Klammheimliche Umverteilung - Der Chefökonom - 25. Februar 2022 - Handelsblatt

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Klammheimliche Umverteilung - Der Chefökonom - 25. Februar 2022 - Handelsblatt
Der Chefökonom – 25. Februar 2022

Klammheimliche Umverteilung
Inflation verursacht erhebliche Verteilungswirkungen. Und das Preisniveau wird
künftig rascher als bislang steigen. Eine offene politische Diskussion ist überfällig.
von Professor Bert Rürup und Axel Schrinner

„Inflation ist wie Nikotin oder Alkohol." Das wusste schon der legendäre Börsenguru André
Kostolany: "In kleinem Maße ist es stimulierend, man darf nur kein Kettenraucher werden oder
Alkoholiker." Das Problem: Eine optimale Inflationsrate lässt sich nicht bestimmen.

Einen Nachweis, dass ein Anstieg des Preisniveaus von null oder einem Prozent
gesamtwirtschaftlich "besser" oder "schlechter" ist als zwei Prozent, gibt es nicht.

Auch das seit den 1970er-Jahren von der Bundesbank verfolgte Inflationsziel von "unter zwei
Prozent" entstammte eher einer pragmatischen Vorgehensweise als einer ökonomischen Analyse.
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Vielmehr wollte die Bundesbank ein klares Signal setzen, dass sie die damaligen Teuerungsraten
von bis zu sieben Prozent nicht tolerieren und mit ihrer Geldpolitik gegenhalten werde.

Um ein ähnlich starkes Signal für den Euro zu senden, übernahm die EZB zunächst dieses Ziel,
änderte es aber mehrfach auf nunmehr "symmetrisch zwei Prozent" - womit auch temporäre
Überschreitungen dieser Marke tolerierbar wurden. Dank Globalisierung und Digitalisierung blieb
der Anstieg der Verbraucherpreise in Deutschland und vielen anderen EU-Staaten in den
vergangenen Dekaden meist deutlich unter zwei Prozent - und damit unterhalb der medialen
Wahrnehmungsschwelle.

Massenhaft billige Elektronik und Konsumgüter "made in China" sowie die Verdrängung vieler
analoger Produkte durch billigere digitale Pendants sorgten dafür, dass der typisierte Warenkorb des
Durchschnittsverbrauchers sich kaum verteuerte. Zudem dämpfte nicht zuletzt die hohe
Zuwanderung die Teuerung bei personalintensiven Dienstleistungen.

Diese Zeiten sind seit Monaten vorbei. In den USA beträgt die Inflation gegenwärtig 7,5 Prozent, in
der Euro-Zone 5,1 Prozent - und ein schnelles Ende solcher Teuerungsraten ist nicht in Sicht. Die
Preiserwartungen der Unternehmen für die nächsten drei Monate sind laut einer Ifo-Umfrage derzeit
auf Allzeithoch. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Verwerfungen als Folge des Einmarsches
russischer Truppen in die Ukraine ist in diesem Jahr ein Preisanstieg von bis zu 6 Prozent nicht
auszuschließen.

Jenseits der aktuellen Preiskapriolen sprechen zudem mehrere Faktoren dafür, dass das Preisniveau
künftig merklich rascher als in den zurückliegenden Dekaden steigen wird. In China und anderen
Schwellenländern sind die Arbeitskosten spürbar gestiegen. Außerdem dürften die asiatischen
Halbleiterhersteller ihre in der gegenwärtigen Chipkrise offenkundig gewordene Marktmacht
nutzen, um längerfristig höhere Preise durchzusetzen. Hinzu kommt, dass die nicht zuletzt in
Deutschland angestrebte Dekarbonisierung dauerhaft die Preise treiben wird.

Zum einen werden steigende CO2-Abgaben über höhere Produktions- und Transportkosten nahezu
alle Güter und Dienstleistungen verteuern. Zum anderen wird es neue Knappheiten bei bestimmten
Rohstoffen und Fachkräften geben, die steigende Preise nach sich ziehen dürften. Ein Übriges wird
insbesondere in Deutschland der demografisch bedingte allgemeine Personalmangel beisteuern.

Geringverdiener sind stark betroffen

Nun sind relative Preisänderungen in einer Marktwirtschaft keineswegs ein Defekt, sondern
spiegeln veränderte Knappheiten wider. Sie sind das Herzstück des Marktmechanismus, der für eine
effiziente Ressourcenverwendung sorgt. Derzeit steigen aber die Preise nahezu aller Güter und

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Dienstleistungen. Dies vermindert die Kaufkraft und verursacht damit Wohlstandsverluste, die
keineswegs gleich auf die Bevölkerung verteilt sind. So können Geringverdiener höhere Preise
nicht durch weniger Sparen ausgleichen, da sie ohnehin kaum etwas zurücklegen können.

Zudem geben Geringverdiener durchweg einen höheren Anteil ihres Einkommens für Wohnen und
Energie aus, also für jene Güter, deren Preise durch die Dekarbonisierung stark steigen dürften. Den
Energieverbrauch einzuschränken ist oft kaum möglich, da elementare Bedürfnisse betroffen sind.
Dieses Problem hat die Ampelkoalition dem Grundsatz nach erkannt und zumindest (Einmal-
)Hilfen für besonders Betroffene auf den Weg gebracht.

Um den dauerhaften sozialen Folgen der Energiewende zu begegnen, müsste der Staat jedoch seine
Mehreinnahmen aus der CO2-Bepreisung den privaten Haushalten zurückgeben, so wie es im
Koalitionsvertrag angekündigt ist.

Darüber hinaus sorgen steigende Preise für eine zweite Form von Umverteilung, die durch das
Steuersystem verursacht wird. Dem Grundsatz nach bestimmt der Gesetzgeber, welcher Anteil etwa
vom Einkommen oder von Umsätzen dem Staat in Form von Steuern zusteht. Ein deutlicher
Preisniveauanstieg kann diesen Anteil - meist zugunsten des Staates - verändern, ohne dass ein
Gesetz geändert werden muss.

So führt ein progressiver Steuertarif dazu, dass auch jene Einkommenserhöhungen, die lediglich die
Teuerung ausgleichen, zu einer höheren Steuerbelastung führen. Die Bundesregierung bemüht sich
zwar, diese kalte Progression durch regelmäßige Justierungen des Steuertarifs auszugleichen.
Kleinere Prognosefehler glichen sich über die Jahre aus - bislang zumindest.

Doch im Herbst 2020, als der Bundestag die Tarifverschiebung verabschiedete, erwartete die
Regierung 1,17 Prozent im Jahr 2021 - tatsächlich wurden es 3,1 Prozent im Jahresmittel. Ob und
wie dies nachgeholt wird, ist ungewiss. Hier wäre eine klarere Regelung angezeigt, um die kalte
Progression wirklich zu eliminieren.

Darüber hinaus gibt es im Steuerrecht zahlreiche Schwellenwerte, die durch Preisauftrieb
kontinuierlich entwertet werden. Das gilt gleichermaßen für Freibeträge wie etwa den
Sparerfreibetrag, den Ausbildungsfreibetrag oder die Übungsleiterpauschale sowie für Grenzwerte,
etwa für Sonderabschreibungen oder bestimmte Vergünstigungen. Die in den Paragrafen genannten
konkreten Euro-Beträge werden durch Inflation von Jahr zu Jahr real entwertet.

Beispielsweise können Steuerpflichtige seit 2010 unter bestimmten Bedingungen die Kosten für ein
häusliches Arbeitszimmer bis zu 1250 Euro jährlich steuerlich geltend machen. Was vor zwölf

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Jahren zumindest für ein kleines Arbeitszimmer gerade ausgereicht haben könnte, reicht heute oft
kaum noch für eine Abstellkammer.

Das steigende Preisniveau führt also dazu, dass über das Steuersystem ebenso schleichend wie
kontinuierlich Kaufkraft von den Steuerpflichtigen zum Fiskus umgeleitet wird. Besonders eklatant
ist dies bei der Erbschaftsteuer. Seit der Reform 2009 dürfen etwa an Geschwister 20.000 Euro
steuerfrei übertragen werden. Real sind dies heute noch knapp 17.000 Euro. Eine ganze Dekade mit
drei Prozent jährlicher Inflation würde diesen Wert real um ein weiteres Drittel mindern.

Auch für die Erben von Immobilien und Betriebsvermögen gelten Schwellenwerte, die seit der
Reform von 2016 oder gar seit 2009 nicht angepasst wurden. Die Intention des Gesetzgebers, dass
"Omas Häuschen" weitgehend steuerfrei auf die nächste Generation übertragen werden kann, ist
heute nicht mehr gewährleistet.

Nun müssen diese Verteilungswirkungen keineswegs von Nachteil sein. Es lassen sich gute Gründe
dafür anführen, Erben oder Bezieher bestimmter Einkommen höher zu belasten, als es das geltende
Recht vorsieht. Nur, wenn die Politik dies will, dann sollte sie dies auch offen kommunizieren und
das Parlament darüber entscheiden lassen. Stattdessen auf die schleichende Wirkung der Inflation
zu setzen ist unredlich und einer Demokratie unwürdig.

Der Chefökonom

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des
Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats und Berater
mehrerer Bundesregierungen sowie ausländischer Regierungen.

Mehr Analysen, Kommentare und Studien von Professor Rürup und seinem Team erhalten Sie auf
der Webseite https://research.handelsblatt.com/de/

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