Ohne Rücksicht auf die Kosten - Der Chefökonom - 25. März 2022 - Handelsblatt
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Der Chefökonom – 25. März 2022 Ohne Rücksicht auf die Kosten Durch die Entlastungen der Ampel wird der Energieverbrauch zwar erschwinglicher. Doch die Beschlüsse reißen große Löcher in den Staatshaushalt - und damit in die Taschen der Bürger. Von Professor Bert Rürup Am 7. Dezember des vergangenen Jahres unterzeichneten die Spitzen von SPD, Grünen und FDP ihren mit "Mehr Fortschritt wagen" überschriebenen Koalitionsvertrag. Elf Wochen später überfiel Russland die Ukraine, und die Folgen dieser Invasion machten weite Teile der 177 Seiten starken Vereinbarung obsolet. Von der Realität überholt, ist der Vertrag nur noch Makulatur. Nahezu über Nacht wurde deutlich, wie abhängig Deutschland von russischer Energie, vor allem Erdgas ist. Die stillschweigende Grundannahme der geplanten Energiewende, dass billiges russisches Gas als letztlich unbegrenzt verfügbare Rückfalloption zur Verfügung stehe, gilt nicht mehr. Wer jedoch gleichzeitig auf Atomkraft und die Verstromung von Kohle verzichten will und dann auf Gas verzichten muss, der bekommt gravierende Probleme, wenn die Sonne nicht scheint und kein Wind weht. Deshalb steht plötzlich die Sicherheit der Energieversorgung der viertgrößten
Volkswirtschaft der Welt auf dem Spiel. Angesichts der erwarteten Knappheiten infolge der Wirtschaftssanktionen des Westens, mit denen er auf die russische Aggression reagierte, kam es auf den Weltmärkten zu einem drastischen Anstieg der Preise für fossile Brennstoffe, der voll auf die Endverbraucherpreise durchschlug. Kostete Heizöl im Herbst 2020 teilweise noch unter 40 Cent pro Liter, schnellten die Preise in der Spitze auf über zwei Euro in die Höhe. An den Tankstellen erreichten die Benzin- und Dieselpreise mit mehr als 2,20 Euro ein Rekordniveau - obwohl die Rohölpreise noch unter den historischen Höchstständen von 2008 blieben. Für Gas und Strom müssen die Verbraucher ebenfalls deutlich mehr als noch vor einem Jahr bezahlen. Durchschnittlich stiegen die Preise für Energieprodukte im zurückliegenden Februar auf Jahressicht um 22,5 Prozent, während sich der gesamte, dem Verbraucherpreisindex zugrunde liegende Warenkorb lediglich um 5,1 Prozent verteuerte. Flexible Preise sind bekanntlich das Herzstück jeder Marktwirtschaft. Sie spiegeln Knappheiten wider und sorgen damit für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Steigt das Preisniveau stärker als die verfügbaren Einkommen, so sinkt der Wohlstand der Haushalte. Anders, als mancher führende Politiker derzeit zu glauben scheint, kann der Staat die Bürger vor diesen Realeinkommensverlusten allenfalls begrenzt abschirmen. Schließlich kann er deren Ursache nicht aus der Welt schaffen. Mit Steuersenkungen, einer Energiepreispauschale oder einem subventioniertem Nahverkehrsticket würde der Energieverbrauch für die Haushalte zwar wieder erschwinglicher. Die damit verbundenen Kosten reißen aber Löcher in den Staatshaushalt und langfristig damit in die Taschen der Bürger. Hier geht es also vor allem um Verteilungsfragen. Gleichwohl machen im Autoland Deutschland die hohen Benzinpreise aus guten Gründen die Bundesregierung nervös. Erst wollte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) mit einem unausgegorenen Tankrabatt bei den Wählern punkten. Dieser Schnellschuss war nicht nur wenig zielgenau, sondern wäre im Falle der Umsetzung auch dem Geist des von Klimaschutz, sozialer Gerechtigkeit und soliden Staatsfinanzen geprägten Koalitionsvertrags zuwidergelaufen. Das Grundgesetz garantiert Bürgern ein Existenzminimum Es folgte Huberts Heil (SPD) mit dem "Mobilitätsgeld", welches allen Arbeitnehmern zusätzlich zum regulären Monatsgehalt überwiesen werden sollte. Die Arbeitgeber sollten das Geld erstattet bekommen, indem sie ihre Lohnbuchhaltungssoftware umprogrammieren und entsprechend weniger Lohnsteuer an den Fiskus abführen. Gegenüber dem Tankrabatt schien dieser Vorschlag auf den ersten Blick "sozialer". 2
Tatsächlich sagt aber der Arbeitslohn eines Beschäftigten nicht viel über dessen gesamtes Haushaltsnettoeinkommen aus. Womöglich hätte ein in Teilzeit arbeitender Ehepartner eines gut verdienenden Freiberuflers Mobilitätsgeld bekommen, während Selbstständige, Rentner, Arbeitslose und Studenten leer ausgingen. Für die Union forderte Fraktionschef Friedrich Merz, sowohl die Energiesteuer zu senken, als auch die Umsatzsteuer auf Diesel und Benzin von 19 auf sieben Prozent zu reduzieren. "Das wäre eine unbürokratische, schnelle und gute Hilfe für alle", sagte er dem "Tagesspiegel" - und vergaß dabei freilich alle Gewerbetreibenden, für die die Umsatzsteuer unerheblich ist, da sie nur ein durchlaufender Posten ist. Am Donnerstag beschloss die Regierung einen Kessel Buntes, der vor allem das Ziel zu haben scheint, alle drei Koalitionspartner zufriedenzustellen. Heils "Mobilitätsgeld" wurde in eine einmalige "Energiepreispauschale" von 300 Euro umgewandelt, aus Lindners "Tankrabatt" wurde eine befristete Benzinsteuersenkung. Und damit die Grünen nicht leer ausgehen, erhielten sie für ihre Klientel ein neues, aus dem Bundhaushalt stark subventioniertes Nahverkehrsticket. Überdies bekommen Transferempfänger sowie Eltern, sofern sie nicht zu den Besserverdienenden zählen, zusätzliche einmalige Unterstützung. Letztlich dürfte damit für fast jeden Bürger zumindest eine kleine Wohltat in diesem Paket stecken. Nun ist es grundsätzlich richtig, dass die Politik die Verteilungswirkungen der stark steigenden Energiepreise im Visier hat. Denn die starke Verteuerung von Energie kann bei Geringverdienern und vielen Transferempfängern dazu führen, dass deren Realeinkommen in die Nähe oder gar unter das Existenzminimum sinkt. Und hier ist Vorsicht geboten. Schließlich garantiert das Grundgesetz allen Bürgern das Existenzminimum. Außerdem darf der Fiskus Einkommen bis zu dieser Höhe nicht besteuern. Ein rapide steigendes Preisniveau verlangt hier Nachjustierungen. Weiterer Maßnahmen bedürfte es eigentlich nicht, da bei realistischer Betrachtung der Staat die Bürger nicht auf Dauer vor Energiepreiserhöhungen abschirmen kann. Denn auch höhere Staatsschulden müssen irgendwann von irgendwem bezahlt werden. Darüber hinaus gibt es Branchen, die besonders stark von den Preissprüngen betroffen sind, wie etwa die sehr energieintensive Chemieindustrie und das Transportgewerbe. Käme es beispielsweise im Speditionsgewerbe zu einer Insolvenzwelle, hätte dies empfindliche Folgen für die Versorgung von Supermärkten und Fabriken. 3
Ein gangbarer Weg, diesen Verwerfungen zu begegnen, wären temporäre Entlastungen der Wirtschaft durch großzügige Möglichkeiten für nachträgliche steuerliche Verlustrückträge - und zwar für alle Unternehmen, die jetzt in die Verlustzone rutschen. Solche Rückträge kosten den Staat per saldo wenig. Denn wenn die Unternehmen überleben, stehen den aktuellen Steuerrückzahlungen höhere Steuerzahlungen in der Zukunft gegenüber. Gleichwohl können solche intertemporalen Verrechnungsmöglichkeiten dafür sorgen, dass Liquidität im Unternehmen verbleibt und damit deren Zahlungsfähigkeit gesichert wird. Die große Hoffnung ist, dass der aktuelle Energiepreisanstieg vorübergehend ist. In diesem Fall machen staatliche Hilfen an bedürftige Haushalte und grundsätzlich solide Unternehmen Sinn. Bleiben die Preise aber auf absehbare Zeit auf ihrem jetzigen Niveau, kann niemand auf Dauer davor geschützt werden. Deutschland würde unweigerlich ärmer. Der Chefökonom Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats und Berater mehrerer Bundesregierungen sowie ausländischer Regierungen. Mehr Analysen, Kommentare und Studien von Professor Rürup und seinem Team erhalten Sie auf der Webseite https://research.handelsblatt.com/de/ 4
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