mimik, die sich      Folge, die auch zur mangelnden
     mit jenen der «Eigengruppe» deckt,         Kommunikation zwischen Bewer-
     tendenziell positive Bewertungen           ber*innen und Arbeiter*innen mit
     erhält, während andere Signale, die        ihren (potenziellen) Arbeitgeber*in-
     mit der sexuellen Präferenz, dem           nen führen kann.

     COBOTS

     Es besteht die Annahme, dass Ar-           einen menschlichen Arm direkt er-
     beiter*innen am Fertigungsband             setzt. Die Halbautomatisierung, die
     im Zuge der Automatisierung durch          durch KI-gestützte Roboter ermög-
     Roboter ersetzt werden. In vielen          licht wird, bedeutet dagegen, dass
     Fällen ist das bereits durch roboter-      Maschinen bestimmte Arbeitsas-
     gesteuerte Prozessautomatisierung          pekte oder Teilaufgaben für Men-
     (RPA) geschehen. Derzeit erfolgen          schen in möglichst assistierender
     solche Prozesse über Software und          und kollaborativer Weise überneh-
     Hardware, das heißt, die Abläufe           men.
     sind in die Maschinen einprogram-          Amazon verfügt über 100.000 KI-er-
     miert. Eine präzise autonome Ent-          weiterte Cobots (kollaborative Ro-
     scheidungsfindung ist technisch            boter), die es dem Konzern ermög-
     bisher nicht möglich, doch die in-         licht haben, die Einarbeitungsphase
     telligente Prozessautomatisierung          für neue Mitarbeiter*innen auf unter
     (IPA) zeichnet sich schon am Hori-         zwei Tage zu verkürzen. Airbus und
     zont ab (siehe Interview mit Maike         Nissan setzen auf Cobots, um die
     Pricelius, S. 52 f.). Bei den Diskussio-   Produktion zu beschleunigen und
     nen rund um RPA wird KI also oft mit       die Effizienz zu steigern. Cobots
     Automatisierung verwechselt. Au-           werden heutzutage in die Arbeitsab-
     tomatisierung im eigentlichen Sinn         läufe von Produktionsanlagen und
     liegt etwa vor, wenn ein Roboterarm        Warenlagern integriert, wo sie größ-

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