KÄMPFERISCH KORRUPT KRIMINALISIERT // - GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA - Lateinamerika Nachrichten

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LN-Dossier 12 // September/Oktober 2015

KÄMPFERISCH
KORRUPT
KRIMINALISIERT //
GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA
KÄMPFERISCH, KORRUPT,
KRIMINALISIERT
GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA

                                                                                                      Foto: Simon Zamora Martin
       Liveübertragung In unserem Dossier sprechen wir mit Gewerkschafter*innen über ihre Kämpfe

   4       Kämpferisch, korrupt, kriminalisiert //              Martínez von der Arbeitsgenossenschaft
           Ein Dossier der LN über Gewerkschaften               Textiles Pigüé
           in Lateinamerika                               30    „Entscheidend für die Unterstützung
   7       Staatsfeind Nr. 1 // Die Lehrer*innen-               ist die Mobilisierung“ // Über Beleg-
           gewerkschaft CNTE ist Zielscheibe staatli-           schaftsübernahmen insolventer Unterneh-
           cher Repression in Mexiko                            men
   11      „Narcos haben ein besseres Image als           32    „Wie von einem Löwen zu verlangen,
           wir“ // Interview über die Rechte der Me-            vegetarisch zu leben“ // Interview über
           tro-Fahrkartenverkäufer*innen in Mexiko-             den Kampf um Arbeitsbedingungen in der
           Stadt                                                zentralamerikanischen Textilindustrie
   14      „Sie gehört doch zur Familie!“ // Die          36    „An unserem Widerstand haben
           Gewerkschaft Fenatrad kämpft für die                 sie sich die Zähne ausgebissen“ //
           Rechte der Hausangestellten in Brasilien             Interview mit María Miranda und Liroy
   17      „Solidaritätsarbeit läuft nicht mehr                 Pérez Pérez von der Hafengewerkschaft
           auf einer Einbahnstraße“ // Interview                Sintrajap
           zur gewerkschaftlichen Solidarität zwi-        39    „Der internationale Druck war am
           schen Mannheim und São Paulo                         erfolgreichsten“ // Interview mit dem
   20      Das Heft in der Hand // Arbeiter*innen               kolumbianischen Gewerkschafter William
           übernehmen ihre Druckerei                            Mendoza
   27      „Wir haben die Gewerkschaft rausge-            42    Es geht auch ohne Chef // Ein Sam-
           schmissen“ // Interview mit Francisco                melband erzählt die Geschichten von
                                                                Betriebsbesetzungen in Argentinien
KÄMPFERISCH, KORRUPT,
KRIMINALISIERT
EIN DOSSIER DER LN ÜBER GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA

      „Kämpferisch“, „korrupt“, „kriminalisiert“ – mit        Mit dem vorliegende Dossier wollen wir uns mit
      solch widersprüchlichen Attributen wurden und           dem aktuellen Zustand von Gewerkschaftsarbeit
      werden Gewerkschaften in Lateinamerika häu-             in Lateinamerika beschäftigen. Wie bewegen sich
      fig beschrieben. Gewerkschaften sind kämpfe-             die Gewerkschaften in dem geschilderten Span-
      risch, sie vertreten die Interessen lohnabhängiger      nungsfeld? Dabei wollen wir eine kritisch-solida-
      Arbeiter*innen. Aus traditioneller linker Perspektive   rische Haltung zu Gewerkschaften einnehmen.
      gelten sie als notwendige Organisationsform der
      Arbeiter*innenklasse, um sich gegen die Ausbeu-
      tung der kapitalistischen Wertschöpfung zu weh-         Was geschieht, wenn die Arbeiter*innen
      ren. Aus der Selbstorganisation der Arbeiter*innen      selbst die Kontrolle im Betrieb überneh-
      zur Verteidigung ihrer Interessen erhoff(t)en sich      men?
      diverse linke Denker*innen die Entwicklung der
      Arbeiter*innenklasse von der Klasse an sich zu ei-
      ner Klasse für sich, die bewusst die Überwindung        Das bedeutet für uns, dass die gegen sie vorge-
      des Kapitalismus anstrebe. Gewerkschaften haben         brachte Kritik immer abgewogen werden muss:
      durchaus progressives Potential.                        Wann handelt es sich um berechtigte Kritik an
      Allerdings darf man auch nicht die Augen vor der        Fehlentwicklungen, wann handelt es sich um be-
      allzu häufig weniger progressiven Realität gewerk-       wusste Diffamierung, um die Selbstorganisation
      schaftlicher Organisationsformen verschließen.          von Arbeiter*innen zu schwächen?
      Insbesondere in der Geschichte Lateinamerikas           Hintergrund für unser Dossier ist auch die verän-
      versuch(t)en diverse links- und rechtspopulisti-        derte politische Lage in Lateinamerika. Im vergan-
      sche autoritäre Regierungen, Gewerkschaften für         genen Jahrzehnt haben in vielen Ländern der Re-
      ihre eigenen Herrschaftsprojekte zu instrumenta-        gion linksorientierte Politiker*innen die Regierung
                                                              übernommen. Zu einem nicht unerheblichen Teil
                                                              basierten deren Wahlerfolge auf ihrem Rückhalt
      Wie sehen die aktuellen Kämpfe und                      bei sozialen Bewegungen und linken Organisatio-
      Konflikte gewerkschaftlicher Arbeit in                   nen, nicht zuletzt auch Gewerkschaften. Konnten
      Lateinamerika aus?                                      die Gewerkschaften ihrem prophezeiten Bedeu-
                                                              tungsverlust nach den neoliberalen Reformen der
                                                              1980er und 1990er Jahre erfolgreich entgegentre-
      lisieren und die Arbeiter*innen zu kooptieren. Zur      ten? In dem Dossier möchten wir der Frage nach-
      Zeit der Militärdiktaturen wurden sie aber auch         gehen, wie viel gesellschaftlichen Wandel die Ge-
      verboten und brutal verfolgt. Es gilt zu berück-        werkschaften beim Thema Arbeit erreicht haben
      sichtigen, dass Gewerkschaften auch bewusst             und wofür sie aktuell kämpfen müssen.
      als „korrupt”, „mafiös” oder gar „terroristisch”         Natürlich können wir nicht alle Aspekte dieses
      verunglimpft werden, um sie zu kriminalisieren.         Themas behandeln. Wir möchten deshalb schlag-
      Derartige Kampagnen gehen dann bisweilen von            lichtartig einige Aspekte gewerkschaftlicher
      unternehmernahen Lobbygruppen aus, wie hier             Kämpfe in Lateinamerika vorstellen. Anhand ein-
      etwa von Mexicanos Primero gegen die kämp-              zelner Beispiele wollen wir ihre Vielfalt und Kon-
      ferische Lehrer*innengewerkschaft CNTE (siehe           flikte veranschaulichen. Unser Anspruch ist es
      Artikel ab Seite 6).                                    dabei, nicht mit „eurozentrischem“, gar besser-

4   LN-Dossier 12
wisserischem Blick über die Gewerkschaftsbewe-        Wir sprechen mit den Protagonist*innen, die die-
gungen zu urteilen. Stattdessen möchten wir mit       se Kooperation in den 1980er Jahren begründet
unserem solidarisch-kritischen Ansatz viele unter-    haben (Seite 17).
schiedliche Stimmen, Meinungen und Positionen         Doch was geschieht, wenn die Arbeiter*innen
zu Wort kommen lassen und die regionalen Kon-         selbst die Kontrolle im Betrieb übernehmen? Ins-
texte beachten. Aus diesem Grund finden sich in        besondere in Argentinien haben Arbeiter*innen
diesem Dossier besonders viele Interviews, in         zahlreiche Betriebe, die nach der Wirtschaftskrise
denen mutige Gewerkschafter*innen von ihren
Kämpfen berichten.
Verschiedenen Fragen sind wir dabei nachgegan-        Welche Rolle spielen Diskriminierungen
gen: Wie steht es mit der transnationalen Vernet-     aufgrund von Geschlecht im Arbeits-
zung von lateinamerikanischen Gewerkschaften          kampf?
mit Kolleg*innen in anderen Regionen? Welche
Rolle spielen Diskriminierungen aufgrund von Ge-
schlecht im Arbeitskampf? Bei der Untersuchung        2001 von der Schließung bedroht waren, besetzt
dieser Leitfragen wollen wir immer im Blick be-       und führen sie in Eigenregie weiter. In einer Re-
halten, wie lateinamerikanische Gewerkschaften        portage schildern wir den Alltag in einem solchen
Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung         Betrieb (Seite 20), in einem Interview kommt ein
zu überwinden helfen können.                          Protagonist dieser Bewegung zu Wort (Seite 27).
In einem Artikel stellen wir die bereits erwähnte     Zudem sprechen mit einem Wissenschaftler, der
Lehrer*innengewerkschaft CNTE aus dem mexi-           sich mit diesem Phänomen, das längst in meh-
kanischen Budnesstaat Oaxaca und ihre aktuellen       reren Ländern des Cono Sur Früchte zu tragen
Kämpfe vor. An diesem Beispiel wird besonders         beginnt (Seite 30). Auch ein Buch zur Betriebsbe-
deutlich, wie Gewerkschaften einerseits selbst        setzung in Argentinien wird vorgestellt, sodass
enorme interne Widersprüche aufweisen, aber           Leser*innen Thema gegebenenfalls vertiefen
auch immer wieder von Repression und Kriminali-       können.
sierung bedroht werden (Seite 6).                     In drei weiteren Interviews schildern Gewerk-
In einem Interview berichtet Nélida Reyes Guz-        schafter*innen und Arbeitsrechtler*innen die
mán von einer Frauengewerkschaft der U-Bahn           aktuellen Arbeitskämpfe, die Arbeiter*innen in
von Mexiko-Stadt, die sich gegen Korruption           Lateinamerika derzeit austragen. Der Arbeits-
und machistische Machtstrukturen innerhalb der        rechtler Sergio Chávez erklärt, mit welchen Pro-
Hauptgewerkschaft zur Wehr setzen (Seite 11).         blemen Maquila-Arbeiter*innen in der Textilin-
Um – ebenfalls meist weibliche – Hausangestell-       dustrie Zentralamerikas konfrontiert sind (Seite
te in Brasilien geht es in einem weiteren Arti-       32). Maria Miranda und Liroy Pérez Pérez von der
kel. Nicht zuletzt wegen der langen Geschichte        costa-ricanischen Hafengewerkschaft Sintrajap
der Sklaverei in Brasilien leben Hausangestellte      berichten von der Repression gewerkschaftlicher
meist im Haus ihrer Dienstherr*innen und sind         Organisation in der vermeintlichen „Schweiz Zen-
oft besonders stark von einer dreifachen Dis-         tralamerikas” (Seite 36). William Mendoza berich-
kriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer        tet von den Kämpfen der kolumbianischen Le-
Klasse und ihrer Ethnizität betroffen. Sexuelle       bensmittelgewerkschaft Sinaltrainal, die sich für
Gewalt gegen sie ist weit verbreitet und wird         menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei Coca
häufig bagatellisiert. Wir zeigen, wie es um die       Cola einsetzt, wobei mehrere Kolleg*innen der
gewerkschaftliche Organisation von Hausange-          Gewerkschaft bereits von Paramilitärs ermordet
stellten steht und wie sie sich gegen Ausbeutung      wurden (Seite 39).
wehren (Seite 15).                                    Der gefährlicher Einsatz der hier vorgestellten
Welche Bedeutung internationale Kooperation für       Gewerkschafter*innen für grundlegende Arbeits-
gewerkschaftliche Arbeit bedeutet, und was aus        rechte, ihr Widerstand gegen Repressionen spie-
ihr gelernt werden kann, verdeutlicht das Beispiel    geln die Brutalität kapitalistischer Ausbeutung wie-
einer nunmehr 30-jährigen Partnerschaft zwi-          der. Doch ihre Kämpfe inspirieren und ermutigen
schen Gewerkschafter*innen in Mannheim und            auch dazu, diese Zustände nicht hinzunehmen.
in der ABC-Industrieregion in São Paulo, Brasilien.                                                 // LN

                                                                                               LN-Dossier 12   5
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                Foto: Eneas De Troya, CC BY 2.0

LN-Dossier 12
STAATSFEIND NR. 1
DIE LEHRER*INNENGEWERKSCHAFT CNTE IST ZIELSCHEIBE STAATLICHER DISKREDITIERUNG
UND REPRESSION IN MEXIKO

    Die CNTE, die oppositionelle Strömung der            der Regierung. Es ist Teil der großen Bildungs-
    mexikanischen Lehrer*innengewerkschaft               reform, die nach der dafür notwendigen Ände-
    SNTE, weist zahlreiche interne Widersprü-            rung der Verfassung 2014 vom mexikanischen
    che auf. Dennoch ist sie die gesellschaft-           Bundesparlament beschlossen wurde (siehe LN
    liche Speerspitze gegen neoliberale Re-              469/470).
    formen und Verteidigerin der Rechte der              Seither befindet sich ein Teil der Nationalen Ge-
    armen Bevölkerung, besonders die Sektion             werkschaft der Erziehungsarbeiter SNTE, mit
    22 im Bundesstaat Oaxaca. Seit der Verab-            über einer Millionen Mitgliedern die größte Ge-
    schiedung der Bildungsreform steht sie be-           werkschaft Lateinamerikas, in Dauermobilisie-
    sonders unter Druck.                                 rung gegen die Reformmaßnahmen. Bei diesem
                                                         Teil handelt es um die CNTE, die oppositionel-
    „Sie haben uns behandelt wie den letzten Dreck”,     len Strömung innerhalb der SNTE, welche rund
    ruft die Sekretärin Itandehui N. empört. So schil-   200.000 Lehrer*innen vertritt. 1979 gegründet,
    dert sie den Lateinamerika Nachrichten, wie          repräsentiert sie den Teil des Lehrpersonals, das
    sie tags zuvor, am 17. August, im Staatlichen        die korporativistische Anbindung an die Revoluti-
    Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO ihren letzten         onäre Institutionelle Partei (PRI) – über 70 Jahre
    Arbeitstag hatte. Vor dem Gebäude des IEE-           quasi Staatspartei – und die antidemokratischen,
    PO stehen seit einem Monat mehrere hundert           korrupten Strukturen des SNTE nicht hinnehmen
    Polizist*innen in Kampfmontur Wache, seit die        wollte. Ihre Mitglieder pflegen meist ein klas-
    Regierung beschloss, die Macht der unbeque-          senkämpferisches Vokabular, viele der lokalen
    men Lehrer*innengewerkschaft in Oaxaca mit           Untergruppen haben einen zapatistischen, ma-
    militärischen Mitteln zu brechen. Als „Blitzkrieg    oistischen, sozialistischen oder sogar offen stali-
    gegen die Lehrer“ bezeichnete der bekannte           nistischen Hintergrund. Besonders in ländlichen
    Journalist Luis Hernández das Regierungshan-         Regionen mit niedrigem Bildungsgrad gelten die
    deln. „Bei jedem Arbeitsplatz war ein Notar, die     Lehrer*innen traditionell als lokale Autoritäten, die
    800 in der Lehrergewerkschaft organisierten          es auch als ihre Aufgabe sehen, die Bevölkerung
    Mitarbeiter*innen mussten ihren Schreibtisch         vor den Begehrlichkeiten des Staats und der mit
    unter genauester Aufsicht räumen. Der Notar be-      ihm verbundenen wirtschaftlichen Eliten zu schüt-
    gutachtete jedes Blatt, jeden Kugelschreiber, und    zen. So ist die CNTE vor allem in den südlichen,
    entschied, ob es ein persönlicher Gegenstand sei     extrem armen, indigen geprägten Bundesstaa-
    oder der Institution gehöre. „Mehrere Kollegen       ten wie Chiapas, Guerrero oder Michoacán stark
    und Kolleginnen ertrugen diese despotische Be-       vertreten. Und in Oaxaca, wo die lokale Sektion
    handlung nicht und erlitten Nervenzusammenbrü-       22 mit einer Mitgliederzahl zwischen 75.000 und
    che”, so Itandehui. Das Verwaltungspersonal wird     83.000 (genaue offizielle Zahlen gibt es nicht) die
    ab Schuljahresbeginn in Schulen eingesetzt. Kein     größte organisierte gesellschaftliche Gegenmacht
    gewerkschaftlich organisiertes Personal soll mehr    zum Staat darstellt und ihr Mobilisierungspotenzi-
    in der Verwaltung, keine Lehrperson hauptamtlich     al immer wieder beweist, nicht nur bei Bildungs-
    in der Gewerkschaft tätig sein, so das Vorhaben      themen.
                                                         Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxaca so
                                                         sehr wie das der maestros. Auf allen Kanälen
      Presente!                                          werden die Lehrer*innen beschimpft und als
    CNTE-Demo in Mexiko-Stadt                            „faule Dauerdemonstranten“ denunziert, die

                                                                                                   LN-Dossier 12   7
das Wohl der Schüler*innen ihren Eigeninteres-       schafterin zu finden. Auch Korruption, Vetternwirt-
      sen unterordneten. Die Sektion 22 wird als „kor-     schaft, insbesondere das Vererben von Arbeits-
      rupt”, „mafiös”, „Organisierte Kriminalität” oder     stellen an die eigenen Kinder, sind Kritikpunkte.
      rundweg „terroristisch” bezeichnet, ihr müsse        Zudem ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft
      endlich der Garaus gemacht werden, predigen          nicht freiwillig, und die Teilnahme an den Pro-
      die Leit- und Lokalmedien seit Jahren. Die Kam-      testaktionen, welche in der Vollversammlung
      pagne ist orchestriert von der unternehmernahen      der Delegierten beschlossen werden, wird per
      Lobbyvereinigung Mexicanos Primero. Deren Re-        Namensliste nachgeprüft. Die Gewerkschaft ver-
      formvorschläge waren Blaupause für die Verfas-       fügte bis zur Bildungsreform dabei über profunde
                                                           Sanktionsmittel gegenüber Unwilligen, denn die
                                                           Auszahlung der Gehälter erfolgte über die Ge-
      Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxa-              werkschaft, Strafversetzungen fernab der Familie
      ca so sehr wie das der maestros.                     waren keine Seltenheit. Bei aller berechtigten Kri-
                                                           tik darf allerdings nicht vergessen werden, dass
                                                           diese Missstände auch in regierungstreuen, nach
      sungsreform im Bildungswesen, einige Passagen        altem korporativistischen Muster organisierten
      wurden gar wortwörtlich übernommen. Dagegen          Berufsverbänden Mexikos Standard sind. Immer-
      halten die Lehrer*innen – und in sozusagen jeder     hin sind Spitzenämter zeitlich begrenzt, das Füh-
      größeren Familie Oaxacas ist dieser Berufsstand      rungspersonal kann per Versammlung abgewählt
      vertreten – ihr aufopferndes Engagement für die      werden, wovon die Basis zuletzt Anfang Septem-
      zukünftigen Generationen. Oft sind die Arbeitsbe-    ber Gebrauch machte.
      dingungen alles andere als einfach. Stundenlange     Was die Bevölkerung in Oaxaca angeblich am
      Anreise für Lehrpersonal und Kinder, fehlende        meisten gegen die Lehrer*innen aufbringt, sind
      Lehrmittel und prekäre Einrichtungen, Unter- und     die vielen Schultage, welche durch die Streiks
      Fehlernährung sind nur einige Stichworte. Die        und Protestaktionen verloren gehen. Nicht zuletzt
      Gewerkschaft hat mit ihren regelmäßigen Streiks      sind die oft kurzfristig einberufenen schulfreien
      und Blockaden eine Reihe von Verbesserungen          Tage für arbeitende Eltern eine logistische Her-
      erzwungen, auch aber nicht nur für die Lehrkräfte:   ausforderung. Mexicanos Primero hat vorgerech-
      Die obligatorischen Schuluniformen sind gratis, in   net, dass in den letzten 21 Jahren drei komplette
      vielen Schulen ermöglicht ein bescheidenes Früh-     Schuljahre in Oaxaca verloren gegangen seien.
      stück erst das Lernen der Kinder, die kulturelle     Das Recht der Kinder auf Ausbildung sei priori-
      Vielfalt wird in den Lehrplan einbezogen.            tär, aber der Lehrer*innengewerkschaft gehe es
      Für ihr Engagement und ihren Aktivismus muss-        in keiner Weise um Pädagogik, sondern nur um
      ten und müssen die Lehrer*innen oft teuer be-        ihre Privilegien, so der Tenor. Die Lehrerin Vicky
      zahlen. Polizei und regierungsnahe bewaffnete        N., tätig in einer verarmten Vorortsgemeinde von
      Gruppen gehen häufig mit brutaler Gewalt ge-          Oaxaca-Stadt, schildert die Beziehungen zu den
      gen sie vor. Verprügelte oder festgenommene          Eltern dagegen ganz anders: „Wir informieren
      Lehrer*innen gibt es quasi monatlich, auch Tote      in Elternversammlungen über die anstehenden
      gab es in den letzten Jahren immer wieder. Pro-      Mobilisierungen, erklären ihnen die legitimen For-
      minentes Beispiel dafür sind die 43 „verschwun-      derungen der Gewerkschaft und verhandeln an-
      denen“ Lehramtsstudenten in Guerrero, die der        schließend mit ihnen, wann wir alle Schulstunden
      CNTE nahe standen – genauso hätte dies in Oa-        nachholen, sei dies nachmittags, an Samstagen
      xaca passieren können.                               oder an Ferientagen. Es kommt auch vor, dass wir
      Wenn die Kampagne der Regierung trotzdem teil-       Lehrkräfte uns zwischen Mobilisierung und Unter-
      weise verfängt, dann hat das auch mit berechtig-     richt abwechseln, einander aushelfen. So haben
      ten Kritiken zu tun, auf welche die Gewerkschaft     wir bisher immer ein gutes Einvernehmen mit
      ungenügend oder gar nicht reagiert. Besonders,       den Eltern erzielt”.
      wenn es um den Machismo: Obwohl zwei Drittel         Bei allen Gesprächen mit Eltern oder mit
      der Lehrkräfte Frauen sind, ist der Generalsek-      Lehrer*innen ist unbestritten, dass der Staat
      retär der CNTE immer ein Mann, und nur in den        seiner Verantwortung nicht nachkommt und die
      mittleren Kadern ist die eine oder andere Gewerk-    Schulen über ungenügende Mittel verfügen, um

8   LN-Dossier 12
Foto: Patricia Castellanos
                                                                                                     Militarisiert
                                                                                                  Soldaten sichern das Staatli-
                                                                                                  che Bildungsinstitut Oaxaca

den Kindern eine vernünftige Bildung zu ermögli-     beitet und diese im Plan zur Transformation der
chen. Andererseits meint der Großteil aber auch,     Bildung Oaxacas (PTEO) zusammengefasst. Da-
dass die vorherrschenden pädagogischen Kon-          bei geht es kurz gesagt darum, in der Schule der
zepte der Lehrer*innen veraltet und sich viele       kulturellen Vielfalt und den sozioökonomischen
Kampfformen der Gewerkschaft überlebt haben.         Herausforderungen in dem bäuerlich und indigen
Die gewaltsame Entkoppelung von Bildungsinsti-       geprägten Bundesstaat gerecht zu werden. Denn
tut und Sektion 22, so sehr auch die Kritik an der   Verkehrsampel-Aufgaben in mexikoweit standar-
Methode berechtigt ist, wird zeigen, wie viele der   disierten Evaluationen machen in Gemeinden oh-
Lehrer*innen tatsächlich aktiv ihre Gewerkschaft     ne Straßen für die Schüler*innen nun mal keinen
unterstützen. Der bürokratische Gewerkschafts-       Sinn, ebenso wenig wie höhere Algebra bei knur-
apparat wird durchgeschüttelt, was hoffentlich zu    rendem Magen.
neuen, kreativeren Aktionen beiträgt. Die Gefahr     Dass es auch anders geht, zeigt die Umsetzung
ist jedoch groß, dass die momentane Lähmung          des PTEO in der ländlichen Gemeinde San Pedro
der Gewerkschaft Stück für Stück ausgenutzt          Amuzgos. Elena Tapia Vásquez, lokale Vertreterin
wird, um die Lehrer*innen immer weiter in das        der Menschenrechtsorganisation CODIGO DH,
neoliberale Leistungsmodell zu zwängen. Dazu         schildert die Präsentation der Arbeiten in der Se-
gehören repressive Evaluationen (bei schlechtem      kundarschule am Ende des Schuljahrs 2014/15:
Abschneiden droht Stellenverlust), Lohnabzug bei     „Die Jugendlichen arbeiteten in Projektgruppen
Streiktagen und drohende Kündigung nach dreitä-      zum Thema Wertschätzung der Sprache und Kul-
gigem Fehlen. Ob diese Zwangsformen zu einer         tur der Amuzgo-Indigenen. Dazu studierten sie
besseren Qualität der Schulbildung beitragen, ist    drei Monaten lang unter anderem die Themen tra-
zweifelhaft. Anlässlich der Einweihungszeremo-       ditionelle Architektur, Kaffee-Anbau, Baumwolle
nie des neuen Schuljahrs Ende August 2015 un-        und deren Verarbeitung an den Webstühlen. Das
terbrach die Lehrerin und „stolze Gewerkschafte-     Weberei-Projekt wurde vom Mathematiklehrer
rin” Anabel Aguilar Ibáñez Oaxacas Gouverneur        angeleitet, denn Webtechnik ist pure Mathema-
Gabino Cué mit den Worten: „Was wir brauchen,        tik. Die Ergebnisse wurden vor der versammelten
ist eine wirkliche Bildungsreform, nicht eine Ar-    Gemeinde vorgetragen. Auch kombinieren heute
beitsreform!”                                        konsequenterweise die Schülerinnen die Schul-
Anders als vom Staat und staatsnahen Medien          uniform mit dem huipil, der traditionellen Tracht.
behauptet, setzt die CNTE nicht nur auf Abwehr-      Diese alternativen Unterrichtsformen seien nicht
maßnahmen, sondern beteiligt sich durchaus           konfliktfrei eingeführt worden, meint Elena Tapia.
konstruktiv. Zum Kern des Problems, der Bildung,     Viele Eltern sähen darin einen puren Zeitverlust,
hat die Gewerkschaft in 37 partizipativen Regio-     das klassische Lesen, Rechnen und Auswendig-
nalforen eine Reihe von Vorschlägen ausgear-         lernen von Geschichtsdaten sei ihnen wichtiger.

                                                                                                                  LN-Dossier 12   9
Deshalb müsste im Dialog mit den Eltern ein

                                                             Foto: Patricia Castellanos
      Gleichgewicht zwischen dem offiziellen Lehrplan
      und der alternativen Projektarbeit gefunden wer-
      den, meint die junge Anwältin.
      Ganz im Gegensatz zur Umsetzung von neuen
      pädagogischen Methoden im indigenen Hinter-
      land hat die militärische Besetzung des IEEPO
      und dessen Gleichschaltung mit der Bildungs-
      reform dazu geführt, dass lokale Errungenschaf-
      ten aus dem Organigramm fielen. Was nicht Teil
      der Struktur der zentralen Bildungsministeriums
      ist, wurde über die Sommerferien schlicht abge-
      schafft. So löste die Regierung beispielsweise das
      Zentrum für das Studium und die Entwicklung der
      indigenen Sprachen Oaxacas (CEDELIO) auf. Laut
      indigenen Lehrkräften und Vertreter*innen des lo-
      kalen Sekretariats für Indigene Angelegenheiten
      (SAI) war das CEDELIO während 17 Jahren ein
      wichtiger pädagogischer Pfeiler für die bilingualen
      Schulen im Bundesstaat.
      Gegen diese kulturelle Autonomie, gegen diesen
      politischen Widerstand setzt die Regierung seit
      drei Monaten massiv Militär und Polizei ein. Dass
      es dabei um das Wohl der Jugend geht, mag be-
      zweifelt werden. Vielmehr ist die Neutralisierung
      der Gewerkschaftsopposition CNTE ein wichtiger
      Etappensieg für Präsident Enrique Peña Nieto zur
      Kontrolle des Bundesstaats. Und da in Oaxaca
      2016 Gouverneurswahlen stattfinden, hilft die Prä-
      senz von über 10.000 Bundespolizist*innen ganz
      zufällig auch der Repositionierung seiner Partei
      PRI, welche unbedingt den Bundesstaat zurück-
      gewinnen will. 2010 verlor die PRI erstmals den
      Gouverneursposten, sie unterlag einer Allpartei-
      en-Allianz unter Führung von Gabino Cué. Voraus-
      gegangen war dieser historischen Niederlage der                   Unbeliebt Protestaktion gegen Bildungsminister
      Volksaufstand von 2006. Nach brutaler Repression
      gegen streikende CNTE-Lehrer*innen solidarisier-
      ten sich große Teile der Bevölkerung; es entwickel-   PRI bereitet sich auf ihre Rückkehr vor, wie immer
      te sich eine Dynamik, die in der mehrmonatigen        mit einer Mischung aus Almosen und Repressi-
      Vertreibung der Regierung aus der Hauptstadt des      on, die die Bevölkerung spalten soll. Andererseits
      Bundesstaats gipfelte. Unter dem Namen Volks-         zeigt die Geschichte Oaxacas, dass die gut orga-
      versammlung der Völker Oaxacas (APPO) – mit           nisierten Lehrer*innen niemals unterschätzt wer-
      der Sektion 22 als maßgebliche r Stütze – übte        den sollten. „Die Lehrer*innen sind ein Faktor zu-
      sich die Bevölkerung in Selbstorganisation, bis die   gunsten der Regierbarkeit im Bundesstaat. Wenn
      Bundesregierung mit der Entsendung von Bun-           sie gedemütigt werden, könnte sich dies ins Ge-
      despolizei und Militär dem urdemokratischen Ex-       genteil wandeln“, kommentierte Luis Hernández
      periment ein blutiges Ende setzte. Mindestens 25      in der Tageszeitung La Jornada. Der Machtkampf
      Aktivist*innen wurden ermordet.                       ist noch nicht entschieden, Oaxaca bleibt ein Pul-
      Doch die mit viel Hoffnung begleitete politische      verfass.
      Transition unter Cué ist kläglich gescheitert, die                                    // Philipp Gerber

10   LN-Dossier 12
„NARCOS HABEN EIN BESSERES
IMAGE ALS WIR“
INTERVIEW MIT NÉLIDA REYES GUZMÁN, DIE SICH SEIT ÜBER 30 JAHREN FÜR DIE RECHTE
DER METRO-FAHRKARTENVERKÄUFER*INNEN IN MEXIKO-STADT EINSETZT

    Sie sind das Gesicht der Metro. Die 2.000 Fahr        chen, den Lohn anzugleichen. Denn wir verkaufen
    kartenverkäufer*innen in der U-Bahn von Me-           mittlerweile nicht nur U-Bahn-Fahrkarten, sondern
    xiko-Stadt bestehen zu über 90 Prozent aus            laden auch die Fahrkarten für den Metrobus und
    Frauen, meist alleinerziehende Mütter. Ihr            den Fahrradverleih auf. Aber nichts ist passiert.
    Arbeitsalltag ist durch schlechte Vertragsbe-         Das Schlimmste ist, dass die Gewerkschaft die
    dingungen, Beschimpfungen der Fahrgäste               Kontrolle über unseren Bereich hat.
    und die Repression seitens des Transportun-
    ternehmen und der Nationalen Gewerkschaft             Wie gelingt ihr das?
    der Arbeiter des öffentlichen Verkehrssys-            Die Gewerkschaft ist mit der Regierungspartei PRI
    tems (SNTSTC) geprägt. Im Gespräch mit LN             verbunden und das stattet sie mit Macht aus. Wir
    schildert Nélida Reyes Guzmán, wie die offi-           kämpfen gegen die Korruption der Gewerkschaft,
    zielle Gewerkschaft ihren Einsatz für Arbeits-        die sich in die Metro eingenistet hat und über
    rechte und eine gendersensible Perspektive            die Besetzung von Arbeitsplätzen alle Bereiche
    seit Jahrzehnten gewaltsam unterdrückt                kontrolliert. Die Fahrkartenverkäuferinnen geben
    – und warum sie trotzdem weiterkämpft.                Fernando Espino politische Unterstützung. Wenn
                                                          er mobilisiert, gehen sie demonstrieren. Er hält
    Sie setzen sich seit Jahrzehnten für Arbeits-         sie sich mit Versprechen warm. Er bedient sich
    rechte in der U-Bahn ein. Die Gewerkschaft            dabei eines Kodex, der bislang seinen Nutzen er-
    SNTSTC, die dies eigentlich tun sollte, kriti-        füllt. Er definiert die Fahrkartenverkäuferinnen und
    sieren Sie dabei stark. Welche Rolle spielt die       alle anderen Frauen in der U-Bahn als Teil der „Fa-
    Gewerkschaft?                                         milie Metro“. Die Leute hängen diesem Glauben
    Wir leiden unter der Gewerkschaft des öffentli-       an. Innerhalb einer Familie mag und versteht man
    chen Verkehrssystems und ihrem Vorsitzenden,          sich. Sie sehen sich als Teil einer Organisation, als
    Fernando Espino Arévalo. Er hat seit 34 Jahren        Rechtssubjekte. Das funktioniert auch, weil Espi-
    das Sagen. Er wurde mittels eines charrazos (di-      no Arbeitsplätze an enorm viele Leute vergibt, die
    rekte Einflussnahme der Regierung auf Personal-        ihm nahe stehen: an Bekannte, Freunde und vor
    entscheidungen der Gewerkschaft, Anm. d. Red.)        allem Familienangehörige. Die 22 am besten ver-
    eingesetzt. Die damalige Regierung der Haupt-         güteten Stellen sind durch seine Familienangehö-
    stadt hatte das mit ihm ausgehandelt, um eine         rigen besetzt. Die Gewerkschaftsvertreter nutzen
    demokratisch legitimierte Gewerkschaft zu zer-        auch Vorurteile, die in der Gesellschaft existieren,
    schlagen. Denn damals gab es eine Gewerkschaft,       um unsere Rechte einzuschränken.
    die Arbeitsrechte gestärkt und viele Fortschritte,
    wie beispielsweise Darlehen, Kinderbetreuung,         Können Sie ein Beispiel geben?
    zusätzliche Urlaubstage oder die Beschaffung der      Einige Arbeiterinnen geben den Fahrgästen zu
    Arbeitskleidung, erzielt hat. Das passte der Regie-   wenig Geld oder Fahrkarten heraus. Sie werden
    rung nicht und sie unterstützte die gewaltsame        nicht bestraft. Warum? Es hat lange gedauert, bis
    Einsetzung von Espino. Unser Bereich, der Fahr-       ich verstanden habe, dass dahinter auch ein poli-
    kartenverkauf, musste am meisten einstecken.          tischer Grund steckt. Auf diese Weise bekommen
    Er wird seitdem am gewaltvollsten unterdrückt.        wir ein Stigma auferlegt. Wenn einige von uns die
    Beispielsweise wird uns seit zwei Jahren verspro-     Kunden betrügen, heißt es schnell, dass wir alle

                                                                                                   LN-Dossier 12   11
das machen. Dann werden uns auch unsere Rech-           Arbeit gekommen zu sein. Dann wurden nach
      te abgesprochen. Wenn ich die undemokratischen          und nach Mitglieder unserer Gruppe entlassen.
      Strukturen der Gewerkschaft kritisiere, muss ich
      mir anhören: „Warum forderst gerade Du das ein,         Sie haben damals mit einem Hungerstreik die
      wo Ihr doch korrupt seid und stehlt!“ Im sozialen       Wiedereinstellung erlangt. Die Arbeitsbedin-
      Ansehen haben wir einen schrecklichen Abstieg           gungen sind aber nicht besser geworden...
      hinter uns. Vielleicht genießen Narcos mehr An-         Nein, überhaupt nicht. Nach dem Hungerstreik
      sehen als wir! Sehr wenige können sich vorstel-         hat die Gewerkschaft mit Rebeca Hassan Bar-
      len, dass es unter uns auch Frauen gibt, die für        rera eine frauenfeindliche Abteilungsleiterin ein-
      ihre Rechte und Demokratie kämpfen.                     gesetzt, die das gewerkschaftliche Patriarchat
                                                              unterstützt. Sie sanktioniert uns regelmäßig mit
      Wie geht die SNTSTC mit Angestellten um,                Lohnabzug. Deswegen haben wir 2011 bei der
      die sich nicht unterordnen?                             Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt
      Fernando Espino hat stets mit Gewalt und Un-            eine Beschwerde eingereicht.
      terdrückung reagiert. Ich selbst habe das oft er-
      lebt. 1987 wurde ich zu einer Protestkundgebung         Worüber genau haben Sie sich beschwert?
      eingeladen, auf der die antidemokratischen Ten-         Einerseits wollten wir auf die Gewalt durch die
      denzen in der U-Bahn kritisiert wurden. Kollegen        Fahrgäste aufmerksam machen. Zum Beispiel,
      überredeten mich dort, an einem Gespräch im             wenn es kein Wechselgeld gibt. Die Leute rasten
      Innenministerium teilzunehmen. Ich stolperte            aus, beschimpfen uns, manche spucken sogar in
      regelrecht hinein und betonte mehrmals, dass            das Fenster. Anstatt diese Personen zu bestrafen,
      ich keine Gruppe vertrete. Der Minister und die         werden sie umsonst durch das Drehkreuz gelas-
      Gewerkschaft haben es wohl trotzdem als Angriff         sen. Es wurden bereits Kassiererinnen geschla-
      verstanden. Acht Tage nach dem Gespräch schoss          gen, weil sie zur Toilette gegangen sind und die
      ein Unbekannter durch die Scheibe der Verkaufs-         Leute warten mussten. Es gibt keine Toiletten in
      stelle auf mich. Als ich schon auf dem Boden lag,       unserem Verkaufsraum, nur in der neuen U-Bahn-
      gab er noch zwei Schüsse ab. Im Krankenhaus             linie 12 wurden sie eingerichtet. In den anderen
      mussten mir Glassplitter aus der Haut und den           Stationen gibt es nur auf einer Bahnsteigseite To-
      Augen entfernt werden. Ich habe zwar keine Be-          iletten. Nicht immer gibt es eine zweite Verkäufe-
      lege, habe das aber als politisch motivierten An-       rin, dann müssen wir schließen und in zwei, drei
      schlag auf mein Leben begriffen. So als ob mir          Minuten hat sich eine Riesenschlange angestaut.
      gesagt wird: „Du mobilisierst, hier hast Du die         Wenn sich Fahrgäste über uns beschweren, sank-
      Antwort!“                                               tioniert die Abteilungsleitung das mit Lohnabzug.
                                                              Wir werden einbestellt und die leistungsabhän-
      Sie haben trotzdem weiter gemacht...                    gigen Anteile des Lohns, gute 2.000 Pesos (105
      Einige Fahrkartenverkäuferinnen haben sich in           Euro, Anm. d. Red.), werden uns abgezogen. Wir
      der Koordination der Demokratischen Arbeite-            sind ungefähr 2.000 Arbeiterinnen und damit eine
      rinnen organisiert. Als wir 1989 Faltblätter verteil-   riesige Einnahmequelle. Wir haben die Beschwer-
      ten, kam Fernando Espino mit anderen Gewerk-            de aber auch wegen einer weiteren Form des
      schaftsfunktionären in den Verkaufsbereich. Er          Lohnabzugs eingereicht. Abends kommen Prüfe-
      ordnete an, uns zu schlagen. Eines Tages haben          rinnen, um den Tagesumsatz zu zählen. Sehr oft
      sie uns von der Polizei abführen lassen, weil wir       behaupten sie, dass wir Geld unterschlagen ha-
      angeblich eine Arbeiterin zusammengeschlagen            ben. Natürlich können einmal Rechenfehler pas-
      und bestohlen hatten. Sie führten uns getrennt          sieren, aber ich unterschlage nichts.
      ab, schüchterten uns damit ein, dass wir fünf Jah-
      re eingesperrt und unsere Familien nicht wieder         Hat die Beschwerde etwas bewirkt?
      sehen würden. Mit Hilfe einer Menschenrechts-           Die Menschenrechtskommission hat angemerkt,
      verteidigerin, die Kontakt zur Staatsanwaltschaft       dass uns die Fehlbeträge angelastet werden, oh-
      hatte, wurden wir freigelassen. Am nächsten Tag         ne dass Belege für unsere Schuld existieren. Erst-
      ließen sie uns die Arbeit nicht antreten und be-        mals wurde diese Praxis hinterfragt. Für uns war
      schuldigten uns, unberechtigterweise nicht zur          es schon allein ein großer Erfolg, dass uns jemand

12   LN-Dossier 12
Foto: CMDPDH, Kampagne Haz que se vean

NÉLIDA REYES GUZMÁN
arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Fahrkartenverkäuferin in der U-Bahn von Mexiko-Stadt. Bereits kurz
nach Arbeitseintritt 1983 begann sie, sich für eine Demokratisierung und eine Stärkung von Frauenrech-
ten in ihrem Arbeitsumfeld einzusetzen. In der Folge drangsalierten sie ihr Arbeitgeber und die Gewerk-
schaft SNTSTC. Sie unterstellten ihr mehrfach, Einnahmen gestohlen zu haben und setzten sie sieben
Jahre lang als Urlaubsvertretung ohne feste Arbeitsorte und -zeiten ein. Nélida Reyey engagiert sich in
der Gruppe Intersindicalistas, Trabajadoras de taquilla, STC, México, D.F., in der sich Frauen aus verschie-
denen Gewerkschaften gegen ihre ökonomische und geschlechtsspezifische Diskriminierung einsetzen.

angehört und sich ein eigenes Urteil gebildet hat.     puppe in sie hineinsteckt.“ An allen Verkaufsstel-
Die einzige Form, gehört zu werden, besteht da-        len, Kantinen, Bahnsteigen klebte das. Wir haben
rin, das Problem in die Öffentlichkeit zu tragen.      mehrere Gewerkschaftsfunktionäre, u.a. Fernando
Und zwar an die Institutionen im Menschenrechts-       Espino, wegen Diskriminierung und geschlechts-
bereich, nicht im Arbeitsrecht. Im Arbeitsministe-     spezifischer Gewalt angezeigt. Als wir das sahen,
rium gibt es viel Korruption. Es folgten ein Artikel   wussten wir, dass sich das letztlich nicht nur gegen
in der Wochenzeitschrift Proceso. Dann ein Radio-      uns richtet. Das ist das Frauenbild, das in der Ge-
interview. Natürlich hat uns das auch viele Nerven     werkschaft vorherrscht. Es ist ein Extrembeispiel
gekosten. Denn schon vor dem Interview hat mir         für die machistische Kultur, die in Feminizide mün-
das Unternehmen die Kosten für einen kaputten          det. Die Kultur der Erniedrigung der Frau.
Ventilator und eine Tastatur von meinem Gehalt
abgezogen. Sie waren durch Abnutzung kaputt ge-        Hat diese Klage Aussicht auf Erfolg?
gangen. In einem Monat wurde ich viermal einbe-        Die Klage ist anhängig. Es gab eine Untersuchung
stellt, es war ein unglaublicher Druck. Jedes Mal,     des Dokuments, weil über das Layout und den
wenn es Kontrollen gab, wurde ich sanktioniert.        Druck auf den Urheber geschlossen werden kann.
Aber nach dem Interview hat der damalige Direk-        Die SNTSTC streitet ab, dass ihre Mitglieder ver-
tor unserer Koordinatorin Rebeca Hassan Barrera        antwortlich sind. Wir wissen aber genau, wer die-
gekündigt. Das war eine Erholung für uns!              se Art Dokumente veröffentlicht. Den Gutachtern
                                                       wurde der Zutritt zur Druckerei der Gewerkschaft
Wie hat die SNTSTC auf diese Kritik reagiert?          verwehrt. Hilfreich ist, dass Fernando Espino in
Nach dem Radiointerview ist die SNTSTC in einer        den Wahlen 2015 eine Niederlage einstecken
Publikation auf unglaublich vulgäre Weise über         musste. Im September wird er dadurch seine
meine Mitstreiterinnen und mich hergezogen. „Die       Immunität verlieren, die ihn bislang vor Strafver-
Nélidas und Guadalupes haben die Angestellten          folgung geschützt hat. Es liegen mehrere Anzei-
schlecht gemacht. Sie regen sich über alles und je-    gen wegen Sabotage gegen ihn vor. Denn immer,
den auf, weil sie niemanden haben und allein sind.     wenn es einen Konflikt mit dem Unternehmen
Deswegen gieren sie danach, dass jemand sie            gibt, funktioniert der Ablauf in der U-Bahn auf
endlich wieder anfasst, etwas wie in eine Hand-        wundersame Weise nicht. Wir haben aber auch die

                                                                                                LN-Dossier 12   13
Befürchtung, dass der Regierende Bürgermeister           Wie sieht es in puncto Frauenrechte bei den
      Miguel Ángel Mancera, der Präsidentschaftskan-           anderen Gewerkschaften aus?
      didat werden möchte, zu viele Zugeständnisse             Es gibt keine Gewerkschaft, die eine Genderper-
      an die Gewerkschaft macht. Der aktuelle Direktor         spektive vertritt. Geschlechtsspezifische Ausbeu-
      der Metro, der ehemalige Vorsitzende der Partei          tung wird nicht anerkannt. Stattdessen herrschen
      PANAL, wird Espino schützen. Das ist ein großer          eine maskulin geprägte Sichtweise und eine patri-
      Rückschritt. Die Abteilungsleiterin Rebeca Hassan        archale Kultur vor. Die Probleme, die wir als Fahr-
      Barrera hat er auch wieder eingestellt.                  kartenverkäuferinnen haben, lassen sich besser
                                                               verstehen, wenn man diese Kultur einbezieht. In
      Gibt es eine andere Gewerkschaft, die eine Al-           diesem Ausbeutungssystem ist es nützlich, uns
      ternative darstellt?                                     als konfliktive und verrückte Frauen darzustellen.
      Für die Gewerkschaften ist es sehr wichtig, dass         Es ist ein Wahnsinn, dass die Gewerkschaften nur
      das Unternehmen sie anerkennt, deswegen wol-             den ökonomischen Teil betrachten. Natürlich ist es
      len sie sich nicht zu kämpferisch zeigen. Ich bin in     wichtig, dass unsere Arbeit finanziell anerkannt
      der Gewerkschaft Sindicato Único Democratico,            wird. Aber es müssen auch Frauenrechte anerkannt
      aber nach Austritten hat sie nun den Status als Ge-      werden. Ich engagiere mich in der Gruppe Inter-
      werkschaft verloren. Auch dort fehlte Kampfgeist         sindicalistas, in der sich Frauen aus verschiedenen
      und die Kraft, um wirksame Aktionen umzusetzen.          Gewerkschaften zusammengeschlossen haben.
      Gerade hat die neue Unabhängige Demokratische            Die Unabhängige Demokratische Gewerkschaft
      Gewerkschaft (SDI) viel Aufwind. In unserem Be-          möchte nun, dass wir uns ihnen anschließen. Da-
      reich hat sie die meisten Mitglieder. Hoffentlich ver-   für muss die Gewerkschaft aber ihr Konzept von
      lassen viele die SNTSTC. Es ist aber sehr schwie-        Arbeit erweitern und Frauenfragen einbeziehen.
      rig, mit der Herrschaft so vieler Jahre zu brechen.      Die patriarchale Sichtweise ist sehr eindimensi-
      Als wir unsere Gewerkschaft gründeten, waren wir         onal, die Frauen stehen immer in zweiter Reihe,
      50 Mitglieder. Aber 50, die sich der Kontrolle der       sind Unterstützung, Mittel, Objekt, damit andere
      SNTSTC entzogen! Das war ein Schlag für die Ge-          wachsen. Wir müssen aber alle wachsen, wir sind
      werkschaft: Sie bot den Dissidenten Arbeitsplätze        lebendige Frauen, wir denken, glauben, fühlen!
      und Darlehen an und viele kehrten zurück.                                            // Interview: Eva Bräth

„SIE GEHÖRT DOCH ZUR FAMILIE!“
DIE GEWERKSCHAFT FENATRAD KÄMPFT FÜR DIE RECHTE DER HAUSANGESTELLTEN IN BRASILIEN

      127 Jahre nach der Abschaffung der Skla-                 „Wir haben kein Geld! Das ist es, was wir immer
      verei gehört die Sklav*innenarbeit immer                 von Arbeitgebern hören. Vor allem von denen,
      noch zum brasilianischen Alltag. Nicht nur               die jedes Jahr ein neues Auto kaufen. Viele ge-
      in Form von rechtlosen und unbezahlten                   ben mehr Geld für ihre Haustiere aus als für ihre
      Arbeitssklav*innen auf großen Fazendas                   Hausangestellten“, fasst Creuza Maria Oliveira,
      oder in illegalen Kleinbetrieben, sondern häu-           Präsidentin der Nationalen Hausangestelltenge-
      figer noch in bürgerlichen Haushalten. Auch               werkschaft (Fenatrad) den Verlauf der meisten
      die jüngste Verfassungsreform des Arbeits-               „Tarifverhandlungen“ ihrer Berufsgruppe zusam-
      rechts im Juni 2015 garantiert den Hausan-               men. Sie fügt hinzu: „Was wir auch immer noch
      gestellten und ihrer Gewerkschaft nicht die-             hören: Sie gehört doch zur Familie! Aber das
      selben Rechte wie anderen Berufsgruppen.                 stimmt nicht. Was ist das für eine Familie, in die
      Und 43 Jahre nach der Einführung formeller               man keine Kinder oder Freunde mitbringen kann?
      Arbeitsverhältnisse besitzt nur ein Viertel al-          In der man nicht das Haus verlassen kann, wann
      ler Hausangestellten einen Arbeitsvertrag.               man möchte? Nicht essen kann, was man will?“

14   LN-Dossier 12
Foto: Claudia Fix
  Gegen moderne Sklaverei! Creuza Oliveira (rechts) beim Marsch der Hausangestellten in Salvador de Bahía

Rund acht Millionen Menschen arbeiten nach              berechneten die Kosten von Verpflegung und Un-
Schätzungen von Fenatrad in privaten Haushal-           terkunft und zogen sie willkürlich vom Lohn ab.
ten, offiziell sind es 6,7 Millionen. Die meisten        Am Ende blieb für die Mädchen und Frauen oft
sind afro-brasilianische Frauen, die aus Familien       gar kein Geld übrig. Familiärer und sexueller Ge-
mit sehr geringem Einkommen kommen. Viele               walt standen sie allein gegenüber, in vielen Fa-
von ihnen konnten maximal vier Jahre die Schu-          milien durften sie nicht einmal das Geschirr der
le besuchen, weil sie bereits als Kind im Haus-         Familie mitbenutzen, sondern mussten von spe-
halt anderer Familien arbeiten mussten. Erst seit       ziellen Tellern essen. Verônica Ferreira von der
2008 legt ein Dekret des damaligen Präsidenten          Frauenorganisation SOS Corpo bezeichnet diese
Luiz Inácio Lula da Silva das Mindestalter für die      Arbeitssituation als Fortsetzung der Sklaverei:
Arbeitsaufnahme auf 18 Jahre fest. Nur ein Viertel      „Historisch betrachtet war die Hausarbeit die ein-
der Hausangestellten haben einen offiziellen Ar-         zige Möglichkeit für schwarze Frauen, sich über-
beitsvertrag, die sogenannte „carteira assinada“,       haupt in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Gleich-
obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Im           zeitig wurden ihnen die Rechte verweigert, die
Norden und Nordosten sind es noch weniger, im           andere Arbeitnehmerinnen schon in den 1930er
Süden des Landes etwas mehr.                            Jahren erobert hatten“.
„Unsere Hausangestellte“ – für die meisten Fa-          Dass unter diesen Arbeitsbedingungen die ge-
milien in Brasilien mit festem Einkommen gehört         werkschaftliche Organisierung trotzdem gelang,
diese für ein reibungsloses Familienleben und           ist mutigen Hausangestellten wie Creuza Oliveira
den notwendigen Komfort einfach dazu, auch in           zu verdanken, aber auch dem Verfassungsprozess
der unteren Mittelschicht. Bis vor wenigen Jah-         nach der Militärdiktatur und den Regierungen der
ren wurde von den Hausangestellten erwartet,            Arbeiterpartei (PT) seit 2003. „Der Prozess war
im Haushalt zu leben, rund um die Uhr verfügbar         sehr langsam“, sagt Creuza Oliveira dazu. „Es gab
zu sein und nur einmal in der Woche das Haus zu         schon vor 80 Jahren gewerkschaftliche Arbeit der
verlassen. Oft war der sonntägliche Kirchgang die       Hausangestellten. Aber erst in der Verfassung
einzige „Freizeit“, die nicht verweigert wurde. Der     von 1988 wurde festgelegt, dass wir auch eine
Arbeitslohn wurde unregelmäßig gezahlt, manch-          Berufsgruppe sind – wenn auch mit eingeschränk-
mal am Ende jedes Jahres. Die Arbeitgeber*innen         ten Arbeitnehmerrechten – und wir uns gewerk-

                                                                                                 LN-Dossier 12   15
schaftlich organisieren können. Trotzdem hat es         Arbeitslosengeld beträgt immer einen Mindest-
      noch bis 1997 gedauert, bis wir die Gewerkschaft        lohn, auch wenn wir vorher zwei Mindestlöhne
      gegründet haben.“                                       verdient haben. Bei anderen Berufsgruppen rich-
      Seitdem hat Fenatrad viel erreicht, mehr als in         tet es sich nach dem vorherigen Verdienst.“ Neben
      vielen anderen lateinamerikanischen Ländern:            dem Arbeitslosengeld sieht die Verfassungsände-
      Bezahlung von Überstunden, arbeitsfreie Sonn-
      und Feiertage, eine Kündigungsfrist von zwei Wo-
      chen, das Recht auf 30 Tage bezahlten Urlaub, 72        „Unsere Verbündeten in diesem gewerk-
      Tage Mutterschutz, das Recht auf Rente und Kün-         schaftlichen Kampf waren vor allem die
      digungsschutz für Schwangere. Creuza Oliveira           sozialen Bewegungen.“
      sieht die gesetzlichen Bestimmungen eindeutig
      als Fortschritt, auch wenn sie oft missachtet oder
      nicht eingefordert werden: „Unsere Verbündeten          rung 72 auch eine gesetzliche Unfallversicherung,
      in diesem gewerkschaftlichen Kampf waren vor            eine Nachtzulage und einen Arbeitgeberanteil zur
      allem die sozialen Bewegungen, aber auch die            staatlichen Rentenversicherung vor. Schwierig
      Regierungen von Lula und Dilma haben für Fort-          bleibt die Gesetzeslage auch für die gewerkschaft-
      schritte gesorgt. Die anderen Gewerkschaften            liche Arbeit: Bei anderen Berufsgruppen wird der
      unterstützen uns eher symbolisch.“ Fenatrad ist         Gewerkschaftsbeitrag einmal im Jahr von den
      an den größten gewerkschaftlichen Dachverband           Arbeitgeber*innen vom Gehalt abgezogen und
      Brasiliens, die CUT, angegliedert, aber diese setzt     an die Gewerkschaft abgeführt. Fenatrad ist auf
      sich zum Beispiel nicht für die internationale ILO-     freiwillige Monatsbeiträge der Hausangestellten
      Konvention für Hausangestellte ein (siehe LN            angewiesen. Im August führte die Gewerkschaft
      447/448). „Viele Gewerkschafter sehen uns nicht         dazu Gespräche mit dem Sekretariat für Frau-
      als Arbeitnehmerinnen, sondern eher als Selbst-         enpolitik im Präsidentenamt, um eine Anhörung
      ständige. Und eine besondere Aufgabe liegt im-          der Präsidentin zu erreichen. „Es kann nicht sein,
      mer noch darin, den Hausangestellten ihre Rech-         dass wir die Arbeit von Fenatrad mit Verlosungen
      te bewusst zu machen. Oft identifizieren sie sich        und Solidaritäts-Essen finanzieren müssen. Auch
      mit der Familie, haben sogar Mitleid, wenn diese        wenn die internationale Kooperation Projekte von
      sagt, dass sie nicht mehr zahlen kann oder sie          Fenatrad finanziert, brauchen wir reguläre Einnah-
      mehr arbeiten müssen“, so Creuza Olivera.               men wie andere Gewerkschaften auch.“
      Seit 2013 wird in Brasilien über die „Emenda            In den sozialen Medien werden die neuen Be-
      Constitucional 72“ diskutiert, eine Änderung der        stimmungen ab Oktober bereits heiß diskutiert.
      in der Verfassung garantierten Arbeitsrechte zu-        Es gibt Tipps, wie man sich gesetzeskonform
                                                              verhält und wie man trotzdem die Bestimmun-
                                                              gen möglichst umgehen kann. Arbeitgeber*innen
      „Es kann nicht sein, dass wir die Arbeit                klagen, dass sie sich „ihre Hausangestellte“ nicht
      von Fenatrad mit Verlosungen und Soli-                  mehr leisten könnten. Konservative Medien war-
      daritäts-Essen finanzieren müssen.“                      nen vor Massenentlassungen. „Ich denke, es
                                                              wird so sein wie bisher, wenn es Verbesserungen
                                                              für die Hausangestellten gab“, kommentiert Creu-
      gunsten der Hausangestellten, da für sie diese          za Oliveira die Debatten. „Am Anfang werden sie
      bisher nur teilweise gelten. Nachdem das Gesetz         maulen und schimpfen. Vielleicht wird die Anzahl
      im Kongress und im Senat verabschiedet wurde,           der Hausangestellten, die tageweise eingestellt
      unterzeichnete es Präsidentin Dilma Rousseff am         und bezahlt werden, auch zunehmen. Aber es
      1. Juni 2015. Im Oktober 2015 tritt es in Kraft. Auch   gibt viele, die auf tägliche Hilfe angewiesen sind,
      dieses Gesetz sieht die Präsidentin der Hausan-         zum Beispiel weil sie arbeiten und kleine Kinder
      gestelltengewerkschaft als Fortschritt, auch wenn       haben. Mit der Zeit wird sich der Staub legen und
      sie einräumt: „Es hätte besser sein können. Was         sie werden uns weiterhin beschäftigen. Und bei
      wir nicht erreicht haben, ist eine wirkliche Gleich-    aller Kritik sind die gesetzlichen Neuregelungen
      stellung mit anderen Arbeitnehmern. Sie erhalten        für uns ein Fortschritt.“
      fünf Monate Arbeitslosengeld, wir nur drei. Unser                                            // Claudia Fix

16   LN-Dossier 12
„SOLIDARITÄTSARBEIT LÄUFT NICHT
MEHR AUF EINER EINBAHNSTRASSE“
INTERVIEW MIT DREI GEWERKSCHAFTER*INNEN ZUR GEWERKSCHAFTLICHEN SOLIDARITÄT
AN DER BASIS ZWISCHEN MANNHEIM UND SÃO PAULO

    Die Gewerkschafter*innen Fritz Stahl, Ange-
    la Hidding und Fritz Hofmann aus Mannheim
    organisieren seit 1984 den solidarischen Aus-
    tausch mit Kolleg*innen, die in der größten
    Industrieregion Brasiliens gewerkschaftlich
    aktiv sind. Im Gespräch mit den LN berichten
    sie vom Beginn dieses gewerkschaftlichen

                                                                                                        Fotos: privat
    Austausches von unten und resümmieren,
    was man aus der Geschichte dieser transat-
    lantischen Solidarität lernen kann.
                                                            In den 80ern bei MBB Anfänge der basisgewerk-
    Seit mehr als 30 Jahren praktizieren Sie ge-         schaftlichen Solidarität auf dem Firmenparkplatz
    werkschaftliche Solidarität an der Basis zwi-
    schen Mannheim und der brasilianischen
    ABC-Region (der wichtigsten Industrieregion          Von Anfang an wurde versucht, eine Vernetzung
    Brasiliens, bestehend aus den Städten Santo          mit anderen Betrieben und mit dem Internatio-
    André (A), São Bernardo do Campo (B) und             nalen Bildungswerk TIE Offenbach aufzubauen.
    São Caetano do Sul (C), Anm. der Redaktion).         Eine dauerhafte Verbindung wurde mit einigen
    Wie kam es dazu?                                     Kolleg*innen der BASF Ludwigshafen hergestellt.
    Ausgangspunkt war eine Initiative in Brasilien.      Dort war es ebenfalls – einige Jahre später als im
    Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen aus          Metallbereich – gelungen, anhaltende Kontakte
    den drei großen Automobilfirmen General Motors,       zu Gewerkschaftskolleg*innen in brasilianischen
    Volkswagen und Mercedes organisierten 1984           BASF-Werken aufzubauen. Wir bekamen lebhaf-
    mit Hilfe kirchlicher Organisationen einen Besuch    te Unterstützung von Brasilianer*innen, die in
    bei den Standorten der Muttergesellschaften in       Deutschland wohnten und von jungen Leuten mit
    Deutschland, unter anderem in Mannheim. Es           professioneller Sprachkenntnis.
    gab einen intensive Austausch in den Betrieben
    und mit gewerkschaftlichen Gremien. Im Folge-        Wie hat sich die basisgewerkschaftliche Soli-
    jahr starteten wir einen Gegenbesuch. Daraus         darität zwischen Mannheim und der ABC-Re-
    entstand in Mannheim neben anderen internati-        gion entwickelt? Gab es Phasen stärkerer und
    onalen Solidaritätsgruppen der „Arbeitskreis So-     schwächerer Intensität?
    lidarität mit Brasilianischen Gewerkschaften“, der   Von Anfang an war die direkte Begegnung vor Ort
    sich dem DGB Mannheim anschloss. Kolleg*innen        das entscheidende Element von gewerkschaftli-
    von Mercedes, die an Brasilien interessiert waren,   cher Solidarität: Sehen wie die Kolleg*innen im
    schlossen sich zusammen und entwickelten viel-       anderen Land arbeiten, wie sie wohnen, wie sie
    seitige Aktivitäten: Beispielsweise den Kontakt      kämpfen. Das brachte uns näher. Wir verstanden
    aufrechterhalten, gegenseitige Unterstützung         uns, lernten uns kennen und schätzen. In den ers-
    organisieren, Informationen verbreiten und so        ten 20 Jahren war fast jährlich eine Gruppe aus
    weiter. Diesen persönlichen Initiativcharakter hat   deutschen Betrieben in Brasilien oder eine brasili-
    der Arbeitskreis in all den Jahren durchgehalten.    anische Gruppe in deutschen Werken unterwegs.

                                                                                                LN-Dossier 12           17
FRITZ STAHL, ANGELA HIDDING UND FRITZ HOFMANN
      Fritz Stahl (Jahrgang 1934) und Angela Hidding (Jahrgang 1947) leben seit vielen Jahren in Mannheim
      zusammen. Sie haben dort beide lange Zeit bei Mercedes Benz gearbeitet. Angela war Betriebsrätin,
      Fritz war Lager- und Transportarbeiter sowie Vertrauensmann. Seit 1984 sind beide Mitglieder im „Ar-
      beitskreis Solidarität mit Brasilianischen Gewerkschaften“ und haben die im Interview beschriebenen
      Aktivitäten vorangetrieben.
      Fritz Hofmann, Jahrgang 1952, Chemiearbeiter, später Betriebsrat bei BASF, war 1990 erstmals in Bra-
      silien im Rahmen eines Basisaustauschs von Beschäftigten multinationaler Chemiekonzerne. Danach
      war er an mehreren Austauschen, Besuchen und Gegenbesuchen beteiligt. Fritz arbeitet mit am 1999
      gegründeten „Arbeitnehmer-Netzwerk von BASF-Beschäftigten Südamerikas“.

      Dabei ging der Blick auch über die betriebliche     schäftigten bei Mercedes Benz“ gegründet, zur
      Situation hinaus: Soziale Bewegungen in Brasili-    gleichen Zeit wurde Valter Sanches, Mitarbeiter
      en weiteten den Blick der Deutschen, Besuche        von Mercedes in Brasilien, in den Aufsichtsrat der
      wichtiger Plätze aus der deutschen Geschichte       Firma gewählt. Informationsaustausch gibt es so
      den der Brasilianer*innen.                          auch auf der höheren Ebene, nicht nur durch den
      Der Arbeitskreis fasste auch in der gewerkschaft-   Austausch an der Basis. Solche internationale Ge-
      lichen Bildungsarbeit Fuß. Dadurch gelang es, die   werkschaftsarbeit kann durch pragmatische, also
      Öffentlichkeitsarbeit in die Gewerkschaft hinein    eine an den betrieblichen Erfordernissen ausge-
      wesentlich zu erweitern. In Seminaren für Ver-      richtete Basisarbeit die Arbeit der Betriebsräte
      trauensleute kann regelmäßig über die Erfahrun-     hervorragend ergänzen. Entsprechende Netzwer-
      gen der Gruppe berichtet werden und so das Be-      ke sind auf Vertrauen aufgebaut und so können
      wusstsein für die Notwendigkeit internationaler     sie Impulse setzen.
      Solidaritätsarbeit gestärkt werden. Natürlich ha-
      ben wir keine Massenbewegung ausgelöst. Das         Wie gelang es, den Austausch beidseitig und
      Auf und Ab solcher Arbeit hängt immer auch von      gleichberechtigt auf Augenhöhe zu organisie-
      Initiativen einzelner Personen ab.                  ren?
      Am Anfang hatte der Arbeitskreis eine Art Mo-       Anfangs gab es noch eine Art Gefälle von Deutsch-
      nopolstellung, was die gegenseitige Information     land nach Brasilien, nach dem Motto: „Wir müssen
      anbelangte. Mittlerweile hat sich eine internati-   denen helfen!“ Aber die Globalisierung der Un-
      onale gewerkschaftliche Zusammenarbeit auch         ternehmensstrategie hat dazu geführt, dass die
      auf institutioneller Ebene herausgebildet. Aber     gewerkschaftlichen Vertretungen gleichartigen He-
      die Bedeutung der Arbeit hält weiter an. In den     rausforderungen begegnen. Solidaritätsarbeit läuft
      1990er Jahren wurde das „Weltkomitee der Be-        schon lange nicht mehr auf einer Einbahnstraße.

18   LN-Dossier 12
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