KÄMPFERISCH KORRUPT KRIMINALISIERT // - GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA - Lateinamerika Nachrichten
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LN-Dossier 12 // September/Oktober 2015 KÄMPFERISCH KORRUPT KRIMINALISIERT // GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA
KÄMPFERISCH, KORRUPT, KRIMINALISIERT GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA Foto: Simon Zamora Martin Liveübertragung In unserem Dossier sprechen wir mit Gewerkschafter*innen über ihre Kämpfe 4 Kämpferisch, korrupt, kriminalisiert // Martínez von der Arbeitsgenossenschaft Ein Dossier der LN über Gewerkschaften Textiles Pigüé in Lateinamerika 30 „Entscheidend für die Unterstützung 7 Staatsfeind Nr. 1 // Die Lehrer*innen- ist die Mobilisierung“ // Über Beleg- gewerkschaft CNTE ist Zielscheibe staatli- schaftsübernahmen insolventer Unterneh- cher Repression in Mexiko men 11 „Narcos haben ein besseres Image als 32 „Wie von einem Löwen zu verlangen, wir“ // Interview über die Rechte der Me- vegetarisch zu leben“ // Interview über tro-Fahrkartenverkäufer*innen in Mexiko- den Kampf um Arbeitsbedingungen in der Stadt zentralamerikanischen Textilindustrie 14 „Sie gehört doch zur Familie!“ // Die 36 „An unserem Widerstand haben Gewerkschaft Fenatrad kämpft für die sie sich die Zähne ausgebissen“ // Rechte der Hausangestellten in Brasilien Interview mit María Miranda und Liroy 17 „Solidaritätsarbeit läuft nicht mehr Pérez Pérez von der Hafengewerkschaft auf einer Einbahnstraße“ // Interview Sintrajap zur gewerkschaftlichen Solidarität zwi- 39 „Der internationale Druck war am schen Mannheim und São Paulo erfolgreichsten“ // Interview mit dem 20 Das Heft in der Hand // Arbeiter*innen kolumbianischen Gewerkschafter William übernehmen ihre Druckerei Mendoza 27 „Wir haben die Gewerkschaft rausge- 42 Es geht auch ohne Chef // Ein Sam- schmissen“ // Interview mit Francisco melband erzählt die Geschichten von Betriebsbesetzungen in Argentinien
KÄMPFERISCH, KORRUPT, KRIMINALISIERT EIN DOSSIER DER LN ÜBER GEWERKSCHAFTEN IN LATEINAMERIKA „Kämpferisch“, „korrupt“, „kriminalisiert“ – mit Mit dem vorliegende Dossier wollen wir uns mit solch widersprüchlichen Attributen wurden und dem aktuellen Zustand von Gewerkschaftsarbeit werden Gewerkschaften in Lateinamerika häu- in Lateinamerika beschäftigen. Wie bewegen sich fig beschrieben. Gewerkschaften sind kämpfe- die Gewerkschaften in dem geschilderten Span- risch, sie vertreten die Interessen lohnabhängiger nungsfeld? Dabei wollen wir eine kritisch-solida- Arbeiter*innen. Aus traditioneller linker Perspektive rische Haltung zu Gewerkschaften einnehmen. gelten sie als notwendige Organisationsform der Arbeiter*innenklasse, um sich gegen die Ausbeu- tung der kapitalistischen Wertschöpfung zu weh- Was geschieht, wenn die Arbeiter*innen ren. Aus der Selbstorganisation der Arbeiter*innen selbst die Kontrolle im Betrieb überneh- zur Verteidigung ihrer Interessen erhoff(t)en sich men? diverse linke Denker*innen die Entwicklung der Arbeiter*innenklasse von der Klasse an sich zu ei- ner Klasse für sich, die bewusst die Überwindung Das bedeutet für uns, dass die gegen sie vorge- des Kapitalismus anstrebe. Gewerkschaften haben brachte Kritik immer abgewogen werden muss: durchaus progressives Potential. Wann handelt es sich um berechtigte Kritik an Allerdings darf man auch nicht die Augen vor der Fehlentwicklungen, wann handelt es sich um be- allzu häufig weniger progressiven Realität gewerk- wusste Diffamierung, um die Selbstorganisation schaftlicher Organisationsformen verschließen. von Arbeiter*innen zu schwächen? Insbesondere in der Geschichte Lateinamerikas Hintergrund für unser Dossier ist auch die verän- versuch(t)en diverse links- und rechtspopulisti- derte politische Lage in Lateinamerika. Im vergan- sche autoritäre Regierungen, Gewerkschaften für genen Jahrzehnt haben in vielen Ländern der Re- ihre eigenen Herrschaftsprojekte zu instrumenta- gion linksorientierte Politiker*innen die Regierung übernommen. Zu einem nicht unerheblichen Teil basierten deren Wahlerfolge auf ihrem Rückhalt Wie sehen die aktuellen Kämpfe und bei sozialen Bewegungen und linken Organisatio- Konflikte gewerkschaftlicher Arbeit in nen, nicht zuletzt auch Gewerkschaften. Konnten Lateinamerika aus? die Gewerkschaften ihrem prophezeiten Bedeu- tungsverlust nach den neoliberalen Reformen der 1980er und 1990er Jahre erfolgreich entgegentre- lisieren und die Arbeiter*innen zu kooptieren. Zur ten? In dem Dossier möchten wir der Frage nach- Zeit der Militärdiktaturen wurden sie aber auch gehen, wie viel gesellschaftlichen Wandel die Ge- verboten und brutal verfolgt. Es gilt zu berück- werkschaften beim Thema Arbeit erreicht haben sichtigen, dass Gewerkschaften auch bewusst und wofür sie aktuell kämpfen müssen. als „korrupt”, „mafiös” oder gar „terroristisch” Natürlich können wir nicht alle Aspekte dieses verunglimpft werden, um sie zu kriminalisieren. Themas behandeln. Wir möchten deshalb schlag- Derartige Kampagnen gehen dann bisweilen von lichtartig einige Aspekte gewerkschaftlicher unternehmernahen Lobbygruppen aus, wie hier Kämpfe in Lateinamerika vorstellen. Anhand ein- etwa von Mexicanos Primero gegen die kämp- zelner Beispiele wollen wir ihre Vielfalt und Kon- ferische Lehrer*innengewerkschaft CNTE (siehe flikte veranschaulichen. Unser Anspruch ist es Artikel ab Seite 6). dabei, nicht mit „eurozentrischem“, gar besser- 4 LN-Dossier 12
wisserischem Blick über die Gewerkschaftsbewe- Wir sprechen mit den Protagonist*innen, die die- gungen zu urteilen. Stattdessen möchten wir mit se Kooperation in den 1980er Jahren begründet unserem solidarisch-kritischen Ansatz viele unter- haben (Seite 17). schiedliche Stimmen, Meinungen und Positionen Doch was geschieht, wenn die Arbeiter*innen zu Wort kommen lassen und die regionalen Kon- selbst die Kontrolle im Betrieb übernehmen? Ins- texte beachten. Aus diesem Grund finden sich in besondere in Argentinien haben Arbeiter*innen diesem Dossier besonders viele Interviews, in zahlreiche Betriebe, die nach der Wirtschaftskrise denen mutige Gewerkschafter*innen von ihren Kämpfen berichten. Verschiedenen Fragen sind wir dabei nachgegan- Welche Rolle spielen Diskriminierungen gen: Wie steht es mit der transnationalen Vernet- aufgrund von Geschlecht im Arbeits- zung von lateinamerikanischen Gewerkschaften kampf? mit Kolleg*innen in anderen Regionen? Welche Rolle spielen Diskriminierungen aufgrund von Ge- schlecht im Arbeitskampf? Bei der Untersuchung 2001 von der Schließung bedroht waren, besetzt dieser Leitfragen wollen wir immer im Blick be- und führen sie in Eigenregie weiter. In einer Re- halten, wie lateinamerikanische Gewerkschaften portage schildern wir den Alltag in einem solchen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung Betrieb (Seite 20), in einem Interview kommt ein zu überwinden helfen können. Protagonist dieser Bewegung zu Wort (Seite 27). In einem Artikel stellen wir die bereits erwähnte Zudem sprechen mit einem Wissenschaftler, der Lehrer*innengewerkschaft CNTE aus dem mexi- sich mit diesem Phänomen, das längst in meh- kanischen Budnesstaat Oaxaca und ihre aktuellen reren Ländern des Cono Sur Früchte zu tragen Kämpfe vor. An diesem Beispiel wird besonders beginnt (Seite 30). Auch ein Buch zur Betriebsbe- deutlich, wie Gewerkschaften einerseits selbst setzung in Argentinien wird vorgestellt, sodass enorme interne Widersprüche aufweisen, aber Leser*innen Thema gegebenenfalls vertiefen auch immer wieder von Repression und Kriminali- können. sierung bedroht werden (Seite 6). In drei weiteren Interviews schildern Gewerk- In einem Interview berichtet Nélida Reyes Guz- schafter*innen und Arbeitsrechtler*innen die mán von einer Frauengewerkschaft der U-Bahn aktuellen Arbeitskämpfe, die Arbeiter*innen in von Mexiko-Stadt, die sich gegen Korruption Lateinamerika derzeit austragen. Der Arbeits- und machistische Machtstrukturen innerhalb der rechtler Sergio Chávez erklärt, mit welchen Pro- Hauptgewerkschaft zur Wehr setzen (Seite 11). blemen Maquila-Arbeiter*innen in der Textilin- Um – ebenfalls meist weibliche – Hausangestell- dustrie Zentralamerikas konfrontiert sind (Seite te in Brasilien geht es in einem weiteren Arti- 32). Maria Miranda und Liroy Pérez Pérez von der kel. Nicht zuletzt wegen der langen Geschichte costa-ricanischen Hafengewerkschaft Sintrajap der Sklaverei in Brasilien leben Hausangestellte berichten von der Repression gewerkschaftlicher meist im Haus ihrer Dienstherr*innen und sind Organisation in der vermeintlichen „Schweiz Zen- oft besonders stark von einer dreifachen Dis- tralamerikas” (Seite 36). William Mendoza berich- kriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer tet von den Kämpfen der kolumbianischen Le- Klasse und ihrer Ethnizität betroffen. Sexuelle bensmittelgewerkschaft Sinaltrainal, die sich für Gewalt gegen sie ist weit verbreitet und wird menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei Coca häufig bagatellisiert. Wir zeigen, wie es um die Cola einsetzt, wobei mehrere Kolleg*innen der gewerkschaftliche Organisation von Hausange- Gewerkschaft bereits von Paramilitärs ermordet stellten steht und wie sie sich gegen Ausbeutung wurden (Seite 39). wehren (Seite 15). Der gefährlicher Einsatz der hier vorgestellten Welche Bedeutung internationale Kooperation für Gewerkschafter*innen für grundlegende Arbeits- gewerkschaftliche Arbeit bedeutet, und was aus rechte, ihr Widerstand gegen Repressionen spie- ihr gelernt werden kann, verdeutlicht das Beispiel geln die Brutalität kapitalistischer Ausbeutung wie- einer nunmehr 30-jährigen Partnerschaft zwi- der. Doch ihre Kämpfe inspirieren und ermutigen schen Gewerkschafter*innen in Mannheim und auch dazu, diese Zustände nicht hinzunehmen. in der ABC-Industrieregion in São Paulo, Brasilien. // LN LN-Dossier 12 5
6 Foto: Eneas De Troya, CC BY 2.0 LN-Dossier 12
STAATSFEIND NR. 1 DIE LEHRER*INNENGEWERKSCHAFT CNTE IST ZIELSCHEIBE STAATLICHER DISKREDITIERUNG UND REPRESSION IN MEXIKO Die CNTE, die oppositionelle Strömung der der Regierung. Es ist Teil der großen Bildungs- mexikanischen Lehrer*innengewerkschaft reform, die nach der dafür notwendigen Ände- SNTE, weist zahlreiche interne Widersprü- rung der Verfassung 2014 vom mexikanischen che auf. Dennoch ist sie die gesellschaft- Bundesparlament beschlossen wurde (siehe LN liche Speerspitze gegen neoliberale Re- 469/470). formen und Verteidigerin der Rechte der Seither befindet sich ein Teil der Nationalen Ge- armen Bevölkerung, besonders die Sektion werkschaft der Erziehungsarbeiter SNTE, mit 22 im Bundesstaat Oaxaca. Seit der Verab- über einer Millionen Mitgliedern die größte Ge- schiedung der Bildungsreform steht sie be- werkschaft Lateinamerikas, in Dauermobilisie- sonders unter Druck. rung gegen die Reformmaßnahmen. Bei diesem Teil handelt es um die CNTE, die oppositionel- „Sie haben uns behandelt wie den letzten Dreck”, len Strömung innerhalb der SNTE, welche rund ruft die Sekretärin Itandehui N. empört. So schil- 200.000 Lehrer*innen vertritt. 1979 gegründet, dert sie den Lateinamerika Nachrichten, wie repräsentiert sie den Teil des Lehrpersonals, das sie tags zuvor, am 17. August, im Staatlichen die korporativistische Anbindung an die Revoluti- Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO ihren letzten onäre Institutionelle Partei (PRI) – über 70 Jahre Arbeitstag hatte. Vor dem Gebäude des IEE- quasi Staatspartei – und die antidemokratischen, PO stehen seit einem Monat mehrere hundert korrupten Strukturen des SNTE nicht hinnehmen Polizist*innen in Kampfmontur Wache, seit die wollte. Ihre Mitglieder pflegen meist ein klas- Regierung beschloss, die Macht der unbeque- senkämpferisches Vokabular, viele der lokalen men Lehrer*innengewerkschaft in Oaxaca mit Untergruppen haben einen zapatistischen, ma- militärischen Mitteln zu brechen. Als „Blitzkrieg oistischen, sozialistischen oder sogar offen stali- gegen die Lehrer“ bezeichnete der bekannte nistischen Hintergrund. Besonders in ländlichen Journalist Luis Hernández das Regierungshan- Regionen mit niedrigem Bildungsgrad gelten die deln. „Bei jedem Arbeitsplatz war ein Notar, die Lehrer*innen traditionell als lokale Autoritäten, die 800 in der Lehrergewerkschaft organisierten es auch als ihre Aufgabe sehen, die Bevölkerung Mitarbeiter*innen mussten ihren Schreibtisch vor den Begehrlichkeiten des Staats und der mit unter genauester Aufsicht räumen. Der Notar be- ihm verbundenen wirtschaftlichen Eliten zu schüt- gutachtete jedes Blatt, jeden Kugelschreiber, und zen. So ist die CNTE vor allem in den südlichen, entschied, ob es ein persönlicher Gegenstand sei extrem armen, indigen geprägten Bundesstaa- oder der Institution gehöre. „Mehrere Kollegen ten wie Chiapas, Guerrero oder Michoacán stark und Kolleginnen ertrugen diese despotische Be- vertreten. Und in Oaxaca, wo die lokale Sektion handlung nicht und erlitten Nervenzusammenbrü- 22 mit einer Mitgliederzahl zwischen 75.000 und che”, so Itandehui. Das Verwaltungspersonal wird 83.000 (genaue offizielle Zahlen gibt es nicht) die ab Schuljahresbeginn in Schulen eingesetzt. Kein größte organisierte gesellschaftliche Gegenmacht gewerkschaftlich organisiertes Personal soll mehr zum Staat darstellt und ihr Mobilisierungspotenzi- in der Verwaltung, keine Lehrperson hauptamtlich al immer wieder beweist, nicht nur bei Bildungs- in der Gewerkschaft tätig sein, so das Vorhaben themen. Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxaca so sehr wie das der maestros. Auf allen Kanälen Presente! werden die Lehrer*innen beschimpft und als CNTE-Demo in Mexiko-Stadt „faule Dauerdemonstranten“ denunziert, die LN-Dossier 12 7
das Wohl der Schüler*innen ihren Eigeninteres- schafterin zu finden. Auch Korruption, Vetternwirt- sen unterordneten. Die Sektion 22 wird als „kor- schaft, insbesondere das Vererben von Arbeits- rupt”, „mafiös”, „Organisierte Kriminalität” oder stellen an die eigenen Kinder, sind Kritikpunkte. rundweg „terroristisch” bezeichnet, ihr müsse Zudem ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft endlich der Garaus gemacht werden, predigen nicht freiwillig, und die Teilnahme an den Pro- die Leit- und Lokalmedien seit Jahren. Die Kam- testaktionen, welche in der Vollversammlung pagne ist orchestriert von der unternehmernahen der Delegierten beschlossen werden, wird per Lobbyvereinigung Mexicanos Primero. Deren Re- Namensliste nachgeprüft. Die Gewerkschaft ver- formvorschläge waren Blaupause für die Verfas- fügte bis zur Bildungsreform dabei über profunde Sanktionsmittel gegenüber Unwilligen, denn die Auszahlung der Gehälter erfolgte über die Ge- Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxa- werkschaft, Strafversetzungen fernab der Familie ca so sehr wie das der maestros. waren keine Seltenheit. Bei aller berechtigten Kri- tik darf allerdings nicht vergessen werden, dass diese Missstände auch in regierungstreuen, nach sungsreform im Bildungswesen, einige Passagen altem korporativistischen Muster organisierten wurden gar wortwörtlich übernommen. Dagegen Berufsverbänden Mexikos Standard sind. Immer- halten die Lehrer*innen – und in sozusagen jeder hin sind Spitzenämter zeitlich begrenzt, das Füh- größeren Familie Oaxacas ist dieser Berufsstand rungspersonal kann per Versammlung abgewählt vertreten – ihr aufopferndes Engagement für die werden, wovon die Basis zuletzt Anfang Septem- zukünftigen Generationen. Oft sind die Arbeitsbe- ber Gebrauch machte. dingungen alles andere als einfach. Stundenlange Was die Bevölkerung in Oaxaca angeblich am Anreise für Lehrpersonal und Kinder, fehlende meisten gegen die Lehrer*innen aufbringt, sind Lehrmittel und prekäre Einrichtungen, Unter- und die vielen Schultage, welche durch die Streiks Fehlernährung sind nur einige Stichworte. Die und Protestaktionen verloren gehen. Nicht zuletzt Gewerkschaft hat mit ihren regelmäßigen Streiks sind die oft kurzfristig einberufenen schulfreien und Blockaden eine Reihe von Verbesserungen Tage für arbeitende Eltern eine logistische Her- erzwungen, auch aber nicht nur für die Lehrkräfte: ausforderung. Mexicanos Primero hat vorgerech- Die obligatorischen Schuluniformen sind gratis, in net, dass in den letzten 21 Jahren drei komplette vielen Schulen ermöglicht ein bescheidenes Früh- Schuljahre in Oaxaca verloren gegangen seien. stück erst das Lernen der Kinder, die kulturelle Das Recht der Kinder auf Ausbildung sei priori- Vielfalt wird in den Lehrplan einbezogen. tär, aber der Lehrer*innengewerkschaft gehe es Für ihr Engagement und ihren Aktivismus muss- in keiner Weise um Pädagogik, sondern nur um ten und müssen die Lehrer*innen oft teuer be- ihre Privilegien, so der Tenor. Die Lehrerin Vicky zahlen. Polizei und regierungsnahe bewaffnete N., tätig in einer verarmten Vorortsgemeinde von Gruppen gehen häufig mit brutaler Gewalt ge- Oaxaca-Stadt, schildert die Beziehungen zu den gen sie vor. Verprügelte oder festgenommene Eltern dagegen ganz anders: „Wir informieren Lehrer*innen gibt es quasi monatlich, auch Tote in Elternversammlungen über die anstehenden gab es in den letzten Jahren immer wieder. Pro- Mobilisierungen, erklären ihnen die legitimen For- minentes Beispiel dafür sind die 43 „verschwun- derungen der Gewerkschaft und verhandeln an- denen“ Lehramtsstudenten in Guerrero, die der schließend mit ihnen, wann wir alle Schulstunden CNTE nahe standen – genauso hätte dies in Oa- nachholen, sei dies nachmittags, an Samstagen xaca passieren können. oder an Ferientagen. Es kommt auch vor, dass wir Wenn die Kampagne der Regierung trotzdem teil- Lehrkräfte uns zwischen Mobilisierung und Unter- weise verfängt, dann hat das auch mit berechtig- richt abwechseln, einander aushelfen. So haben ten Kritiken zu tun, auf welche die Gewerkschaft wir bisher immer ein gutes Einvernehmen mit ungenügend oder gar nicht reagiert. Besonders, den Eltern erzielt”. wenn es um den Machismo: Obwohl zwei Drittel Bei allen Gesprächen mit Eltern oder mit der Lehrkräfte Frauen sind, ist der Generalsek- Lehrer*innen ist unbestritten, dass der Staat retär der CNTE immer ein Mann, und nur in den seiner Verantwortung nicht nachkommt und die mittleren Kadern ist die eine oder andere Gewerk- Schulen über ungenügende Mittel verfügen, um 8 LN-Dossier 12
Foto: Patricia Castellanos Militarisiert Soldaten sichern das Staatli- che Bildungsinstitut Oaxaca den Kindern eine vernünftige Bildung zu ermögli- beitet und diese im Plan zur Transformation der chen. Andererseits meint der Großteil aber auch, Bildung Oaxacas (PTEO) zusammengefasst. Da- dass die vorherrschenden pädagogischen Kon- bei geht es kurz gesagt darum, in der Schule der zepte der Lehrer*innen veraltet und sich viele kulturellen Vielfalt und den sozioökonomischen Kampfformen der Gewerkschaft überlebt haben. Herausforderungen in dem bäuerlich und indigen Die gewaltsame Entkoppelung von Bildungsinsti- geprägten Bundesstaat gerecht zu werden. Denn tut und Sektion 22, so sehr auch die Kritik an der Verkehrsampel-Aufgaben in mexikoweit standar- Methode berechtigt ist, wird zeigen, wie viele der disierten Evaluationen machen in Gemeinden oh- Lehrer*innen tatsächlich aktiv ihre Gewerkschaft ne Straßen für die Schüler*innen nun mal keinen unterstützen. Der bürokratische Gewerkschafts- Sinn, ebenso wenig wie höhere Algebra bei knur- apparat wird durchgeschüttelt, was hoffentlich zu rendem Magen. neuen, kreativeren Aktionen beiträgt. Die Gefahr Dass es auch anders geht, zeigt die Umsetzung ist jedoch groß, dass die momentane Lähmung des PTEO in der ländlichen Gemeinde San Pedro der Gewerkschaft Stück für Stück ausgenutzt Amuzgos. Elena Tapia Vásquez, lokale Vertreterin wird, um die Lehrer*innen immer weiter in das der Menschenrechtsorganisation CODIGO DH, neoliberale Leistungsmodell zu zwängen. Dazu schildert die Präsentation der Arbeiten in der Se- gehören repressive Evaluationen (bei schlechtem kundarschule am Ende des Schuljahrs 2014/15: Abschneiden droht Stellenverlust), Lohnabzug bei „Die Jugendlichen arbeiteten in Projektgruppen Streiktagen und drohende Kündigung nach dreitä- zum Thema Wertschätzung der Sprache und Kul- gigem Fehlen. Ob diese Zwangsformen zu einer tur der Amuzgo-Indigenen. Dazu studierten sie besseren Qualität der Schulbildung beitragen, ist drei Monaten lang unter anderem die Themen tra- zweifelhaft. Anlässlich der Einweihungszeremo- ditionelle Architektur, Kaffee-Anbau, Baumwolle nie des neuen Schuljahrs Ende August 2015 un- und deren Verarbeitung an den Webstühlen. Das terbrach die Lehrerin und „stolze Gewerkschafte- Weberei-Projekt wurde vom Mathematiklehrer rin” Anabel Aguilar Ibáñez Oaxacas Gouverneur angeleitet, denn Webtechnik ist pure Mathema- Gabino Cué mit den Worten: „Was wir brauchen, tik. Die Ergebnisse wurden vor der versammelten ist eine wirkliche Bildungsreform, nicht eine Ar- Gemeinde vorgetragen. Auch kombinieren heute beitsreform!” konsequenterweise die Schülerinnen die Schul- Anders als vom Staat und staatsnahen Medien uniform mit dem huipil, der traditionellen Tracht. behauptet, setzt die CNTE nicht nur auf Abwehr- Diese alternativen Unterrichtsformen seien nicht maßnahmen, sondern beteiligt sich durchaus konfliktfrei eingeführt worden, meint Elena Tapia. konstruktiv. Zum Kern des Problems, der Bildung, Viele Eltern sähen darin einen puren Zeitverlust, hat die Gewerkschaft in 37 partizipativen Regio- das klassische Lesen, Rechnen und Auswendig- nalforen eine Reihe von Vorschlägen ausgear- lernen von Geschichtsdaten sei ihnen wichtiger. LN-Dossier 12 9
Deshalb müsste im Dialog mit den Eltern ein Foto: Patricia Castellanos Gleichgewicht zwischen dem offiziellen Lehrplan und der alternativen Projektarbeit gefunden wer- den, meint die junge Anwältin. Ganz im Gegensatz zur Umsetzung von neuen pädagogischen Methoden im indigenen Hinter- land hat die militärische Besetzung des IEEPO und dessen Gleichschaltung mit der Bildungs- reform dazu geführt, dass lokale Errungenschaf- ten aus dem Organigramm fielen. Was nicht Teil der Struktur der zentralen Bildungsministeriums ist, wurde über die Sommerferien schlicht abge- schafft. So löste die Regierung beispielsweise das Zentrum für das Studium und die Entwicklung der indigenen Sprachen Oaxacas (CEDELIO) auf. Laut indigenen Lehrkräften und Vertreter*innen des lo- kalen Sekretariats für Indigene Angelegenheiten (SAI) war das CEDELIO während 17 Jahren ein wichtiger pädagogischer Pfeiler für die bilingualen Schulen im Bundesstaat. Gegen diese kulturelle Autonomie, gegen diesen politischen Widerstand setzt die Regierung seit drei Monaten massiv Militär und Polizei ein. Dass es dabei um das Wohl der Jugend geht, mag be- zweifelt werden. Vielmehr ist die Neutralisierung der Gewerkschaftsopposition CNTE ein wichtiger Etappensieg für Präsident Enrique Peña Nieto zur Kontrolle des Bundesstaats. Und da in Oaxaca 2016 Gouverneurswahlen stattfinden, hilft die Prä- senz von über 10.000 Bundespolizist*innen ganz zufällig auch der Repositionierung seiner Partei PRI, welche unbedingt den Bundesstaat zurück- gewinnen will. 2010 verlor die PRI erstmals den Gouverneursposten, sie unterlag einer Allpartei- en-Allianz unter Führung von Gabino Cué. Voraus- gegangen war dieser historischen Niederlage der Unbeliebt Protestaktion gegen Bildungsminister Volksaufstand von 2006. Nach brutaler Repression gegen streikende CNTE-Lehrer*innen solidarisier- ten sich große Teile der Bevölkerung; es entwickel- PRI bereitet sich auf ihre Rückkehr vor, wie immer te sich eine Dynamik, die in der mehrmonatigen mit einer Mischung aus Almosen und Repressi- Vertreibung der Regierung aus der Hauptstadt des on, die die Bevölkerung spalten soll. Andererseits Bundesstaats gipfelte. Unter dem Namen Volks- zeigt die Geschichte Oaxacas, dass die gut orga- versammlung der Völker Oaxacas (APPO) – mit nisierten Lehrer*innen niemals unterschätzt wer- der Sektion 22 als maßgebliche r Stütze – übte den sollten. „Die Lehrer*innen sind ein Faktor zu- sich die Bevölkerung in Selbstorganisation, bis die gunsten der Regierbarkeit im Bundesstaat. Wenn Bundesregierung mit der Entsendung von Bun- sie gedemütigt werden, könnte sich dies ins Ge- despolizei und Militär dem urdemokratischen Ex- genteil wandeln“, kommentierte Luis Hernández periment ein blutiges Ende setzte. Mindestens 25 in der Tageszeitung La Jornada. Der Machtkampf Aktivist*innen wurden ermordet. ist noch nicht entschieden, Oaxaca bleibt ein Pul- Doch die mit viel Hoffnung begleitete politische verfass. Transition unter Cué ist kläglich gescheitert, die // Philipp Gerber 10 LN-Dossier 12
„NARCOS HABEN EIN BESSERES IMAGE ALS WIR“ INTERVIEW MIT NÉLIDA REYES GUZMÁN, DIE SICH SEIT ÜBER 30 JAHREN FÜR DIE RECHTE DER METRO-FAHRKARTENVERKÄUFER*INNEN IN MEXIKO-STADT EINSETZT Sie sind das Gesicht der Metro. Die 2.000 Fahr chen, den Lohn anzugleichen. Denn wir verkaufen kartenverkäufer*innen in der U-Bahn von Me- mittlerweile nicht nur U-Bahn-Fahrkarten, sondern xiko-Stadt bestehen zu über 90 Prozent aus laden auch die Fahrkarten für den Metrobus und Frauen, meist alleinerziehende Mütter. Ihr den Fahrradverleih auf. Aber nichts ist passiert. Arbeitsalltag ist durch schlechte Vertragsbe- Das Schlimmste ist, dass die Gewerkschaft die dingungen, Beschimpfungen der Fahrgäste Kontrolle über unseren Bereich hat. und die Repression seitens des Transportun- ternehmen und der Nationalen Gewerkschaft Wie gelingt ihr das? der Arbeiter des öffentlichen Verkehrssys- Die Gewerkschaft ist mit der Regierungspartei PRI tems (SNTSTC) geprägt. Im Gespräch mit LN verbunden und das stattet sie mit Macht aus. Wir schildert Nélida Reyes Guzmán, wie die offi- kämpfen gegen die Korruption der Gewerkschaft, zielle Gewerkschaft ihren Einsatz für Arbeits- die sich in die Metro eingenistet hat und über rechte und eine gendersensible Perspektive die Besetzung von Arbeitsplätzen alle Bereiche seit Jahrzehnten gewaltsam unterdrückt kontrolliert. Die Fahrkartenverkäuferinnen geben – und warum sie trotzdem weiterkämpft. Fernando Espino politische Unterstützung. Wenn er mobilisiert, gehen sie demonstrieren. Er hält Sie setzen sich seit Jahrzehnten für Arbeits- sie sich mit Versprechen warm. Er bedient sich rechte in der U-Bahn ein. Die Gewerkschaft dabei eines Kodex, der bislang seinen Nutzen er- SNTSTC, die dies eigentlich tun sollte, kriti- füllt. Er definiert die Fahrkartenverkäuferinnen und sieren Sie dabei stark. Welche Rolle spielt die alle anderen Frauen in der U-Bahn als Teil der „Fa- Gewerkschaft? milie Metro“. Die Leute hängen diesem Glauben Wir leiden unter der Gewerkschaft des öffentli- an. Innerhalb einer Familie mag und versteht man chen Verkehrssystems und ihrem Vorsitzenden, sich. Sie sehen sich als Teil einer Organisation, als Fernando Espino Arévalo. Er hat seit 34 Jahren Rechtssubjekte. Das funktioniert auch, weil Espi- das Sagen. Er wurde mittels eines charrazos (di- no Arbeitsplätze an enorm viele Leute vergibt, die rekte Einflussnahme der Regierung auf Personal- ihm nahe stehen: an Bekannte, Freunde und vor entscheidungen der Gewerkschaft, Anm. d. Red.) allem Familienangehörige. Die 22 am besten ver- eingesetzt. Die damalige Regierung der Haupt- güteten Stellen sind durch seine Familienangehö- stadt hatte das mit ihm ausgehandelt, um eine rigen besetzt. Die Gewerkschaftsvertreter nutzen demokratisch legitimierte Gewerkschaft zu zer- auch Vorurteile, die in der Gesellschaft existieren, schlagen. Denn damals gab es eine Gewerkschaft, um unsere Rechte einzuschränken. die Arbeitsrechte gestärkt und viele Fortschritte, wie beispielsweise Darlehen, Kinderbetreuung, Können Sie ein Beispiel geben? zusätzliche Urlaubstage oder die Beschaffung der Einige Arbeiterinnen geben den Fahrgästen zu Arbeitskleidung, erzielt hat. Das passte der Regie- wenig Geld oder Fahrkarten heraus. Sie werden rung nicht und sie unterstützte die gewaltsame nicht bestraft. Warum? Es hat lange gedauert, bis Einsetzung von Espino. Unser Bereich, der Fahr- ich verstanden habe, dass dahinter auch ein poli- kartenverkauf, musste am meisten einstecken. tischer Grund steckt. Auf diese Weise bekommen Er wird seitdem am gewaltvollsten unterdrückt. wir ein Stigma auferlegt. Wenn einige von uns die Beispielsweise wird uns seit zwei Jahren verspro- Kunden betrügen, heißt es schnell, dass wir alle LN-Dossier 12 11
das machen. Dann werden uns auch unsere Rech- Arbeit gekommen zu sein. Dann wurden nach te abgesprochen. Wenn ich die undemokratischen und nach Mitglieder unserer Gruppe entlassen. Strukturen der Gewerkschaft kritisiere, muss ich mir anhören: „Warum forderst gerade Du das ein, Sie haben damals mit einem Hungerstreik die wo Ihr doch korrupt seid und stehlt!“ Im sozialen Wiedereinstellung erlangt. Die Arbeitsbedin- Ansehen haben wir einen schrecklichen Abstieg gungen sind aber nicht besser geworden... hinter uns. Vielleicht genießen Narcos mehr An- Nein, überhaupt nicht. Nach dem Hungerstreik sehen als wir! Sehr wenige können sich vorstel- hat die Gewerkschaft mit Rebeca Hassan Bar- len, dass es unter uns auch Frauen gibt, die für rera eine frauenfeindliche Abteilungsleiterin ein- ihre Rechte und Demokratie kämpfen. gesetzt, die das gewerkschaftliche Patriarchat unterstützt. Sie sanktioniert uns regelmäßig mit Wie geht die SNTSTC mit Angestellten um, Lohnabzug. Deswegen haben wir 2011 bei der die sich nicht unterordnen? Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt Fernando Espino hat stets mit Gewalt und Un- eine Beschwerde eingereicht. terdrückung reagiert. Ich selbst habe das oft er- lebt. 1987 wurde ich zu einer Protestkundgebung Worüber genau haben Sie sich beschwert? eingeladen, auf der die antidemokratischen Ten- Einerseits wollten wir auf die Gewalt durch die denzen in der U-Bahn kritisiert wurden. Kollegen Fahrgäste aufmerksam machen. Zum Beispiel, überredeten mich dort, an einem Gespräch im wenn es kein Wechselgeld gibt. Die Leute rasten Innenministerium teilzunehmen. Ich stolperte aus, beschimpfen uns, manche spucken sogar in regelrecht hinein und betonte mehrmals, dass das Fenster. Anstatt diese Personen zu bestrafen, ich keine Gruppe vertrete. Der Minister und die werden sie umsonst durch das Drehkreuz gelas- Gewerkschaft haben es wohl trotzdem als Angriff sen. Es wurden bereits Kassiererinnen geschla- verstanden. Acht Tage nach dem Gespräch schoss gen, weil sie zur Toilette gegangen sind und die ein Unbekannter durch die Scheibe der Verkaufs- Leute warten mussten. Es gibt keine Toiletten in stelle auf mich. Als ich schon auf dem Boden lag, unserem Verkaufsraum, nur in der neuen U-Bahn- gab er noch zwei Schüsse ab. Im Krankenhaus linie 12 wurden sie eingerichtet. In den anderen mussten mir Glassplitter aus der Haut und den Stationen gibt es nur auf einer Bahnsteigseite To- Augen entfernt werden. Ich habe zwar keine Be- iletten. Nicht immer gibt es eine zweite Verkäufe- lege, habe das aber als politisch motivierten An- rin, dann müssen wir schließen und in zwei, drei schlag auf mein Leben begriffen. So als ob mir Minuten hat sich eine Riesenschlange angestaut. gesagt wird: „Du mobilisierst, hier hast Du die Wenn sich Fahrgäste über uns beschweren, sank- Antwort!“ tioniert die Abteilungsleitung das mit Lohnabzug. Wir werden einbestellt und die leistungsabhän- Sie haben trotzdem weiter gemacht... gigen Anteile des Lohns, gute 2.000 Pesos (105 Einige Fahrkartenverkäuferinnen haben sich in Euro, Anm. d. Red.), werden uns abgezogen. Wir der Koordination der Demokratischen Arbeite- sind ungefähr 2.000 Arbeiterinnen und damit eine rinnen organisiert. Als wir 1989 Faltblätter verteil- riesige Einnahmequelle. Wir haben die Beschwer- ten, kam Fernando Espino mit anderen Gewerk- de aber auch wegen einer weiteren Form des schaftsfunktionären in den Verkaufsbereich. Er Lohnabzugs eingereicht. Abends kommen Prüfe- ordnete an, uns zu schlagen. Eines Tages haben rinnen, um den Tagesumsatz zu zählen. Sehr oft sie uns von der Polizei abführen lassen, weil wir behaupten sie, dass wir Geld unterschlagen ha- angeblich eine Arbeiterin zusammengeschlagen ben. Natürlich können einmal Rechenfehler pas- und bestohlen hatten. Sie führten uns getrennt sieren, aber ich unterschlage nichts. ab, schüchterten uns damit ein, dass wir fünf Jah- re eingesperrt und unsere Familien nicht wieder Hat die Beschwerde etwas bewirkt? sehen würden. Mit Hilfe einer Menschenrechts- Die Menschenrechtskommission hat angemerkt, verteidigerin, die Kontakt zur Staatsanwaltschaft dass uns die Fehlbeträge angelastet werden, oh- hatte, wurden wir freigelassen. Am nächsten Tag ne dass Belege für unsere Schuld existieren. Erst- ließen sie uns die Arbeit nicht antreten und be- mals wurde diese Praxis hinterfragt. Für uns war schuldigten uns, unberechtigterweise nicht zur es schon allein ein großer Erfolg, dass uns jemand 12 LN-Dossier 12
Foto: CMDPDH, Kampagne Haz que se vean NÉLIDA REYES GUZMÁN arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Fahrkartenverkäuferin in der U-Bahn von Mexiko-Stadt. Bereits kurz nach Arbeitseintritt 1983 begann sie, sich für eine Demokratisierung und eine Stärkung von Frauenrech- ten in ihrem Arbeitsumfeld einzusetzen. In der Folge drangsalierten sie ihr Arbeitgeber und die Gewerk- schaft SNTSTC. Sie unterstellten ihr mehrfach, Einnahmen gestohlen zu haben und setzten sie sieben Jahre lang als Urlaubsvertretung ohne feste Arbeitsorte und -zeiten ein. Nélida Reyey engagiert sich in der Gruppe Intersindicalistas, Trabajadoras de taquilla, STC, México, D.F., in der sich Frauen aus verschie- denen Gewerkschaften gegen ihre ökonomische und geschlechtsspezifische Diskriminierung einsetzen. angehört und sich ein eigenes Urteil gebildet hat. puppe in sie hineinsteckt.“ An allen Verkaufsstel- Die einzige Form, gehört zu werden, besteht da- len, Kantinen, Bahnsteigen klebte das. Wir haben rin, das Problem in die Öffentlichkeit zu tragen. mehrere Gewerkschaftsfunktionäre, u.a. Fernando Und zwar an die Institutionen im Menschenrechts- Espino, wegen Diskriminierung und geschlechts- bereich, nicht im Arbeitsrecht. Im Arbeitsministe- spezifischer Gewalt angezeigt. Als wir das sahen, rium gibt es viel Korruption. Es folgten ein Artikel wussten wir, dass sich das letztlich nicht nur gegen in der Wochenzeitschrift Proceso. Dann ein Radio- uns richtet. Das ist das Frauenbild, das in der Ge- interview. Natürlich hat uns das auch viele Nerven werkschaft vorherrscht. Es ist ein Extrembeispiel gekosten. Denn schon vor dem Interview hat mir für die machistische Kultur, die in Feminizide mün- das Unternehmen die Kosten für einen kaputten det. Die Kultur der Erniedrigung der Frau. Ventilator und eine Tastatur von meinem Gehalt abgezogen. Sie waren durch Abnutzung kaputt ge- Hat diese Klage Aussicht auf Erfolg? gangen. In einem Monat wurde ich viermal einbe- Die Klage ist anhängig. Es gab eine Untersuchung stellt, es war ein unglaublicher Druck. Jedes Mal, des Dokuments, weil über das Layout und den wenn es Kontrollen gab, wurde ich sanktioniert. Druck auf den Urheber geschlossen werden kann. Aber nach dem Interview hat der damalige Direk- Die SNTSTC streitet ab, dass ihre Mitglieder ver- tor unserer Koordinatorin Rebeca Hassan Barrera antwortlich sind. Wir wissen aber genau, wer die- gekündigt. Das war eine Erholung für uns! se Art Dokumente veröffentlicht. Den Gutachtern wurde der Zutritt zur Druckerei der Gewerkschaft Wie hat die SNTSTC auf diese Kritik reagiert? verwehrt. Hilfreich ist, dass Fernando Espino in Nach dem Radiointerview ist die SNTSTC in einer den Wahlen 2015 eine Niederlage einstecken Publikation auf unglaublich vulgäre Weise über musste. Im September wird er dadurch seine meine Mitstreiterinnen und mich hergezogen. „Die Immunität verlieren, die ihn bislang vor Strafver- Nélidas und Guadalupes haben die Angestellten folgung geschützt hat. Es liegen mehrere Anzei- schlecht gemacht. Sie regen sich über alles und je- gen wegen Sabotage gegen ihn vor. Denn immer, den auf, weil sie niemanden haben und allein sind. wenn es einen Konflikt mit dem Unternehmen Deswegen gieren sie danach, dass jemand sie gibt, funktioniert der Ablauf in der U-Bahn auf endlich wieder anfasst, etwas wie in eine Hand- wundersame Weise nicht. Wir haben aber auch die LN-Dossier 12 13
Befürchtung, dass der Regierende Bürgermeister Wie sieht es in puncto Frauenrechte bei den Miguel Ángel Mancera, der Präsidentschaftskan- anderen Gewerkschaften aus? didat werden möchte, zu viele Zugeständnisse Es gibt keine Gewerkschaft, die eine Genderper- an die Gewerkschaft macht. Der aktuelle Direktor spektive vertritt. Geschlechtsspezifische Ausbeu- der Metro, der ehemalige Vorsitzende der Partei tung wird nicht anerkannt. Stattdessen herrschen PANAL, wird Espino schützen. Das ist ein großer eine maskulin geprägte Sichtweise und eine patri- Rückschritt. Die Abteilungsleiterin Rebeca Hassan archale Kultur vor. Die Probleme, die wir als Fahr- Barrera hat er auch wieder eingestellt. kartenverkäuferinnen haben, lassen sich besser verstehen, wenn man diese Kultur einbezieht. In Gibt es eine andere Gewerkschaft, die eine Al- diesem Ausbeutungssystem ist es nützlich, uns ternative darstellt? als konfliktive und verrückte Frauen darzustellen. Für die Gewerkschaften ist es sehr wichtig, dass Es ist ein Wahnsinn, dass die Gewerkschaften nur das Unternehmen sie anerkennt, deswegen wol- den ökonomischen Teil betrachten. Natürlich ist es len sie sich nicht zu kämpferisch zeigen. Ich bin in wichtig, dass unsere Arbeit finanziell anerkannt der Gewerkschaft Sindicato Único Democratico, wird. Aber es müssen auch Frauenrechte anerkannt aber nach Austritten hat sie nun den Status als Ge- werden. Ich engagiere mich in der Gruppe Inter- werkschaft verloren. Auch dort fehlte Kampfgeist sindicalistas, in der sich Frauen aus verschiedenen und die Kraft, um wirksame Aktionen umzusetzen. Gewerkschaften zusammengeschlossen haben. Gerade hat die neue Unabhängige Demokratische Die Unabhängige Demokratische Gewerkschaft Gewerkschaft (SDI) viel Aufwind. In unserem Be- möchte nun, dass wir uns ihnen anschließen. Da- reich hat sie die meisten Mitglieder. Hoffentlich ver- für muss die Gewerkschaft aber ihr Konzept von lassen viele die SNTSTC. Es ist aber sehr schwie- Arbeit erweitern und Frauenfragen einbeziehen. rig, mit der Herrschaft so vieler Jahre zu brechen. Die patriarchale Sichtweise ist sehr eindimensi- Als wir unsere Gewerkschaft gründeten, waren wir onal, die Frauen stehen immer in zweiter Reihe, 50 Mitglieder. Aber 50, die sich der Kontrolle der sind Unterstützung, Mittel, Objekt, damit andere SNTSTC entzogen! Das war ein Schlag für die Ge- wachsen. Wir müssen aber alle wachsen, wir sind werkschaft: Sie bot den Dissidenten Arbeitsplätze lebendige Frauen, wir denken, glauben, fühlen! und Darlehen an und viele kehrten zurück. // Interview: Eva Bräth „SIE GEHÖRT DOCH ZUR FAMILIE!“ DIE GEWERKSCHAFT FENATRAD KÄMPFT FÜR DIE RECHTE DER HAUSANGESTELLTEN IN BRASILIEN 127 Jahre nach der Abschaffung der Skla- „Wir haben kein Geld! Das ist es, was wir immer verei gehört die Sklav*innenarbeit immer von Arbeitgebern hören. Vor allem von denen, noch zum brasilianischen Alltag. Nicht nur die jedes Jahr ein neues Auto kaufen. Viele ge- in Form von rechtlosen und unbezahlten ben mehr Geld für ihre Haustiere aus als für ihre Arbeitssklav*innen auf großen Fazendas Hausangestellten“, fasst Creuza Maria Oliveira, oder in illegalen Kleinbetrieben, sondern häu- Präsidentin der Nationalen Hausangestelltenge- figer noch in bürgerlichen Haushalten. Auch werkschaft (Fenatrad) den Verlauf der meisten die jüngste Verfassungsreform des Arbeits- „Tarifverhandlungen“ ihrer Berufsgruppe zusam- rechts im Juni 2015 garantiert den Hausan- men. Sie fügt hinzu: „Was wir auch immer noch gestellten und ihrer Gewerkschaft nicht die- hören: Sie gehört doch zur Familie! Aber das selben Rechte wie anderen Berufsgruppen. stimmt nicht. Was ist das für eine Familie, in die Und 43 Jahre nach der Einführung formeller man keine Kinder oder Freunde mitbringen kann? Arbeitsverhältnisse besitzt nur ein Viertel al- In der man nicht das Haus verlassen kann, wann ler Hausangestellten einen Arbeitsvertrag. man möchte? Nicht essen kann, was man will?“ 14 LN-Dossier 12
Foto: Claudia Fix Gegen moderne Sklaverei! Creuza Oliveira (rechts) beim Marsch der Hausangestellten in Salvador de Bahía Rund acht Millionen Menschen arbeiten nach berechneten die Kosten von Verpflegung und Un- Schätzungen von Fenatrad in privaten Haushal- terkunft und zogen sie willkürlich vom Lohn ab. ten, offiziell sind es 6,7 Millionen. Die meisten Am Ende blieb für die Mädchen und Frauen oft sind afro-brasilianische Frauen, die aus Familien gar kein Geld übrig. Familiärer und sexueller Ge- mit sehr geringem Einkommen kommen. Viele walt standen sie allein gegenüber, in vielen Fa- von ihnen konnten maximal vier Jahre die Schu- milien durften sie nicht einmal das Geschirr der le besuchen, weil sie bereits als Kind im Haus- Familie mitbenutzen, sondern mussten von spe- halt anderer Familien arbeiten mussten. Erst seit ziellen Tellern essen. Verônica Ferreira von der 2008 legt ein Dekret des damaligen Präsidenten Frauenorganisation SOS Corpo bezeichnet diese Luiz Inácio Lula da Silva das Mindestalter für die Arbeitssituation als Fortsetzung der Sklaverei: Arbeitsaufnahme auf 18 Jahre fest. Nur ein Viertel „Historisch betrachtet war die Hausarbeit die ein- der Hausangestellten haben einen offiziellen Ar- zige Möglichkeit für schwarze Frauen, sich über- beitsvertrag, die sogenannte „carteira assinada“, haupt in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Gleich- obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Im zeitig wurden ihnen die Rechte verweigert, die Norden und Nordosten sind es noch weniger, im andere Arbeitnehmerinnen schon in den 1930er Süden des Landes etwas mehr. Jahren erobert hatten“. „Unsere Hausangestellte“ – für die meisten Fa- Dass unter diesen Arbeitsbedingungen die ge- milien in Brasilien mit festem Einkommen gehört werkschaftliche Organisierung trotzdem gelang, diese für ein reibungsloses Familienleben und ist mutigen Hausangestellten wie Creuza Oliveira den notwendigen Komfort einfach dazu, auch in zu verdanken, aber auch dem Verfassungsprozess der unteren Mittelschicht. Bis vor wenigen Jah- nach der Militärdiktatur und den Regierungen der ren wurde von den Hausangestellten erwartet, Arbeiterpartei (PT) seit 2003. „Der Prozess war im Haushalt zu leben, rund um die Uhr verfügbar sehr langsam“, sagt Creuza Oliveira dazu. „Es gab zu sein und nur einmal in der Woche das Haus zu schon vor 80 Jahren gewerkschaftliche Arbeit der verlassen. Oft war der sonntägliche Kirchgang die Hausangestellten. Aber erst in der Verfassung einzige „Freizeit“, die nicht verweigert wurde. Der von 1988 wurde festgelegt, dass wir auch eine Arbeitslohn wurde unregelmäßig gezahlt, manch- Berufsgruppe sind – wenn auch mit eingeschränk- mal am Ende jedes Jahres. Die Arbeitgeber*innen ten Arbeitnehmerrechten – und wir uns gewerk- LN-Dossier 12 15
schaftlich organisieren können. Trotzdem hat es Arbeitslosengeld beträgt immer einen Mindest- noch bis 1997 gedauert, bis wir die Gewerkschaft lohn, auch wenn wir vorher zwei Mindestlöhne gegründet haben.“ verdient haben. Bei anderen Berufsgruppen rich- Seitdem hat Fenatrad viel erreicht, mehr als in tet es sich nach dem vorherigen Verdienst.“ Neben vielen anderen lateinamerikanischen Ländern: dem Arbeitslosengeld sieht die Verfassungsände- Bezahlung von Überstunden, arbeitsfreie Sonn- und Feiertage, eine Kündigungsfrist von zwei Wo- chen, das Recht auf 30 Tage bezahlten Urlaub, 72 „Unsere Verbündeten in diesem gewerk- Tage Mutterschutz, das Recht auf Rente und Kün- schaftlichen Kampf waren vor allem die digungsschutz für Schwangere. Creuza Oliveira sozialen Bewegungen.“ sieht die gesetzlichen Bestimmungen eindeutig als Fortschritt, auch wenn sie oft missachtet oder nicht eingefordert werden: „Unsere Verbündeten rung 72 auch eine gesetzliche Unfallversicherung, in diesem gewerkschaftlichen Kampf waren vor eine Nachtzulage und einen Arbeitgeberanteil zur allem die sozialen Bewegungen, aber auch die staatlichen Rentenversicherung vor. Schwierig Regierungen von Lula und Dilma haben für Fort- bleibt die Gesetzeslage auch für die gewerkschaft- schritte gesorgt. Die anderen Gewerkschaften liche Arbeit: Bei anderen Berufsgruppen wird der unterstützen uns eher symbolisch.“ Fenatrad ist Gewerkschaftsbeitrag einmal im Jahr von den an den größten gewerkschaftlichen Dachverband Arbeitgeber*innen vom Gehalt abgezogen und Brasiliens, die CUT, angegliedert, aber diese setzt an die Gewerkschaft abgeführt. Fenatrad ist auf sich zum Beispiel nicht für die internationale ILO- freiwillige Monatsbeiträge der Hausangestellten Konvention für Hausangestellte ein (siehe LN angewiesen. Im August führte die Gewerkschaft 447/448). „Viele Gewerkschafter sehen uns nicht dazu Gespräche mit dem Sekretariat für Frau- als Arbeitnehmerinnen, sondern eher als Selbst- enpolitik im Präsidentenamt, um eine Anhörung ständige. Und eine besondere Aufgabe liegt im- der Präsidentin zu erreichen. „Es kann nicht sein, mer noch darin, den Hausangestellten ihre Rech- dass wir die Arbeit von Fenatrad mit Verlosungen te bewusst zu machen. Oft identifizieren sie sich und Solidaritäts-Essen finanzieren müssen. Auch mit der Familie, haben sogar Mitleid, wenn diese wenn die internationale Kooperation Projekte von sagt, dass sie nicht mehr zahlen kann oder sie Fenatrad finanziert, brauchen wir reguläre Einnah- mehr arbeiten müssen“, so Creuza Olivera. men wie andere Gewerkschaften auch.“ Seit 2013 wird in Brasilien über die „Emenda In den sozialen Medien werden die neuen Be- Constitucional 72“ diskutiert, eine Änderung der stimmungen ab Oktober bereits heiß diskutiert. in der Verfassung garantierten Arbeitsrechte zu- Es gibt Tipps, wie man sich gesetzeskonform verhält und wie man trotzdem die Bestimmun- gen möglichst umgehen kann. Arbeitgeber*innen „Es kann nicht sein, dass wir die Arbeit klagen, dass sie sich „ihre Hausangestellte“ nicht von Fenatrad mit Verlosungen und Soli- mehr leisten könnten. Konservative Medien war- daritäts-Essen finanzieren müssen.“ nen vor Massenentlassungen. „Ich denke, es wird so sein wie bisher, wenn es Verbesserungen für die Hausangestellten gab“, kommentiert Creu- gunsten der Hausangestellten, da für sie diese za Oliveira die Debatten. „Am Anfang werden sie bisher nur teilweise gelten. Nachdem das Gesetz maulen und schimpfen. Vielleicht wird die Anzahl im Kongress und im Senat verabschiedet wurde, der Hausangestellten, die tageweise eingestellt unterzeichnete es Präsidentin Dilma Rousseff am und bezahlt werden, auch zunehmen. Aber es 1. Juni 2015. Im Oktober 2015 tritt es in Kraft. Auch gibt viele, die auf tägliche Hilfe angewiesen sind, dieses Gesetz sieht die Präsidentin der Hausan- zum Beispiel weil sie arbeiten und kleine Kinder gestelltengewerkschaft als Fortschritt, auch wenn haben. Mit der Zeit wird sich der Staub legen und sie einräumt: „Es hätte besser sein können. Was sie werden uns weiterhin beschäftigen. Und bei wir nicht erreicht haben, ist eine wirkliche Gleich- aller Kritik sind die gesetzlichen Neuregelungen stellung mit anderen Arbeitnehmern. Sie erhalten für uns ein Fortschritt.“ fünf Monate Arbeitslosengeld, wir nur drei. Unser // Claudia Fix 16 LN-Dossier 12
„SOLIDARITÄTSARBEIT LÄUFT NICHT MEHR AUF EINER EINBAHNSTRASSE“ INTERVIEW MIT DREI GEWERKSCHAFTER*INNEN ZUR GEWERKSCHAFTLICHEN SOLIDARITÄT AN DER BASIS ZWISCHEN MANNHEIM UND SÃO PAULO Die Gewerkschafter*innen Fritz Stahl, Ange- la Hidding und Fritz Hofmann aus Mannheim organisieren seit 1984 den solidarischen Aus- tausch mit Kolleg*innen, die in der größten Industrieregion Brasiliens gewerkschaftlich aktiv sind. Im Gespräch mit den LN berichten sie vom Beginn dieses gewerkschaftlichen Fotos: privat Austausches von unten und resümmieren, was man aus der Geschichte dieser transat- lantischen Solidarität lernen kann. In den 80ern bei MBB Anfänge der basisgewerk- Seit mehr als 30 Jahren praktizieren Sie ge- schaftlichen Solidarität auf dem Firmenparkplatz werkschaftliche Solidarität an der Basis zwi- schen Mannheim und der brasilianischen ABC-Region (der wichtigsten Industrieregion Von Anfang an wurde versucht, eine Vernetzung Brasiliens, bestehend aus den Städten Santo mit anderen Betrieben und mit dem Internatio- André (A), São Bernardo do Campo (B) und nalen Bildungswerk TIE Offenbach aufzubauen. São Caetano do Sul (C), Anm. der Redaktion). Eine dauerhafte Verbindung wurde mit einigen Wie kam es dazu? Kolleg*innen der BASF Ludwigshafen hergestellt. Ausgangspunkt war eine Initiative in Brasilien. Dort war es ebenfalls – einige Jahre später als im Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen aus Metallbereich – gelungen, anhaltende Kontakte den drei großen Automobilfirmen General Motors, zu Gewerkschaftskolleg*innen in brasilianischen Volkswagen und Mercedes organisierten 1984 BASF-Werken aufzubauen. Wir bekamen lebhaf- mit Hilfe kirchlicher Organisationen einen Besuch te Unterstützung von Brasilianer*innen, die in bei den Standorten der Muttergesellschaften in Deutschland wohnten und von jungen Leuten mit Deutschland, unter anderem in Mannheim. Es professioneller Sprachkenntnis. gab einen intensive Austausch in den Betrieben und mit gewerkschaftlichen Gremien. Im Folge- Wie hat sich die basisgewerkschaftliche Soli- jahr starteten wir einen Gegenbesuch. Daraus darität zwischen Mannheim und der ABC-Re- entstand in Mannheim neben anderen internati- gion entwickelt? Gab es Phasen stärkerer und onalen Solidaritätsgruppen der „Arbeitskreis So- schwächerer Intensität? lidarität mit Brasilianischen Gewerkschaften“, der Von Anfang an war die direkte Begegnung vor Ort sich dem DGB Mannheim anschloss. Kolleg*innen das entscheidende Element von gewerkschaftli- von Mercedes, die an Brasilien interessiert waren, cher Solidarität: Sehen wie die Kolleg*innen im schlossen sich zusammen und entwickelten viel- anderen Land arbeiten, wie sie wohnen, wie sie seitige Aktivitäten: Beispielsweise den Kontakt kämpfen. Das brachte uns näher. Wir verstanden aufrechterhalten, gegenseitige Unterstützung uns, lernten uns kennen und schätzen. In den ers- organisieren, Informationen verbreiten und so ten 20 Jahren war fast jährlich eine Gruppe aus weiter. Diesen persönlichen Initiativcharakter hat deutschen Betrieben in Brasilien oder eine brasili- der Arbeitskreis in all den Jahren durchgehalten. anische Gruppe in deutschen Werken unterwegs. LN-Dossier 12 17
FRITZ STAHL, ANGELA HIDDING UND FRITZ HOFMANN Fritz Stahl (Jahrgang 1934) und Angela Hidding (Jahrgang 1947) leben seit vielen Jahren in Mannheim zusammen. Sie haben dort beide lange Zeit bei Mercedes Benz gearbeitet. Angela war Betriebsrätin, Fritz war Lager- und Transportarbeiter sowie Vertrauensmann. Seit 1984 sind beide Mitglieder im „Ar- beitskreis Solidarität mit Brasilianischen Gewerkschaften“ und haben die im Interview beschriebenen Aktivitäten vorangetrieben. Fritz Hofmann, Jahrgang 1952, Chemiearbeiter, später Betriebsrat bei BASF, war 1990 erstmals in Bra- silien im Rahmen eines Basisaustauschs von Beschäftigten multinationaler Chemiekonzerne. Danach war er an mehreren Austauschen, Besuchen und Gegenbesuchen beteiligt. Fritz arbeitet mit am 1999 gegründeten „Arbeitnehmer-Netzwerk von BASF-Beschäftigten Südamerikas“. Dabei ging der Blick auch über die betriebliche schäftigten bei Mercedes Benz“ gegründet, zur Situation hinaus: Soziale Bewegungen in Brasili- gleichen Zeit wurde Valter Sanches, Mitarbeiter en weiteten den Blick der Deutschen, Besuche von Mercedes in Brasilien, in den Aufsichtsrat der wichtiger Plätze aus der deutschen Geschichte Firma gewählt. Informationsaustausch gibt es so den der Brasilianer*innen. auch auf der höheren Ebene, nicht nur durch den Der Arbeitskreis fasste auch in der gewerkschaft- Austausch an der Basis. Solche internationale Ge- lichen Bildungsarbeit Fuß. Dadurch gelang es, die werkschaftsarbeit kann durch pragmatische, also Öffentlichkeitsarbeit in die Gewerkschaft hinein eine an den betrieblichen Erfordernissen ausge- wesentlich zu erweitern. In Seminaren für Ver- richtete Basisarbeit die Arbeit der Betriebsräte trauensleute kann regelmäßig über die Erfahrun- hervorragend ergänzen. Entsprechende Netzwer- gen der Gruppe berichtet werden und so das Be- ke sind auf Vertrauen aufgebaut und so können wusstsein für die Notwendigkeit internationaler sie Impulse setzen. Solidaritätsarbeit gestärkt werden. Natürlich ha- ben wir keine Massenbewegung ausgelöst. Das Wie gelang es, den Austausch beidseitig und Auf und Ab solcher Arbeit hängt immer auch von gleichberechtigt auf Augenhöhe zu organisie- Initiativen einzelner Personen ab. ren? Am Anfang hatte der Arbeitskreis eine Art Mo- Anfangs gab es noch eine Art Gefälle von Deutsch- nopolstellung, was die gegenseitige Information land nach Brasilien, nach dem Motto: „Wir müssen anbelangte. Mittlerweile hat sich eine internati- denen helfen!“ Aber die Globalisierung der Un- onale gewerkschaftliche Zusammenarbeit auch ternehmensstrategie hat dazu geführt, dass die auf institutioneller Ebene herausgebildet. Aber gewerkschaftlichen Vertretungen gleichartigen He- die Bedeutung der Arbeit hält weiter an. In den rausforderungen begegnen. Solidaritätsarbeit läuft 1990er Jahren wurde das „Weltkomitee der Be- schon lange nicht mehr auf einer Einbahnstraße. 18 LN-Dossier 12
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